Über ihm stand auf der Galerie Sarah und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die schreckliche Folterszene, deren Hauptdarsteller er war. Um Himmels willen, wo kam die her und war sie sich bewusst, dass sie und das Kind gerade in höchster Gefahr schwebten? Er zermarterte sich den Kopf, wie er verhindern konnte, dass einer der Männer sie entdeckte. Er war ja am Vormittag an genau derselben Stelle gestanden und nicht gesehen worden-erst später, vermutlich anhand seiner Spuren im Schnee, waren seine Entführer zurückgekommen und das Schicksal hatte seinen Lauf genommen. Am liebsten hätte er ihr zugerufen: „Verschwinde, schnell!“ aber er wollte niemanden darauf aufmerksam machen.
Der Chemiker hatte derweil eine Vene Ben´s gesucht. Er würde ihm ein, von ihm höchstpersönlich neu entwickeltes Wahrheitsserum injizieren, das allerdings noch in der Erprobungsphase stand. Wenn das erfolgreich war, hatte er ein völlig neues, bisher nicht nachweisbares Mittel entwickelt, das Tatsachen bei einem Verhör herausbringen würde, an die sonst nicht zu denken war. Bisher waren diese Medikamente alle nicht so zuverlässig-manche Verhörten hatten trotzdem irgendetwas erzählt, was nicht stimmte. Darum gab es in totalitären Staaten einen riesigen Markt dafür-er wäre ein gemachter Mann, wenn er da Erfolge vorweisen könnte.
Allerdings hatten einige Probanden-unter anderem rumänische Sinti, die nirgendwo gemeldet waren und die sie entführt und zu Studienzwecken verwendet hatten- sehr bedenkliche Reaktionen gezeigt. Sie hatten gekrampft, waren ins Koma gefallen und waren nicht mehr zu sich gekommen, so dass sie das Moor wieder mit neuen Opfern befüllen mussten. Allerdings waren die Toten, wenn sie überhaupt gefunden wurden, immer als Unfallopfer durchgegangen, da sie außer einer kleinen Einstichstelle keinerlei Verletzungen aufwiesen. Um die Injektionsstelle zu maskieren hatte man noch kurz einen Dornenzweig darüber gezogen, dann fiel die nicht mehr auf und auch das gängige Drogenscreening in der Gerichtsmedizin hatte das Mittel nicht nachweisen konnte. Auch waren sie nie so dumm gewesen, die Opfer erst zu versenken, wenn sie völlig tot waren, sondern hatten das immer noch geschafft, solange die noch atmeten, so dass man in der Lunge Moorwasser feststellen konnte.
Der Chemiker hatte noch kleine Veränderungen an der Zusammensetzung des Wahrheitsserums vorgenommen, aber er war fast sicher, dass er jetzt das optimale Medikament kreiert hatte! Vermutlich würde es auch in anderen Ländern reißenden Absatz finden, denn jeder wollte doch sicher sein, dass er beim Verhör nicht vom Verhörten angelogen wurde. Er würde vielleicht bald reich und berühmt sein und das alles völlig legal! Aber jetzt musste er mal wieder zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen-erstens diesen Polizisten befragen, ob der auch die Wahrheit gesagt hatte-und zweitens ausprobieren, ob die Formel jetzt perfekt war.
Sarah hatte sich langsam im Berg vorgetastet. Durch die elektrische Beleuchtung war es auch nicht gefährlich durch die Stollen zu laufen und wenn sie sich nicht solche Sorgen um Ben machen müsste, wäre es dort unten sehr interessant gewesen. Immer wieder waren Halbedelsteine in den Fels eingeschlossen, die man da vermutlich abbaute, oder zumindest abgebaut hatte. Es wirkte dort fast wie in einem Besucherbergwerk. Sie hatte schon mal ein Salzbergwerk in Österreich besichtigt und natürlich war sie auch im Ruhrgebiet, sozusagen vor ihrer Haustür, schon in einen Schaustollen eingefahren, so ähnlich kam es ihr auch hier vor. Als sie einige Meter zurückgelegt hatte, hörte sie auf einmal einen schrecklichen Schrei, der nach einiger Zeit verstummte. Sie erstarrte beinahe zu Eis. Ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen-das war eindeutig Ben´s Stimme gewesen. Er war hier und brauchte ihre Hilfe! Sie sah auf ihr Handy, aber wie zu erwarten war, hatte sie hier unten keinen Empfang. Eigentlich war ihr klar, dass es jetzt vernünftig gewesen wäre umzudrehen und sofort Hilfe von außen zu holen, aber da begann Ben wieder zu schreien und zu winseln. Er musste schreckliche Schmerzen haben! Was wäre, wenn er irgendwo eingeklemmt war und sie versäumte wertvolle Zeit, indem sie wieder zurücklief? Sie würde es sich nie verzeihen, wenn er durch ihr Versäumnis zu Schaden kam und deshalb musste sie, angetrieben von den Schmerzensschreien ihrer großen Liebe, jetzt nach dem Rechten sehen, bevor sie die Rettung und Semir verständigte!