Sarah rief am Morgen gleich auf der Intensiv an und bekam positive Neuigkeiten. Auch Andrea ließ Semir ausrichten, dass sie ihn am Nachmittag besuchen würde.
Bei Semir kam die Physiotherapie, machte Lymphdrainage an beiden Armen, Bewegungsübungen und Atemgymnastik mit ihm und auch Ben wurde ein wenig durch bewegt und erhielt Übungsaufgaben. „Mann nicht mal im Krankenhaus kann man seine Ruhe haben - ich bin schließlich krank und muss mich ausruhen!“, beschwerte sich der Dunkelhaarige, der wegen der Opiate gerade gut drauf war. Denn eigentlich war sein ganzer Körper ein einziger Bluterguss, die Hufabdrücke des schweren Pferdes zeichneten sich jetzt plastisch auf seinem Bauch ab, aber die Schmerzmittel wirkten und so konnte er auch gut durchatmen. Die junge Krankengymnastin schüttelte lächelnd den Kopf, ließ sich aber nicht von ihrer Arbeit abhalten und so schlummerten wenig später die beiden Freunde erschöpft vor sich hin, das war ja anstrengender als ein Tag auf der Autobahn!
Ben erwachte weil er fühlte dass ihn jemand ansah. Als er die Augen öffnete, konnte er Semir´s Blicke auf sich ruhen sehen und auch ihn erfasste eine tiefe Zuneigung und Erleichterung, die er in den Augen seines Freundes intuitiv erfasst hatte. „Sind wir noch mal davon gekommen“, sprach der aus, was Ben ebenfalls dachte. „Wir beide schaffen das gemeinsam, wir haben uns die Suppe eingebrockt, indem wir die halbwilden Ponys eingespannt und uns so in Gefahr begeben haben, aber jetzt müssen wir schnell gesund werden, damit wir die wahren Schuldigen, nämlich den Fahrer des Spyder und den Pferdehändler, schnappen und hinter Gitter bringen. Stell dir mal vor, da wären deine Kinder drauf gesessen und wären jetzt tot oder schwer verletzt. Und das braucht mir niemand zu erzählen, dass das ein Einzelfall war. Irgendwas haben der Tierarzt und der Händler mit den Tieren gemacht, sonst wären die nicht an einem Tag lammfromm und am nächsten die reinsten Furien. Da läuft etwas, was gefährlich ist und anscheinend gutes Geld abwirft, sonst kann sich kaum jemand einfach so einen Spyder leisten. Ben ich bin so froh dass wir beide leben und wieder ganz gesund werden, ich kann mir keinen besseren Freund und Partner als dich vorstellen, das musste einfach mal gesagt werden“, resümierte Semir und Ben hatte jetzt verdächtig feuchte Augen. „Ich liebe dich auch kleiner Türke!“, murmelte er und jetzt glänzte das nächste Augenpaar feucht.
Gut dass wenig später die Schwester mit zwei Tabletts herein kam und nicht nur Semir im Stuhl sitzend ein Mittagessen bekam, sondern auch Ben eine klare Suppe und sozusagen als Nachtisch eine Flüssignahrung die nach Schokolade schmeckte. „Gott sei Dank, ich wäre sonst auf der Stelle verhungert!“, behauptete er und die Schwester die Semir das Essen eingab musste laut auflachen.
Lucky machte ebenfalls weiter Fortschritte und auch wenn Besuche in der Tierklinik normalerweise nicht erwünscht waren, weil die Tiere den Trennungsschmerz jedes Mal aufs Neue durchlebten, wenn Herrchen oder Frauchen dann wieder gingen, ohne sie mit zu nehmen, die telefonischen Nachrichten klangen durchwegs positiv und Sarah und Hildegard getrauten sich auf zu atmen. Sarah hatte auch mit Jenni geschrieben, die gerade in der Past die Morgenbesprechung absolviert hatte und nun Hartmut, Frau Krüger und den Rest des Teams informierte.
Leider waren der Tierarzt und sein Gehilfe wie vom Erdboden verschwunden, auch wenn in ganz Europa die Fahndung nach ihnen lief. Die Hausdurchsuchung beim Tierarzt hatte Unmengen von aus Rumänien importierten Billigmedikamenten und Impfstoffen zutage gebracht, die teilweise abgelaufen und umetikettiert worden waren, viele Mikrochips die man Tieren implantieren konnte und in einem Tresor Geld und ein Büchlein, das im Augenblick den Polizeibeamten noch Rätsel auf gab.
In Sibiu, der rumänischen Stadt, die von deutschen Siedlern bereits im Mittelalter gegründet worden war, wo auch heute noch einige Siebenbürger Sachsen lebten, die durch einen strengen Ehrenkodex zusammen hielten, hatten sich der Tierarzt und der Händler inzwischen ausgeruht. Allerdings hatte der Ältere fluchend immer mal den Verband an seinem Arm gewechselt und hatte sichtlich Schmerzen. Nach ein paar Telefonanrufen war ein junger Rumäne erschienen und ein Päckchen wechselte gegen eine Bargeldsumme den Besitzer. Wenig später war der Tierarzt, der kurz im Bad verschwunden war, wieder gut drauf. Nur sein langjähriger Kompagnon erahnte den Grund, weil seine Pupillen eng waren. Sie stärkten sich mit deftiger Küche, am Abend kamen Bekannte von früher, überwiegend ältere Männer vorbei und man trank und feierte und amüsierte sich über die Anekdoten, die der Tierarzt erzählte. Obwohl sie in Rumänien waren, verstand der Gehilfe des Händlers fast jedes Wort, wenn so manche Formulierung auch ungewohnt war. „Die Sprache die wir sprechen ist eine sehr alte Sprache, die dem Mittelhochdeutschen ähnlich ist, das in Deutschland vor vielen hundert Jahren gesprochen wurde. Wir sind sehr stolz auf unsere Kultur und sind die Nachfahren der Siedler, die, überwiegend aus Moselfranken, bereits im zwölften Jahrhundert hier heimisch geworden sind. Vor dem Krieg lebten hier noch über 300 000 Siebenbürger Sachsen, inzwischen ist es nur noch ein Zehntel, weil die Jungen fast alle nach Deutschland gegangen sind, wo die Regierung sie frei gekauft hat. Auch ich habe in den achtziger Jahren, frisch verheiratet, aus wirtschaftlichen Gründen die Heimat verlassen. Aber die Sehnsucht nach den Orten meiner Kindheit, meinen Verwandten und Freunden ist immer da. Darum werden wir morgen früh gemeinsam in die Berge fahren und uns eine schöne Zeit mit Jagen und Fischen machen, bis in Deutschland die Suche nach uns abgebrochen wird, danach sehen wir weiter“, erläuterte der Tierarzt seinen Plan und am nächsten Morgen wurde der Corsa, dessen Nummernschild man einfach gegen ein Einheimisches ausgetauscht hatte, nochmals flott gemacht und schwer bepackt strebten sie der Jagdhütte zu.
In der Klinik war inzwischen die Besuchszeit angebrochen, auch Sarah hatte sich daran gehalten, denn sie hatte zu Hause genügend zu tun, die Nachrichten aus dem Krankenhaus hatten gut geklungen und so war Andrea die Erste, die die Intensivstation betrat. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass das Bett neben Semir belegt war, aber da stand gerade eine Pflegekraft davor, die einen Perfusor wechselte, so dass sie nicht erkennen konnte, wer darin lag. Ach Mann, warum musste Semir ausgerechnet in einem Zweierzimmer sein, das war der Erholung ja nicht sonderlich dienlich.
„Schatz, ich liebe dich!“, sagte sie einfach und beugte sich über ihn, um ihm einen Kuss auf den Mund zu geben. Er gefiel ihr heute viel besser, auch war nach der gestrigen Operation das furchteinflößende Metallgestell auch um den zweiten Arm verschwunden und nur elastische Binden reichten von den Fingern bis zur Achsel. Semir schien wieder Kräfte geschöpft zu haben, woher auch immer und strahlte eine innere Ruhe aus, die sie tiefe Erleichterung verspüren ließ. Hier war wieder der alte Semir, der Mann den sie geheiratet hatte, der mutig war, einen Plan hatte und für das was ihm wichtig war, bereit war zu kämpfen. Jetzt war sie auf einmal sicher dass alles wieder gut werden würde.
„Hallo Andrea!“, sagte auf einmal eine wohl bekannte Stimme hinter ihr und Andrea drehte sich erstaunt um. Sie hatte doch die Tür im Blick gehabt, wie war Ben hier herein gekommen? Sie erschrak als sie sah, dass Ben der zweite Patient im Zimmer war und recht blass in seinen Kissen lag. Sein Bein hing in einem Metallgestell, aber er lächelte und schien genauso wie Semir gut drauf zu sein. Was auch immer geschehen war, die beiden Freunde taten sich gut, das war sofort zu erkennen. „Hattest du ebenfalls einen Unfall?“, fragte sie und deutete auf die Extension und Ben nickte. „So kann man das auch ausdrücken. Ich bin den Männern, die die Ponys zum Durchgehen gebracht haben, zu nahe gekommen und sie wollten mich dann von einem riesigen Kaltblut zu Tode trampeln lassen. Aber Lucky und Sarah haben mich gerettet, so bin ich her gekommen“, erzählte er die Kurzfassung und jetzt fiel plötzlich von Andrea die ganze Bitterkeit und die Schuldzuweisungen ab. Sie hatte in Ben den Schuldigen für die schweren Verletzungen ihres Mannes gesehen, aber auch er war wohl nur Opfer gewesen und so waren die drei kurze Zeit danach in eine angeregte Unterhaltung vertieft und bemerkten kaum wie Sarah das Zimmer betrat. „Schatz, gut dass du da bist - wir brauchen sofort vier Tassen Kaffee und zwar einen guten, sonst wandere ich hier aus!“, beauftragte Ben seine Frau und als sie wenig später die vier großen Tassen auf einem Tablett herein brachte wusste sie, es würde alles wieder gut werden!