Ben hatte sich inzwischen so weit stabilisiert, dass man guten Gewissens mit der Wiederherstellungsoperation beginnen konnte. Zunächst arbeiteten die beiden erfahrenen Chirurgen im Stehen Hand in Hand und verplatteten und nagelten die kaputten Knochen. Dann setzten die beiden Operateure Lupenbrillen auf, bzw. ließen sich die vom unsterilen Springer aufsetzen und dann wurde der Operationstisch in angenehme Sitzhöhe gebracht, Ben´s kaputtes Bein in seinen sterilen Tüchern, mit denen man es nach dem Desinfizieren abgedeckt hatte, wurde anders hingelegt und die Operationslampen auf die neue Arbeitshöhe gebracht. Jetzt begann die diffizile Arbeit, die höchstes Geschick und Konzentration erforderte und beginnend mit den Sehnen und danach den Blutgefäßen fing man an mit zunächst starken Fäden und dann solch hauchfeinen, dass die mit dem bloßen Auge fast nicht zu erkennen waren, wieder zusammenzufügen, was abgerissen war.
„Bitte geben sie ihm unbedingt Piperacillin und Tazobactam damit wir ihn antibiotisch abdecken. Wir werden zwar sowieso schon Keime in der Wunde haben und Fieber hat er ja auch schon, aber trotzdem hoffen wir, dass wir die Infektion systemisch bekämpfen können und falls es nichts wird, haben wir es wenigstens versucht-amputieren können wir immer noch!“ erklärte der plastische Chirurg und der Anästhesist nickte und wies die Narkoseschwester an, ihm das gewünschte Antibiotikum gleich aufzulösen. Die Arbeit am Knochen war sicher sehr schmerzhaft gewesen und dafür hatte man Ben eine große Menge Opiat gegeben, was natürlich seinen Kreislauf erneut belastet hatte, aber bei den jetzt folgenden Nähten konnte man eine sehr oberflächliche Narkose fahren, so dass Ben sogar am Narkosegerät selbst atmete und nur durch die Inhalationsnarkotika und wenig Opiaten in einem leichten Schlaf gehalten wurde. Immer wieder kontrollierte man die Narkosetiefe, aber man wollte ihn nicht viele Stunden komplett ausknocken-umso schwerer würde er nämlich wieder aufwachen und mit den Nebenwirkungen der Narkosemittel zu kämpfen haben.
Nachdem der Operateur ja die Musikrichtung vorgeben durfte, hatte er sich für klassische Klaviermusik entschieden und bei den Goldberg-Variationen von Bach, die ja auch schon pro Stück fast eine halbe Stunde dauerten, verging die halbe Nacht, währenddessen die Operateure geschickt und angespannt Hand in Hand arbeiteten. Die OP-Schwester hatte sich auch einen Stuhl geben lassen, was eher selten vorkam, aber solche Wiederherstellungsoperationen waren für das gesamte OP-Personal außer den beiden Operateuren, die sehr konzentriert arbeiteten, eigentlich langweilig und immer wieder gähnte der eine oder andere, denn auch wenn man untertags geschlafen hatte, der Körper mit seiner inneren Uhr befahl den meisten Menschen trotzdem in der Nacht müde zu sein, was ja normalerweise auch ok war.
Man hatte um Ben´s Oberschenkel eine breite aufpumpbare Manschette gelegt und als der Operateur zur Naht der größeren Blutgefäße kam, stellte man vorübergehend eine Blutsperre her, die man aber nicht die ganze Zeit belassen konnte, denn sonst würde der Fuß komplett absterben, aber so hantierte man mit viel Fingerspitzengefühl und nachdem die wichtigsten Blutgefäße wieder verbunden waren, wurden die Fäden noch dünner und nun kam das Operationsmikroskop zum Einsatz, denn mit bloßem Auge waren trotz Lupenbrille die feinen Nerven kaum zu erkennen.
So nahm man die Brillen ab und der Operateur und sein Assistent blickten nun durch die Optik des Operationsmikroskops, der Operateur durch den Hauptgang und sein Assistent durch den sogenannten Spion-einem zweiten optischen Aufsatz. Inzwischen lief keine Musik mehr, denn diese Tätigkeit erforderte höchste Erfahrung, Geduld und Fingerspitzengefühl und der Wiederherstellungschirurg mit seinen filigranen geschickten langen Finger, die er durch Klavierspiel beweglich hielt, arbeitete in höchster Präzision. Einige Male beratschlagten die beiden Chirurgen sich, welcher Nerv das wohl war-es war detailliertes anatomisches Wissen für solche Operationen erforderlich, denn sonst würde das nicht funktionieren und der plastische Chirurg hatte schon viele Stunden und Tage damit verbracht, menschliche Hände und Füße in der Pathologie zu präparieren und daran zu üben, aber am lebenden Objekt war das Ganze dann doch wieder ganz anders. Allerdings hatte er eine hohe Erfolgsrate und die Patienten wurden nach Unfällen mit dem Hubschrauber von weit her zuverlegt, um von seiner Erfahrung und seiner Geduld zu profitieren.
Trotzdem kamen die Operateure einfach durch die Konzentration und das angespannte Arbeiten mit teilweise doch krummem Rücken und ein wenig verdreht an ihre körperlichen und mentalen Grenzen, alle hatten Hunger und Durst und mussten eigentlich schon lange zur Toilette, aber das verdrängte man, bis es unaufschiebbar war, denn sonst stockte der ganze OP-Betrieb, weil sich derjenige der den Saal verließ, nach der Stärkung und dem Klobesuch wieder komplett umziehen und steril waschen musste. So aber atmete die ganze OP-Besatzung erleichtert auf, als irgendwann der Operateur das Operationsmikroskop zur Seite schob, seinen schmerzenden Rücken streckte und: „Hautnaht!“ forderte. Nun wurden noch zwei dünne Redondrainagen gelegt, damit das Wundsekret ablaufen konnte und mit peniblen sauberen Hautnähten an denen jede Schneiderin ihre wahre Freude gehabt hätte, so exakt gleich waren die Abstände, wurde die Operation am Fuß beendet. Man fuhr nun den Tisch hoch, wischte die Haut nochmals mit Desinfektionsmittel ab und klebte sterile Wundverbände über die Wunden.
Nun vertiefte der Operateur die Narkose wieder, denn jetzt würde man Ben umdrehen und die Blutergüsse an seinem Rücken inzidieren und drainieren, da sich die riesigen Hämatome sonst infizieren und schlecht abheilen konnten. Man hatte mehrmals während der Operation Blutgase gemacht und auch andere Laborwerte bestimmt, um dringend benötigte Elektrolyte auszugleichen, Ben Pufferlösungen zu verabreichen und die richtige Infusionsrate heraus zu finden, damit er einigermaßen stabil blieb. Im Pleur-Evac-Gefäß der Thoraxdrainage war Gott sei Dank kaum mehr Blut und Sekret nachgelaufen und der Hb-Wert war zwar deutlich erniedrigt, aber man konnte bisher von der Verabreichung von Blutkonserven absehen, denn diese störten das Immunsystem deutlich und man ging da heutzutage viel zurückhaltender damit um, als noch vor wenigen Jahren-oft schadete man den Patienten damit mehr, als man nutzte und Ben würde ein intaktes Immunsystem brauchen, um den Fuß zu behalten.
Im Katheterbeutel kam immer noch sehr blutiger Urin, aber zumindest eine der Nieren arbeitete, sonst würde kein Pipi produziert und so überließ man dieses Organsystem der Sorgfalt des Urologen, der sich die Sache später wieder ansehen würde, aber jetzt musste man zusehen, dass man Ben langsam ins Bett brachte. In seinem Rektum hatte man zu Beginn der Operation eine Temperaturmeßsonde platziert, damit man ihn bei Bedarf wärmen konnte, denn Hypothermie, also Untertemperatur, war für den Operationserfolg unbedingt zu vermeiden, aber da er zunächst 38°C Fieber gehabt hatte, war die Temperatur nur bis 36,5°C gesunken und das war in Ordnung so.
Nun erhoben sich die Chirurgen, streckten ihre schmerzenden Rücken und fassten dann gemeinsam mit dem Springer an, um Ben auf den Bauch zu legen und so auf dem Tisch zu fixieren. Die Operateure zogen dann frische Sterilkittel und Handschuhe an, der Springer desinfizierte inzwischen die mannigfaltigen Beulen und nun kam der Unfallchirurg, in diesem Fall der Mann fürs Grobe, wieder zum Zug. Mit mehreren beherzten Schnitten eröffnete er die Blutergüsse, drückte mit Kompressen die Koagel, die sich teilweise darin befanden heraus, legte dicke Drainagen ein, nähte die mit jeweils einem derben Stich fest und als man so Ben´s Rückseite versorgt hatte, befestigte man noch dicke saugende Verbände darauf und drehte ihn dann wieder zurück auf den Rücken. Der Wiederherstellungschirurg prüfte nochmals die Durchblutung der Zehen, aber so wie es aussah, war die Operation zumindest fürs Erste gelungen. Man wickelte einen warmen Polsterverband um den Fuß und legte darüber eine aufblasbare Schiene zur Stabilisierung. Die nötige Bewegung würde die ersten Tage nur kontrolliert und passiv durch die Krankengymnastik erfolgen-ansonsten musste man das Bein noch ruhig halten, damit die hauchfeinen Strukturen darin sich erholen konnten.
Kurz hatte der Anästhesist überlegt, Ben noch ein paar Stunden nachbeatmet zu lassen, sich aber dann dagegen entschieden. Die Temperatur war in Ordnung, mit Noradrenalin hatte er einen stabilen Kreislauf und so sprach nichts dagegen, ihn aufwachen zu lassen. Er stellte das Narkosegas ab, versorgte Ben nur noch mit einem Luft- Sauerstoff-Gemisch und dann wartete man, bis der langsam zu sich kam.