„Frau Krüger, wollen sie Semir besuchen?“ fragte Andrea, die sich gerade auf den Heimweg gemacht hatte und verwundert die Gestalt der Chefin erkannte. „Nein, äh, eigentlich doch!“ stammelte die, was ihr einen verwunderten Blick von Semirs Frau einbrachte. „Soll ich ihnen zeigen, wo sie hinmüssen?“ erbot sich Andrea und wollte sich schon wieder umdrehen, als Kim sie am Ärmel packte. „Nein, Andrea, eigentlich komme ich gerade von der Intensivstation. Ben liegt jetzt auch dort!“ erklärte sie kurz. Nun war es an Andrea, sie mit offenem Mund anzusehen. „Heute Nachmittag bin ich gekommen, erstens um nach Semir zu sehen und zweitens, um Ben seine Suspendierung mitzuteilen. Wir haben uns ganz kurz unterhalten und dann ist er plötzlich umgefallen. Er wurde untersucht und dann sofort operiert, weil er anscheinend vom Unfall her einen Milzriss hatte. Jetzt liegt er an lauter Schläuchen und Kabeln da drin und mir war gerade ganz schummrig, als ich ihn gesehen habe!“ erklärte sie Andrea.
Die nickte verständnisvoll und sagte: „Das kann ich verstehen, mir ging es genauso, als ich vor drei Tagen den Anruf von Ben bekommen habe, dass Semir bei einem Autounfall schwer verletzt wurde und gesehen habe, wie er da angeschlossen an die ganzen Geräte lag. Als mir dann Ben und die Ärzte gesagt haben, dass mir niemand eine Garantie geben kann, ob er jemals wieder aus dem Koma aufwacht, war ich völlig verzweifelt und Ben musste mich festhalten, sonst wäre ich einfach da reingestürmt und hätte Semir geschüttelt und angeschrien, damit er die Augen endlich aufmacht!“ erinnerte sie sich mit Schaudern. „Ben hat mich da getröstet, aber obwohl er ja genauso verschrammt wie Semir ausgesehen hat, hat er keinen Pieps gesagt, dass es ihm ebenfalls nicht gut geht!“ sagte sie dann verwundert.
„Anscheinend hat er sich gar nicht untersuchen lassen, sondern seine Beschwerden verharmlost, um den Fall zu lösen. Als ich ihm gesagt hatte, dass er draußen ist und wegen Befangenheit nicht ermitteln darf, war er zornig und hat sich, wie schon so oft, nicht an meine Anweisungen gehalten. Wie wir ja wissen, hat er ganz alleine Jan Behler überführt, diesem McConnor das Leben gerettet und musste dabei mit anschauen, wie zwei seiner Jugendfreunde zu Tode kamen, die eine durch eine Polizeikugel und der andere durch Selbstmord. Jetzt wollte Frau Schrankmann auf die Beschwerde von McConnor reagieren, der von ihm niedergeschlagen wurde und hat mich regelrecht gezwungen, ihn deswegen kurzzeitig aus erzieherischen Gründen zu suspendieren. Ich habe ihm das mitgeteilt, er hat mir widersprochen und sich maßlos aufgeregt und dann war er plötzlich bewusstlos!“ erzählte sie Andrea die Vorkommnisse des Nachmittags.
Andrea dachte eine Weile nach und sagte dann erschrocken: „Semir hat ja den Wagen gefahren, wodurch das passiert ist. Wenn er jetzt erfährt, dass Ben bei dem Unfall auch schwer verletzt wurde, wird er sich sehr aufregen und schuldig fühlen-ich kenne ihn doch! Wir dürfen ihm das erst sagen, wenn Ben überm Berg ist, sonst bekommt er auch noch einen Rückschlag!“ überlegte sie laut und Frau Krüger stimmte ihr zu.
Die beiden Frauen beschlossen Stillschweigen zu bewahren und nach kurzer Beratschlagung wollte Frau Krüger nun Konrad und Julia informieren und Andrea konnte nicht anders, sie musste nochmals auf die Intensiv, um Ben mit eigenen Augen zu sehen. Während Frau Krüger nach draußen ging, um die Nummer vom alten Jäger herauszusuchen, drehte sich Andrea um, um wieder an der Intensivstation zu läuten. Die Schwester an der Rufanlage ließ sie herein und als Andrea ihr ihr Anliegen schilderte, war sie erst unschlüssig, ob das wohl in Ordnung war, wenn ihr hilfloser Patient einfach besucht wurde, obwohl er sich ja nicht äußern konnte, ob ihm das Recht war. Frau Krügers Besuch hatte er ja vor der OP sozusagen noch erlaubt, aber jetzt begab sich die Schwester rechtlich auf dünnes Eis, wenn sie Andrea zu Ben ließ. Als sie ihr Anliegen mit ihrem Kollegen besprach, konnte sich der erinnern, dass er Ben und Andrea am Unfalltag Arm in Arm vor der Intensiv gesehen hatte. „Die beiden haben sicher ein enges Verhältnis-lassen wir sie kurz zu ihm und morgen wird er uns dann selber sagen, ob ihm das Recht ist!“ beschlossen die Intensivmitarbeiter gemeinsam.
Also wurde Andrea zu Ben gelassen und war genauso erschrocken, über die geisterhafte Blässe ihres Freundes, auf den wirklich der Ausdruck- weiß, wie die Wand- passte. Auch sie betrachtete entsetzt die Schläuche und Kabel, allerdings war ihr bewusst, dass Semir auch so schlecht ausgesehen hatte und jetzt schon wieder auf dem Wege der Besserung war. Sie trat vorsichtig näher und griff unter der Decke, die sich von dem Warmluftgebläse wölbte, nach Bens immer noch eiskalter Hand. „Werd´ bald wieder gesund, wir brauchen dich doch!“ flehte sie mit Tränen in den Augen, aber es kam keinerlei Reaktion. Die Schwester bat sie, jetzt zu gehen und Andrea drehte sich langsam um und verließ wie eine Marionette die Intensivstation, um nach Hause zu fahren, wo ihre Mutter mit Ayda und Lilly auf sie wartete.