Am nächsten Morgen war es so weit. Nach der Morgentoilette bekamen Semir und Ben erst mal ein leichtes Frühstück und wurden dann von ihren arteriellen Zugängen befreit und auf die Normalstation verlegt. Endlich beinahe ohne Schläuche, bekamen sie ein schönes Doppelzimmer mit Fernseher und Sarah machte sich dann sogleich auf den Weg mit der Straßenbahn zu Ben´s Wohnung. „Schatz-wo ist mein Auto?“ wollte sie erst noch wissen. Verdammt, sie hatte das ja vor ihrer Entführung nur kurz vor Ben´s Haus abgestellt. „Ach, das habe ich ganz vergessen dir zu sagen!“ grinste Ben. „Das wurde wegen Parkens im Halteverbot abgeschleppt und du kannst es gegen ein paar hundert Euro Gebühr am Fahrzeugsammelplatz abholen!“ Sarah sah ihn erst geschockt und ungläubig an, aber als Ben sich dann ein Lachen nicht verkneifen konnte, verpasste sie ihm eine angedeutete Ohrfeige. Nun mischte Semir sich ein. „Lass dich von dem nicht ärgern-wie man sieht, geht´s dem schon wieder viel zu gut. Nach der Spurensicherung wurde das brav auf seinen Platz in der Tiefgarage gestellt, wo es eigentlich noch zu finden sein sollte.“
Nun machte Sarah, die wunderbar geschlafen hatte, sich auf, um für die beiden Helden ein paar Sachen zu holen. Als sie zuerst Ben´s Wohnung betrat, hielt sie geschockt die Luft an. Obwohl sich, anders als üblich, die Spurensicherung schon Mühe gegeben hatte, kein allzu großes Chaos zu hinterlassen, war es trotzdem unaufgeräumt und schmutzig. Früher hatte Ben eine Putzfrau beschäftigt, aber das hatte sie abgestellt. Sie wollte einfach nicht, wenn jemand in ihren persönlichen Sachen kramte und deshalb hatte sie das Putzen selber übernommen. Außerdem war sie gerade heftig dabei, Ben zu ein wenig mehr Ordnung zu erziehen und ihre Bemühungen hatten schon erste Früchte getragen. Hier war allerdings nun eine Großputz-und Aufräumaktion angesagt. Die Erinnerung an die Entführung war plötzlich auch wieder sehr präsent, sie musste sich kurz am Türrahmen festhalten, als die Erinnerungen auf sie eindrangen. Allerdings musste sie sich wirklich keine Sorgen mehr machen, denn alle Schwerverbrecher aus dieser Aktion waren entweder tot, lagen bewacht im Krankenhaus, oder saßen im Gefängnis. So holte sie eine Sporttasche für Ben und packte die notwendigsten Sachen für ihn zusammen. Auch ihr Handy, das achtlos auf dem Wohnzimmertisch lag, nahm sie mit.
Dann holte sie ihr Auto aus der Tiefgarage, um anschließend zu den Gerkans zu fahren, um Semir´s Sachen zu holen. Dessen Tasche stand ja schon gepackt bereit, Susanne und Margot hatten die ja schon einmal vorbereitet gehabt, bevor Semir´s Gesundheitszustand sich so dramatisch verschlechtert hatte. „Wir hätten die Sachen heute Nachmittag mitgebracht, aber das ist jetzt lieb von dir, dass du dran denkst!“ begrüßte Andrea sie freundlich, die mit ihrer Roboterhand schon selber die Tür geöffnet hatte. „Wir kommen dann heute Nachmittag mit den Kindern!“ kündigte Andrea noch an, als sie die Station und die Zimmernummer erfahren hatte und nun machte sich Sarah endgültig auf den Weg zurück zur Klinik.
Als sie ins Zimmer kam, staunte sie Bauklötze. Ben war gerade, unterstützt von dem netten Physiotherapeuten, dabei, seine ersten Runden mit dem Gehwagen, an dem der Thoraxdrainagenbehälter und der Urinbeutel hingen, durchs Zimmer zu drehen. Er strahlte übers ganze Gesicht, als er Sarah´s Überraschung bemerkte. „Jetzt bin ich aber froh, dass ich dir was Anständiges zum Anziehen mitgebracht habe, sonst werden wir hier noch alle blind!“ wies Sarah auf seine nackte Kehrseite hin, die aus dem hinten offenen Flügelhemd hervorlugte. Das war jetzt die Revanche für den Schreck mit dem Auto. Semir konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und Ben, der erst ein wenig angesäuert gekuckt hatte, konnte sich dann ebenfalls ein Lächeln abringen. Na warte, wenn er wieder fit war-das würde Sarah büßen, vielleicht an nem Sonntagnachmittag im Bett, was er ihr auch gleich mitteilte!
Als Ben schließlich am Bettrand saß und der Krankengymnast mit seinem Gehwagen wieder abgezogen war, half Sarah erst Ben ein T-Shirt und eine lockere Sporthose, die nicht drückte, anzuziehen. Routiniert pfriemelte sie die Schläuche und den Katheter durch die verschiedenen Ärmel-und Beinöffnungen. Semir sah genau zu und als Sarah dann höflicherweise kurz das Zimmer verließ, schälte auch er sich aus seinem Flügelhemd und schlüpfte in seine Privatklamotten. Ach wie tat das gut-ein nächster Schritt zur Normalität war angebrochen. Semir wurde wenig später noch seinen Blasenkatheter los, er konnte ja jetzt problemlos zur Toilette gehen und er brauchte auch die Infusion nur noch für die intravenöse Antibiose, bei Ben würde das wegen der doch schwerwiegenderen Verletzungen noch eine Weile dauern, aber sie waren trotzdem froh, dass sie überhaupt schon so weit waren.
Auch die Psychologin kam nochmal und wie am Vortag sprach sie erst mit Ben und nahm danach Sarah wieder mit in ihr Büro. Sie hatte auch Semir freundlich gefragt, ob sie ihm helfen könne, aber der hatte abwehrend die Hand gehoben. „Nein danke, lieb gemeint, aber ich komme schon alleine zurecht!“ hatte er der Dame freundlich mitgeteilt und so war es ja auch.
Als nachmittags Semir´s Familie aufschlug, war ein Trubel im Patientenzimmer und als nach der Besuchszeit Semir und Ben mit geröteten Wangen zurückblieben-Ayda und Lilly hatten ausgelassen das ganze Zimmer aufgemischt-drehte Ben sich zu seinem Freund. „Hey, hast du schon gemerkt, das Leben hat uns wieder!“ sagte er glücklich und Semir konnte dazu nur nicken.