Krankenhaus - 18:45 Uhr
Die Momente des Wartens waren wieder unerträglich lange. Semir und Ben waren natürlich mit ins Krankenhaus gefahren, wo besonders auf den jüngeren der beiden Polizisten eine Zereissprobe wartete. Semir hatte ihm auf dem Weg ins Krankenhaus mit vorsichtigen Worten offenbart, was sich in seiner Wohnung zugetragen hatte. Die Konfrontation mit den Handlangern der Yakuza, der Schusswechsel und Carina zwischen den Fronten. "Wie bitte?", rief Ben geschockt und sah seinen Partner mit großen Augen an. "Warum erfahre ich das jetzt erst?" "Wann hätte ich es dir denn sagen sollen? Ausserdem war Carina ausser Gefahr, sie wurde betäubt, von Meisner betreut bis sie wach wurde und wir hatten zwei Mann vor ihrer Wohnungstür positioniert. Hier, schau.", rechtfertigte sich Semir und zeigte Ben eine Whatsapp-Nachricht, in der Meisner versicherte, dass Carina wieder fit war. Die Nachricht war gekommen, als Semir noch keinen direkten Kontakt zu Ben hatte.
Sofort telefonierte Ben mit seiner Freundin, er entschuldigte sich gefühlte 100te Mal, dass sie in die Sache mit reingezogen wurde. Carina klang gefasst, aber doch ein wenig wackelig in der Stimme. Sie war ebenfalls heilfroh, dass ihr Lebensgefährte aus der, ebenfalls sehr gefährlichen Gefangenschaft ohne Verletzung rausgekommen war. "Ruh dich aus. Ich bin bald zu Hause.", sagte er dann noch, bevor sie sich mit Liebesbekundungen verabschiedeten. Semir merkte, dass durch diese Erlebnisse der letzten Tage vielleicht einiges wieder ins Lot gekommen war, was wegen Kevins Tod aus den Fugen gerutscht war.
Im Krankenhaus war es dann Semir der telefonierte. Denn gerade als er auf den Besucherparkplatz fuhr, kam ihm der Gedanke schlagartig. "Ach du scheisse...", sagte er und blickte erschrocken zu seinem Partner. "Was ist denn?" "Wir haben den Stick völlig vergessen." Auch Ben fuhr sich durch die Haare und biss sich auf die Lippen. Die Sorge um Jenny, die Wut auf Christian... all das hatte ihren Blickwinkel verengt. "Wenn Christian ihn nicht hat, muss er ja im Auto sein." Semir nickte und meinte: "Pass auf, geh du mit Jenny rein und sieh direkt mal bei Christian nach dem Stick. Ich ruf die Kollegen an der Unfallstelle an."
Ben eilte durch den Empfang sofort zur Notaufnahme. Christian war bei Bewusstsein, doch er blickte von seiner Rettungstrage nur desillusioniert auf, als er Ben erkannte. Man verband ihm gerade den Kopf in Erstmaßnahme, danach würde er zum Röntgen gebracht werden, wo Jenny bereits war. Das hatte Ben zuerst nachgefragt, wurde jedoch typischerweise sofort abgewürgt, der verletzten Kollegin zu folgen. "Wir werden sie erstmal eingehend untersuchen, bitte haben sie solange Geduld.", wurde er von dem Krankenpfleger beruhigt. Jenny hatte das Bewusstsein immer noch nicht wieder erlangt, als man sie in die Untersuchungsräume schob und Ben warf ihr einen sorgenvollen Blick hinterher... mal wieder. So langsam nahmen die Krankenhausaufenthalte überhand, dachte er noch, bevor er in den Untersuchungsraum neben an eintrat, wo sein Cousin verarztet wurde.
"Wo ist der Stick?", fragte er ohne Umschweife und Mitleid in der Stimme. In diesem Moment war Christian für ihn ein einfacher Verbrecher. Kein Cousin, kein Familienmitglied. Seinem Onkel das Ganze schonend beizubringen würde noch eine Herkulesaufgabe werden für Ben. Christian drehte bei der Frage den Kopf weg. "Wo der Stick ist, hab ich dich gefragt!", wiederholte Ben lauter und die beiden Krankenschwestern schauten etwas überrascht auf. "Keine Ahnung.", war die leise Antwort des Mannes, der Moral gegen Geld eintauschen wollte. Ben machte einen schnellen Schritt zur Trage und wollte ihm gerade in die Hosentasche langen, als er von der älteren Frau zurückgehalten wurde. "Hallo? Verbrecher hin oder her, aber im Moment ist der Mann ein Patient nach einem schweren Autounfall. Ich muss also sehr bitten!".
Ben bremste sich vor dem ersten Griff nochmal. "Ich werde ganz behutsam vorgehen. Ausserdem ist das mein Cousin, und der hat gegen eine Taschenkontrolle sicher nichts einzuwenden." Tatsächlich wehrte sich Christian nicht, als Ben ihm in alle Hosentaschen langte, den Stick aber nicht hervorzaubern konnte. Auf die erneute Frage, wo der Stick sei, gab Christian keine Antwort. Es war vor dem Unfall zwar Zeit, den Stick zu verstecken... aber hatte Bens Cousin dafür wirklich die Nerven bei der Flucht? "Dann hätten wir es ja jetzt. Wir würden gerne weitermachen.", forderte die Krankenschwester den Polizisten unmissverständlich zum Gehen auf.
Semir stand währenddessen vor dem Eingang des Krankenhauses um zu telefonieren. Es dunkelte jetzt deutlich, der Wind wurde stärker und riss an den bunten Blättern in den Bäumen. Bald würde der erste große Herbststurm kommen und die farbenfrohe Landschaft Stück für Stück entfärben und in das triste Grau verwandeln, vor dem sich Winter-Pessimisten so fürchten. "Ihr habt das Auto schon untersucht? Wer hat das angeordnet? Ah, die Chefin. Ja und?", sprach er ein wenig gehetzt und fuhr sich über die hohe Stirn. Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen. "Nicht gefunden? Habt ihr auch überall nachgesehen? Wirklich überall? Ja, dann schaut nochmal. Und durchsucht den Seitenstreifen, vielleicht wurde er bei dem Aufprall ja rausgeschleuert. Ja okay, ich warte auf deinen Rückruf, ciao." Zum Glück kannte Semir den Leiter der hiesigen Spurensicherung, so weit war man von der Heimat ja nicht entfernt. Doch wie ein wenig befürchtet war der Stick nicht im Auto.
Seine Laune besserte sich nicht, als er im Flur vor den Untersuchungsräumen auf Ben traf. "Und?" "Er hat den Stick nicht." Der kleine Kommissar schüttelte den Kopf. "Das gibts doch nicht, Mensch. Im Auto ist er scheinbar auch nicht. Die Kollegen haben ihn nicht gefunden." "Vielleicht rausgeschleudert?" "Ja, das hab ich denen auch gesagt. Aber dann kann er bis auf die Gegenrichtung geflogen sein.", meinte Semir ein wenig niedergeschlagen. "Naja, ist das so wichtig? Schließlich kann niemand etwas mit dem Stick anfangen.", gab Ben zu bedenken und der erfahrene Polizist wankte mit dem Kopf hin und her. Dann schwiegen sie und warteten darauf, dass ein Arzt endlich mit guten Nachrichten kam.
Plötzlich drehte Semir den Kopf Richtung Ben. "Verdammte Scheisse." "Was ist denn jetzt schon wieder?", fragte Ben irritiert, denn scheinbar hatte sein Partner eine Idee... oder einen Einfall, der aber nicht positiv war. "Hattest du die ganze Zeit Lucas im Auge?", fragte er und Ben dachte kurz nach. "Nein... also die ganze Zeit nicht. Aber er stand doch bei uns, als Jenny verarztet wurde, oder?" "Die ganze Zeit? Ich weiß es nicht, ich hatte mich auf Jenny konzentriert." Die beiden Männer sahen sich an, der junge Polizist wusste, worauf sein bester Freund rauswollte. "Du meinst... er hat den Stick an sich genommen, als wir nicht aufgepasst haben?", sprach Ben es schließlich aus und sofort bestätigte Semir diese Ahnung per Nicken. "Aber warum? Er weiß doch von der Software von Hartmut. Was soll er mit dem Stick anfangen?", entkräftete Semir seine Theorie.
Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wie immer wenn er nachdachte. "Entweder will er die Organisation täuschen...", dachte er laut nach, wurde von Semir durch Kopfschütteln aber bereits verneint. "Glaube ich nicht. Der Typ hat vor nichts Angst, aber das würde er nicht riskieren, nachdem was er mir erzählt hat. Schon alleine wegen seiner Familie." "Dann... hmmm....", dachte Ben weiter und wurde unterbrochen: "Ich glaube eher, dass die auch sehr fähige Leute haben... und vielleicht eine Möglichkeit den Löschmechanismus zu umgehen. Er will dort mit aller Macht raus." In Semir breitete sich ein Gewissenskonflikt aus. "Und jetzt?" "Ich werde mit ihm reden...", sagte der erfahrene Polizist, er mit Lucas auf Augenhöhe kommunizierte, sofort und stand auf. "Du bleibst hier, bis du weißt, was mit Jenny ist. Meld dich!", rier er dann noch und lief den Flur entlang.
Nur wenige Minuten später kam ein Arzt aus dem Untersuchungszimmer und Ben stand auf. Das Schlimmste befürchten und das Beste hoffen, so waren in diesem Moment immer seine Gedanken. "Sie sind ein Kollege?", fragte der Arzt nochmal sicherheitshalber, was Ben bejahte. "Frau Dorn hatte Glück. Ein Schleudertrauma und eine mittelschwere Gehirnerschütterung durch den Unfall, sowie eine Fissur an der Schädeldecke im Stirnbereich, wo sie der Streifschuss getroffen hat. Dabei hatte sie wirklich wahnsinniges Glück gehabt." Das konnte Ben sich vorstellen... er hatte es am eigenen Leib erfahren. Eine Kugel hatte ihm eine Rippe gebrochen, statt ins Herz einzudringen. Und das war noch nicht lange her. "Ausserdem hat sie sich, scheinbar durch den Aufprall und das Eindrücken der Pedale, den linken Fuß gebrochen."
"Wie geht es jetzt weiter?" "Sie wird stationär noch ein paar Tage bleiben, danach kann sie nach Köln verlegt werden. Bei den Untersuchungen ist sie auch erwacht, aber wir haben sie jetzt erstmal noch schlafen gelegt bis morgen. Dann sehen wir weiter. Ihr Zustand ist absolut stabil und sie braucht vor allem jetzt noch Ruhe." Ben nickte und war froh, dass es scheinbar nicht so schlimm war. "Was ist mit Christian?" Die Frage war mehr dienstlich, als wirklich persönlich, zu groß war der Groll. "Den hat es besser erwischt. Ebenfalls Schleudertrauma, allerdings nicht so schlimm. Ein paar Schrammen. Medizinisch gibt es keinen Grund, ihn hier zu behalten." Ben nickte und würde sofort eine Streife rufen, die ihn in die nächste JVA bringt. Er tat es ohne Gewissensbisse oder schlechtes Gefühl...