19:00 Uhr
Semir ging nur noch mit Unterhose bekleidet auf das Haus zu. Die Eingangstür wurde geöffnet und er sah in die Mündung eines Gewehres. Der Mann dahinter sah ihn nervös an. „Kommen Sie rein! Aber ich warne Sie, der nächste Schuss geht sicher nicht so glimpflich aus.“ „Herr Liebermann, hören Sie mich an, bitte. Ich kann Sie verstehen. Wenn meine Tochter so krank wäre, dann würde ich auch alles versuchen, sie zu retten. Aber das ist der falsche Weg. Ich habe die Medikamente für Lina dabei. Lassen Sie mich zu den Kindern, bitte.“ Semir sah den Mann regelrecht bettelnd an. „Okay, sie liegen im Nebenzimmer, aber ich werde Sie nicht aus den Augen lassen. Wenn Sie auch nur einen Trick versuchen, dann knalle ich Ihnen die Birne weg!“ Semir ging an den Mann vorbei und drehte ihm den Rücken zu. So wollte er ihm demonstrieren, dass er ihm vertraute, auch wenn er sich nicht wirklich wohl dabei fühlte. Semir betrat das Schlafzimmer und sah die Mädchen im Bett liegen. Lina sah ihn an. „Bist du ein Doktor?“ „Nein, aber ich habe deine Medizin hier.“ „Ich werde keine Medizin nehmen.“ Semir sah das Mädchen an. „Aber dann wird es dir schlechter gehen.“ „Ich weiß, aber ich will, dass Sarah ins Krankenhaus kommt. Erst dann werde ich die Tabletten nehmen.“ Semir drehte sich zu Max Liebermann an. „Sie haben es gehört.“ „Ja, aber das ändert meine Meinung nicht! Lina, du wirst jetzt die Tabletten nehmen! Sofort!“ „Nein, Papa. Ich will dass du Sarah gehen lässt und dann holst du Mama her! Wenn du das nicht tust, dann wirst du nicht nur Sarah umbringen, sondern auch mich.“ Lina zog Sarah an sich und Semir sah sofort, dass es dem kleinen Kind gar nicht gut ging. „Hören Sie auf Ihre Tochter. Sie hat doch Recht. Können Sie damit leben, wenn Sie Lina töten?“ Max fing an zu weinen. „Sie soll eine neue Niere bekommen, ich will doch nur, dass sie lebt. Sarahs Eltern können sich alles kaufen, aber der arme Sack hat mit dem Schicksal zu kämpfen. Das ist nicht fair!“ „Nein, das ist nicht fair. Aber sind Sie sicher, dass es so ist? Man hat Ihnen doch sicher erklärt, dass es nicht so einfach ist, eine Niere zu ersetzen. Es gibt Parameter, die stimmen müssen, denn sonst stirbt der Patient. Glauben Sie, dass Sie mit Lina glücklich werden, wenn Sarah stirbt? Was wenn die Niere, die für Sarah bestimmt ist, nicht auf Lina passt? Dann haben Sie Sarah getötet und ihre Tochter ist nicht gerettet.“
Max sah den Polizisten an. „Es tut mir so leid! Was soll ich denn tun? Ich will doch nur, dass Lina lebt! Bitte, ich will sie nicht verlieren! Schatz, nimm deine Tabletten bitte… du brauchst sie!“ „Dann lass Sarah gehen. Lass sie gehen und dann wird alles wieder gut.“ Semir sah zu dem Mädchen, welches ihm derzeit viel erwachsener erschien, als der Vater. „Geben Sie auf. Ich denke, der Richter wird hier auch die Umstände berücksichtigen. Sie sind verzweifelt, aber es ist der falsche Weg. Ich werde Ihnen helfen, das verspreche ich Ihnen.“ Max schluchzte, doch er wusste, dass er sehr vorsichtig sein musste. Der Polizist könnte ihn täuschen. „Und dann werde ich ins Gefängnis gehen und Lina nicht aufwachsen sehen. Sie wird sterben, wenn sie keine Niere bekommt, verstehen Sie das? Und wenn Lina nicht leben darf, dann soll Sarah auch nicht leben.“ „Sie sind nicht Gott! Sie können nicht entscheiden, wer leben soll und wer nicht! Hören Sie, Max… noch ist nichts passiert. Für die Entführung bekommen Sie vielleicht zwei Jahre, vielleicht mildernde Umstände sogar nur eineinhalb. Das kann zur Bewährung ausgesetzt werden und Sie sehen wie Ihre Tochter aufwächst. Aber wenn Sie Sarah sterben lassen, dann ist es Mord und dann werden Sie 15 Jahre bekommen. Wollen Sie das wirklich?“ Max schüttelte den Kopf. „Ich habe Sie angeschossen…“ Semir lächelte leicht. „Ich bin gestolpert und leider in die Flugrichtung Ihrer Kugel geraten. Ein kleiner Betriebsunfall, wenn Sie wollen. Geben Sie auf.“ Max ging ins Wohnzimmer. Semir fühlte die Stirn von Sarah. „Sie ist ganz heiß. Sie braucht was zu trinken, aber sie wacht nicht auf. Ich habe Angst, dass sie stirbt.“ Lina sah ihn an. „Helfen Sie Sarah, bitte. Ich will nicht, dass sie stirbt.“ „Lina, ich will es auch nicht. Aber wenn dein Papa nicht hören will, dann kann ich nichts machen.“ „Okay, Sie dürfen gehen.“ Semir stand auf und nahm Sarah auf den Arm. „Ohne sie!“ „Max, bitte…lassen Sie das Kind mit mir gehen. Sie kann Ihnen doch nicht schaden. Lassen Sie es sein. Ich werde Ihnen helfen, das verspreche ich.“ Semir trug Sarah vorsichtig aus dem Zimmer. Er ging auch an Max vorbei und Lina folgte ihm. Dann stand Semir an der Tür und wollte sie öffnen. Ein Schuss fiel und Semir spürte wie die Kugel dicht an seinem Kopf vorbeiflog. „PAPA!! NEIN!!“ Langsam drehte Semir sich um. Lina stand nun zwischen ihm und Max. „Papa, hör auf! Lass uns zusammen rausgehen! Hör auf, bitte… ich liebe dich! Ich will nicht ohne dich leben.“ Lina fing an zu weinen und Max ließ die Waffe sinken. Semir ging auf ihn zu und streckte seine Hand in Max Richtung. Vorsichtig nahm ihm die Waffe ab. Max ließ es geschehen. „Es tut mir Leid! Ich wollte es nicht! Ich wollte nicht, dass es so kommt!“ „Ich weiß…lassen Sie uns gehen.“
Alex Brandt starrte wie sein Namensvetter gebannt auf die Tür. Sie alle hatten den Schuss gehört. Dann öffnete sich die Tür. Die Scharfschützen hoben sofort ihre Waffen und zielten in die Richtung. „NICHT SCHIESSEN!“ hörten sie Semir rufen. Tatsächlich kam der Kollege, nun mit einem kleinen Kind auf dem Arm, aus dem Haus. Hinter Semir kam ein zweiter Mann mit einem weiteren Kind raus. Sofort nahmen die Sanitäter die Kinder und brachten sie zum Krankenwagen. Alex Brandt kam zu Semir und dem Täter. Er legte dem Mann, der keinen Widerstand leistete die Handschellen an und ließ ihn abführen. Doch bevor Max Liebermann weggebracht werden konnte, kam auch Gaby Liebermann zu ihm. „Max, ich liebe dich….ich werde auf dich warten und dann fangen wir zu dritt ein neues Leben an.“ Max nickte und ließ sich abführen. „Frau Liebermann, Ihre Tochter braucht sie. Sie wollte die Tabletten nicht nehmen, solange ihr Mann Sarah nicht gehen ließ.“ Gaby nickte und ging nun zum Krankenwagen. Dort lag Sarah auf der Liege und wurde vom Notarzt behandelt. Er sah sie nur kurz an. Ihre Tochter ist im zweiten Wagen!“ kam etwas grob von dem Mann. „Ich weiß…ich wollte sehen, wie es Sarah geht.“ „Wenn wir sie sofort ins Krankenhaus bringen, hat sie eine Chance. Es steht sehr schlecht um sie. Bitte steigen Sie aus! Wir fahren umgehend in die Uniklinik!“ Sofort ging Gaby raus und in den Wagen, wo Lina war. „Mama!!“ Das Mädchen umarmte ihre Mutter. „Lina, du bist ein sehr tapferes Mädchen. Der Polizist hat mir erzählt, dass du da drinnen gemacht hast. Aber deine Tabletten…du musst sie nehmen.“ „Nein, das muss sie nicht. Wir wissen ja nicht wie sie auf das fremde Präparat reagiert. Wir fahren direkt ins Krankenhaus und dort kann sie dann mit ihrem gewohnten Medikament behandelt werden. „Wo ist Papa? Muss er jetzt ins Gefängnis? Er wollte mir doch nur helfen.“ Gaby strich ihrer Tochter über die Wange. „Ich weiß, Schatz. Aber er muss für das, was er getan hat, die Verantwortung tragen. Aber wir werden es gemeinsam schaffen.“ Lina nickte.