Wenig später standen der Neurochirurg und eine Schwester vor ihm. „Herr Gerkan, ich möchte jetzt gerne die Drainagen ziehen!“ kündigte er an, während die Schwester schon mit der Schere den Kopfverband am Kinn aufschnitt. Er wurde gebeten, sich ein wenig aufzusetzen und dann konnte man den Verband wie eine Mütze abnehmen. Semir fühlte sich wie befreit, denn es hatte langsam zu jucken begonnen.
Der Neurochirurg hatte seine Hände desinfiziert und Einmalhandschuhe darüber gezogen. Erst kontrollierte er die feine Narbe am Haaransatz, die aber gut zu heilen schien. Natürlich war sie noch an manchen Stellen blutunterlaufen, aber insgesamt doch reizlos. Er betastete den ganzen Schädel, ob irgendwo ein Bluterguss unter der Haut wäre, der zu unschönen kosmetischen Ergebnissen führen könnte, aber alles war in bester Ordnung. Nun nahm er noch die Schlitzkompressen weg, die um die Redoneinstichstellen geschlungen waren, was schon etwas ziepte, da sie durch getrocknetes Blut ein wenig fest hingen. Die Schwester sprühte Desinfektionsmittel auf die Stellen und der Arzt wischte alles mit frischen, sterilen Kompressen sauber. Er ließ sich eine Pinzette und ein feines Scherchen geben und entfernte zunächst einmal die beiden Fäden, mit denen die Drainagen angenäht waren. Der Abwurf stand bereits neben dem Bett und der Arzt legte die beiden Flaschen schon mal hinein. Semir wurde es jetzt immer mulmiger zumute. Wenn er sich vorstellte, dass diese Schläuche direkt in sein Gehirn führten, dann konnte er nur hoffen, dass der Neurochirurg wusste, was er tat. Der sprach mit ihm, aber Semir war gerade nicht fähig, zu verstehen, was er zu ihm sagte, sondern begann stoßweise zu atmen und fühlte sich ganz schrecklich. Die Schwester nahm beruhigend seine Hand und bis er sich versah, bemerkte er ein kurzes Rupfen auf seinem Kopf und schon war die erste Redondrainage entfernt und im Mülleimer gelandet. Semir atmete er leichtert auf-er hatte sich das viel schlimmer vorgestellt! Die zweite Drainage flutschte allerdings nicht so leicht heraus, sondern der Arzt musste mit einer Kompresse gefühlvoll ziehen, aber plötzlich lockerte sich auch dieses grüne, gelochte Schläuchlein und verschwand ebenfalls im Abwurf. Die Einstichstellen wurden nochmals abgesprüht und dann mit zwei kleinen Pflastern versorgt. Die Narbe am Haaransatz ließ man offen, denn das gab erfahrungsgemäß die schöneren Narben.
„So, Herr Gerkan, jetzt haben sie´s geschafft!“ erklärte der Neurochirurg und checkte noch kurz die Kraft, die Beweglichkeit und die Reflexe. Semirs Mundwinkel hing auch nicht mehr und als er auf Aufforderung sogar pfeifen konnte, schlich ein feines Lächeln über das Gesicht des Arztes. „Herr Gerkan, also meine Prognose ist, dass diese Verletzung völlig folgenlos ausheilen wird. In der nächsten Zeit müssen sie darauf achten, dass sie sofort Bescheid sagen, wenn sie Kopfschmerzen kriegen, oder die Sprache wieder schlechter wird. Jetzt wird ein eventuell entstehender Hirndruck nicht mehr nach außen abgeleitet, deshalb bleiben sie auch noch ein wenig auf der Intensiv, damit wir sie genauestens überwachen können!“
Semir nickte stumm, aber der Neurochirurg stellte ihm noch ein paar kognitive Fragen, die Semir in ganzen Sätzen beantworten musste. Er beurteilte genauestens die Sprache, die dazugehörige Gestik und auch den Inhalt der Sätze, die Semir von sich gab. „Wie gesagt-ich bin sehr zufrieden, Herr Gerkan und wünsche ihnen alles Gute und einen schönen Tag!“ verabschiedete er sich dann nach einer Weile und Semir ließ sich aufseufzend wieder in sein Kissen zurückfallen. „Könnte ich mal einen Spiegel haben?“ fragte er die Schwester, die noch kurz aufräumte und die nickte und kam wenig später mit dem Verlangten wieder. Semir betrachtete seinen kahlgeschorenen Kopf und war überrascht, dass das gar nicht so schlimm aussah, wie er sich vorgestellt hatte. Seitdem seine Haarpracht ja sowieso immer weniger wurde, trug er sie seit geraumer Zeit streichholzkurz und so war der Unterschied gar nicht so gravierend. Er war zwar gespannt, wie Andrea auf sein Aussehen reagieren würde, aber er selber fand es nicht gar so schlimm und konnte sich deshalb beruhigt zurücklehnen und ein wenig erholen.
Die Schwester kam mit dem jungen Pfleger wieder und gemeinsam versorgten sie noch Ben, bei dem inzwischen der Stationsarzt die nächste Bluttransfusion angehängt hatte. Ganz ruhig saugten sie ihn ab, lagerten ihn leicht auf die andere Seite und ließen ihn dann wieder in Ruhe. „Er soll später noch einen Picco bekommen!“ teilte die Schwester ihrem Kollegen mit, der die letzte Stunde mit einem anderen beatmeten Patienten zu einer Untersuchung im CT gewesen war. „Vielleicht schieben sie das aber auch auf die Spätschicht!“ hoffte der Pfleger, dem es heute an Zusatzarbeit reichte. Diese Fahrten durchs Haus mit beatmeten instabilen Patienten waren sehr aufwendig und die Routinearbeiten blieben dann oftmals liegen. Gemeinsam verließen die beiden Pflegekräfte wieder die Intensivbox und Semir fragte sich die ganze Zeit, was das wohl war, was Ben noch bekommen sollte. Nachdem ihm diese Frage im Augenblick aber niemand beantworten konnte, schloss er noch ein wenig die Augen und ruhte sich aus, bis das Mittagessen kam.