Semir stürmte, nachdem er die Tür zum Schloss geöffnet hatte durch die Eingangshalle los. Hartmut folgte ihm ein wenig langsamer. Im Gegensatz zu Semir, der nachdem er den Lichtschalter betätigt hatte, einfach blitzschnell weitergerannt war, nahm Hartmut die Dinge, die hier ausgestellt waren, durchaus wahr.
Semir durchquerte die Wohnräume, aber inzwischen konnte man, zwar gedämpft, aber doch deutlich, wieder hören, wie Ben überrascht und voller Schmerzen aufschrie. Semir suchte, wo es in Richtung der Schreie führte und wenig später fand er sich auf dem Weg nach unten zum Verließ. Als Semir dort anlangte, sah er sich hektisch um. Er war sich so sicher gewesen, seinen Freund da zu finden, aber der Kerker war leer! Allerdings konnte Semir verschiedene Folterwerkzeuge wahrnehmen und dazu Blut auf dem Boden. Ben´s Blut? Momentan war alles ruhig und so suchte er hektisch, wohin sein Freund wohl verschwunden sein könnte. Er erklomm wieder die Stufen nach oben und tatsächlich-vorhin von ihm nicht bemerkt, führte noch ein anderer Weg augenscheinlich ins Freie! Semir kam an der zersplitterten Holztür vorbei und meinte dann, seinen Augen nicht zu trauen, als sich sein Sehvermögen an die Gegebenheiten des Burghofs angepasst hatte.
Ben, der auch im Halbdämmer und auf die Entfernung nicht gut aussah, lag festgebunden auf einem Tisch mitten im Hof. Nicht weit von ihm loderte ein Lagerfeuer, das unter anderen Umständen sicher romantisch gewesen wäre. Aber so waren die herumtanzenden Gestalten eher einer irren Phantasie, als dem realen Leben entsprungen. Teufel, Vampire und Werwölfe umrundeten den Tisch und bei jeder Berührung mit Ärmel oder Klaue schrie Ben kurz auf. Obwohl das Farbensehen in diesem diffusen Licht schwierig war, konnte Semir erkennen, dass das Blut von Ben´s Armen und Beinen auf den Boden tropfte.
Als wäre die Choreographie abgesprochen, verharrten die Tänzer abrupt, ein anderer übernahm die Handykamera und der wilde Reigen begann von neuem. Einer der Tänzer ergriff nach einer ganzen Weile, in der Semir fieberhaft überlegte, wie er alleine mit diesen Typen fertig werden sollte, mit einer spielerischen Bewegung die mit Eisenzacken gespickte Walze und setzte sie nachlässig auf Ben´s Oberkörper an. Als sich die scharfen Zacken in die Brust seines Opfers gruben, schrie der erneut gepeinigt auf. In diesem Moment zückte Semir seine Waffe und rief laut und autoritär: „Stehenbleiben, Polizei! Werfen sie die Waffen weg und treten sie mit erhobenen Händen vom Tisch weg!“ Nach einer Schrecksekunde ertönte wildes Gelächter und völlig unbeeindruckt begann der Reigen fortzufahren. Semir trat mit gezogener Waffe näher, aber sobald er in Ben´s Richtung aufrückte, hörten zwei der Gestalten auf zu tanzen und traten drohend auf Semir zu.
Was sollte er tun? Von Hartmut war nichts zu sehen und außerdem war der, wie fast immer, unbewaffnet. Inzwischen waren die beiden Gestalten so nahe bei ihm, dass er, sogar wenn er schoss, nie alle außer Gefecht setzen konnte. Verdammt, was sollte er bloß tun, um Ben zu retten? Auf einmal nahm er hinter sich eine Bewegung war. Als er sich umdrehte, meinte er vor Schreck erstarren zu müssen-da war noch so ein Typ! Er hatte Teile einer Ritterrüstung an, einen dunkelroten Umhang um und auf dem Kopf prangte eine Art afrikanische Maske. Große Hörner wuchsen aus seinem Kopf und das Ganze war irgendwie unwirklich beleuchtet. Als die Gestalt ihre elektronisch veränderte Stimme erhob, meinte Semir seinen Ohren nicht zu trauen. Zwar verzerrt, aber unverkennbar-das war Hartmuts Stimme. Er hob an: „Meine Freunde, ich bin Minos, der Hadesrichter! Folgt mir, dann werde ich euch zeigen, was Satan für euch, seine treuen Diener, vorgesehen hat!“
Semir meinte nun, auch seinen Augen nicht zu trauen. Weil ihre Sinne, auch durch den Genuss der Drogen und die Ekstase, in die sie sich getanzt hatten, vernebelt waren und sie nicht mehr zwischen ihrem Spiel und der Realität unterscheiden konnten, kamen zögernd die sechs unheimlichen Gestalten, gingen an ihm vorbei und folgten, wie eine Horde Schafe, der Gestalt, die vorausging. Hartmut-denn er musste das sein- geleitete sie zu einem Kellerraum, den er zuvor ausfindig gemacht und in dem er Licht angemacht hatte. Er bat sie, mit einer höflichen Geste, nacheinander einzutreten und als der letzte darin verschwunden war, warf er die Tür zu und legte den Riegel vor. Es dauerte keine 30 Sekunden, dann bemerkten die Freaks, dass sie gelinkt worden waren und warfen sich zornig von innen gegen die Tür, aber die hielt den Angriffen stand. Hartmut riss sich aufatmend die merkwürdige Verkleidung vom Körper und endlich löste sich auch Semir aus seiner Erstarrung. Während Hartmut sein Smartphone, das er zum Stimmenverzerren genutzt hatte, wieder auf Normalbetrieb umstellte, die Zentrale verständigte und einen RTW und Notarzt bestellte, rannte Semir, so schnell er konnte, zu Ben.
Der sah ihn, mit vor Schmerz verdunkelten Augen, an und stammelte undeutlich, während Semir in Windeseile die Stricke löste. „Semir, du bist gekommen!“ Der überlegte kurz, was er für seinen Freund tun konnte, aber das Einzige, was ihm sinnvoll erschien, war, den in die Arme zu nehmen und ihn zu trösten, bis die professionellen Rettungskräfte eintrafen, nicht dass er noch mehr Schaden anrichtete, als sowieso schon geschehen war, wenn er ihn bewegte. Der Tisch schien stabil zu sein, deshalb schwang er sich hinauf und bettete Ben´s schweißfeuchten Kopf mit dem geschwollenen, blutunterlaufenen Kiefer auf seinen Schoß. Er nahm dessen beide Hände in die seinen und so saßen sie noch, als wenig später die ersten Polizeistreifen eintrafen.