Ben hatte inzwischen den Fahrstuhl erreicht. Seine Beine zitterten und der Schweiß war ihm ausgebrochen. Dennoch betrat er den Aufzug, drückte den Knopf für das Stockwerk auf dem sich die chirurgischen Intensivstationen befanden und lehnte sich dann erleichtert ein wenig an der Wand an. Schweiß stand auf seiner Stirn und er war eigentlich schon restlos erschöpft. Als sich die Kabine füllte, merkte er, wie es ihm zu eng wurde. Verdammt-die Luft war so schlecht-er hätte sich am liebsten den dicken Bademantel vom Leib gerissen. Als er fühlte, wie das Blut in seinen Beinen versackte und seine Ohren zu rauschen begannen, hielt er sich dennoch mit letzter Kraft aufrecht. Eine mütterlich aussehende Frau um die sechzig, die bereits im Fahrstuhl gewesen war, als er eingestiegen war, musterte ihn besorgt. „Ist ihnen nicht gut?“, fragte sie angesichts der wächsernen Blässe und jetzt nickte Ben.
Verdammt-gerade war sein größtes Problem nicht um zu fallen. Sein Besuch bei Sarah war in weite Ferne gerückt, er musste zusehen, dass er wieder in sein Zimmer zurück und ins Bett kam. „Warten sie ich helfe ihnen-dritter Stock-da wo sie eingestiegen sind?“, fragte die Frau und Ben konnte nur leise „Dankeschön“, murmeln und es bejahen. Der Fahrstuhl hatte sich inzwischen geleert, die Frau drückte entschlossen den Knopf für den dritten Stock und bugsierte dann Ben am Ellenbogen nach dem Erreichen desselben aus der engen Kabine. „Ja die Luft da drinnen ist immer grenzwertig, gerade wenn man noch nicht ganz fit ist. Welche Zimmernummer haben sie denn?“, plapperte sie dann freundlich. Würde ihr Mann eben noch ein Weilchen auf ihren Besuch warten müssen, sie würde wie jeden Tag sowieso den ganzen Nachmittag bei ihm verbringen und der attraktive junge Mann, dem es sichtlich mies ging, benötigte jetzt dringender ihre Hilfe. Der junge Polizist setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Er sah seine Umgebung nur noch verschwommen, in seinen Ohren hatte ein helles Pfeifen eingesetzt und er hätte alleine nicht zum Zimmer zurück gefunden.
Als sie es erreicht hatten-die Frau hatte ihn inzwischen unter gefasst und fragte, ob sie eine Schwester holen solle-stieß er erleichtert die Türe auf, riss sich den Bademantel, der inzwischen von seinem Schweiß durchtränkt war, vom Leib und erwischte mit letzter Kraft sein Bett, in das er sich sofort hinein fallen ließ.
„Um Himmels Willen-das ist ja ein Isolierzimmer und ich habe sie angefasst! Dürfen sie überhaupt draußen herum laufen, oder habe ich mir jetzt was geholt, nur weil ich dumme Kuh mal wieder so hilfsbereit war?“, keifte die Frau und starrte ihre Hände mit denen sie Ben berührt hatte, an, als wenn sie damit in Jauche gerührt hätte. „Was haben sie überhaupt Ansteckendes?“, fragte sie dann, immer lauter werdend, aber als von dem Patienten, der sich völlig erschöpft auf dem Bett ausgestreckt hatte und erst langsam wieder zu Atem kam, keine Antwort erfolgte, zog sie fluchend die Tür zu, die mit einem lauten Knall ins Schloss fiel und machte sich auf den Weg zum Stationszimmer. Dort würde sie fragen, was sie jetzt tun sollte und dieses Mal wäre es definitiv das letzte Mal gewesen, dass sie nett zu wildfremden Menschen war-ihr Siegfried konnte das auch immer nicht verstehen und hatte sie schon oft deswegen getadelt!
Eine Schwester der Spätschicht bereitete dort gerade die Medikamente für den kommenden Tag vor und sah überrascht auf, als eine Frau wie ein wütendes Schlachtross in den Raum stürmte, der ausdrücklich nicht für Patienten und Besucher gedacht war, was an der Tür auch angeschrieben stand. Hier waren überall patientenrelevante Daten zu lesen, schon aus Datenschutzgründen durften sich hier nur Mitarbeiter aufhalten. „Bitte verlassen sie den Raum-um was geht es überhaupt?“, sagte sie ein wenig schärfer, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. „Jetzt kommen sie mir nicht auch noch blöd, wenn sie ihre Patienten schon nicht unter Kontrolle haben!“, keifte die Besucherin. „Ich habe gerade aus Gutmütigkeit den jungen Mann aus Zimmer 304 zurück begleitet, dem im Fahrstuhl schlecht geworden ist und dort sehe ich, dass der isoliert ist. Habe ich mir jetzt Pest und Cholera geholt, ich möchte sofort einen Arzt sprechen!“, schnaubte die empörte Frau und die Pflegekraft seufzte innerlich auf.
Verdammt-als hätten sie nicht sowieso schon genügend Arbeit! Zimmer 304 gehörte zum Bereich ihrer Kollegin, die gerade im Haus unterwegs war. Sie holte sich erst einmal die bereits angelegte Patientenkurve und las die Diagnosen. Die Frau war derweil in der Tür stehen geblieben. Verdammt-ein unbekannter Keim-sie hatte keine Ahnung wie ansteckend und auf welche Art und Weise übertragbar der war. Sie würde den Arzt anrufen, der sollte gemeinsam mit der Hygieneabteilung klären, was sie jetzt mit der Besucherin unternehmen sollten. Und es war die Höhe, wenn sich Patienten nicht an Anweisungen hielten, man hatte diesem Herrn Jäger sicher gesagt, dass er das Zimmer nicht verlassen dürfe, dem sollte der Arzt nachher noch gehörig den Kopf waschen.
Geistesgegenwärtig schob sie einen Stuhl herbei, stellte ihn in eine Nische im Flur, bat die Frau sich zu setzen und dann griff sie zum Telefon. Der Stationsarzt war allerdings gerade in einer Besprechung und würde erst später vorbei kommen. So beobachtete die Besucherin nach dieser Information jetzt argwöhnisch, wie die Pflegekraft sich Einmalhandschuhe anzog und begann, den Türrahmen und die Klinke mit Desinfektionstüchern ab zu wischen, wo sie hin gefasst hatte. Na toll-das sah gar nicht gut für sie aus und ihr Siegfried würde sich ebenfalls langsam schon Sorgen machen, wo sie denn blieb. Dann leuchteten mehrere Patientenrufe auf und die Schwester hatte alle Hände voll zu tun, die ab zu arbeiten, zwischendurch ans Telefon zu gehen usw. Sie war gerade mal zwei Stunden im Dienst und war schon fix und fertig-so langsam sollte sie sich nach was anderem umschauen!
Semir saß an seinem Schreibtisch und starrte geistesabwesend auf den Computerbildschirm. Er konnte sich schlecht konzentrieren und las dieselbe Akte inzwischen wohl bereits zum dritten Mal, ohne zu verstehen was darin stand. So hatte das keinen Wert! Dann läutete sein Telefon, Hartmut war am Apparat. „Semir-Ben geht es deutlich besser, er hat keine Magensonde mehr und hat ohne Probleme heute das Pulver eingenommen, allerdings funktioniert das mit der Krankenhauspsychologin nicht-stell dir vor, die hat zufälligerweise auch eine Irisheterochromie und Ben hat sie angesehen als wäre sie der Teufel in Person und wollte dann vor ihr fliehen. Die haben keine Alternative und ich habe mir jetzt überlegt, ob wir nicht diesen nieder gelassenen Psychologen, der Ben vor ein paar Jahren schon mal behandelt hat, hinzuziehen sollten-der konnte ihm damals doch gut helfen-wie hieß der noch mal?“, fragte Hartmut und Semir konnte den Namen wie aus der Pistole geschossen wiedergeben. „Philipp Schneider-und ich weiß auch, wo seine Praxis ist-das ist eine gute Idee, vielleicht kann der Ben wieder in die richtige Spur bringen und von seinen Wahnvorstellungen befreien-er hatte das letzte Mal wirklich einen guten Draht zu ihm! Ich werde persönlich dort vorbei fahren und ihm das Dilemma schildern-sowas bespricht sich schlecht am Telefon“, freute sich Semir auf eine Aufgabe, die seinem besten Freund helfen konnte.
„Ach übrigens-Sarah hat sich ebenfalls ein wenig stabilisiert, sie ist zwar immer noch schwer krank und beatmet, aber inzwischen besteht wieder Hoffnung und während ich bei ihr war und mich auch noch ausführlich mit ihren Eltern unterhalten und denen gezeigt habe, wie man das Pulver verabreicht, was sie ab sofort übernehmen werden, wurde Ben auf die Normalstation verlegt. Ich denke der wird dort auch private Sachen brauchen, vielleicht kannst du dich ebenfalls darum kümmern, ich muss irgendwann auch mal was arbeiten, sonst reißt mir die Krüger den Kopf runter!“, bemerkte Hartmut und Semir musste grinsen. „Jetzt weißt du, wie Ben und ich uns immer fühlen, aber im Grunde ihres Herzens ist die Chefin gar nicht so schlimm wie sie immer tut!“, rief er in den Hörer und als ein lautes Räuspern hinter ihm erklang, drehte er sich erschrocken um und errötete, den niemand anderes als Kim Krüger stand hinter ihm. "Bis dann Hartmut-tschau-tschau!“, fügte er noch schnell hinzu und der Kriminaltechniker versicherte ihm, die abendliche Pulvergabe bei Ben wieder zu übernehmen.
„So dann bin ich also gar nicht so schlimm?“, bemerkte die Chefin mit einem leisen Lächeln und Semir erhob sich und griff nach seiner Jacke, die er lässig über Ben´s Stuhllehne geworfen hatte. „Frau Krüger-tut mir leid, wenn wir über sie gesprochen haben-aber sie haben ja gehört, ich habe Hartmut soeben versichert, dass ich sie schwer in Ordnung finde. Stellen sie sich vor-Ben wurde auf die Normalstation verlegt, das ist doch ein gutes Zeichen und ich hole ihm jetzt Sachen von Zuhause und besorge ihm einen privaten Psychologen, in der Klinik bekommen die das nicht gebacken!“, rief er und war schon fast draußen. Kopfschüttelnd sah Kim ihm nach und ging dann in ihr Büro-es war besser wenn Gerkhan sich um diese Dinge kümmerte, am Schreibtisch brachte der heute sowieso nichts zustande.
Vergnügt machte Semir sich auf den Weg-endlich ging es voran und er könnte sich fast ohrfeigen, dass er an Philipp Schneider nicht schon eher gedacht hatte. Dessen Praxis lag auf dem Weg zu Ben´s Gutshof und zufälligerweise hatte gerade der letzte Patient das gemütlich eingerichtete Behandlungszimmer verlassen und der Psychologe trank soeben eine Tasse Kaffee und aß ein paar Kekse, als Semir herein stürzte. „Herr Gerkhan-was führt sie zu mir?“, fragte er überrascht und als Semir ihm im Schnelldurchlauf erzählte, was Ben angetan worden war und wie paradox der jetzt reagierte, hörte er konzentriert zu und versprach, gleich in der Klinik vorbei zu schauen. „Mir ist ein Patient ausgefallen, der heute stationär in der Psychiatrie eingeliefert wurde, da ging ambulant nichts mehr, da hat Ben jetzt Glück-dessen ganze Termine sind frei geworden und der war gerade in täglicher Intensivtherapie, immer als letzter Klient, weil er keinen Zeitdruck aushalten konnte!“, berichtete er und griff auch schon nach seinem lässigen Sakko. „Können sie mich mitnehmen, dann muss ich mich nicht in die proppenvolle U-Bahn quetschen?“, fragte er dann noch und Semir nickte zustimmend.
Er dankte Gott, dass der Psychologe-übrigens als Einziger den er kannte-so unkompliziert war und dem anscheinend auch wirklich an Ben etwas zu liegen schien. Auch dass der aktuell nicht nach Behandlungsverträgen und Kostenübernahme fragte, sondern einfach aktiv wurde-sein Geld würde er bekommen und wenn Semir das aus eigener Tasche berappen müsste.
„Das klingt sehr interessant was sie mir da erzählen und wie ich sehe, ist das Ganze an ihnen auch nicht spurlos vorbei gegangen“, bemerkte der sportliche Mann, als er auf dem Beifahrersitz saß und Semir sich über Schleichwege durchs nachmittägliche Köln quälte. Es war zwar dichter Verkehr, wie immer werktags, aber die Rush-Hour hatte noch nicht begonnen, so kamen sie relativ gut durch. „Doch es setzt mir sehr zu, dass Ben mich nicht an sich heran lässt und mir zutraut, ihm etwas Böses zu wollen-er ist doch mein bester Freund“, klagte Semir und der durchtrainierte Mann in Anzughose, Poloshirt und lässigem Sakko neben ihm beobachtete ihn konzentriert. „Ich hoffe ich kann ihnen beiden helfen und vor allem natürlich Ben!“, sagt er warm, denn er war während seiner letzten Therapie zum „Du“ mit seinem Patienten über gegangen, wovon eigentlich streng abgeraten wurde, aber Philipp Schneider hielt sich nicht immer an Regeln und vermutlich funktionierte das deswegen zwischen ihm und dem dunkelhaarigen Polizisten so gut.
„Ich lasse sie jetzt raus, fahre zum Haus meines Freundes und packe ihm dort ein paar Sachen zusammen-was man im Krankenhaus eben so braucht. Ich weiß leider nicht auf welchem Zimmer er liegt, aber das werden sie sicher raus finden!“, bemerkte der kleine Türke, während er direkt vor der Klinik hielt und der Therapeut, der schon aus dem BMW gesprungen war, nickte und sagte dann mit einem entwaffnenden Lächeln, das Semir einfach gut tat: „Und wenn nicht, wende ich mich vertrauensvoll an die Polizei-wir werden das Ganze schon wieder gerade rücken“, fügte er noch hinzu und zum ersten Mal seit Tagen fühlte Semir sich wieder richtig gut.