Die Fachleute der Feuerwehr und des THW sprangen aus ihren Fahrzeugen, aber auch diese Einsatzleiter hielten ihre Leute davor zurück, das einsturzgefährdete Gebäude zu betreten. Sie musterten die Brückenkonstruktion mit dem riesigen Riss im Pfeiler und sperrten das Gelände erst einmal weitläufig ab. Ein zweiter Notarzt-nun exclusiv für Ben-war zugefordert, denn der zuerst am Unfallort eingetroffene hatte Friedrich Mittler inzwischen intubiert und leidlich im Fahrzeug stabilisiert, aber er musste nun dringend mit Arztbegleitung zur weiteren Diagnostik und Behandlung in die Klinik transportiert werden-er war sehr schwer verletzt und sein Überleben war nicht sicher. So fuhr der erste RTW davon und die anderen Helfer standen betroffen vor dem Eingang und spähten hinein.
Semir hatte inzwischen den restlichen Schutt von seinem Freund geräumt, damit der wieder besser Luft bekam. Ben hatte mehrmals laut aufgestöhnt, als er ihn berührt oder den einen oder anderen Brocken von ihm heruntergezogen hatte. Die Steine, die ihn erneut getroffen hatten, waren schmerzhaft gewesen-er konnte sich nun vorstellen wie sich die Opfer der grausamen Strafe der Steinigung im Islam fühlten und vor allem war man da eben nicht schnell tot, sondern litt bis zum bitteren Ende. Semir warf immer wieder zornige Blicke zurück, während er fieberhaft arbeitete und dabei selber husten musste, so staubte es in ihrem engen Gefängnis. „Verdammt noch mal-hat jetzt irgendeiner von euch Luschen da draußen so viel Arsch in der Hose, dass er reinkommt und mir hilft, meinen Kollegen zu bergen?“ schrie er verzweifelt, aber vom Verstand her konnte er durchaus verstehen, dass sich von den sicher motivierten Helfern niemand in Gefahr bringen wollte-Eigenschutz ging einfach vor und falsch verstandenes Heldentum war falsch-aber hier ging es schließlich um Ben!
Der junge, neu zugeforderte Notarzt, der seinen hippokratischen Eid sehr ernst nahm, war kurz davor gewesen in die neu entstandene Höhle zu kriechen, aber er wurde vom Einsatzleiter der Feuerwehr daran gehindert. Inzwischen trafen immer mehr Fahrzeuge, ein Autokran und sogar die Höhenrettung ein, wobei eigentlich keiner wusste, was die hier sollte, aber als ein Vertreter des Straßenbauamts, den man in seiner Sonntagsruhe gestört hatte, nun auch noch erschien und den Kopf schüttelte, machte sich bei den ganzen Helfern eine tiefe Traurigkeit breit. Man würde natürlich versuchen den eingeklemmten Mann irgendwie herauszuholen, aber der Mann des Bauamts, der zudem geprüfter Statiker war, hatte höchste Gefahrenstufe, akute Einsturzgefahr ausgerufen und so durfte einfach niemand zu dem Verletzten.
Ben war inzwischen am Ende seiner Kräfte und kurz davor, sich aufzugeben. Nur die Anwesenheit seines Freundes hielt ihn davon ab, einfach die Augen zu schließen und in die wohltuende Bewusstlosigkeit abzudriften. Wieder versuchte Semir an seinem Arm zu ziehen, der aber fest steckte wie in einem Schraubstock und brachte ihn so laut zum Schreien, das in ein verzweifeltes Schluchzen überging, so dass Semir betroffen wieder aufhörte. „Ich bring ihn einfach nicht raus-macht irgendwas, bevor die Brücke über uns zusammenbricht!“ schrie er verzweifelt nach draußen und inzwischen liefen ihm selber die Tränen der Verzweiflung herunter. Wieder ächzte das marode Bauwerk und einige Steine polterten herunter. Semir musste jederzeit damit rechnen, mitsamt seinem Freund verschüttet zu werden.
Eine ganze Weile geschah nun nichts und draußen wurde der Absperrradius nochmals vergrößert und die Schaulustigen, die natürlich inzwischen auch in Scharen eingetroffen waren, außerhalb der Gefahrenzone gebracht. Nur der Notarzt, der Einsatzleiter und drei Mann vom THW standen noch unmittelbar vor dem Gebäudeeingang, alle hatten Helme auf und waren bereit beim ersten Anzeichen, dass die Brücke nachgab nach rückwärts zu fliehen und auch das war eigentlich fast zu gefährlich, aber man wollte dem Verschütteten und seinem Freund wenigstens Solidarität beweisen, wenn man schon nichts machen konnten. Man hatte den Einsatz eines Hydraulikspreizers überlegt und auch andere Abstützmaßnahmen, aber ohne die Menschen hochgradig zu gefährden, die diese Geräte zu bedienen wussten, konnte man sie nicht einsetzen.
Auch der Notarzt hatte sich Gedanken gemacht und inzwischen eine Spritze aufgezogen und eine Blutsperre und einiges Instrumentarium, eingeschlagen in ein steriles grünes Tuch, hergerichtet. „Können sie einmal kurz zum Ausgang kommen, Herr Gerkhan?“ fragte er leise und nach kurzer Überlegung kroch Semir tatsächlich zu ihm. Man hatte zuvor natürlich die Namen ausgetauscht und sich auch die Lage vor Ort und den Zustand Ben´s, eingeschlossen seines halb abgerissenen Fußes, von Semir detailgenau schildern lassen. Der Einsatzleiter wollte ihn leise, damit es Ben nicht hörte, überreden ans Tageslicht zu kommen, um wenigstens sein Leben zu retten, aber Semir bedachte ihn mit einem Blick, der ihn zum Verstummen brachte.
„Herr Gerkhan-ich habe jetzt für sie eine schwere Aufgabe, aber es wird die einzige Möglichkeit sein, ihren Freund hier herauszubekommen und sein Leben zu retten, denn nach Einschätzung des Statikers wird die Brücke in Kürze zusammenbrechen und dann sind sie beide tot!“ begann nun der Notarzt seine Erklärung und Semir hörte konzentriert zu, wobei ihm diese Tatsache durchaus bewusst war. Jemand hatte ihm einen gelben Schutzhelm aufgesetzt und auch einen für Ben bereitgelegt-den würde er ihm dann gleich anlegen.„In dieser Spritze befindet sich Ketamin, das ist ein stark schmerzlinderndes Mittel, das man zur Narkose einsetzen kann und das man auch in den Muskel spritzen kann. Ich möchte sie bitten, das ihrem Freund ins Gesäß oder auch den Oberschenkel zu injizieren. Er müsste dann langsam müde werden, keine Schmerzen mehr haben und vielleicht sogar einschlafen. Dann bringen sie am Oberarm diese Blutsperre an“ zeigte der Notarzt ihm-es war eine Blutdruckmanschette mit Doppelsicherung-an seinem eigenen Oberarm die korrekte Anlage. „Sie pumpen den Druck auf 300mm/Hg auf, dann fließt kein Blut mehr in den Unterarm. Und jetzt kommt das Schwerste und ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich einen medizinischen Laien einmal dazu auffordern müsste, aber es ist vermutlich die einzige Möglichkeit, das Leben von Herrn Jäger zu retten. Sie müssen so nah am Gelenk wie möglich einen kreisrunden Schnitt mit diesem Skalpell um den Oberarm durch die Weichteile machen und mit dieser Säge dann den Oberarmknochen durchtrennen-sobald wir ihn draußen haben übernehme ich dann die weitere Versorgung!“ erklärte er und zeigte Semir dabei die Instrumente und das Paar Chirurgenhandschuhe in dem grünen Päckchen. Semir starrte ihn nun fassungslos an und meinte seinen Ohren nicht zu trauen. Hatte dieser Arzt ihn gerade aufgefordert, seinem Freund den Arm zu amputieren?