Bei Elisa war endlich die Isolierung aufgehoben worden und aufatmend strebte sie aus dem Zimmer. Ihre Tochter war ebenfalls aus dem Urlaub zurück, hatte sie auch pflichtschuldig besucht und ihr ein paar Sachen gebracht, sich dann aber wieder ziemlich rasch aus dem Staub gemacht; auf die weinerlichen Vorwürfe ihrer Mutter, die gleich laut geworden war, konnte sie dankend verzichten. Sie wusste schon, warum sie keinen allzu engen Kontakt mehr wollte, seitdem sie erwachsen war und ihr Bruder dachte da genauso darüber. So schlüpfte Elisa mühsam in eine Leggins und ein weites Kunstfasershirt, das noch Platz für die Thoraxdrainage ließ, zog ihre Pantoffeln an und machte sich mit dem Saugbehälter, der auf einem Wägelchen montiert war, damit er nicht umkippen konnte, auf den Weg, ein wenig das Krankenhaus zu erkunden.
In der Eingangshalle traf sie zufällig auf Natascha, die gerade gemeinsam mit ihrem Freund an der frischen Luft gewesen war. „Hallo-was treibst du denn noch da-na da sind dem Kindchen wohl die Nerven durchgegangen-dir hat doch überhaupt nichts gefehlt, als wir aus dem Keller befreit wurden. Aber das war ja klar, dass sich da jemand in den Mittelpunkt spielen, oder vermutlich in der Nähe ihres Geliebten sein wollte!“, spottete Elisa, die sich noch gut an die Erzählung Natascha´s im Keller erinnern konnte und auch an Sarah´s erschrockene Reaktion darauf. Dieser Jäger war einfach fremd gegangen. So wie der aussah, nahm der doch alles mit, was nicht bei drei auf den Bäumen war und voller Genugtuung gönnte sie Sarah diese Schmach und gleichzeitig verachtete sie diese Kindfrau vor ihr, die vermutlich mit ihrem Bruder gerade ein wenig unterwegs war und seit Tagen das Krankenkassensystem belastete. Der fehlte doch nichts, während sie diejenige war, die es am Schlimmsten erwischt hatte.
Natascha kämpfte mit sich, ob sie sich gegen die Anschuldigungen wehren sollte, aber dann beschloss sie zunächst, die Frau einfach reden zu lassen. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, dass die beiden Grazien im Keller Ben nicht geholfen hatten. „Und wie geht es deinem Liebhaber-lebt er noch, oder ist er schon abgekratzt?“, fragte Elisa dann hämisch, aber jetzt wurde es der jungen Frau doch zu viel. „Erstens ist Ben nicht mein Liebhaber, es stimmt, dass ich in ihn verknallt war, aber jetzt weiß ich, dass er glücklich verheiratet ist und mich nur dienstlich als Informantin benutzt hat und außerdem schwebt er immer noch in akuter Lebensgefahr, aber er wird es schaffen, daran glaube ich fest. Aber sie wissen nicht im Geringsten, was seitdem geschehen ist, sondern reden einfach blöd daher, um mich zu verletzen und sowas ist unterste Schublade!“, warf sie ihrer Kontrahentin an den Kopf, Stefan legte liebevoll den Arm um sie und gemeinsam wandten sie sich von Elisa ab, die für einen Augenblick sprachlos zurück blieb, dann wütend auf schnaubte und mit ihrem Wägelchen weiter fuhr. Was fiel dieser Rotzgöre ein, so mit ihr zu reden! Na warte, das würde die noch büßen, nur fiel ihr im Augenblick nicht ein wie.
Auf der Intensivstation war inzwischen der Oberarzt zunächst einmal an Ben´s Bett getreten und hatte ihn mit warmer freundlicher Stimme angesprochen: „Herr Jäger-ich weiß, dass sie sehr erschöpft sind und ich verspreche ihnen, sie in Ruhe zu lassen und ihnen ihren Schlaf zu gönnen, wenn die Drainage liegt, aber wie sie vielleicht schon heraus gehört haben, müssen wir jetzt noch einen kleinen Eingriff vornehmen. Ich habe ihre Akten studiert und meine mich zu erinnern, dass sie schon einmal eine Lungenverletzung hatten, die mit einer Thoraxdrainage behandelt wurde, also haben sie-auch wenn es schon eine Weile her ist- bereits eine Vorstellung davon, was wir jetzt machen müssen. Sie bekommen von uns eine örtliche Betäubung seitlich zwischen zwei Rippen gespritzt, dort gehen wir dann mit einem kleinen Schnitt ein und legen einen Drainageschlauch in den Zwischenrippenraum. An den kommt ein Dauervakuum, damit die Luft, die sich dort angesammelt hat, kontinuierlich abgesaugt werden und sich der aktuell zusammen gefallene Lungenflügel wieder entfalten kann. Diese Drainage muss etwa eine Woche liegen bleiben, aber sie ist absolut notwendig-haben sie mich verstanden und sind sie mit dem Eingriff einverstanden, der leider nicht völlig schmerzfrei durchzuführen ist?“, fragte er dann und Ben nickte müde-was hätte er auch sonst tun sollen.
Während der Assistenzarzt und der Oberarzt Haube und Mundschutz anlegten und sich jetzt die Hände chirurgisch desinfizierten, wies der erfahrene Arzt seinen Assistenten darauf hin: „Reden sie bitte immer mit ihren Patienten, auch wenn die sediert sind. Erklären sie ihnen, was sie machen wollen, das zeugt auch von ihrem Respekt dem Kranken gegenüber. Sie müssen sich immer im Klaren sein-so notwendig ein Eingriff auch sein mag, im Endeffekt begehen sie eine Körperverletzung, die nur deshalb keinen Straftatbestand darstellt, weil der Patient oder sein gesetzlicher Betreuer eingewilligt haben. Nur als absolute Notfallindikation, oder bei einem bewusstlosen Patienten dürfen-oder müssen sie sogar, lebensnotwendige Maßnahmen auch gegen seinen Willen durchführen, aber das ist rechtlich ein sehr schmaler Grat und auch jedes Mal aufs Neue eine Einzelfallentscheidung. Wenn Herr Jäger jetzt nicht an der ECMO wäre, hätte er allerdings massive Atemnot und würde dann vermutlich gerne zustimmen, aber in seinem speziellen Fall sähe er vielleicht keinen Sinn darin, sich einem durchaus schmerzhaften Eingriff zu unterziehen, darum ist es an ihnen als Arzt, ihm die Notwendigkeit dafür nahe zu bringen“, unterwies er den jungen Doktor.
Schwester Anita hatte derweil mit einem warmen mütterlichen Lächeln und Semir´s Hilfe eine Einmalunterlage, um das Bett zu schützen, unter Ben´s rechte Seite auf Höhe des Oberkörpers gelegt, das Hemd entfernt und ihn leicht auf die linke Seite gedreht. Der Oberarzt überließ ihr die Entscheidung, was sie mit Herrn Gerkhan machen sollten und sie beschloss, dass der starke Nerven hatte, nicht umfallen würde und außerdem seinen Freund seelisch unterstützen konnte. Zudem war es nicht verkehrt, wenn der Ben´s Arm ein wenig nach oben ziehen und auch festhalten könnte und so bat sie ihn: „Herr Gerkhan-würden sie bitte ans Kopfende des Bettes gehen-dann sind sie uns nicht im Weg und ihr Freund hat sie trotzdem ganz nah bei sich!“, bat sie und Semir nahm mit einem Nicken den ihm zugewiesenen Platz ein. Anita legte nun Ben´s Arm nach oben und wies Semir an, den in dieser Position locker fest zu halten.
Die beiden Ärzte hatten sich inzwischen steril angezogen, der Oberarzt hatte seinem Assistenten die Schüssel mit den Tupfern und dem farbigen Desinfektionsmittel in die Hand gedrückt und ihn gebeten abzustreichen, während er sich die restlichen benötigten Instrumente und die Drainage selbst von Anita anreichen ließ und auf dem Steriltisch ablegte. Gerade wollte er anfangen, da fing er den auffordernden Blick seines Vorgesetzten auf und ein wenig unwillig, denn er fand dieses ganze Gerede ziemlich unnötig, informierte er dann aber dennoch den Kranken. „Herr Jäger, es wird jetzt mal nass und kalt, ich muss ihren Brustkorb desinfizieren!“, sagte er und das beifällige Nicken seines Chefs bestätigte ihn. Ben´s Brustwarzen richteten sich unwillkürlich auf, als das kalte Desinfektionsmittel aufgetragen wurde, aber wenig später war der gesamte rechte Brustkorb bis zur Mittellinie vorne und hinten, nach unten bis zur Taille und oben bis zur Hälfte des Oberarms desinfiziert. Gemeinsam legten die beiden Ärzte das große Klebesteriltuch mit Fenster auf und Ben verschwand fast darunter. „Sie mussten ja sicher bereits Thoraxdrainagen legen-nach welchem System haben sie das bisher gemacht?“, fragte jetzt der Oberarzt und der Lernende erwiderte. „Ich hab es bisher immer mit Trokar gemacht!“ und der Oberarzt nickte. „Dann werden wir es jetzt einmal mit einer Mikrothorakotomie machen-beide Methoden stehen gleichwertig nebeneinander, ich persönlich fühle lieber, wo ich eingehe“, und nun tasteten die zwei Ärzte Ben´s Rippen ab und zählten sich nach unten, um den optimalen Zugangsort zwischen der fünften und der sechsten Rippe zu finden. Anita hatte bereits das Lidocain angereicht, das Lokalanästhetikum, das steril in eine Spritze aufgezogen wurde und das der junge Arzt jetzt erst in die Haut und dann mit einer zweiten langen Nadel auch in die tieferen Gewebeschichten einbrachte. Auf den mahnenden Blick seines Vorgesetzten hin, erklärte er dazu: „Ich betäube jetzt das Gewebe-Vorsicht es piekt!“ und der Oberarzt nickte zustimmend. Ben zuckte kurz zusammen, blieb aber ruhig liegen und Semir verstärkte nur den warmen Druck seiner Hand ein wenig, um seinem Freund zu signalisieren, dass er ihm beistehen würde. Die Haut fühlte sich an wie Holz und als nach einer kurzen Wartezeit der Oberarzt nun zum Skalpell griff und einen kleinen, nur etwa zwei Zentimeter langen Hautschnitt über dem Unterrand der Rippe machte, tat das zunächst auch gar nicht weh.
„Wie sie ja aus dem Anatomieunterricht wissen, verlaufen in jedem Zwischenrippenraum eine Vene, eine Arterie und der sehr schmerzempfindliche Interkostalnerv. Der Körper schützt seine wichtigsten Organe und wenn ich spüre, wo ich bin, kann ich schon nichts verletzen, das ist der Vorteil, wenn ich ohne Trokar arbeite“, erklärte der erfahrene Arzt, während er geschickt mit dem Finger das kleine Loch in Ben´s Seite dehnte und sich in die Tiefe tastete. Ben spürte außer einem unangenehmen Druck in seiner Seite bisher nichts, auch nicht, als der Oberarzt seinen Finger aus ihm nahm und nun seinen Assistenten aufforderte, es ihm nachzutun. Nun versenkte der Assistenzarzt seinen Finger und als er jetzt angehalten wurde, stumpf das Gewebe zu durchtrennen, machte er das, aber es war sofort fühlbar, wer hier die längere Erfahrung hatte. „Wenn man mit dem Finger nicht mehr weiter präparieren kann, nehme ich persönlich eine Schere und arbeite mich damit vorsichtig weiter in die Tiefe vor!“, soufflierte der Oberarzt und sein Lehrling tat, wie ihm befohlen wurde. Nun kam ein Aufseufzen über Ben´s Lippen und er verzog das Gesicht. Trotz Betäubung war es jetzt vorbei mit der Schmerzfreiheit und Semir überkam ein großes Mitleid. Erst vor wenigen Tagen hatte ihn Sarah derart gequält, um sein Leben zu retten und jetzt ging das weiter und die ganze moderne Medizin konnte ihm seine Schmerzen nicht nehmen. Während der junge Arzt sich jetzt verbissen unter Anleitung weiter in die Tiefe vorarbeitete, begann Ben vor sich hin zu jammern, der Schweiß brach ihm aus allen Poren und gerade als Anita die Spritze mit dem Morphin zückte, um seine Schmerzen wenigstens ein bisschen zu lindern, begann von der Aufregung und Anstrengung sein Herz zu flimmern.
Semir konnte ihn, als der laute Alarmton ertönte, gerade noch los lassen und hatte dabei ein schlechtes Gewissen, wusste aber zugleich, dass er nicht nochmals so einen Stromschlag abbekommen wollte. Der Assistenzarzt allerdings kriegte seinen Finger nicht mehr rechtzeitig aus der Wunde und weil er in der anderen Hand die Schere hatte, die den Strom extra gut leitete und sein Handschuh, der das Instrument hielt, wohl irgendwo ein kleines Loch hatte, das man zwar mit bloßem Auge nicht erkennen konnte, das aber dennoch vorhanden war, erhielt er einen Schlag, der ihn beinahe von den Beinen holte. Er schrie gemeinsam mit Ben laut auf, rammte sich bei dieser Aktion gleich noch die Schere in die Fingerkuppe, rutschte damit anschließend ab und als er dann reflexhaft von dem jungen Polizisten weg sprang, lief das Blut aus seiner Fingerkuppe und er starrte fassungslos auf seine Hand, während Ben´s jammervolle Schreie in ein Schluchzen übergingen.
Anita spritzte geistesgegenwärtig ihrem Patienten ein wenig Morphin und zog dann einen Stuhl heran, auf den sie den verletzten Arzt drückte, der ganz blass um die Nasenspitze war. Der Oberarzt besah sich, ohne sich unsteril zu machen kurz die Wunde seines Kollegen und ordnete an: „Wenn ihr Kreislauf wieder mitspielt, gehen sie in die Ambulanz und lassen das nähen!“ und dann wandte er sich Anita zu und bat sie: „Und sie rufen mir bitte sofort einen Chirurgen aus der Thoraxchirurgie und einen Anästhesisten zu Hilfe, ich befürchte, das schaffe ich nicht alleine!“, denn jetzt sah man erst, wie das Blut pulsierend aus Ben´s Seite schoss.