Semir war wieder zu seiner Familie nach Hause gefahren. Die Kinder waren inzwischen im Bett und Andrea lag auf dem Sofa, neben sich ein Glas Rotwein und erzählte ihren Eltern von den Ereignissen der Woche. Er setzte sich dazu. Sein Schwiegervater, der ein Glas Bier vor sich hatte, fragte: „Trinkst du auch was mit?“ aber Semir schüttelte den Kopf. „Ich muss vielleicht später noch fahren!“ sagte er und nun sah ihn Andrea fragend an. Er erzählte von dem Spritzenfund und nun begannen Andrea´s Augen zu leuchten. „Hartmut findet sicher raus, was es ist!“ bekräftigte sie und Semir erwiderte: „Ja gut und schön, aber das alleine hilft Ben auch nicht-und außerdem ist das ja nur eine Vermutung von Sarah und mir, dass die Spritze etwas mit Ben´s Zustand zu tun hat-die Ärzte sind da einer anderen Überzeugung und nur zu wissen, was es ist, macht Ben auch noch nicht gesund!“ erklärte er, aber Andrea sagte zuversichtlich: „Vertrau dem Superhirn!“ Eine Stunde später begannen alle Anwesenden zu gähnen. Semir sah auf die Uhr. Sollte er Hartmut anrufen und fragen, wie weit er inzwischen war? Aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Das würde den nur unter Druck setzen-er würde sich schon rühren, wenn er etwas hatte und während Andrea und ihre Eltern nun auch ins Bett gingen, streckte sich Semir in voller Montur auf dem Sofa aus, damit er sofort startklar war, wenn Hartmut anrief.
Sarah hatte im Krankenhaus ebenfalls von ihren Kollegen einen Schlafstuhl und eine Zudecke bekommen. Ben ging es weiterhin so schlecht, dass man jederzeit mit seinem Ableben rechnen musste und da durften die Angehörigen natürlich rund um die Uhr bei ihm sein-da wurde wegen Sarah auch keine Ausnahme gemacht, sondern das handhabte man immer so. Sarah legte sich ein wenig flach, hielt Ben´s fiebrige Hand und döste vor sich hin. Seine Herzfrequenz wurde langsam wieder schneller, die Cardioversion hatte nur einen vorrübergehenden Effekt erzielt. Wenn Hartmut nicht bald etwas fand, würde Ben definitiv sein Kind nicht aufwachsen sehen!
Der Chemiker hatte sich langsam über Schleichwege aus dem Bayerwald entfernt. Er atmete dann doch erleichtert auf, dass er aus purem Zufall in keine Kontrolle gekommen war. Bei Regensburg fuhr er dann auf die A3 und ein Stück vor Köln checkte er in einem Autobahnhotel einer großen Kette ein. Da war so ein Durchsatz an Menschen, die nur eine Nacht blieben, dass er überhaupt nicht auffiel. Er gönnte sich im Restaurant ein leckeres Essen und schlief dann tief und traumlos bis zum nächsten Morgen. In Bayern und Tschechien lief derweil erfolglos die Fahndung nach ihm. Seine Helfershelfer waren fast alle verhaftet, bis auf ein paar tschechische Hilfskräfte und der Einsatzleiter, der extra aus München herbeordert worden war, saß nun mit Hintersteiner, der immer noch mit einem Dauergrinsen rumlief, bei einem Bier. Ein paar Halbe später probierten sie noch den einheimischen Kräuterschnaps und am nächsten Morgen hatte der Münchner Kollege nur noch unbestimmte Erinnerungen an den Vorabend-aber eines wusste er: „Nie mehr Blutwurz!“
Hartmut hatte derweil viele Versuchsreihen gestartet. Immer mehr entschlüsselte er die chemische Zusammensetzung der Probe. Was da alles drin war, wusste er schon lange, aber das genaue Mischungsverhältnis musste er erst herausfinden. Irgendwann war ihm klar, was er da in Händen hatte und auch, wie es ungefähr auf den Organismus wirkte, aber damit war Ben ja noch lange nicht geholfen! Also strengte er seinen Grips an, schlug immer wieder im Internet und seinem zerfledderten Chemiebuch nach und allmählich wusste er auch schon, was in einem Gegenmittel alles drin sein musste. Er experimentierte herum und irgendwann, morgens um drei war es so weit: Er hatte vermutlich ein Gegengift gefunden! Es war ein weißes Pulver und er war fast sicher, dass es wirken könnte, aber eben nur fast! Normalerweise wären jetzt Versuche am lebenden Objekt dran und er erwog schon, jetzt irgendwo weiße Mäuse aufzutreiben, aber dann schalt er sich. Er war eigentlich ein Gegner von Tierversuchen und außerdem würde das zu lange dauern. Sollte er es wagen? Wenn Ben starb, würde er sich immer Vorwürfe machen! Wenn der nach der Verabreichung des Mittels aber einschlief, würde er das Gefühl haben, ihn ermordet zu haben-welcher Tatbestand damit vermutlich auch gegeben war, na ja zumindest Totschlag. Starb der jetzt allerdings einfach so und er hatte zwar das Gegenmittel gefunden, ihm aber nicht, oder zu spät, gegeben, dann war er moralisch ebenfalls an seinem Tod schuld, obwohl ihm dann rechtlich ja nichts passieren konnte. Hartmut wusste eines, nachdem er nun das Medikament, oder eher Gift besser kennengelernt hatte. Ben hatte ohne Antidot keine Chance. Das war so ein Teufelszeug-das wirkte im Gehirn, aber wenn es die Blut-Hirnschranke einmal überwunden hatte, war es vom Körper weder abbaubar, noch konnte es herausdialysiert werden. Jeder, der es erhalten hatte, war ohne Gegenmittel rettungslos verloren!
Hartmut brachte das Pulver durch Aufkochen und Verdünnen noch in eine Form, in der man es injizieren konnte-er kam sich ein wenig vor wie ein Junkie dabei-und dann packte er die gefüllte Spritze, versehen mit einem sterilen Stopfen in seine Jackentasche und rief Semir an.