Für Niklas verliefen die nächsten Tage in einem ungewohnten Ablauf. Er musste zur Schule, was er nach zwei Tagen doch sehr gern machte und zweimal pro Woche war die Therapie bei Martin angesagt. Nun kam der schlimmste Teil dieser Behandlung. Die Sitzung bei dem er das grausame Erlebnis schildern musste. An diesem Tag war Niklas extrem nervös, denn er wusste genau was kam. Dieter begleitete ihn und schon als sie im Wartezimmer saßen wurde Niklas blass. „Bist du okay? Sollen wir das verschieben?“ harkte Dieter besorgt nach. Niklas schüttelte den Kopf. „Ich will es endlich schaffen. Ich will es hinter mich bringen…“ gab der Junge mit fester Stimme von sich. „Du wirst es schaffen. Du hast bisher alles geschafft und das hier ist die letzte Hürde die du nehmen wirst.“ beschwor Dieter ihn. Niklas nickte. „Niklas! Kommst du bitte durch!“ kam die Stimme von Martin. Niklas und Dieter gingen in den Behandlungsraum. „Ich…ich….“ fing Niklas leise an. Martin sah ihn an. „du hast Angst?“ harkte er sofort nach. Niklas nickte. „Ich will nicht mehr daran erinnert werden. Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Ich will es nicht noch einmal durchmachen. Ich will es nicht…“ flehte der Junge regelrecht. Martin atmete tief ein. „Niklas…ich verstehe dich sehr gut dass du nicht darüber reden willst. Wir können es noch weiter hinausschieben. Ich weiß dass du diesen Tag am liebsten vergessen willst, aber das wirst du nie können. Du musst mir nicht erzählen, was du gesehen hast. Ich will nur wissen wie du dich fühltest. Verstehst du? Du musst nicht erzählen, was du erlebt hast. Aber was du gefühlt hast. Versuche es!“ forderte Martin ihn auf. Niklas nagte an der Unterlippe und nickte nach einigen Minuten. „Ich habe mich als Versager gefühlt. Genau wie mein Vater mir das immer sagte. Ich wollte Sonja schützen vor dem was mein Vater mit ihr alles anstellte und war an diesem Tag nicht da.“ kam traurig von Niklas. Ein Zittern ging durch den Körper des Jungen und er knetete nervös die Finger. Martin packte seine Hände und hielt sie fest. „Du bist nicht allein!“ redete er auf Niklas ein. Dieser nickte. „Ich hätte ihn umbringen können. Ich hätte das Messer aus der Küche holen können und ihn die Klinge in den vom Alkohol getränkten Wanst jagen sollen!“ stieß Niklas plötzlich voller Hass aus. Dieter sah Martin erschrocken an, doch dieser hob die Hand. „Niklas…ich möchte dir etwas zeigen. Willst du deinen Hass in dir loswerden? Willst du endlich wieder sagen, dass du das Leben lebenswert findest?“ harkte Martin nach. Niklas hatte Tränen in den Augen, wie immer wenn er an diesen Tag zurück dachte. Er nickte leicht. Martin zog ihn in den Nebenraum. Dort hing ein Sandsack und genau davor wurde Niklas positioniert. „Stell dir vor, dieser Sandsack wäre dein Vater. Willst du ihm zeigen, was du von ihm hältst? Willst du ihm sagen, was mit ihm passiert wäre, wenn du pünktlich gewesen wärst?“ fragte Martin. Niklas fixierte den Sack und atmete heftig ein und aus. „Du verdammter versoffener Mistkerl!! Du hast sie umgebracht! Nur weil du Fernsehen willst! Du bist ein Mörder! Ein dreckiger feiger Mörder!!“ schrie Niklas plötzlich laut los. Die Wut die sich in ihm aufgestaut hatte kam raus. Er schlug mit seinen Fäusten in den Sandsack, schrie und fluchte was das Zeug hielt bis er weinend zusammenbrach. Martin lächelte leicht. Er hatte es erreicht. Niklas hatte seine Wut ausgebrannt. „Wie geht es dir?“ fragte er nach einer Weile. Niklas sah ihn mit seinen roten Augen an. „Ich fühle mich beschissen!“ kam von dem Jungen.
Dieter hörte die Schreie aus dem Nebenraum und wäre am liebsten dort rein gegangen, doch Martin hatte ihn schon vorher gesagt, was er vorhatte und so wusste er natürlich was dort ablief. Doch wie Niklas schrie brach ihm fast das Herz. Den Jungen hatte er schon so tief ins Herz geschlossen, dass er ihn auf gar keinen Fall wieder hergeben würde. Das stand fest. Die Tür ging auf und die Beiden kamen zurück. „Du hast es geschafft. Du hast deine Wut verarbeitet. Die Trauer wird sicher noch sehr lange andauern, doch ich bin großer Hoffnung. Aber wir müssen noch weiter zusammen arbeiten. Du wirst noch eine lange Zeit bei mir in Behandlung sein.“ ermahnte Martin ihn. Niklas nickte. „Ich bin müde…“ gab er zu. Martin sah Dieter lächelnd an. „Geh schon mal in den Warteraum!“ bat Dieter ihn. Sie warteten bis Niklas aus dem Raum war. „Ein sehr großer Schritt den er gemacht hat. Aber er war bei den letzten Sitzungen schon gelassener als sonst. Er war nicht mehr mit Vorwürfen vollgefressen und machte sich selbst fertig.“ erklärte Martin als Niklas raus war. „Ist das gut?“ wollte Dieter wissen Martin nickte. „Du hättest sehen sollen, wie er den Sandsack bearbeitet hat. Soviel Wut in so einem zarten Jungen, habe ich selten gesehen. Er hat richtig zugeschlagen und getreten. Es war für ihn wie eine Befreiung.“ kam von Martin. „und wie geht es jetzt weiter?“ harkte Dieter nach. „Wir werden sicher noch ein paar Stunden brauchen. Aber er wird nie wirklich davon geheilt werden können. Die Wunden sind sehr tief und Seelenwunden heilen nicht. Sie können lediglich verdrängt werden. Sonja ist für ihn ja immer noch ein großer Halt und den darf er auch nicht verlieren. Das schönste wäre natürlich, wenn er jetzt noch Erfolge feiern kann. Gute Noten, Freunde oder auch eine Freundin. Ich kann mir vorstellen, dass er dann aus dem gesamten Tief heraus kommt. Allerdings wird er dann auch die Gedanken haben, ob er nicht genauso wird wie sein Vater.“ erklärte Martin. Dieter reichte ihm die Hand und verabschiedete sich. Als sie aus dem Behandlungsraum rausgingen um auch Niklas zu holen sahen sie den Jungen im Wartezimmer auf der Bank liegen. Er schlief tief und fest. Martin lächelte leicht. „Das habe ich auch noch nicht gehabt. Aber dennoch denke ich tat es ihm gut. Er wird sich nicht mehr für einen Versager halten, denn er hat es seinem Vater indirekt gezeigt.“ Martin verabschiedete Dieter erneut, der Niklas weckte. Nur wenig später fuhren die Beiden nach Hause.