In Semir´s Kopf waren die Gedanken weiter geflossen. Verdammt-sie hatten Brami und dessen Skrupellosigkeit unterschätzt! Aber wenn das so war, war auch Ben in Gefahr! Der Tunesier würde sicher nicht davor zurückschrecken, den zu ermorden, wenn er seiner habhaft wurde. Sobald sie die schreckliche Nachricht von der Entführung seines Sohnes und seiner Schwägerin überbracht hatten, musste er sich deswegen mit der Chefin kurzschließen-auch Ben brauchte Personenschutz. Semir warf einen Seitenblick auf Sarah. Die sah innerhalb weniger Stunden um Jahre gealtert aus. Er konnte es ihr so nachfühlen, denn auch seine Töchter waren schon entführt worden und die Gedanken und Sorgen die ihm damals durch den Kopf gegangen waren, waren immer noch präsent-es war das Schrecklichste, na vielleicht außer einer Todesnachricht- was man als Eltern erleben konnte: Zu wissen, dass die eigenen Kinder irgendwo in der Hand skrupelloser Verbrecher waren. Aber auch bei ihm war es gut ausgegangen und Ayda, Lilly und auch Andrea hatten mit Hilfe von Psychologen dieses Trauma überwunden. Es hatte ihm vorhin sehr leid getan, Andrea schon wieder mitteilen zu müssen, dass sie und die Kinder in potentieller Gefahr schwebten, aber es half ja nichts und als er ihr in kurzen Worten von der Entführung Tim´s erzählt hatte, war sie sofort dafür gewesen mit den Kindern übers Wochenende unterzutauchen. Irgendwie war sich Semir sicher-bis zum Sonntag, wenn der Wirtschaftsgipfel vorbei war, war auch die Gefahr vorbei. Er konnte nur hoffen, dass es bis dahin auf ihrer Seite keine Opfer gegeben hatte.
Nun aber hatte Sarah auf die Klingel außen an der Intensivstation gedrückt und wenig später wurden sie herein gebeten. Sarah griff unbewusst nach Semir´s Hand als sie sich dem Zimmer näherten, in dem Ben lag. Der Stationsarzt hatte sie erspäht und kam gut gelaunt auf sie zu: „Hast du schon gehört? Dein Freund konnte extubiert werden und auch die Motorik und die Sensibilität in den Beinen scheinen soweit in Ordnung zu sein. Später kommt deswegen auch noch der Neurologe und schaut sich das an. Nur die Niere macht uns Sorgen-er hat zwar angefangen ein wenig auszuscheiden, aber die Betonung liegt auf ein wenig-ich denke wir werden später einen Shaldonkatheter legen und ihn andialysieren, in der Hoffnung, dass die Nierenfunktion dann anspringt. Aber jetzt freu dich erst mal-er ist zwar noch müde, erwartet aber sicher sehnsüchtig deinen Besuch!“ plapperte er, während Semir und Sarah stehen geblieben waren.
Als nun aber nicht einmal die Andeutung eines Lächelns über ihre Lippen kam, bemerkte der Doktor auf einmal, dass da irgendetwas gar nicht in Ordnung war und er fragte ernst: „Sarah-was ist los? Warum wirkst du so bedrückt?“ und nun antwortete sie voller Verzweiflung: „Unser Sohn ist gemeinsam mit meiner Schwägerin entführt worden-vermutlich von denselben Männern, die für Ben´s Zustand verantwortlich sind. Ich weiss gar nicht, wie ich ihm das beibringen soll!“ sagte sie und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. „Oh Gott-das ist ja schrecklich!“ rief der Arzt voller Empathie aus. „Willst du es ihm wirklich sagen? Denkst du nicht es wäre in seinem Zustand besser, wenn wir das vor ihm verheimlichen?“ wollte er wissen, aber Sarah und auch Semir schüttelten den Kopf. „Dann können wir ihn auch nicht besuchen-und das würde ihn genauso beunruhigen. Er wird es merken, dass wir uns Sorgen machen und sofort auf Tim kommen-immerhin ist er Polizist, wenn wir einfach kommen und nichts sagen-nein, es muss sein, obwohl das sicher seiner weiteren Genesung abträglich ist!“erklärte sie und der Arzt gab sich geschlagen. „Ich werde in ein paar Minuten mit einem Beruhigungsmittel zu euch kommen, dann können wir ihn absedieren, falls es notwendig ist!“ teilte er ihr mit. „Wenn du möchtest, bekommst du auch eine Tavor, ich glaube, die könntest du vertragen!“ meinte der Arzt dann noch aber Sarah schüttelte den Kopf. „Ich stille und werde nichts nehmen!“ sagte sie, deswegen musste sie sich sowieso als Nächstes Gedanken machen, aber jetzt stand ihr bevor, was ihr schon die ganze Zeit Bauchschmerzen bereitete.
Sie atmete tief durch, ließ Semir´s Hand los und trat in das Zimmer. Ben lag blass auf dem Rücken und schien zu schlafen. Als er allerdings spürte, dass er nicht mehr alleine im Zimmer war, öffnete er die Augen und sagte müde: „Sarah was ist los? Ich habe euch auf dem Flur draußen reden gehört!“ und nun war ihr klar, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Sie trat an sein Bett, ergriff seine rechte Hand und sagte sanft: „Schön dass du wach bist, aber ich habe eine schlechte Nachricht!“ woraufhin er die Augen aufriss und sofort fragte: „Ist was mit Tim?“ und nun blieb Sarah nichts weiter übrig, als zu nicken. „Ja Ben-er ist zusammen mit meiner Schwägerin entführt worden!“ sagte sie und nun löste sich ein Ton aus Ben´s Brust, der klang wie ein waidwundes Tier. Semir, der kurz hinter Sarah stand lief es kalt über den Rücken. In diesem Laut lag der ganze Schmerz, den Ben aushalten musste und zugleich die Sorge um sein einziges Kind. „Oh nein!“ stöhnte er und während die Tränen über sein Gesicht liefen und der Puls und der Blutdruck in die Höhe schnellten, änderte sich in Sekundenschnelle seine Stimmung und aus tiefer Verzweiflung wurde Wut und Zorn. „Brami-ich werde ihn umbringen!“ stieß er kalt hervor „und wenn er Tim auch nur ein Härchen krümmt, wird er zuvor leiden, dass er wünscht, nie geboren zu sein!“ und nun starrten ihn Sarah und Semir fassungslos an.
Brami und die Haug-Brüder hatten unterwegs Sarah´s Schwägerin noch die Nachricht schreiben lassen und dann hatte Brami das Handy an sich genommen, nicht ohne es zuvor auszuschalten und den Akku zu entfernen. Es würde ihnen sicher noch gute Dienste leisten, aber es durfte jetzt nicht mehr geortet werden, denn langsam näherten sie sich ihrem Versteck. Wenig später lief die ganze Truppe mit einem wachen Tim, der aus großen dunklen Augen die fremden Männer betrachtete, die Treppe hinauf und wenig später betraten sie die Wohnung, wo die Tunesier sich mit Würfelspielen die Zeit vertrieben. Brami sagte etwas auf Arabisch und der Anführer der fünf nickte. „Ich wünsche ihnen einen angenehmen Aufenthalt!“ grinste Brami, während er die Tasche mit Tim´s Ausrüstung abstellte. Lisa die als Teenager an der Volkshochschule mehrere Arabischkurse belegt hatte, lief es kalt über den Rücken. Sie hatte leider verstanden was er gesagt hatte und wusste nun, dass ihr Leben und ihre Unversehrtheit nur bis Sonntag gewährleistet war-danach würden sie und Tim den Männern gehören und was die mit ihr und dem Baby anstellen würden, konnte sie sich leider vorstellen, so brutal und mitleidlos wie die aussahen!