Nach der Morgentoilette hängte man Ben erst einmal für eine Stunde an die nichtinvasive Beatmung, denn nachdem die einige Zeit weggewesen war, sank Ben´s Sauerstoffsättigung erneut, aber trotzdem fühlte er sich insgesamt besser. Als der Chirurg kam, um seine Verbände frisch zu machen, sank Ben das Herz mal wieder in die nicht vorhandene Hose. „Oh nein-Scotty beam mich weg!“ flüsterte er in die Maske, die nun für eine Weile wieder abgenommen wurde. Er biss sich auf die Lippen als man ihn auf den Bauch lagerte und erwartete wieder die fürchterlichen Schmerzen wie am Vortag, aber heute war es eigentlich halb so schlimm, da die Wundränder überwiegend rosig durchblutet waren und der graue schmierige Belag verschwunden war. Nur als die Wundtaschen saubergemacht wurden, entwich ein Stöhnen seinem Mund und er klammerte sich an Semir´s Hand wie ein Ertrinkender fest. Aber auch das war schnell vorbei, nur als die neuen Tamponaden wieder in die Löcher gestopft wurden schrie er nochmals auf, obwohl er durchaus einen Opiatbolus bekommen hatte. Der Arm und die Wunde am Hals waren reizlos und so lag er wenig später ziemlich erleichtert wieder auf der Seite und bekam zu seiner Überraschung sogar ein paar Schlückchen Wasser zu trinken. Mit Argusaugen beobachtete die Schwester ob er fähig war Flüssigkeit zu schlucken-sonst hätte man sie angedickt, aber es funktionierte und nachdem Ben nun mit der gesunden Hand auch noch selber seine Zähne geputzt hatte, war er zwar völlig erschöpft, aber trotzdem einigermaßen zufrieden. Er merkte selber, dass es aufwärts ging und mit jeder Sekunde die Sarah weg war, hatte er erstens mehr Sehnsucht nach ihr und zweitens ein fürchterlich schlechtes Gewissen, weil er sie so angegangen hatte.
Nachdem er noch eine kurze Pause hatte, bis die Atemmaske wieder aufgeschnallt wurde, fragte er nun Semir nach einer Sache, die ihn jetzt zudem die ganze Zeit beschäftigte. Er hatte am Vortag dermaßen wirre Träume gehabt, dass er nicht mehr wusste, was Realität gewesen war und was nicht. „Semir-sag mal stimmt es dass Sarah nach Lucky gesehen hat?“ fragte er vorsichtig. Sein Freund musste ja denken er wäre völlig verblödet, aber wenn man sich etwas so sehr wünschte, dann spielte ihm seine Phantasie vielleicht doch einen üblen Streich, denn andererseits konnte er sich noch an das klare „Nein!“ aus ihrem Mund erinnern als er angesprochen hatte, Lucky zu sich zu nehmen. „Doch Ben-Sarah war gestern mit Tim und dieser Frau Brauner in der Klinik und hat ihn besucht. Anscheinend hat er erst dadurch wieder Lebensmut bekommen und hat gefressen. Sie war sogar mit ihm an der Leine ein wenig draußen und Tim war anscheinend auch begeistert von ihm!“ erzählte Semir, um gleich danach hinzuzufügen: „Das musst du ihr auch hoch anrechnen, denn wenn mein Partner nach einer Hundeattacke so daliegen würde wie du, dann würde ich vermutlich den Rest meines Lebens einen riesigen Bogen um alle Hunde machen die größer als knöchelhoch sind!“ und nun nickte Ben nachdenklich. „Weisst du Semir-ich glaube auch, dass ich in nächster Zeit einen Bogen um alle Schäferhunde schlagen werde, denn da werde ich immer den Angriff von Castor und Pollux im Hinterkopf haben. Aber mit Lucky ist das was anderes-der war von der ersten Sekunde als er da in dem Entwässerungsrohr saß mein Freund. Er hat sich wahnsinnig gefreut wenn ich in seinen Zwinger gegangen bin und ich kann mir nicht vorstellen, dass der einen Menschen beißen könnte-obwohl der ja durchaus zugepackt hat, um mich zu retten, was ihm damit ja auch gelungen ist!“ erklärte er, aber Semir gab nun zu bedenken: „Trotzdem musst du Sarah auch verstehen, falls sie sich nicht dazu durchringen kann Lucky zu euch zu nehmen. Immerhin habt ihr ein Kleinkind zuhause und Lucky ist mindestens doppelt so groß wie Tim-aber dann suchen wir eben gemeinsam einen guten Platz für Lucky und ihr schafft euch dann später, wenn Tim größer ist, einen anderen Hund an!“ versuchte er seinen Freund zu beeinflussen, aber als nun die Schwester wieder kam und erneut die Atemmaske festschnallte, meinte Semir zuvor noch zu hören: „Ich will aber nur Lucky!“ aber dann war das Sprechen bis auf Weiteres für Ben beinahe unmöglich geworden.
Semir seufzte auf und als sein Freund die Augen schloss ging er ein wenig auf den Flur und bat die Schwestern um ein Telefon um Andrea anzurufen. Er gab ihr kurz Bescheid, dass es ihm persönlich gut ging und auch Ben auf dem Wege der Besserung war, was ihr ein erleichtertes Aufseufzen entlockte. „Ich bleibe jetzt aber noch so lange bei Ben bis Sarah wiederkommt, ich habe es versprochen und wenn es dir nichts ausmacht rufe ich dich dann an, damit du mich abholen kannst!“ fragte er und Andrea versicherte, dass das schon klar ginge. Sie war ja nur froh, dass Semir den Unfall und die Commotio anscheinend gut weggesteckt hatte und dass es jetzt auch Ben besser ging, war eine zweite gute Nachricht. Sie teilte das auch gleich den Mädchen mit und Ayda, die erst am Morgen sehr traurig gewesen war, dass der Papa entgegen seiner Versicherung in der Frühe nicht dagewesen war, war nun gleich besänftigt und begann gemeinsam mit Lilly ein paar Gute-Besserungs-Bilder zu malen, allerdings war auf jedem mindestens ein Hund zu sehen und Andrea wunderte sich nur wieder, was die Kinder doch immer alles so mitbekamen!
Sarah hatte zunächst wütend die Intensivstation verlassen. Kaum war Ben von der Schippe gesprungen war er sie schon angegangen. Je weiter sie sich allerdings vom Krankenhaus entfernte und durch den ruhigen Samstagmorgenverkehr zu Frau Brauner fuhr, desto mehr beruhigte sie sich und konnte auch verstehen, dass Ben sich Sorgen um seinen Sohn und dessen Betreuung machte. Immerhin war ja tatsächlich Frau Brauner bis vor zwei Tagen auch für sie ein wildfremder Mensch gewesen und wenn ihr vor einer Woche jemand gesagt hätte, dass sie Tim so einfach aus der Hand geben würde, dann hätte sie das nicht geglaubt-das hier waren besondere Umstände, aber eben auch eine besondere Frau! Sie hielt noch kurz bei einer Bäckerei und kaufte eine bunte Frühstückstüte und als sie an der Haustür läutete, hörte sie ihren Sohn schon aus dem Inneren des Hauses herzhaft lachen und nun zog auch über ihr Gesicht ein breites Lächeln. Als Frau Brauner öffnete und Tim mal wieder gar keine Zeit für die Mama hatte, weil er doch mit Frederik schäkern musste, warf sie ihre Sorgen über Bord und trat einfach ein. Frau Brauner legte noch ein Frühstücksgedeck auf, als sie die bunte Tüte sah und so frühstückten die beiden Frauen erst einmal ausführlich und auch Tim ließ sich überreden einen kurzen Boxenstopp einzulegen und etwas zu essen und zu trinken. Allerdings beobachteten Sarah und Frau Brauner wie er immer wieder Stücke des Brötchens für Frederik hinunterwarf, der mit hungrigen Blicken neben dem Hochstuhl nur darauf wartete. Ein Lächeln zog über die Züge der beiden Frauen-eigentlich sollte man jetzt schimpfen, aber das war so süß und festigte die Freundschaft zwischen Kind und Hund, dass sie einfach so taten als hätten sie das nicht gesehen.
Sarah schüttete nun Frau Brauner auch einfach ihr Herz aus und berichtete von Ben´s Zweifeln, aber andererseits auch von ihrer Freude, dass es ihm besser ging. Die ältere Frau sagte ganz ernst: „Ich kann ihren Mann durchaus verstehen-was wir beide hier gerade machen ist ja auch alles andere als üblich, aber besondere Situationen erfordern eben manchmal besondere Maßnahmen!“ gab sie zu bedenken und fragte dann: „Meinen sie, dass ich ihn kurz auf der Intensivstation besuchen sollte, falls man mich da rein lässt, damit er mich kennenlernen kann und danach vielleicht beruhigt ist?“ und Sarah stimmte ihr zu. Das war eine gute Idee!
„Aber erst müssen wir noch nach Lucky sehen!“ bestimmte Frau Brauner und Sarah, die das eigentlich gar nicht so wahnsinnig notwendig erachtet hatte, gab sich geschlagen. So wurde Tim noch frisch gewickelt, der Tisch abgeräumt und wenig später waren die beiden Frauen, Tim und Frederik wieder auf dem Weg zur Tierklinik. „Wie schön dass sie kommen!“ rief die Tierarzthelferin von gestern, die Wochenenddienst hatte. „Lucky wartet schon sehnsüchtig auf sie!“ und gleich erhob sie sich, um voraus zur Krankenbox zu gehen. Obwohl er noch Schmerzen hatte, erhob sich Lucky sofort mit freudig gespitzten Ohren, als er die Stimmen hörte und konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu wedeln und seine Freude zu zeigen, dass man ihn nicht vergessen hatte. Tim beugte sich mit geschäftigen Lauten vom Arm der Mama zu dem riesigen Hund und streckte die Ärmchen aus. Immerhin war er jetzt der Hundeprofi in der Familie und auf die Bitte Frau Brauner´s setzte Sarah den kleinen Mann auf den Boden. Sofort legte sich Lucky auch hin und robbte ganz vorsichtig zu Tim und beroch ihn ausführlich, während der Kleine juchzte und seine Fäuste in dem zottigen Fell vergrub. „Sarah sehen sie mal wie vorsichtig Lucky mit einem Kleinkind umgeht-der ist ein idealer Familienhund!“ pries ihn Frau Brauner an und auch Sarah war ganz gerührt von der Szene. Allerdings ging ihr das alles zu schnell und sie brauchte einfach noch Bedenkzeit, bevor sie so einen folgenschweren Entschluss fasste, einen Hund zu sich zu nehmen. Sie nahmen Tim nun wieder hoch und erneut durfte Lucky mit ihnen nach draußen und begann, obwohl er noch sichtlich steif ging und manche Bewegungen vermied, trotzdem mit Frederik zu spielen und das war ein Schauspiel das allen Zusehern gefiel. Plötzlich stand auch der Hundeführer der Polizei mit Arco bei ihnen, der sich ebenfalls nach Lucky erkundigen wollte und auch dessen Hund begann nun mitzuspielen. Allerdings war Sarah nun ganz blass geworden und hatte Tim fest an sich gedrückt-immerhin war das ein Schäferhund und die waren alle gefährlich! Sarah war immer noch sehr schweigsam, als sie nach einer halben Stunde Lucky wieder in die Krankenbox zurückbrachten und als sie im Auto saßen um zur Uniklinik zu fahren sagte sie nur: „Ich weiß nicht, ob ich das kann!“ und nun wusste auch Frau Brauner, der Sarah´s Reaktion nicht entgangen war, keine Antwort.
Im Krankenhaus hatte Konrad inzwischen einen erneuten Versuch gestartet und tatsächlich-heute konnte er zu Ben, der war wach und die Schwester nahm ihm für kurze Zeit seine Atemmaske ab, damit er sich mit seinem besorgten Vater unterhalten konnte. Als der erzählte, was er am Vortag für eine Odyssee hinter sich gebracht hatte, um mit stundenlanger Verspätung zu seinem Sohn zu kommen, sagte Ben nur gerührt: „Danke Papa!“ und dann saß Konrad eine ganze Weile still an Ben´s Bett und genoss dessen Nähe, während Semir sich draußen ein wenig die Beine vertrat.