Als Semir gegangen war, starrte ihm Sarah noch eine ganze Weile nach. „Magst du dich nicht ein wenig hinlegen?“ fragte Andrea mitleidig, die sah, wie fertig ihre Freundin aussah. „Das ist vielleicht eine gute Idee!“ sagte Sarah langsam und verabschiedete Andrea mit einem Lächeln. Kaum hatte Andrea die Suite verlassen, in die sie und Semir ihr gefolgt waren, ging Sarah zum Schrank und holte ihre warme Jacke heraus. Sie konnte jetzt nicht untätig bleiben und gerade war ihr etwas aufgefallen, was sie dringend nachkontrollieren musste.
Nachdem sie eine ziemliche Strecke untertage zurückgelegt hatten-immer wieder waren Abzweige weggegangen- aber die Männer zwangen Ben, stetig auf dem breiten Hauptweg zu bleiben, kamen sie an der großen Höhle an. Ben erkannte sie sofort wieder! Das war der Ort, an dem er heute schon einmal gewesen war und den er da von oben gesehen hatte, nur schaute der jetzt völlig anders aus. Die ganzen Destillen, die Schnapsflaschen, die Zigaretten, alles war verschwunden und vom ehemaligen Labor war auch nur noch der große Tisch übrig-die meisten Apparate und Reagenzien waren ebenfalls weg. Nur ein einziges, elektrisches Gerät stand neben dem Tisch und Ben zermarterte sich den Kopf, wo er sowas schon mal gesehen hatte.
Noch etwas fiel ihm auf. An dem massiven Tisch waren vier Lederfesseln angebracht, die aussahen, als wären sie schon viel in Gebrauch gewesen. Nun kam aus einer Felsnische der Mann gebogen, der vormittags die Chemikalien angemischt hatte, Ben nannte ihn deshalb im Geiste den Chemiker. Er hatte immer noch einen weißen Laborantenkittel an, eine dicke Brille zierte seine Nase, aber insgesamt wirkte er recht klein und unscheinbar. Das änderte sich aber, als er in autoritärem Tonfall zu seinen beiden Entführern etwas auf Tschechisch sagte. Der Tonfall war dermaßen dominant und die beiden wesentlich kräftigeren Männer zogen daraufhin die Köpfe ein, so dass nur alleine aus der Körpersprache der Drei zu erkennen war, wer hier der Boss war.
Ben musste wieder heftig husten und obwohl er aufgeregt war und jetzt gelaufen war, klebte seine feuchte, schlammige Kleidung kalt und klamm an ihm. Wenn er die nicht bald auszog, würde er sich eine heftige Erkältung einfangen und seine Brust schmerzte jetzt schon bei jedem Hustenstoß. In seinen halbhohen festen Schuhen schwappte immer noch das Wasser und außerdem war er verwirrt, warum seine Peiniger ihn wohl wieder aus dem Moor gezogen hatten, wo es mit ihm doch schon beinahe vorbei gewesen war. Außerdem schmerzten die Schürfungen und Prellungen von seinem Sturz vorhin.
Er dachte an seine Freunde. Ob er wohl schon vermisst wurde? Vermutlich schon und er war sich fast sicher, wenn er jetzt auf sein Handydisplay schauen könnte, würde der entgangene Anruf entweder von Sarah oder von Semir stammen. Nun musste er seine Überlegungen allerdings unterbrechen, denn der Mann im weißen Kittel richtete nun sein Wort an ihn. In perfektem Deutsch, obwohl das sicher nicht seine Muttersprache war, sagte er mit einem breiten Grinsen: „Willkommen in meinem Reich, Herr Jäger, wie geht´s ihnen denn?“ und als Ben ihn zwar ansah, aber keinen Ton zurückgab, sondern seinen Rücken straffte und ihn direkt anblickte, fuhr er fort: „Na da hat einer aber gar kein Benehmen, aber das werde ich ihnen schon noch beibringen, auf meine Worte zu reagieren und meine Fragen zu beantworten, keine Sorge!“ und mit einer Kopfbewegung forderte er seine Männer auf, sich nun Ben zu widmen.
Semir war inzwischen mit dem großen Wagen zügig Richtung Landesgrenze gefahren. Einzig eine Zollstation für LKW abseits der Straße ließ noch darauf schließen, dass hier eine Grenze verlief. Sonst zeigten nur die Schilder an, dass er sich nun bereits auf tschechischem Hoheitsgebiet befand. Eine Tankstelle mit Shop stand direkt im Grenzgebiet und die Preise waren in tschechischer Währung angegeben, ansonsten waren keine Unterschiede erkennbar. Mit geübtem Blick konnte Semir allerdings auf dem Tankstellenparkplatz ein neutrales Fahrzeug erkennen, in dem zwei Männer saßen, die den fließenden Verkehr musterten. Semir war sich sicher, dass das entweder tschechische Zollfahnder oder Polizisten waren, die sich an die Fersen verdächtiger Fahrzeuge heften würden, wenn sie es für notwendig hielten. Semir war aber anscheinend nicht auffällig und so konnte er unbehelligt der Anzeige des Navis folgen, das ihn nun über verwinkelte, kurvige Sträßchen in dieselbe Himmelsrichtung zurückschickte, aus der er gekommen war.