Beiträge von Campino

    Dienststelle - 19:30 Uhr

    Es dauerte ein wenig, bis sich alle von der unheimlichen Situation unten in den Zellen wieder gefangen hatten. Kevin ging, wie betäubt, die Stufen hinauf während Ben und Jenny ihm folgten. Sie blieben stumm, was sollten sie sagen? Was hatte er da drin gemacht? Er hatte dem eingesperrten Zange scheinbar keinerlei Gewalt angetan, das stand fest. Hatte er mit ihm geredet? Jennys Herzschlag beruhigte sich nur mühsam, denn sie hatte Angst nun Kevins anderes Gesicht zu erleben... das, was sie sich bisher nur vorgestellt hatte, nachdem er ihren Vergewaltiger brutal zusammengeschlagen hatte. Was ging in dem Jungen nur vor, fragte sich Ben mit Vehemenz, als er ihn betrachtete wie er sich durch die abstehenden Haare fuhr und tief durchatmend auf den Bürostuhl fallen ließ. Ben setzte sich ihm gegenüber, abwartend und beinahe eine Antwort fordernd.
    Kevin bemerkte den Blick seines Partners... und er wusste auch, dass Ben spürte was ihn dem jungen Polizisten vorging. "Er hat ein bisschen was erzählt.", sagte er dann und Ben blickte überrascht auf. Er hatte jetzt eigentlich vermutet, dass Kevin zugibt dass ihm das ganze an die Nieren geht, dass er vielleicht eine Auszeit braucht... dass er sich endlich einmal öffnet. Aber der Kommissar verschloß sein Innerstes und verbarg sich, wie so oft, hinter seinem Job. "Und?", forderte Ben ihn auf, weiter zu reden. "Er hat scheinbar von den Sprengsätzen nichts gewusst. Seine Reaktion war glaubwürdig. Aber zu Cablonsky will er nichts sagen." Sein Gegenüber hatte die Hände auf dem Tisch verschränkt und nickte. "Allerdings scheint er mit Cablonsky sehr gut befreundet und behauptet, dass der mit ihm geredet hätte... über die Sprengsätze. Also wenn wir davon ausgehen, dass Zange die Wahrheit spricht... dann gibt es einen dritten oder vierten Mann." "Das vereinfacht die Sache nicht unbedingt.", stöhnte Ben und rieb sich über die Stirn. "Sowieso egal...", meinte sein Partner leise und lehnte sich zurück. "Das LKA weiß jetzt Bescheid. Ayda ist wieder da, die Kinder sind befreit... wir sind raus."

    Ben musste Kevin recht geben. Sie hatten sich an den Fall gebissen, weil Ayda entführt wurde, und Ayda war wieder da. Aber ob Semir die Ermittlung des Täters, der seine kleine Tochter ins Koma befördert hat, einfach dem LKA überlassen würde? Da hatte dessen langjähriger Partner seine Zweifel, die er auch äusserte: "Ich glaube nicht, dass Semir das auf sich beruhen lassen wird, wenn Ayda nicht aufwacht..." "Semir wird jetzt keinen Schritt von seiner Tochter weichen.", meldete sich Hotte, der Semir am längsten kannte. "Das glaubt mir mal...".
    Nach kurzem Schweigen wandte sich Ben, dessen Gedanken ebenfalls hauptsächlich um das kleine Mädchen wanderten, an Kevin: "Was ist mit dir? Ich hab das Gefühl, du kommst nicht so gut klar mit der Situation im Haus." Jenny sah ihren Polizeikollegen überrascht an... überrascht über dessen Direktheit und Offenheit, das anzusprechen obwohl sie und Hotte noch im Raum waren. Aber Ben wusste, dass Hotte Kevins Geschichte kannte, und auch Jenny. Doch er spürte sofort, wie sich die Mauer um den jungen Polizisten errichtete, als er kurz zwischen ihm und Jenny hin und her blickte. "Nein, es ist alles in Ordnung." Der Mann mit dem Wuschelkopf legte selbigen ein wenig schräg: "Das hatte eben aber nicht so ausgesehen..." "Ben, da ist eben ein Mädchen gestorben, an dem wir ganz nah waren. Entschuldige, wenn mich das nicht völlig kalt lässt." Bens Augenbrauen hoben sich kurz. "Woher weißt du, dass es ein Mädchen ist?" "Zange hat mir eben die Kinder aufgezählt, die in dem Haus waren." Der Polizist atmete hörbar aus, er seufzte fast als er spürte, wie er wieder gegen eine Mauer ankämpfte, die sein Kollege um sich herum errichtet hatte. "Und es ist ganz bestimmt nicht wegen Janine?", fragte er etwas leiser, direkter und bekam ebenso eine leisere, aber schärfere Antwort zurück: "Nein! Die Sache ist vorbei!" Jenny, die das Gespräch verfolgte, wurde es mulmig. Gerne hätte sie eingegriffen, aber sie fühlte sich nicht in der Lage dazu... allerdings glaubte sie Kevin genauso wenig, wie Ben ihm glaubte und würde nach Dienstschluss Kevin nicht alleine lassen... auch wenn der erst in zweieinhalb Stunden war.

    Sie beendeten das Gespräch, alle waren müde und ausgelaugt. Ben allerdings würde sich noch nicht auf den Weg nach Hause machen, sondern wollte unbedingt zu Semir und Ayda ins Krankenhaus. Er konnte und wollte seinen besten Freund in diesen Stunden nicht alleine lassen, und wenn er stören würde, würde er sofort wieder gehen. Aber Hauptsache, er war da... er wollte Ayda sehen, und er wollte sehen, wie es seinem Partner ging. Kevin fühlte sich nicht mehr in der Lage einen Krankenhausbesuch zu machen, und sagte, er würde lieber nach Hause fahren und sich hinlegen. Hotte und Jenny verabschiedeten die beiden, bevor sie sich wieder an die Arbeit machten. Letztere fühlte sich bedrückt und war über den Abend danach schweigsam, was der erfahrene Polizist sofort bemerkte.
    "Was grübelst du denn?", fragte er fürsorglich und Jenny strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Ich weiß nicht...", sagte sie leise. "Ich glaube, Kevin lügt uns alle an." Sie blickte zu dem dicklichen Kollegen auf, der am Tisch neben ihr stand und ihr schon häufiger gute Ratschläge gegeben hatte, und der ihr jetzt nickend zustimmte. "Es nimmt ihn mehr mit als er zugibt. Und so wie sie es jetzt erzählt haben, muss er sich wieder schrecklich hilflos gefühlt haben, weil er nichts tun konnte.", sagte Hotte und strich sich etwas gedankenverloren über seinen Bauch, der das Hemd stramm sitzen ließ. "Und das erinnert ihn mit Sicherheit an seine Schwester.", komplettierte Jenny und wurde wieder nickend bestätigt, woraufhin sie leise seufzte. "Er lässt niemand an sich heran. Ausser dich." Die junge Frau blickte zu Hotte wieder auf, nachdem sie für kurze Zeit die Tischplatte angestarrt hatte. "Dir hat er doch alles erzählt. Dich lässt er in sein Seelenleben hinein. Ich glaube, wenn du ihm zuhörst, wenn er redet, würde ihm das schon helfen." "Ich weiß... ich möchte auch nach der Schicht zu ihm fahren. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn er jetzt zu lange alleine ist." Dabei sah sie kurz auf die Uhr und Hotte lächelte: "Ich kann dich leider nicht früher gehen lassen, wir sind eh schon so wenig. Aber die zwei Stunden wird er noch rumbekommen."


    Kevins Wohnung - 20:15 Uhr

    Kevin wusste nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte. Über Bens Unverfrorenheit, seine Schwester als Grund vor allen anderen hin zu stellen, dass ihn die Situation in dem Haus sehr mitbekommen hatte, oder über seine eigene Sturheit. Über die Hälfte der Fahrt machte er sich über diese Frage Gedanken, dann verdrängten nach und nach die Müdigkeit und der ungeheure Druck im Kopf diese Frage. Er schwitzte und seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad seines Wagens, die Gier und die Sucht nagten im stärker. Als würden Engel und Teufel auf seinen Schultern sitzen, wechselte er mehrmals die Richtung seines Weges zu Kalles Wohnung, oder ins Rotlichtviertel zu seinem alten Stammdealer. Das Teufelchen siegte schließlich als der Polizist vor einer schäbigen Bude anhielt, wo ihm die Tür geöffnet wurde. "Du? Ich dachte schon, du wärst an dem Zeug krepiert.", wurde er begrüßt. "Ich hatte nur ne Auszeit, aber jetzt brauche ich wieder was." Dabei hielt der Polizist einen grünen Schein zwischen Zeige- und Mittelfinger, womit er andeutete dass er überhaupt keine Lust auf Smalltalk hatte. "Ich hab eigentlich nur noch Stammkunden.", grinste der Dealer ihn mit gelben Zähnen an. "Halt die Fresse! Hast du jetzt was oder nicht?", fuhr Kevin ihn wütend an, und konnte bei dem Kerl die Polizeikarte nicht ausspielen... der wusste davon nämlich nichts. "Wenn du noch nen Braunen dazulegst..." Kevin hatte den Ausdruck in den Augen, den er gebraucht hätte, um Zange einzuschüchtern... sein Gegenüber interessierte das allerdings herzlich wenig, denn der Junkie würde für Stoff immer den aufgerufenen Preis bezahlen, und so legte der Polizist einen braunen Schein dazu und bekam das Röhrchen mit den pinken Pillen.
    Noch im Wagen warf er sich zwei in den Rachen und schluckte sie ohne Flüssigkeit. Er wollte diesen Tag vergessen, und er wusste dass ihn die Gedanken überfallen und die ganze Nacht quälen würden, wenn er jetzt einfach ins Bett gehen würde.

    So entwickelte sich der Weg in die Wohnung zum Spießrutenlauf... Kevin war die Drogen nicht mehr gewohnt, und statt Müdigkeit lösten sie bei dem Polizisten nach Ankunft zu Hause einen Schwindel aus. Fuck, was hatte der Bastard ihm da verkauft? Er brauchte 5 Minuten, bis er es schaffte, die Haustür aufzusperren, die Treppen zog er sich mehr am Geländer nach oben, als er wirklich ging. Kalle war zum Glück nicht zu Hause, sie arbeitete in der Bar, die ihr Kevins Vater angeboten hatte, und so wurde ihr der Blick auf den Polizisten erspart. Das Licht, das er jetzt im Wohnzimmer anschaltete, war greller als sonst, es brannte richtig in den Augen und Kevins Herzschlag begann immer schneller und heftiger gegen die Brust zu pochen. Er zog die Waffe aus dem Holster, um sie auf den Küchentisch zu legen und wankte ins Badezimmer.
    Dort stützte sich der Polizist auf das Waschbecken und sah in den Spiegel. Er sah nicht den Kevin, der er in den letzten Wochen war... wieder motiviert von der Arbeit, clean, zwar etwas im Gefühlschaos aber zumindest wieder mit beiden Beinen im Leben. Nein, dieser Kevin war die hässliche Fratze dessen, was er in den letzten Wochen war. Der Hintergrund im Spiegel hinter ihm flimmerte und verschwamm, er hörte plötzlich lautes Pochen und Knistern um sich herum. Ein Knistern, als würde es über ihm, hinter ihm und neben ihm anfangen zu brennen. In das Pochen mischten sich Schreie eines Mädchens, Schreie voller Angst und Panik, Schreie nach Hilfe während er sich weiter starr in den Spiegel sah, bevor er sich nach vorne beugte, das Wasser aufdrehte und sich mit beiden Händen das kühlte Nass ins Gesicht schaufelte. Pochen nahm ab, die Schreie verstummten wie unter Wasser, doch das Zittern seines Körpers nahm zu. Mehrere Minuten verharrte er am Wasserhahn, schlug die feuchten Hände vor die Augen, als er sich wieder aufrichtete und in den Spiegel sah.

    Was er wahrnahm, ließ ihn den Atem anhalten, als schräg hinter ihm eine Gestalt stand, kleiner als er. Sie hatte keine Haare, nur böse funkelnde Augen, die Haut und die Kleider verbrannt, das kahle Haupt mit Asche bedeckt. Sie stand nur dort und hatte den glutroten Mund weit geöffnet, als würde sie um Hilfe schreien, den Schrei, den er eben noch gehört hatte, doch kein Laut drang aus ihrem Mund. Kevin blickte vielleicht nur Sekundenbruchteile in den Spiegel auf die Gestalt, bevor er sich geschockt umdrehte, und die leere Badezimmertür anstarrte. Seine Beine gaben nach, er musste sich am Waschbecken hinter ihm festkrallen, als er langsam auf die Knie sank, und nun selbst laut schrie...

    Dienststelle Zellen - 19:15 Uhr

    Kevin wusste gar nicht genau, weswegen seine Füße ihn gerade die Treppen hinunten zu den Zellen trugen. Er fühlte sich unendlich müde und ausgelaugt, ein Gefühl das er nur in Phasen seines Lebens hatte, als ihn der Selbstzweifel die kalte Klinge an den Hals gehalten hatte. Er war nicht wütend auf den schweigsamen Mann dort in der Zelle, zu dem er jetzt wollte, er hatte einfach keine Kraft, wütend zu sein. Er ging nicht runter, um dem Mann die Seele aus dem Leib zu prügeln, wie er es vielleicht früher getan hätte. Dieses Mal spürte er keine Wut, sondern Ohnmacht. Warum tat man so etwas? Warum kamen diese Männer auf die Idee, das Versteck der Kinder mit einem Sprengsatz zu versehen, wenn jemand versuchte, sie zu befreien? Waren die wirklich so unprofessionell, und die Kinder hätten sie identifizieren können nach ihrer Befreiung?
    Kevin kamen die Stufen unendlich lange vor, als würde er einen direkten Abstieg bis in die Hölle machen, und je tiefer er kam, desto lauter schlug sein Herz gegen den Brustkorb. Bei dem Beamten an einer Art Pforte vor dem kleinen provisorischen Zellentrakt im Keller der Dienststelle bekam er den Schlüssel und zeichnete die Annahme gegen. Über einen Tastendruck ging die Sicherheitstür auf, und Kevin betrat einen Flur mit je drei Zellen auf jeder Seite, Zelle Nummer 5 hatte Zange inne. Der Schlüssel im Schloß klackte, es war ein altmodisches Schloß dass man nur jeweils von einer Seite sperren konnte. Steckte der Schlüssel in einer Seite, war die Tür nicht mehr aufschließbar.

    Zange lag auf der Pritsche und blickte auf, als die Tür aufging und der Polizist, die Kleider rußverschmiert wie das Gesicht, hereintrat. Kevin zog die Tür hinter sich zu, schloß ab und ließ den Schlüssel stecken. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür und sah Zange stumm an, der nicht genau wusste, was hier jetzt passieren würde. Kam der Polizist alleine, um ihn zu befragen? Würde er jetzt die Nerven verlieren, wenn er seine Schweigenummer weiter durchzog? Aber, wie um Gottes Willen sah der Typ aus? Die Haare mehr durcheinander als heute Mittag, schmutzig und einige Risse in der Hose und ein Blick, wie der eines Drogenjunkies im Rausch... leer und ohne jeden Ausdruck von Emotion, so stand er da und sah Zange an, dem es so langsam mulmig wurde, der sich jetzt langsam von der Pritsche erhob und hin stellte.
    "Warum habt ihr das gemacht?", fragte Kevin mit tonloser, emotionsloser Stimme. Obwohl er nicht tobte oder eine aggressive Haltung annahm, strahlte er keine Ruhe aus. Es war mehr ein stumme Verzweiflung, keinerlei Körperspannung oder souveränes Verhalten. Er sah aus, wie ein gebrochener Mensch, und der Inhaftierte vermutete in dem Polizisten entweder einen genialen Schauspieler, oder es musste etwas vorgefallen sein. Und so bröckelte die Fassade Zanges, den sein Ausdruck im Gesicht war der eines großen Fragezeichens. "Es geht nur um das Geld. Wenn sie mir das Geld geben, wird das Mädchen...", sagte er seinen Satz, allerdings unsicherer als noch vor einigen Stunden, er wurde aber sofort von Kevin unterbrochen. "Ich rede nicht von dem Mädchen. Ich rede von dem Versteck, wo ihr die Kinder gefangen gehalten habt." Zange dämmerte es, der Polizist redete von dem einsamen Haus, wo er mit Cablonsky die Kinder hingebracht hatte. Sie hatten das Versteck also gefunden, und damit auch das Mädchen, von dem sie Lösegeld erpressen wollten. Verdammt, damit hatte sein Verhalten jegliche Wirkung verloren. Dann hieß es ab jetzt schweigen, denn zu sagen hatte er nichts mehr.

    Der junge Polizist stand immer noch an der Tür gelehnt. Sein Blick immer noch beinahe ohne Ausdruck, nur der Hauch von Verzweiflung schimmerte durch seine Augen. Hier sprach kein Polizist mit einem Verdächtigen, der Autorität oder Souveränität ausstrahlte um die Antworten zu erzwingen, sondern ein Mann, den Schuldgefühle auffrassen, die er längst schon vergessen hatte, verdrängt hatte. "Hast du davon gewusst?", fragte er in Zanges Richtung, dessen Blick noch unverständlicher wurde. "W... was gewusst?" Spielte der Kerl, oder meinte er es ehrlich. In Kevins Gehirn war zuviel Nebel, als dass er darüber konzentriert hätte nachdenken können, zuviele andere Gedanken kreuzten den versuchten klaren Gedanken. "Das Haus ist in die Luft geflogen. Ein Kind ist darin verbrannt.", sagte er und ließ die Katze aus dem Sack.
    So eine Reaktion kann man nicht spielen. Die Gesichtsfarbe des Mannes sackte von lebensfroh in todenbleich. Die Augen wurden weit, der Mund ebenso, der aber schnell von der rechten Hand bedeckt wurde. Langsam, wie in Zeitlupe, ließ Zange sich auf der Britsche nieder und stützte die Ellbogen auf die Knie. "Bitte sag mir, dass du davon nichts gewusst hast.", flehte Kevin beinahe, denn er hätte es nicht ertragen, wenn sie diese wichtige Information in dem Verhör nicht aus ihm heraus gequetscht hätten, aber die Chance dazu gehabt hätten wenn sie ihn nur härter angefasst hätten. Und die Reaktion darauf wäre, wenn sie nur geschauspielert war, einfach zu unmenschlich, als dass die angeknackste Psyche des Polizisten das einfach so weggesteckt hätte. Zange war gerade selbst zu geschockt, als dass ihm der schlechte Zustand seines Gegenübers wirklich aufgefallen wäre. Langsam und unwirklich schüttelte der Verbrecher den Kopf, während seine Augen vom Boden langsam wieder hinauf zu Kevin blickten. "Nein... ich... ich habe davon... nichts gewusst.", stotterte er. Kevin half es nicht, er hatte gedacht, dass es ihm helfen würde, wenn sie keine Chance gehabt hätten, es vorher zu wissen. Aber es half nicht, denn das Gefühl, dass er so dicht an der Rettung des Kindes war und nichts tun konnte, nagte noch stärker.

    Für einen Moment herrschte atemlose Stille in der kleinen Zelle. "Was... was ist passiert? Wie habt ihr... das Versteck gefunden?", stotterte der Verbrecher mit leiser Stimme. Von seiner Abgeklärtheit, mit dem beharrlichen Schweigen, war nichts mehr zu spüren. Scheinbar war er in dem Handeln seiner Kollegen nicht ganz eingeweiht worden, so dass ihn die Tatsache, dass jemand das Versteck mit Sprengsätzen versehen hatte, gleichermaßen schockierte wie überraschte. Doch Kevin ging nicht auf seine Frage ein, rational denken tat er sowieso nicht mehr. "Wieviele Kinder waren in dem Haus?", fragte er immer noch mit dieser seltsam tonlos klingenden Stimmfarbe, die sich in keinster Weise bedrohlich, sondern eher resignierend verzweifelt anhörte. Scheinbar war Zange jetzt in einem kurzzeitig emotionalen Extremzustand, dass er seinen Auftrag kurz vergaß. "Es waren... es waren vier. 3 Mädchen und ein Junge." Zumindest konnte Kevin somit ausschließen, dass die Spurensicherung noch eine Leiche finden würde. Ein Mädchen und einen Jungen, sowie Ayda selbst, hatten sie rausgebracht. Die Leiche war dann das dritte Mädchen... wieder ein Mädchen. Kevins Blick schwandt von Zange weg auf den Boden, als er das leise Schreien eines jungen Mädchens hörte, das verzweifelte Schreien eines Mädchens, das gerade dem Tod ins Auge blickte. Und der junge Polizist konnte zwischen dem Schreien hinter der verschlossenen Tür und dem Schreien seiner Schwester, als sie gerade vergewaltigt wurde und die Kehle durchgeschnitten bekam, nicht mehr unterscheiden. Zitternd hielt er sich mit der rechten Hand am Türgriff fest, als er das Gefühl hatte, der Boden unter ihm würde nachgeben. Sein Atem beschleunigte sich, in seinem Kopf drehte sich alles und er versuchte gegen die Übelkeit und das steigernde Verlangen, dieses Schreien im Kopf zu betäuben, anzukämpfen. "Wo ist dein Freund Cablonsky?", fragte er noch mit unsicherer Stimme, doch Zange schien sich wieder etwas zu besinnen, nachdem ihm der Schock in die Glieder gefahren ist. Nein, seinen Freund würde er nicht verraten, ausserdem war er sich sicher, dass der ihn in die Sprengstoff-Geschichte eingeweiht hätte, wenn er es wusste. "Keine Ahnung.", sagte er kurz angebunden und verschränkte die Arme vor der Brust, wie im Verhörzimmer.

    Ein Kevin in normalen Zustand hätte spätestens jetzt alle Vorschriften über Bord geworfen. Doch der Kevin, der jetzt dort an der Tür stand und sich am Griff festhielt, um nicht an der Tür zu Boden zu gleiten, war längst selbst über Bord gegangen. Er sah den Gefangenen an, mit tauben Blick, bis er ein lautes Klopfen hinter sich hörte. "Kevin! Mach sofort auf!", rief Bens Stimme, der gerade versuchte den Zweitschlüssel in die Tür zu stecken, was misslang weil von der anderen Seite ein Schlüssel steckte. Der junge Polizist reagierte nicht darauf und fragte nochmal, nicht aggressiver aber flehender: "Sag mir bitte, wo dein Freund steckt...", doch Zange schüttelte nur den Kopf. "Hör auf damit!", schrie Kevins Partner und meinte nicht das Verhör, sondern den Zustand, dass Kevin sich in der Zelle eingeschlossen hatte, und nicht öffnete.
    "Bitte Kevin, mach die Tür auf und komm raus.", hörte er jetzt auch Jennys verzweifelt klingende Stimme, die mit der flachen Hand gegen die Tür schlug, was sich bedeutend leiser anhörte, als die Faust von Ben. Mit zitternder Hand drehte er den Schlüssel im Schloß um, und ließ die Tür aufschwingen. Ben sah in die Zelle und erwartete ein Blutbad, umso überraschter war er, als er Zange auf der Pritsche sitzen sah, die Arme verschränkt aber bleicher und etwas geschockten Augen... aber unversehrt. Und auch Kevin sah nicht wütend aus, aber sein Blick in den Augen erschreckte Ben. Plötzlich hatte er ein Flashback zurück auf das Dach einer Industrieanlage, wo Kevin kniete und in den metertiefen Abgrund sah, in den gerade Janines Mörder sich fallen gelassen hatte. Der Blick des Polizisten damals war ähnlich, zu dem jetzigen, als Kevin wortlos mit langsamen Schritten an Ben vorbeiging.

    Dienststelle - 19:00 Uhr

    Das Wetter schien die Stimmung der beiden Autobahnpolizisten perfekt einzufangen und wieder zu spiegeln. Gerade als Ben den Mercedes von der Autobahn zur Dienststelle lenkte, begann sich der Himmel zu öffnen, und der Wind nahm, wie schon vorletzte Nacht, an Geschwindigkeit zu. Das Wasser spritzte von den Reifen, die Tropfen prasselten gegen die Frontscheibe und die Scheibenwischer verrichtete Schwerstarbeit. Beide sprachen während der gesamten Fahrt kein Wort miteinander. Ben konnte nur erahnen, was in Kevin vorging. Was er jedoch genau wusste war, dass der junge Polizist irgendwelche tröstenden Worte zum jetzigen Zeitpunkt nicht annehmen würde. Er verzog sich gerade in sein Schneckenhaus, in das Ben nicht eindringen konnte, zu oft musste er das schon erfahren, und zu oft wurde er abgewiesen. Kevin wusste, dass er mit Ben sprechen konnte, wann immer er wollte, aber Ben wiederrum kannte Kevin mittlerweile so gut, dass er warten musste, bis sich sein Kollege dazu entschied, zu reden.
    Als der Beamte den Mercedes parkte und den Motor abstellte, verstummte das brummende Geräusch, und nur noch das unregelmäßige, mal bei einem Windstoß mehr, mal weniger heftig prasselnde Geräusch des Regens war zu hören. Die Frontscheibe verlief sofort zu einem Wasserfluss vor ihnen. Ben sah auf das Armaturenbrett zwischen der Öffnung des Lenkrades, als würde er gerade eine wichtige Info ablesen, doch in Wirklichkeit konzentrierte er sich gar nicht auf die Zahlen vor ihm. Sein Freund blickte zur Seitenscheibe hinaus, hatte ein Knie angewinkelt und den Ellbogen darauf abgestützt. Das laute, wie nach einem Mädchen klingende Schreien mischte sich in seinem Kopf in den Regen, in die Windböen, als würde das Geräusch von dem Haus zu ihm heran geweht werden.

    Sie saßen bestimmt mehrere Minuten noch stumm im Auto, bis sie sich entschieden, die Dienststelle zu betreten. Zum Glück war der Weg nur kurz, trotzdem wurden sie erheblich nass durch den starken Regenschauer. Von ihren Kollegen waren nur noch Jenny und Hotte im Büro, die sofort hoffnungsvoll aufblickten, als sie die beiden Beamten sahen. Ihre ernsten Mienen, Kevins abwesender Blick... beides verriet nichts Gutes, und Hotte nahm allen Mut zusammen, die unangenehme Frage zu stellen: "Habt ihr... habe ihr Ayda gefunden?" Kevin ging wortlos zu dem erstbesten Bürostuhl, den er fand und setzte sich hinein, legte eine Faust in die andere offene Hand und stützte seinen Kopf darauf. Sein Partner antwortete mit leiser Stimme: "Ja, haben wir. Aber... sie liegt wohl auch... im Koma." "Oh nein...", hauchte Jenny tonlos, während ihr dicker Kollege fassungslos die Hand vor den Mund hielt.
    Die junge Frau aber bemerkte den leeren, desillusionierten Blick ihres Freundes, und konnte sich dies nicht mit der Nachricht um Aydas Koma erklären. Kevin war doch in den Fall der Komakinder eingeweiht, er hatte den wenigsten Bezug zu Ayda, und hätte sich doch eigentlich darauf vorbereiten können. Ausserdem schien ihn doch sonst nichts zu erschüttern, was ihn nicht persönlich befiel? Sein Zustand musste einen anderen Grund haben. Er sah in eine undefinierte Richtung, atmete flach und doch unruhig und nahm keinerlei Notiz von ihr oder Hotte. Auch Hotte fiel das eigenartige Verhalten auf. "Wo habt ihr sie gefunden? Ist Semir bei ihr?", fragte der dicke Polizist dann in Bens Richtung, der nickte und sagte: "Wir haben in der Wohnung dieses Cablonskys eine Besitzurkunde eines Landhauses gefunden. Dort haben wir sie gefunden." Mit einem Ruck stand sein junger Partner auf, und zog sofort die Blicke der restlichen Beamten auf sich. Er murmelte mit seiner monotonen Stimme leise etwas von "...eine rauchen...", und verschwand im Flur. Dort bog er allerdings nicht ab vor die Tür, sondern die Treppen herunter zu den Zellen.

    Ben seufzte tief auf, als Kevin den Raum verlassen hatte. "Was ist mit ihm?", fragte Jenny sofort besorgt, als auch Ben seinem Partner sorgenvoll hinterher sah. Er wandte sich dann wieder zu Jenny und Hotte, als er sich auf den Stuhl setzte, auf dem Kevin vorher saß. "In dem Haus waren Sprengsätze installiert. Die gingen hoch, während wir, ausser Ayda, noch einen Jungen und ein Mädchen aus dem Haus befreit hatten. Kevin war im oberen Stockwerk, wo die Bombe explodiert ist, und ein Feuer ausgelöst hat." Der Polizist fuhr sich mit der Hand einmal durch die Haare, während seine beiden Kollegen ihm atemlos an den Lippen hingen. "Ich bin hochgelaufen, um ihm zu helfen. Er hat behauptet, dass hinter einer Tür jemand um Hilfe geschrien hatte, aber es hatte überall gebrannt, es war heiß und der Boden drohte durch zu brechen. Ausserdem ist dann ein weiterer Sprengsatz explodiert. Ich musste ihn beinahe rauszerren, bevor die Hütte zusammen gefallen ist." Dann schwieg er und wischte sich durch das verschmutzte Gesicht, in dem immer noch Rußspuren an der Haut klebten. Jennys Lippen zitterten ein wenig, als sie ein zaghaftes "Und?" über die Lippen brachte. Ben blickte kurz auf den Tisch vor ihm, bevor er mit der unangenehmen Wahrheit heraus rückte. "Es... es war noch jemand drin. Ein Kind. Wir konnten es nicht retten." Hotte biss sich kurz auf die Faust, denn sofort war ihm klar, weshalb Kevin so bedrückt war. "Und Kevin gibt sich jetzt, wie damals bei seiner Schwester, die Schuld dass er nichts tun konnte?", schlussfolgerte er, was Ben nickend bestätigte.
    Für einen Moment herrschte eine bedrückende Stille in der Dienststelle, selbst die Telefone hatten scheinbar Anstand und schwiegen gemeinsam. Hotte wusste, wie labil Kevin in seiner Psyche damals war, als er hier seinen ersten Fall hatte und auf den Mörder seiner Schwester gestoßen war, und konnte gut nachfühlen, wie leicht der junge Polizist wieder zurück in ein Loch fallen konnte. Jenny kannte die Geschichte auch, sie bekam damals aber den extremen Zustand des jungen Polizisten nicht mit. "Ich komme nicht an ihn ran.", sagte Ben irgendwann und sah zu der jungen Polizisten herüber. Der Blick war eine Art Aufforderung, denn sie hatte Zugang zu Kevins Seelenleben. Sie müsse ihm helfen, nicht wieder in die alten Abgründe fallen, und ohne ein Wort verstand sie Bens Anliegen, in dem sie stumm nickte.

    Sie stand nur wenige Minuten später von ihrem Platz auf, um nach draussen zu ihm zu gehen. Sie wollte ihm jetzt den Halt geben, den er damals bei Semir und Ben nicht gesehen hatte und nicht wahr nahm... vielleicht, weil er den beiden damals nicht genug vertraute. Aber Jenny würde er vertrauen, er hatte ihr damals seine Geschichte anvertraut und war dann der Fels für die junge Frau, nachdem sie von einem Mann vergewaltigt wurde. Das würde sie ihm jetzt zurückgeben und behutsam versuchen, ihn aus diesem psychischen Loch wieder heraus zu ziehen.
    Sie kam zu der Fronttür aus Glas, gegen die der Regen peitschte. Wenn er draussen stand, um eine zu rauchen, wäre er sicher patschnass, doch draussen war niemand zu sehen. Jenny blickte über den Parkplatz, über dem Dunst und beinahe Nebel hing, so sehr war das Wetter nun umgeschlagen, und es war plötzlich auch viel dunkler, als es um diese Uhrzeit eigentlich wäre. Eine Menge Blätter von den Bäumen lagen auch schon auf dem Parkplatz und wurden bei jedem Windstoß weiter transportiert. Die junge Frau ging wieder hinein, ging durch den Flur und warf auch einen Blick in die Teeküche, doch auch da war niemand. Ihr Herz schlug schneller, und auf einmal hatte sie ein ungutes Gefühl. War er abgehauen? Aber er war doch nach der Festnahme mit seinem Dienstwagen gekommen... wieder ging sie nach draussen und blickte auf den Parkplatz, den plötzlich war sie sich nicht mehr sicher ob sein Wagen dort stand. Doch die Befürchtung war umsonst, Kevins Wagen stand auf dem Parkplatz und tropfte vom Regen. Sie ging mit langsamen Schritten zurück ins Büro, wo Ben mit Hotte saß und sagte leise: "Er ist nicht draussen." Ben blickte sofort auf und fragte: "Steht sein Auto noch draussen?", was Jenny mit einem Nicken bejahte. Bens erster Gedanke schien ihn zu beunruhigen, denn seine Augen wurden auf einmal größer und er erhob sich von seinem Stuhl. "Oh scheisse...", murmelte er und verfiel in einen Laufschritt. Sein Weg führte ihn zum Keller, wo die Zellen lagen...

    Krankenhaus - 18:30 Uhr

    Der monotone Ton des Martinshorn, das man im Inneren des Krankenwagens nur sehr gedämpft wahrnahm, hatte Semir komplett für sich ausgeblendet. Ebenso das Gefühl, wenn der Wagen eine Kurve nahm, anhielt und wieder beschleunigte. Er war komplett in Gedanken versunken, während er seine kleine Tochter ansah, die da lag, als würde sie schlafen. Mit etwas blasserer Haut als sonst, eine Beatmungsmaske auf dem Mund, weil man Bedenken hatte, dass im Koma auch plötzlich die Atmung aussetzen konnte und mit geschlossenen Augen. Unentwegt streichelte er den Arm des kleinen Mädchen, während eine Sanitäterin bereits eine Kanüle in die Vene gelegt hatte, um das junge Mädchen an den Tropf zu hängen.
    Die Fahrer des Rettungswagens beeilten sich in die Klinik zu kommen, sie hatten ihrer Station bereits angekündigt, dass man ein weiteres Komakind gefunden hatte, und man für die Untersuchung alles vorbereiten sollte. Semir selbst fühlte sich, nach der ganzen Anspannung und dem Adrenalin, das sich in den letzten Stunden angestaut hatte, leer und ausgebrannt. Man hatte alles riskiert, alles gegeben... er hatte nun nicht mal Zeit gehabt, seinen beiden Freunden, Kevin und Ben zu danken, dass sie ihren Job aufs Spiel gesetzt hatten, um Semirs Tochter zu retten... sollte nun all das umsonst gewesen sein? Lag sie vielleicht schon im Koma, bevor sie den Geldboten abgefangen hatten? Würde er sie überhaupt bei sich nun haben, wenn sie das Geld gezahlt hätten? Semir wusste auf diese Fragen keinerlei Antwort... und es würde wohl Wochen dauern, bis er sich darüber ernsthaft und tiefergehend Gedanken machen würde. Er war nun komplett, und mit allen Sinnen bei seiner Tochter Ayda, die vor ihm lag.

    Als der Krankenwagen an seinem Ziel angelangt war, wurde Ayda sofort aus dem Rettungswagen ausgeladen. Semir stand so unter dem Eindruck seiner bewusstlosen Tochter, dass er sogar vergaß, Andrea anzurufen. Er folgte den Ärzten durch die Tür der Notaufnahme, wo er dann von einem Sanitäter gestoppt wurde. "Herr Gerkhan, ich kann sie verstehen. Aber bei den Untersuchungen ist es besser, wenn sie nicht dabei sind." Semir protestierte sofort: "Ich bin ihr Vater, und selbstverständlich werde ich dabei sein." Der Arzt versuchte den aufgebrachten Vater zu beruhigen. "Wir werden nur einige Tests mit ihr durchführen, um zu erfahren, in welchem Stadium des Komas sie sich befindet. Wir werden prüfen, ob ihr Gehirn bereits Schaden genommen hat. Setzen sie sich hierhin, versuchen sie ruhig zu bleiben. Rufen sie ihre Frau an, dass sie ihrer Tochter Kleider bringt. Wir tun unseren Job, so gut es geht."
    Semir hätte sich nicht abwimmeln lassen, wenn der Arzt nicht seine Frau erwähnt hätte. "Oh Gott, das habe ich ja völlig vergessen.", hauchte er und hatte ein schlechtes Gewissen. Andrea saß bei ihren Eltern und kam vermutlich gerade um vor Angst und Sorge. Mit schnellen Schritten ging er durch den Flur des Krankenhauses und wählte hektisch die Nummer seiner Schwiegereltern auf seinem Handy. Nach einigen Freizeichen hörte er die aufgelöste Stimme seiner Frau. "Bei Schäfer?", sagte sie und lauschte aufgeregt. "Andrea? Hier ist Semir." "Semir! Habt ihr... habt ihr sie gefunden?" Andrea's Frage klang zögerlich, als hätte sie Angst vor einer schlimmen Antwort. Erhöht wurde diese Angst dadurch, dass Semir nicht sofort antwortete, sondern erst einmal seufzte. "Semir... bitte...", flehte sie. "Wir haben sie gefunden. Aber..." Auch die Stimme des Polizisten stockte für einen Moment. "Ayda liegt im Koma. Sie untersuchen sie jetzt." Andrea hatte genug Zeit, sich psychisch auf dieses Szenario vorzubereiten, seit sie von den Komakindern gehört hatte. Trotzdem spürte sie einen Stich im Herzen, versuchte aber dennoch so gut es ging zu funktionieren. Ihr Mann nannte ihr den Namen des Krankenhauses, und Andrea versprach, so schnell wie möglich zu kommen, und alles Nötige mit zu bringen.

    Danach saß Semir auf einem der Stühle im Flur, direkt an der Tür zur Notaufnahme. Die Sekunden wurden zu Stunden, immer wieder sah der Polizist auf die Uhr und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie hatten jetzt zwei Verdächtige, ein totes Kind, ein weiteres Kind im Koma. Wo würden sie jetzt ansetzen wollen? Würden sie überhaupt noch was tun, nachdem jetzt das LKA mitbekommen hatte, dass sie auf eigene Faust ermittelten? Konnten vielleicht die beiden Kinder, die am Leben und vor allem wach waren vielleicht der Schlüssel sein? Der Polizist vergrub das Gesicht in den Händen, er rieb sich die Finger durch die Augen und fühlte sich, als sei er schon mehrere Tage am Stück wach. Dass ein Kind bei diesem Einsatz ums Leben gekommen war, war ebenfalls schlimm, doch er war momentan abgelenkt. Wirklich schlimm musste es für seine beiden Kollegen sein, dachte er führ einen Moment und überlegte, ob er kurz bei ihnen anrufen sollte.
    Die Gedanken an den Fall lenkten ihn mehr ab, als er vermutet hatte. Der Zeiger auf seiner Uhr war ein ganzes Stück weiter gerutscht, und von einer Krankenschwester geleitet kam seine Frau Andrea mit einer Tasche in der Hand den Flur entlang. Als der Polizist sieh erblickte, stand er sofort auf um seine Frau in die Arme zu schließen. "Oh Gott, Semir...", schluchzte sie mit rötlichen Augen. Zu funktionieren fiel ihr nicht schwer, so lange sie allein war. Jetzt, wo sie Semir da sitzen sah, stehen sah und ebenfalls eine sorgenvolle Miene aufgesetzt hatte, konnte sie ihre eigene Fassade nicht mehr aufrecht erhalten. Minutenlang stand das Ehepaar fest umklammert da, bevor sie sich losließen. "Wo ist Ayda?" "Sie untersuchen sie noch. Es wird wohl nicht mehr lange dauern.", meinte ihr Mann und die beiden setzten sich auf die Stühle. "Wo... wo habt ihr sie gefunden?", fragte Andrea zögerlich, als wolle sie die Antwort gar nicht wissen. "In einem alten Holzhaus, ausserhalb der Stadt. Mit zwei weiteren Kinder, die noch wach waren und scheinbar ebenfalls entführt." Nach einer kurzen Pause erzählte er auch von der Explosion, und dass ein Kind scheinbar ums Leben gekommen war, das Ben und Kevin nicht mehr retten konnten. Andrea blickte bedrückt zu einer anderen Wand, und war in Gedanken kurz bei den Eltern, die heute ebenfalls ihr Kind vermissten und vergeblich würden warten, dass es zurückkehrte.

    Nach einiger Zeit des Schweigens wurde die Tür aufgestoßen, und ein Bett heraus gefahren. Sofort standen die beiden Eltern auf und blickten auf das Bett, in dem ihre kleine Tochter Ayda lag. Der Tropf hing an einer Halterung über dem Bett, ihr Herzschlag und ihre Atmung wurde überwacht. "Und? Was ist mit ihr?", fragte Semir sofort den Mann, der ihm eben noch gut zugeredet hat. "Kommen sie mit ins Krankenzimmer, dort werde ich ihnen alles erklären.", sagte er freundlich, und Semir wie Andrea folgten ihm und den beiden Krankenpflegern, die Ayda in ein Zimmer fuhren. Es war ein Einzelzimmer, denn Semir war als Beamter natürlich privat versichert... mit allen Extras für seine Familie. Der Arzt bat die Familie, Platz zu nehmen. Während Semir sich an den kleinen Tisch an der Wand setzte, ließ sich Andrea auf der Matratze nieder, wo sie ihrer Tochter zärtlich durchs Haar strich. Der Anblick der bewusstlosen Ayda ließ sie alle Emotionen der letzten Tage hochkommen, und nur mit Mühe konnte sie einen Weinkrampf noch unterdrücken.
    "Also, Herr Gerkhan... ihre Tochter weist die gleichen Symptome auf, wie einige der anderen Komakinder.", begann der Arzt und bewegte die Augen hinter der Brille über einige Zeilen auf einem Blatt Papier, das er vor sich liegen hatte. "Das Koma wurde durch ein Mittel hervorgerufen, dass wir noch nicht ganz entschlüsselt haben. Insofern können wir momentan noch nichts gegen ihren jetzigen Zustand tun." "Was heisst das? Dass ihr sie jetzt einfach so da liegen lasst?", fragte Semir mit empörter Stimme. Der Arzt sah den sorgenden Vater mit ernster Miene an, und blickte dann kurz auf das Kind im Bett. "Ja, Herr Gerkhan, genau das heißt es. Wir können momentan nichts weiter tun, als abwarten wie sich ihr Zustand entwickelt. Jeden Tag. Wir messen ihre Gehirnströme. Bis jetzt können wir nicht sagen, dass es Schäden gibt, was ein gutes Zeichen ist. Doch dies kann sich eben von Tag zu Tag ändern. Je länger sie sich in dem Komazustand befindet, desto wahrscheinlicher sind Schäden." Andrea traute sich beinahe nicht, die Frage zu stellen: "Welche... Schäden können das sein?" Der Arzt seufzte: "Alles, was sie sich vorstellen können. Von Gedächtnisverlust zum Verlust einiger bereits erlernter Fähigkeiten wie Gehen, Sprechen, Essen... bis hin zur geistigen Behinderung, wenn es irreperable Schäden am Klein- oder Großhirn sind." Als könne sie diese furchtbare Vorstellung fortschieben, streichelte Andrea ihrer Tochter noch zärtlicher über den Kopf. "Es tut mir wirklich leid, dass ich momentan keine besseren Nachrichten für sie habe. Sie können jetz, wie die anderen Eltern, nur abwarten... und beten."

    Freies Feld - 18:15 Uhr

    Die Rauchsäule des Feuers wurde von einem entfernten Dorf bereits gesehen, aufgrund dessen war die Feuerwehr schneller vor Ort, als dass die Polizisten sie hätte rufen können. Auch der angeforderte Krankenwagen war recht schnell da, Verstärkung traf ein... der Fall war nicht mehr geheim. Als der Notfallarzt ein Kind im Koma angab, informierte die Zentrale sofort das LKA, weil es Anweisung hatte, solche Informationen sofort weiter zu leiten. Semir hätte dagegen nichts tun können, und daran verschwendete er in diesem Moment auch keinen Gedanken. Er sah wie in einem Alptraum auf sein lebloses Kind, das von den Sanitätern auf eine Bahre gehoben wurde, eine Infusion gelegt wurde und die Vitalaktivitäten immer wieder kontrolliert wurden. "Sie ist stabil, wie es aussieht.", sagte der Notfallarzt. Stabil, instabil? Es waren für den Polizisten einfach nur Worthülsen ohne Bedeutung. In Trance folgte er der Bahre und stieg durch die Hintertür in den Krankenwagen, kein Sanitäter hinderte ihn daran, nachdem er sich als Vater bekannt gegeben hatte. Unentwegt, während der gesamten Fahrt strich er mit den Fingern über ihre kleine Handfläche, die unglaublich kalt wirkte und flüsterte: "Werde bitte wieder wach. Bitte..."
    Ben sah seinem Freund nach, als dieser in den Krankenwagen stieg. Der Polizist war, wie auch Kevin, im Gesicht verrußt und hatte bei dem Sprung durch die Fensterscheibe einige Schnittwunden an den Armen davon getragen. Eine musste von einem Sanitäter versorgt werden, doch den Schmerz spürte Ben überhaupt nicht. Er war in seinen Gedanken zu sehr bei Semir und seiner Tochter. Das bisschen Erleichterung darüber, dass sie sie gefunden hatten, wurde von dem Gedanken um das Koma erdrückt.

    Kevin hielt sich völlig abseits auf und saß am Boden im Gras. Er hatte nach dem Sprung aus dem Fenster keinen Ton mehr von sich gegeben und hatte stumm den Feuerwehrleuten beim Löschen des Hauses zugesehen, von dem bald nur noch Ruinen standen. Das Dach war vollkommen verbrannt, einige Zwischenwände und die Aussenwände standen noch, schwarz verkohlt und rauchend. Auch der Boden des Obergeschosses war nur noch teilweise vorhanden, im hinteren Teil eingestürzt. Sie hatten die KTU kommen lassen, Hartmut hatte seine beiden Freunde schon begrüßt und ebenfalls emotional gemischt auf die Nachricht reagiert, man hätte Ayda im Koma liegend gefunden. Alsbald rückten auch die Männer in den weißen Schutzanzügen an, weil man wohl doch noch jemanden im Haus gefunden hatte.
    Nach dem der Krankenwagen abgerückt war, kam Ben zu seinem Freund und beugte sich nach unten, wobei er ihm eine Hand auf die Schulter legte. "Wir hätten nichts mehr tun können, Kevin.", sagte er, denn er wusste genau, um was sich sein Partner gerade Gedanken machte. Ben kannte Kevins Vorgeschichte, er kannte sein Trauma um seine Hilflosigkeit als er mit ansehen musste, wie seine Schwester vergewaltigt und ermordet wurde. Und er konnte sich gut vorstellen, wie schnell der psychisch immer noch instabile, und generell sehr verletzliche Kevin einen Rückfall erleiden könnte, bei einer ähnlichen Situation. "Sie hat um Hilfe geschrien.", sagte der junge Polizist mit einer fremden Stimme, die sich mechanisch und kühl anhörte, und die Ben mit einem leichten Schaudern wahrnahm. Kevin drehte seinen Kopf dabei auch gar nicht zu Ben, sondern sah starr weiter auf die rauchende Ruine, die eben noch eine Hütte war. "Und wir haben ihr nicht geholfen." "Was hättest du denn machen wollen? Durchs Feuer laufen... du hast doch gesehen, wie es hinter der Tür ausgesehen hat.", merkte Ben an, aber brach seinen Versuch über die Logik zu Kevin vorzudringen, schnell wieder ab.

    Irgendwann stand der junge Polizist auf und hielt in Richtung der Ruine zu, wo zahlreiche Leute der KTU umher liefen. Sie nahmen Proben, sicherten Bruchstücke des Sprengsatzes und andere sah man im Halbkreis um etwas stehen. Darauf hielt Kevin nun zu, er wollte Gewissheit, er wollte der brutalen Wahrheit ins Auge sehen. "Kevin!", versuchte Ben seinen Partner zurück zu halten, als dieser durch den Eingang trat und über verkohlte Holzstücke, Schutt und Unrat stieg, durch den, nur noch halben Flur zu der Menschentraube. "Kevin, hör auf. Tu dir das doch jetzt nicht an.", sagte sein Partner deutlich und griff den Polizisten am Arm, der diesen Griff aber sofort und energisch abschüttelte. Ben seufzte und sah Kevin hinterher, der in den betreffenden Raum trat, wo die Leute, die dort arbeiteten, den Blick freigaben. Kevin erstarrte, seine Augen verengten sich etwas und sein Herz wollte in der Brust zerspringen. Er blickte auf dieses grausame Bild, das sich fest in seine Seele brannte, seine Hände ballten sich unfreiwillig zu Fäusten und den ekelhaften Geruch, der die Luft in dem Haus ausfüllte, nahm er überhaupt nicht wahr. Die Person war ihrer Rettung so nah, als sie an die Tür hämmerte und um Hilfe schrie, bevor die Explosion und die Flammen das Zimmer fraßen. Und doch hatte Kevin nicht helfen können...
    Ben bemerkte die starre Haltung seines Partners und stellte nun fest, dass er ergriffen von der Situation war, und keinesfalls hineingegangen war um die Untersuchungen voran zu treiben. Er überwandt seinen eigenen Ekel, ging bis zu Kevin ohne einen Blick in die Szene zu werfen und packte seinen Freund nun fester und energischer am Arm. "Komm jetzt, verdammt." Es war überhaupt nicht nötig, denn Kevin ließ sich widerstandslos aus dem abgebrannten Zimmer ziehen und vor sich her aus dem Haus stoßen. Er hatte das Gefühl, der Boden unter sich tat sich auf, und würde ihn verschlingen, das Hämmern in seinem Kopf, das er zuletzt im Winter hatte, kehrte zurück. "Komm... wir verschwinden hier.", sagte Ben und schob seinen Partner sanft an der Schulter in Richtung ihres Dienstwagens.

    Doch die beiden Polizisten wurden auf halbem Wege aufgehalten, von zwei alten Bekannten. Die LKA-Ermittler Schöneberg und Reuter stiegen gerade aus einem schwarzen BMW aus, und die Mienen der beiden verriet nichts Gutes. Die Spurensicherung hatte bereits erste Infos über die Geschehnisse weitergegeben, ebenso wie die Verstärkung, die gerufen wurde. "Sagen sie mal, sind sie noch recht bei Trost?", fuhr Schöneberg sofort die Krallen gegen die beiden Autobahnpolizisten aus, und wurde von Ben mit einem feindseeligen Blick fixiert. "Wie können sie es wagen, sich in die Ermittlungen einzumischen? Ohne unsere Erlaubnis? Ich dachte, ich hätte mich bei ihrer Chefin ganz klar ausgedrückt?" "Jetzt halten sie mal die Luft an!", zischte Ben mit knurrendem Unterton. "Die Tochter meines Partners wurde entführt und gehört zu den Opfern der Komakinder? Denken sie wirklich, wir verschwenden unsere Zeit dann damit, sie zu informieren? Wir haben in 24 Stunden mehr rausbekommen, als sie in...", er stockte kurz: "Wie lange ermitteln sie eigentlich schon an diesem Fall? Was ermitteln sie eigentlich?" Schöneberg schnaubte ob dieser Unverschämtheit, und blickte kurz zu Reuter, der weniger laut aber dafür umso direkter sprach: "Was sie ermittelt haben, sehen wir ja jetzt. Wir haben nun ein weiteres Entführungsopfer, was allerdings nicht auf das Konto der Entführer geht, sondern auf das Konto ihrer überstürzten Handlung."
    Nach diesem Satz blickte Kevin zu Reuter auf, und Ben erkannte diesen Blick als Warnsignal. Die Unterhaltung drohte schnell aus dem Ruder zu laufen. "Wir wollten die Tochter unseres Partners nicht in Gefahr bringen, und haben uns an die Abmachung der Geiselnehmer gehalten.", sagte er schnell. "Na klar. Um den Geldboten danach fest zu nehmen! Wollt ihr uns eigentlich verarschen?", blaffte Schöneberg. "Ich erwarte sie alle morgen früh bei ihrer Chefin! Den Tod dieses Kindes, dafür werde ich sie zur Verantwortung ziehen, meine Herren! Sie dürfen diese Nachricht den Eltern überbringen und ihnen erklären, wie das passieren konnte."

    Die beiden LKA-Ermittler rauschten ab, während Ben Kevin nur sanft auf die Schulter klopfte. "Komm... wir fahren." Auf halbem Weg zur Ruine trafen die beiden Männer vom LKA auf Hartmut, und fragten ob es bereits Erkenntnisse gab. Hartmut hatte den Streit mitgehört und wusste, dass die beiden seinen Freunden nicht positiv gesinnt waren. "Ähm... nein, wir arbeiten noch.", sagte er schnell, und bekam zur Antwort ein Nicken. Dann eilte der Rotschopf weiter und fing Ben und Kevin noch vor dem Mercedes ab. "Hey! Wartet mal." Kevin saß bereits auf dem Beifahrersitz, Ben blieb noch vor der Motorhaube stehen. "Die Bombe wurde scheinbar durch einen Unterbrechungskontakt an irgendeiner Tür, die ihr geöffnet habt, ausgelöst. Zeitversetzt und über Bluetooth. Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben. Der Sprengstoff war an drei Stellen deponiert. Ausserdem war das Holz teilweise mit Brandbeschleuniger getränkt, deswegen hatte es sich so weit ausgebreitet." Ben nickte dankbar über diese Informationen, auch wenn ihm selbst auch der Kopf schmerzte. Beide Männer blickten kurz sorgenvoll auf den Polizisten auf der Beifahrerseite. "Gibt er sich die Schuld an dem Tod des Kindes?" Hartmuts Frage war vielmehr eine Aussage. Ben nickte erneut und meinte: "Er war dicht bei ihm und hat Schreie gehört. Aber er konnte nichts mehr machen... aber das muss ihm erst mal klar werden." Kevin sah dabei starr aus dem Seitenfenster auf die rauchende Ruine, sein Blick war leer.

    Landstraße - 17:15 Uhr

    Ben fuhr so schnell, dass das Gras am Straßenrand der einsamen Landstraße erzitterte, das Laub aufgewirbelt wurde, das bereits von den ersten Bäumen herab gesunken war. Erst jetzt bemerkte er, dass es schon sehr herbstlich aussah, die Bäume bereits bunter waren, und das erste Laub schon fiel. Warum fiel ihm das gerade jetzt auf, fragte sich Semir? War er bereits vollkommen wahnsinnig? Eben stand er kurz davor, seinem Partner, seinem besten Freund ein zu langen, voller Verzweiflung, voller Selbstzweifel, voller Angst um seine Tochter. Sie stolperten von einer Pleite in die andere, suchten die Nadel im Heuhaufen und kamen keinen Schritt vorwärts.
    Bis, ja bis Kevin diese Besitzurkunde hochhielt, die er in einer Zwischenschublade gefunden hatte. Normalerweise benutzte man solche Zwischenschubladen, um Drogen vor Razzias zu verstecken. Kevin wusste das nur zu gut, oft genug hatte er dort viele kleine Pillen oder Beutel mit Haschisch in seiner damaligen Jugendbude versteckt... aus Angst, dass doch eines Morgens die Polizei die Haustür eintreten würde, und seine Bude auf den Kopf stellte. Seitdem dachte er immer daran, bei Hausdurchsuchungen auch die typischen Drogenverstecke zu filzen. Jetzt waren sie auf dem Weg zu der Adresse, die eigentlich keine richtige Adresse war, sondern nur die Beschreibung eines Flurstückes abseits von Köln. Jenny hatte dieses Flurstück sofort über Google Maps geortet und bestätigt, dass sich darauf so etwas wie ein Haus, oder eine größere Hütte befände, und lotste die drei Kommissare in die Richtung. Plötzlich hatte Semir Hoffnung... er wusste nicht warum, aber irgendetwas sagte ihm, dass sie dort Ayda finden würden. Vielleicht war es aber nur der dringende und unbarmherzige Wunsch, der diese Hoffnung auslöste.

    Ben bog einen Feldweg ab, der Dreck spritzte von den Reifen und die ersten Schlaglöcher ließen die Insassen des Mercedes durchschütteln. Doch sie sahen es bereits am Wegesrand stehen. Es war ein Haus... oder doch eine große Hütte. Die Größe und Bauweise war die eines Hauses, jedoch schien es uralt und komplett aus Holz gebaut. Quadratische Fenster ließen Licht ins Innere, es hatte wohl zwei Stockwerke und schien vollkommen verlassen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in den Mägen der drei Polizisten aus, als sie es sahen und anhielten, aber keiner konnte genau sagen, weshalb. Der Himmel hinter dem Haus war düster und dunkel, der Wind frischte auf und es hatte etwas von einer Endzeitstimmung, als sie ausstiegen und die absolute Stille sie empfing. Nur das leise Rauschen eines nahen Waldes konnten sie vernehmen.
    Semir ging vor, die Polizisten hatten die Waffen wieder in der Hand weil sie auch hier nicht sicher sein konnten, dass jemand auf sie wartete. Das Schloß der Eingangstür war verrostet, hielt aber den ersten Rüttelversuchen noch stand. Allerdings war es kein kleines Schlüsselloch, sondern ein großes, für einen groben Schlüssel gemacht und Kevin würde mit seinem Werkzeug hier Probleme bekommen. "Das ist mir jetzt egal.", warf Semir ein und gab der Tür einen wütenden Tritt, was der Holzrahmen, der die Tür hielt, nicht aushielt. Ob sie diese Bruchbude nun komplett unbeschädigt verlassen würden, war ihm nun auch egal. Das Haus empfing sie ebenfalls mit Stille und muffiger Luft. Rechts zweigte eine Holztreppe nach oben ab, der Boden war aus Holz, die Wände schienen aus purem Holz. Trocken, teilweise morsch und uralt. Semir ging den Flur voran, Ben dicht hinter ihm und öffnete die erste Tür auf der rechten Seite, während Kevin die knarrende Treppe entpor stieg. Nichts war zu hören, ausser das leise Knarren und Knarzen des Holzes um sie herum.

    Als Semir die erste Tür aufstieß, die abgesperrt war, sah er sie. Er nahm sie wahr, bevor die Tür überhaupt offen war. Die Waffe sank wie in Zeitlupe, sein Mund stand weit offen und die Augen wurden groß. Eine Wasserflasche, gut gefüllt, stand direkt neben der schäbigen Matratze, ihr Körper lag, als hätte sie jemand aufgebahrt. Die Beine zusammen, die Arme zum Bauch und die Hände dort gefaltet. "Oh Gott...", hauchte Semir bloß bevor in ihn Bewegung kam und er vor der Matratze auf die Knie fiel, neben das Mädchen, das seine Tochter war. Er fasste sie sanft an ihren Schultern, und versuchte sie aufzuwecken, als würde er sie Sonntags oder am Feiertag wecken, wenn das Frühstück fertig war. "Ayda? Ayda?", sagte er und spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, als von seiner Tochter keine Reaktion kam. Semir hielt Ayda in den Händen, wie eine leblose Puppe, ihr Kopf fiel zur Seite... aber sie atmete. Sie lebte. Er konnte spüren, wie ihre Brust sich hob und senkte, er konnte ihren Puls ertasten, der zwar schwach war, aber vorhanden. "Ayda... bitte wach auf. Bitte wach wieder auf.", flehte der Polizist sie an.
    Ben hörte die leise Stimme seines Partners und kam mit einigen Schritten zu ihm gelaufen. Er sah dem knienden Semir über die Schulter und erblickte dessen Tochter. Geschockt hielt er sich eine Hand vor den Mund, die Freude, die sie dachten zu verspüren, wenn sie das Mädchen finden würden, wollte sich nicht einstellen. Zu schlimm war dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Doch im Gegensatz zu seinem Freund fasste Ben als erstes einen klaren Gedanken, als er die Notrufnummer wählte und sofort einen Notarzt und Krankenwagen rief. Semir bekam von alldem nichts mit. Er hatte seine leblos scheinende Tochter in den Arm genommen und an sich gedrückt, streichelte ihr sanft über die dunkelbraunen Haare und schluchzte leise.

    Kevin hörte unten nur leise Stimmen, dachte dass sich Ben und Semir unterhielten, deswegen ging er oben weiter. Er kam an eine Tür, die abgesperrt war. Er drückte die Klinke, doch die Tür gab nicht nach, stattdessen hörte er hinter der Tür ein Poltern und hastige Schritte. Beinahe wäre der Polizist erschrocken zurückgewichen. "Hallo? Wer ist da?", fragte eine junge Stimme hinter der Tür, und Kevins Herz setzte einen Moment aus. Mein Gott, hier waren noch andere Kinder eingesperrt... dann musste auch Ayda hier sein. "Hier ist die Polizei. Geht von der Tür weg.", sagte Kevin leise und die trippelnden Füße entfernten sich wieder. Er entfernte sich zwei Schritte von der Tür und ließ sie mit einem Karatetritt aus dem Rahmen brechen. Ein kleiner Junge und ein Mädchen blickten ihn von zwei Matratzen an, sie waren vielleicht 7 oder 8 Jahre alt. "Seid ihr verletzt?", fragte Kevin, und beide schüttelten zaghaft den Kopf. "Na kommt, raus mit euch.", meinte er lächelnd und ließ den beiden den Vortritt, die sofort an ihm vorbeiliefen und die Treppe herunter, als der Polizist plötzlich einen lauten "Hilfe"-Ruf, der sich ebenfalls kindlich anhörte, vernahm und es plötzlich einen fürchterlichen Schlag gab. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte eine Sprengsatz, der in dem Zimmer der beiden Kinder positioniert war und ließ Kevin nach hinten taumeln, und zu Boden gehen. Die beiden Kinder auf der Treppe schrien laut und liefen unten Ben in die Arme.
    Auch Semir zuckte zusammen, als er die Explosion hörte. "Semir, wir müssen hier raus. Oben brennt es!", schrie Ben aus dem Flur, und sofort packte der erfahrene Polizist seine Tochter auf den Arm und verließ das Zimmer. Aus den Ritzen zwischen den Holzpanelen drückte sich bereits der Qualm nach unten ins Erdgeschoss, und im Flur konnte man das Prasseln des Feuers im Obergeschoss vernehmen. Semir sah, wie Ben zwei weitere Kinder an den Händen hielt und mit ihnen nach draussen zum Auto lief, während er seinem Freund folgte. "Wo ist Kevin?", rief er dabei und sie blickten beide zurück. Das Dach des Hauses war bereits eine Fackel im hinteren Bereich, wo die Bombe explodiert ist. "Scheisse...", fluchte Ben, ließ die beiden Kinder, die bitterlich weinten bei Semir und rannte zurück ins Haus.

    Kevin hatte sich direkt nach der Explosion hochgestemmt, und sah bereits eine Feuerwand. Unglaublich schnell frassen sich die Flammen, die die Explosion verursachte hatte, in die Holzwände hinein. Das Zimmer neben an, das im Flur durch eine zusätzliche Tür getrennt war, stand bereits im Vollbrand. Das Prasseln des Feuers war unglaublich laut und eine stechende Hitze schlug dem Polizisten entgegen. "HIIIIIILFE!!", hörte er erneut aus der Richtung der Flammen, und sein Herz begann zu rasen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei der Zwischentür, die eiserne Klinke glühte bereits rot und dichter Qualm presste sich unter der Tür hervor. Kevin musste husten und hörte nun hinter sich an der Treppe die Stimme seines Partners. "Kevin! Was machst du denn da? Komm raus!!", schrie Ben wie ein Irrer, der wieder ins Haus gelaufen war weil er befürchtete, Kevin würde oben bewusstlos herumliegen. "Da ist noch jemand drin!", bekam er zur Antwort und lief direkt zu seinem Freund. "Das Zimmer da hinten steht in Flammen. Da kann niemand mehr dahinter sein.", redete Ben auf seinen Kollegen ein, weil er von aussen genau sehen konnte, dass das Zimmer im Vollbrand stand. "Ich hab gehört, wie jemand gerufen hat.", beharrte Kevin und trat gegen die Tür. Sofort stießen ihnen heiße Gase und Flammen entgegen, so dass die beiden Polizisten die Arme vors Gesicht halten mussten. "Komm jetzt mit! Da kann keiner mehr leben! Komm jetzt raus!", schrie Ben und zog den jungen Polizisten am Ärmel, der sich aber mit Gewalt losriss. Als wolle er horchen, um Ben zu beweisen dass er nicht verrückt war, hielt er inne und wartete auf ein erneutes Hilfe-Rufen... doch ausser dem lauten Prasseln des Feuers war nichts zu hören. "Ich hab genau gehört, dass..."
    In diesem Moment erschütterte eine weitere Explosion das Haus, diesmal unter ihnen im Erdgeschoss, so dass der dünne, morsche Holzboden zu wanken begann und beide Polizisten den Halt verloren. Flammen züngelten jetzt auch die Treppen hinauf, der einzige Fluchtweg nach draussen ins Erdgeschoss, den die beiden hätten nehmen können. Über ihnen knackte und ächzte das Holz des Daches, so dass Ben sich panisch umsah und nur den einzigen Weg nach draussen fand. "Los, komm jetzt!", sagte er, und zog den plötzlich desillusionierten Kevin mehr mit sich mit. Mit aller Kraft rannten die beiden in Richtung des Flurfensters und hofften, dass das Gras unten wirklich so hoch war, wie sie es in Erinnerung hatten. Ben sprang, die Arme vors Gesicht haltend und die Knie anziehend als erstes und durchbrach die Einfachverglasung. Der Sturz war nur wenige Sekunden, und der, vom Regen aufgeweichte Wiesenboden empfing die beiden Polizisten doch härter als gedacht, aber weich genug um sich nicht zu verletzen. Kevin landete nur wenige Millisekunden nach ihm. Beide beobachteten mit Grauen, als der brennende Dachstuhl des Hauses nachgab und mit lautem Dröhnen in sich zusammenfiel.

    Ich will mich nicht unbedingt einmischen, oder irgendjemandem etwas unterstellen:

    Aber ich komme aus der IT-Branche, und ich kann dir versichern, dass kein Service-Center sich erlauben kann, ungefragt Daten von einem Laptop zu löschen. Das geht nicht, dazu sind die Mitarbeiter des Centers gar nicht befugt. Wenn ich du wäre, würde ich da mal ordentlich auf die Pauke hauen, ausser es gibt einen wirklich triftigen Grund, und den einzigen, den es da gibt, ist ein Hardware-Defekt der Festplatte itself. Ansonsten ist jeder PC-Heini, der PCs reperariert verpflichtet, eine Datensicherung zu machen, bevor er bspw einen PC neu aufsetzt.

    Ich kenn mich nicht besonders mit Apple und Mac aus, aber ich versichere dir, dass wenn die Festplatte heile ist kann der Rest des PCs tuc sein, sogar das Betriebssystem zerstört, ich mache dir innerhalb weniger Stunden (je nach Datenmenge) eine komplette Sicherung. Ich repariere PCs nebenbei, und ich würde niemals nicht einfach Daten eines PCs löschen, ausser wie gesagt, die Festplatte ist physisch beschädigt... wobei man dann auch keine Daten löschen kann, sie sind dann einfach unerreichbar.

    Also sofern das wirklich stimmt, würde ich dir raten mal dem Center ordentlich auf die Füße treten, und einen ordentlichen Schadensersatz zu fordern.

    Dienstwagen - 16:00 Uhr

    Ben trat wieder aufs Gas. Gerade bekamen sie von Jenny die letzte gemeldete Adresse von Cablonsky durchgegeben, nachdem die junge Polizistin jedes Medium genutzt hatte, Informationen über ihn einzuholen. Die Mietwohngegend, die ein wenig gehobener ausfiel, lag allerdings am anderen Ende der Stadt, so dass es alle drei Polizisten einige Nerven kostete, bis sie sich durch den Feierabendverkehr gekämpft hatten. Ausserdem hatte Semir Jenny den Namen des Medikamenten-Versandhandels durchgegeben. Sie solle checken, ob es unter dieser Kundennummer noch weitere Bestellungen gab, und wie diese aussahen.
    Danach klingelte Semir bei Hartmut durch. Der war mittlerweile wieder in der KTU am arbeiten. "Freund?" "Hartmut. Wir brauchen dich!", kam Semir sofort ohne Umschweife auf den Punkt. "Was gibts Neues? Habt ihr Ayda gefunden?", war sofort die sorgenvolle Frage des Cobra11-Familienmitgliedes, der sich genauso wie alle anderen, natürlich große Sorgen um Semirs Tochter machte, aber oft als letztes informiert wurde, weil er räumlich gesehen weiter weg arbeitete. "Nein, wir sind noch auf der Suche. In der Wohnung eines Verdächtigen haben wir eine Bestellung von Chemikalien gefunden. Kannst du herausfinden, was der damit vor hatte... ein Medikament, ein Mittel mit dem man Menschen ins Koma spritzen kann vielleicht?" Der Stimme des erfahrenen Polizisten war aufgeregt und überschlug sich fast, das spürte auch der Rotschopf am anderen Ende der Leitung. "Puh Semir... ich kenn mich zwar etwas mit Chemie aus, aber doch nicht mit Medizin.", stöhnte er und es war ihm immer unangenehm, wenn er zugeben musste, von etwas keine Ahnung zu haben. Dabei fuhr er sich verlegen durch seine lockigen Haare. "Bitte Hartmut... wir können nicht zu einem Arzt, wir sind inoffiziell unterwegs. Du findest doch sicher alles im Internet, du musst uns helfen." Für den Polizisten zerbrach gerade eine Hoffnung, in Hartmut eine helfende Hand zu finden, um dieses Rätsel zu lösen.

    Hartmut wollte ihm diese Hoffnung nicht vollends zerstören. "Schick mir die Bestellung per Whatsapp. Ich glaube, ich habe eine Idee.", sagte er dann, und Semir atmete erleichtert auf. Wenn Hartmut eine Idee hatte, dann war das kein leeres Versprechen. Er bedankte sich und sendete die Whatsapp-Nachricht sofort nachdem er aufgelegt hatte. "Hartmut kümmert sich drum... vielleicht bekommt er etwas raus.", sagte er dabei mehr zu sich, als zu seinen beiden Kollegen, die vor ihm saßen. "Können wir nicht etwas schneller fahren?" "Semir, ich kann nicht über die Autos drüberfliegen.", beschwerte sich Ben am Steuer des Mercedes, und mühte sich dabei so gut er konnte mit Blaulicht durch den Feierabendverkehr.
    Das Pochen in Semirs Stirn wurde immer wilder, immer schmerzhafter, immer schlimmer. Mit jeder Minute, jeder Viertelstunde diese verloren, verlängerte sich Aydas Qual, die Ungewissheit. Ben und Kevin standen ebenso unter Strom, denn im Gegensatz zu Semir wussten sie um die teuflische Information von Zange, dass Ayda nicht mehr viel zu trinken hatte. Die Vorstellung, sie war irgendwo gefesselt und eine rettende Flasche Wasser stand gerade so weit weg, dass sie sie nicht erreichen konnte, dass sie verzweifelt an ihren Fesseln zerrte und schrie, um an die begehrte Flasche Wasser zu kommen... diese Vorstellung gruselte die beiden Männer. Der Weg ans andere Ende der Stadt kam ihnen allen dreien elendig lange vor, jeder brauchte heute mindestens doppelt so lange um die Spur zu wechseln, oder im Stau eine Sicherheitsgasse zu bilden. Einen besonders sturen LKW überholte Ben über den Standstreifen, wobei er sich gerade so zwischen Leitplankte und LKW vorbeiquetschte.


    Cablonsky's Wohnung - 16:30 Uhr

    Diesmal war es gefährlicher, denn bei Cablonsky wussten sie nicht... war er zu Hause? Lebte noch jemand in der Wohnung? Wurden sie irgendwann überrascht? Als sie den zweiten Stock des 6-Parteienhauses über die Treppen erreichten, kniete sich Kevin wieder vor die Wohnungstür. Diesmal mussten sie aufpassen, denn das Haus war gehobener, und einen Einbruch würde man hier nicht einfach mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nehmen und dann nicht weiter beachten. Gekonnt ließ der ehemalige Kriminelle den Schraubendreher im Schlüsselloch tanzen, und mit einem Klack war die Wohnungstür offen. Bevor er sie aufstieß, nickte er kurz als Zeichen für seine beiden Kollegen, die beide sofort die Waffen ergriffen und entsicherten. Kevin tat es ihnen gleich, und drückte dann, die Waffe im Anschlag, langsam und knarrend die Wohnungstür auf. Er blieb für einen Moment auf Knien, Semir und Ben standen hinter ihm.
    "Okay, wir schauen uns alles an. Aber schiesst nicht sofort los, wenn sich etwas bewegt.", warnte Ben eindringlich und verschloss die Tür wieder hinter sich. Anders als bei Zange standen sie hier erst in einem Flur, denn sie langsam nach vorne schlichen. Von dem Flur aus gingen zwei Türen ab, eine rechts, eine Links. Während Kevin vorne weiter bis in den Wohnraum ging, nahm sich Ben die linke, Semir die rechte Tür vor.
    Ben lehnte sich an die Wand, die Waffe in der einen Hand nach oben gerichtet, die andere führte langsam zur Klinke. Mit einem Ruck drehte er sich in den Raum und sicherte nach beiden Seiten, falls sich Cablonsky hier irgendwo aufhielt. Er stand in einem Badezimmer, das einfach eingerichtet, aber im Gegensatz zu Zanges Badezimmer, zumindest sauber war.

    Semir tat es Ben gleich, auch er schritt mit einem Ruck ins Zimmer hinein, in dem er ein Bett vorfand. Die Waffe hatte er genau auf eine Wölbung der Bettdecke gerichtet, die aussah, als würde eine Person, eine kleine Person darunter liegen. Sein Herzschlag setzte aus, und er war nicht mal fähig, Aydas Namen zu sagen oder Ben zu rufen. Wie in Zeitlupe, die Waffe langsam sinkend ging der erfahrene Polizist Schritt für Schritt auf das Bett zu. Er schluckte, und sein Herz wollte ihm zum Hals herausspringen, ohne dass er wirklich sah, was da unter der Bettdecke lag.
    Es kam ihm vor, wie ein langsames Hinschleichen zu einem Abgrund, um darüber hinaus zu schauen, ob noch jemand dort hing und sich festklammerte, ob er noch irgendjemandem helfen konnte. Nur ein Schritt zu weit, und man wurde selber ein Opfer des Absturzes. Hier hatte Semir das Ende der Klippe erreicht, als er den Zipfel der Bettdecke ergriff und langsam zog. Er erwartete alles und nichts: Eine verängstigte Ayda? Ayda im Koma? Ein anderes Mädchen? Oder sogar ... nein, daran wollte er nicht denken und die Spannung in ihm schien ihn zu zerreissen. Die Bettdecke wurde von seinem zuckenden Arm weggerissen, und er musste feststellen, dass sie lediglich in einer Wölbung lag. Unter ihr war nichts, ausser die blanke Matratze, die mit einem Spanntuch überzogen war. Semir spürte, wie ihm schwindelig vor Aufregung wurde, er musste sich am Fensterbrett neben ihm kurz festhalten. Sein Atem raste, als wäre er einen Marathon gelaufen und er fühlte, dass ihn die Angst um Ayda langsam aber sicher wahnsinning werden ließ.

    Kevin und Ben nahmen in der Zwischenzeit den Wohnzimmerschrank auseinander, drehten jeden Topf und jede Pfanne um und blätterten in dem ein oder anderen Aktenordner. Ben fand ein Bild, dass Cablonsky und Zange Arm in Arm zeigten. "Also sind die beiden tatsächlich befreundet.", merkte Kevin an. Auf dem Bild stand kein Datum. Sie suchten weiter, bis irgendwann auch Semir sich dazu gesellte. "Alles okay?", fragte Ben etwas besorgt, denn er sah dass Semir die Stirn schweißnass hatte, was vorher noch nicht der Fall war. Er nickte nur schwach und müde.
    Der Polizist mit dem Wuschelkopf fand eine weitere Bestellung, dieses Mal auf den Namen Cablonsky. "Wieder Medikamente.", sagte er und Semir nahm ihm die Liste sofort ab, fotografierte sie und schickte sie an Hartmut. Doch wieder verließ ihn der Mut, als sich zunächst sonst keinerlei Hinweise ergaben. "Ich werde wahnsinnig. Wir finden nichts, wir suchen die Nadel im Heuhaufen.", rief er verzweifelt und warf einen Ordner, den er gerade in der Hand hatte, an die Wand. Ben stand direkt neben ihm und wollte ihn wieder beschwichtigen, doch dieses Mal wehrte sich Semir dagegen: "Du sagst mir schon die ganze Zeit, dass wir sie finden. Wir finden sie aber nicht! Wir fahren von einem Fehlschlag zum Nächsten!" Auch Ben wurde etwas lauter, er konnte Semirs Gefühle nachvollziehen, doch was sollte er machen? Er konnte doch auch nicht zaubern. "Semir, wir tun doch alles was wir können. Wir können Zange doch nicht foltern, wir müssen den Hinweisen nachgeben, wie wir sie haben." Der erfahrene Polizist hatte sich nicht unter Kontrolle, und das spürte sein bester Freund erst, als Semir ihn am Kragen packte. "In dieser Zeit sitzt Ayda vielleicht irgendwo und stirbt vor Angst!! Verstehst du das??", schrie er Ben an, der sich mit der Situation ebenfalls überfordert war, während sein Freund noch lauter, noch hilfloser, noch verzweifelter wurde: "Verstehst du das?? Ich will meine Tochter zurück!!!"

    Kevin, der einen Ordner in den Händen hielt, stand dieser Szene hilflos gegenüber. Er konnte nicht eingreifen, er verstand Semirs Gefühle, er verstand Bens Hilflosigkeit. Doch mit dem, was er jetzt las, konnte er die Situation schlichten, und so hielt er das Dokument, das er gerade gefunden hatte, etwas nach oben: "Ich glaube, wir haben etwas..."

    Zange's Wohnung - 15:30 Uhr

    Sie waren mit Blaulicht gefahren... Ben am Steuer, Kevin auf dem Beifahrersitz, Semir hinten auf den Plätzen. Doch er konnte sich überhaupt nicht entspannt zurücklehnen, er saß nach vorne gebeugt in der Mitte, hatte die Arme auf die beiden Sitzlehnen vor ihm gelegt und drängte Ben immer wieder zur Eile, der bereits im Einsatztempo unterwegs war. Sie mussten jetzt alle Register ziehen, die noch möglich waren, und die hiessen nun, die Wohnungen der Verdächtigen zu durchsuchen. Jenny war dabei, alles über den Mitverurteilten von damals, Igor Cablonsky herauszufinden, und in der Zeit wollten die drei Polizisten schon mal in Zanges Wohnung nach dem Rechten sehen. Irgendetwas musste sich doch dort finden lassen.
    Und weil die drei keinerlei Durchsuchungsbeschluss hatten, ließen sie auch diesmal die Jungs von der Spurensicherung zu Hause. Das war den dreien bewusst, dass sie sich auf ganz dünnem Eis befanden mit ihren Aktionen, doch sie wussten um den Rückhalt der Chefin. Wenn es nur darum ging, Ayda zunächst zu finden ließ sie zwar Gewalt an dem Verdächtigen nicht zu, da dadurch auch das spätere Verfahren platzen könnte. Doch wenn man Ayda erstmal gefunden hatte, wäre es vermutlich leichter, den Männern die Entführung nachzuweisen, auch ohne die illegal beschaften Hinweise aus der Wohnung. So entschied sie sich, die drei Polizisten fahren zu lassen, richtete aber an Ben noch eine ernsthafte Warnung: "Passen sie auf, dass Semir keinen Unsinn macht. Sie sind mir für ihn verantwortlich." Der junge Polizist, der das sonst immer umgekehrt hörte, nickte wie selbstverständlich.

    Semir hatte Hummeln im Hintern, und er schwitzte. Was würden sie in der Wohnung vorfinden? Vielleicht sogar Ayda? Wäre der Typ so bekloppt, das Mädchen in der eigenen Wohnung zu verstecken? Würden sie Unterlagen, oder Dokumente, oder auch nur den kleinsten Papierschnipsel finden, der sie weiterbringen würde? Sein Herz pochte fest gegen seinen Brustkorb, und der Ritt durch die Stadt kam ihm wie ewig vor. Sie hielten letztendlich in einer recht heruntergekommenen Wohngegend, in denen Betonsilos das Bild dominierten. Ben parkte den Mercedes direkt an der Straße, und die Polizisten stiegen aus. Von den Hinterhöfen her hörten sie Hundegebell, während Kevin auf den Zettel sah, wo er die Hausnummer aufgekritzelt hatte. "Die 3 ist direkt da vorne.", sagte er wie selbstverständlich, und erntete von Ben einen kurzen, überraschenden Blick. "Warst du hier schon mal?" "Früher.", wich der schweigsame Polizist der Frage etwas aus. Doch sein Freund konnte sich gut vorstellen, dass Kevin mit seiner damaligen Jugendgang öfters in solchen Gegenden verkehrte. Soziale Brennpunkte, Diebstähle, Drogenverkäufe und Schlägereien waren hier an der Tagesordnung.
    Die Tür knarzte laut beim Öffnen, vorher hatten sie Zanges Nachname auf dem großen unübersichtlichen Klingelschild ausfindig machen können. "7.Stock...", murmelte Kevin und warf einen Blick auf den Aufzug, und dann einen Blick auf Ben. Der machte eine eindeutige Kopfbewegung, die der junge Polizist sofort verstand. "Lass uns die Treppen nehmen.", meinte er mit einem Blick auf Semir. "Auf das kaputte Ding warten wir ewig." Semir war viel zu sehr in Gedanken, um darüber nach zu denken, nur Ben nickte seinem Partner dankbar zu, als sie gemeinsam die Treppen hochliefen, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend.

    Nach 7 Stockwerken waren sie endlich dort, wo sie hinwollten... vor der Wohnungstür von Zange. "Sollen wir klingeln? Vielleicht ist seine Freundin zu Hause?", fragte Ben in die Richtung seines jungen Kollegen. Semir hätte er nicht fragen brauchen, der hätte am liebsten gleich die Tür eingetreten, so schnell wollte er da hinein. Kevin betätigte den altmodischen Klingelknopf mehrmals, doch hinter der maroden Holztür tat sich nichts. "Lass mich jetzt durch.", fauchte Semir und nahm bereits eine Trittstellung ein. "Moment, moment...", stoppte ihn sein Partner, während Kevin sich vor das Schloß kniete. "Wäre nicht schlecht, wenn wir die Tür nachher wieder verschließen könnten." Mit ein zwei, geübten Bewegungen mit dem Dietrich und einem kleinen Schraubenzieher gab die Tür sofort nach. Ihnen wehte ein übler Geruch, abgestandener Essensreste und schlecht geläufteter Raumluft entgegen, so dass alle drei sofort das Gesicht verzogen. Langsam traten die Beamten ein, Semir verschloß hinter sich die Tür wieder, falls jemand vorbeikäme.
    Es sah beinahe so aus, wie in Kevins alter Wohnung, nur dass hier offenbar ein menschliches Schwein hauste. Alte Konservendosen, ungespültes Geschirr, ein Boden der schon wochenlang keinen Schrubber, geschweige denn einen Staubsauger gesehen hatte. "Scheint nicht oft zu Hause zu sein.", sagte Ben, der sich umsah. "Der Kalender ist vor vier Tagen das letzte Mal abgerissen worden." Das Wohnzimmer und die Küche war ein Raum, zwei Türen waren im hinteren Teil der Wohnung. Semirs Hoffnung schwand, als er nirgends Gepolter hörte, nirgends hilflose Arme, die gegen eine Tür hämmerten oder Aydas Stimme, die um Hilfe rief, damit ihr Vater sie endlich befreien konnte. Trotzdem geisterte immer noch das Bild der bewusstlosen Ayda in seinem Kopf, und so ging er voll Spannung zur ersten Tür. Hinter ihr lag das Badezimmer, das nicht weniger dreckig und unappetitlich aussah.

    Als der erfahrene Autobahnpolizist zur zweiten Tür ging, legte er zitternd die Hand über die Klinke. Er sah Ben an, der bereits vor dem Küchenschrank kniete, und einen Blick in hinter jede Tür riskierte. Semir atmete tief durch... verharrte einen Augenblick und dachte daran, wie er sich fühlte, als sie auf der Suche nach Kevin waren, als sie befürchteten, er könnte sich etwas angetan haben. Mit einem Ruck stieß er die Tür auf, und war enttäuscht. Das Bett war verlassen und leer, nicht ordentlich gemacht, aber es sah auch nicht nach einem Kampf aus. Der Polizist kniete sich auf den Boden und sah auch unterm Bett und im Schrank nach, falls Ayda sich in panischer Angst irgendwo versteckt hatte. Doch auch dort: Fehlanzeige.
    "Sie ist nicht hier.", sagte er desillusioniert, als er aus dem Zimmer zurückkam. Kevin und Ben blickten ihren älteren Kollegen an, und konnten die Resignation und Enttäuschung deutlich spüren. "Hey, das muss doch noch nichts heißen. War doch klar, dass der nicht so blöd sein kann. Der hat Helfer.", versuchte Ben Semirs Optimismus zu kitzen, doch der setzte sich auf die Lehne des alten verkommenen Sofas. Sein Freund stand sofort auf und legte ihm beide Hände auf die Schulter: "Mann, wir dürfen jetzt nicht aufgeben. Sonst ist Ayda verloren. Wir müssen weitermachen!" "Und womit? Wir haben nichts, ausser einem Boten, der nichts sagt. Und einem Namen, der mal mit ihm ein Ding gedreht hat. Wir haben keine Hinweise auf den Aufenthaltsort von Ayda, wir wissen überhaupt kein Motiv.", sagte Semir kraft- und kampflos.

    "Vielleicht haben wir doch etwas.", meinte Kevin, der einige Blätter aus einem Küchenschrank hervorzauberte. Sofort standen Ben und Semir hinter ihm, und versuchten einen Blick darauf zu werfen. "Was ist das?" Die hellblauen Augen des Kommissaren glitten schnell über die Schrift und die Buchstaben. "Das sieht wie eine Bestellung von Chemikalien aus. Medikamente... Laborzubehör. Alles auf seinen Namen.", murmelte Kevin. "Vielleicht um die Droge herzustellen, um die Opfer ins Koma zu spritzen.", mutmaßte Ben laut und sah Semirs Gesichtsausdruck, der zwischen Schock, Wut und Angst schwandt. "Sieht ganz so aus. Aber der Typ hat doch keinerlei Anhaltspunkte in seiner Vita, dass er sowas kann. Höchstens sein Freund, dieser Cablonsky." Kevins Kollegen nickten zustimmend, und sie bewegten sich zu dritt wieder aus der Wohnung heraus. "Hoffentlich hat Jenny etwas über den Kerl herausgefunden.", meinte Semir auf dem Weg nach unten, und wählte bereits Jennys Nummer.

    Dienststelle - 14:00 Uhr

    Sie alle waren ratlos... sie alle waren hilflos. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, als alle sich im Großraumbüro versammelt hatten, und schwiegen. Semir wurde nach seinem Zusammenbruch ganz still. In ihm reifte die Erkenntnis, dass die Entscheidung falsch war, den Geiselnehmer festzunehmen. Er hatte in seiner Nervosität, in seiner Sorge um Ayda, keinen Weitblick, keine ruhige Hand. Und er machte sich schrecklicke Vorwürfe, die nun auch die Wut auf den Entführer nicht mehr verbergen konnten. Nach seinem Zusammenbruch fühlte er keinen Jähzorn mehr, keine Rachegefühle, Semir spürte nur noch Leere und Resignation. Er saß auf einem Drehstuhl wie ein Häufchen Elend.
    Ben stand die ganze Zeit in seiner Nähe, war nun für ihn die moralische Stütze, die Semir sonst immer für ihn war, auch wenn Ben jetzt nicht mit hilfreichen Gesprächen unterstützen konnte, sondern einfach nur durch seine Anwesenheit. Er lehnte gegen den Schreibtisch direkt bei Semir, legte ihm hin und wieder die Hand auf die Schulter, und dachte fieberhaft nach, wie man dem Geiselnehmer nicht doch eine Information entlocken hätte können. Er fühlte sich in der Verantwortung, es war seine Idee gewesen, und nun saß er hier... ratlos. Hilflos. Und Ayda durchlebte womöglich gerade schreckliche Stunden, irgendwo allein. Ben wollte den düsteren Gedanken verscheuchen, doch es ging nicht, das Bild eines Verlieses, eines dunklen feuchten Kellers mit Semirs Tochter darin, gefesselt und hilflos, drängte sich immer wieder in sein Gedächtnis. Sie warteten fieberhaft auf ein Ergebnis von Hartmuts Recherche mit dem Bild des Verdächtigen, denn das war nun der einzige Anhaltspunkt den sie hatten.

    Die Chefin hatte sich gerade wieder beruhigt, genauso wie Hotte Herzberger. Der langjährige Streifenpolizist und die Chefin waren sich vor anderthalb Stunden böse in die Haare gekommen, was offenbarte wie blank die Nerven bei jedem Einzelnen lagen. Kevin hatte gerade den Verhörsaal verlassen und sagte mit resignierender Stimme: "Er hat Hunger und will eine Pause." Er blickte ausschließlich in empörte Gesichter, jeder war sprachlos über diese Unverfrorenheit. "Wir müssen uns an die Regeln halten. Hotte, machen sie eines unserer Besucheressen warm.", sagte die Chefin mit verkniffenen Gesicht. Doch der Widerspruch ihres Beamten erstaunte sie: "Nein, Chefin. Das werde ich nicht tun.", sagte Hotte mit all seiner Leibesruhe und sah die Chefin mit festem Blick an. "Herzberger, seien sie nicht albern. Wir wandeln mit der ganzen Sache am schmalen Grat, wir können uns keinen Fehltritt erlauben. Jeder Verdächtige hat ein Recht auf eine Mahlzeit, das ist eine Anweisung.", sagte Anna Engelhardt etwas schärfer und setzte ein: "Glauben sie, mir fällt das leicht?"
    Doch Herzberger strich sich nur mit beiden Fingern über seinen Bauch und sagte mit ruhiger Stimme: "Ayda sitzt vermutlich irgendwo alleine in einem Loch. Gott weiß, ob sie etwas zu essen hat, und dem Typen etwas zu essen machen? Nein! Lieber gebe ich hier und jetzt meine Marke ab." Die Stimmung im Großraumbüro war zum Schneiden, und innerlich bewunderte jeder Hottes Entschlossenheit, andererseits wollte man auch die Situation nicht eskalieren lassen. Die Chefin hatte recht, andererseits konnte man auch Herzberger selbstverständlich verstehen... doch nützen würde es Ayda nichts, egal was er tat. Letztendlich stand Hottes Kollege Bonrath auf und klopfte dem dicken Kollegen zweimal beruhigend auf die Schulter. Er wollte seinem besten Freund nicht in den Rücken fallen, aber er wollte auch nicht, dass sich die Kollegen gegenseitig an den Hals gingen, und so sagte er mit verkniffenem Gesichtsausdruck: "Ich mach das, Chefin.", bevor Anna Engelhardt selbst Hottes Drohung wahr machte.

    Trotz des bösen Blickes, den die Chefin ihrem konsequenten Beamten noch zu warf, beruhigte sich die Situation wieder. Kevin hatte in einem kurzen Moment von Semirs Unachtsamkeit, Ben das kleine Detail verraten, dass Ayda wohl nicht mehr viel Flüssigkeit zur Verfügung stünde... und man, verdammt nochmal, sich beeilen sollte. Sie unterhielten sich nur leise, während Semir kurz zur Toilette ging. "Ich fühl mich nicht gut dabei, Semir das zu verschweigen.", sagte sein bester Freund leise und zischend zu Kevin. "Wenn du ihm das jetzt sagst, dann wird er nicht mehr zu halten sein. Ich glaube, je mehr er sich jetzt raushält, desto besser ist es." Ben steckte in einem Gewissenskonflikt gegenüber seinem besten Freund und sah diesen kurz an, als er zurück von der Toilette kam.
    Kevin kehrte nochmal zurück in den Verhörraum, wo Zange gerade dabei war, das letzte bisschen Kartoffelpüree und Erbsen mit dem Messer auf die Gabel zu schieben. "Schmeckts?", fragte der Polizist beinahe verhöhnend, als er sich gegenüber des Kerls wieder niederließ und der nickte kauend. "Macht ihnen das gar nichts aus? Sie sitzen hier im Warmen... haben etwas zu trinken, haben etwas zu essen während ein kleines Mädchen irgendwo alleine sitzt, gefangen und vielleicht mittlerweile ohne Wasser? Weil sie glaubt, dass sie wieder zurückkommen?", fragte er und lehnte sich demonstrativ zurück, mit den Händen hinter dem Kopf. Zange blickte vom Teller auf, er kaute noch, schluckte unter und lehnte sich dann ebenso zurück. Ein leichtes Kopfschütteln ging einher, und Kevin wusste es nicht ob er es als Antwort deuten konnte. "Sie verlieren nur Zeit.", wiederholte er nochmals mit seiner ruhigen Stimme, und verharrte wieder auf seinem Stuhl, bevor er hinterher schob: "Wertvolle Zeit."

    Als das Faxgerät ansprang, sprang auch Ben. Sofort riss er das Blatt Papier aus dem Druckerfach in der Hoffnung, dass es eine Antwort von Hartmut wäre, und er wurde nicht enttäuscht. Dieter Zackowicz, genannt "Zange", war als Überschrift über dem Kurzsteckbrief. Der Kerl war tatsächlich aktenkundig, und Ben erkennte ihn sofort auf dem Papier wieder. Hartmut hatte sofort die komplette Akte mitgefaxt. "Wir haben ihn.", sagte Ben nur, und sein bester Freund blickte auf und stand augenblicklich neben ihm. "Der Kerl hat bereits gesessen wegen räuberischer Erpressung und Freiheitsberaubung. Passt ja hervorranged.", sagte der Polizist und überflog die Angaben. Er war bei einer Adresse gemeldet, seine Vorstrafen standen darin, und Informationen über die damalige Verurteilung. Mit ihm wurde ein Igor Cablonsky ebenfalls verhaftet und verurteilt, der bei der damaligen Entführung mit von der Parie war.
    "Jenny, versuch mal alles über diesen Cablonsky rauszufinden. Vorstrafen, gemeldete Adresse, Lieblingskaugummi, alles.", sagte Ben schnell, nahm die Blätter und wollte wieder zu Kevin in den Verhörraum. Semir folgte ihm wie selbstverständlich, doch Ben stoppte vor der Tür. "Semir, bitte. Ich versteh dich wirklich und ich weiß, was in dir vorgeht. Aber bitte... bitte, bleib draussen. Du bist momentan nicht in der Lage, die Kontrolle zu behalten, und du würdest uns einfach nicht helfen.", flehte er schon beinahe. Auch die Chefin war bei den beiden und nickte zustimmend. "Aber Ben... ich kann doch nicht... hier draussen sitzen, während Ayda..." "Vertrau uns doch einfach. Vertrau Kevin und mir. So wie ich dir auch vertrauen würde." "Ben hat recht. Semir, sie sind momentan keine Hilfe in ihrem Zustand. Sie sollten zu ihrer Frau..." "Nein!", wiedersprach Semir sofort. "Ich bleibe hier... ich... ich gehe nicht mit rein, aber ich bleibe hier." Bens Worte hatten ihn beeindruckt, und er wusste ja selbst, dass er die Kontrolle über sich wohl nicht im Griff hatte, wenn er jetzt wieder vor dem Geiselnehmer stehen würde, und der in arroganter Art und Weise jedes Gespräch verweigerte. Er ging stattdessen in den Nebenraum, Anna Engelhardt folgte ihm und winkte unauffällig noch Hotte und Bonrath herbei, die sich in der Nähe aufhalten sollten.

    Kevin saß noch auf seinem Stuhl, als Ben in den Verhörraum kam, und die Akte auf den Tisch warf: "So, Herr Zackowicz.", sagte Ben, während sein Kollege den Kopf nach vorne regte, um die Blätter zu lesen. "Wie ich sehe, machen sie eine Entführung nicht zum ersten Mal." Auch Zange blickte auf den kleinen Stapel Papiere, auf sein Bild und seinen Namen. Doch noch ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Kevin nahm es, und blätterte darin. "Hmm, eine 27jährige entführt... einen 32jährigen... eine 22jährige.", las er laut und ließ die Akte wieder langsam sinken: "Da hat man im Knast nicht viel zu befürchten. Aber weißt du, Ben, was man mit Kerlen macht, die kleine Kinder entführen?", fragte der Polizist auffällig in Bens Richtung, und ignorierte Zange, als sei er nicht da. "Ich glaube, ungefähr das Gleiche, was sie mit Kinderschändern machen.", meinte der Polizist gespielt nachdenklich. "Vor allem wenn herauskommt, dass die Kinder im Koma liegen, wenn sie gefunden werden... und davon nicht mehr wieder aufwachen."
    Zange bewegte sie Lippen hin und her, seine Zähne mahlten aufeinander, als würde er Kaugummi kauen, dabei hatte er nichts im Mund. Die beiden Polizisten blickten erst sich, und dann langsam wieder zu Zange, der die Blicke spürte. "Wo ist Ayda?", fragte Ben erneut mit scharfer Stimme. "Wir können sicher was für ihre Bewährungsauflagen tun, wenn sie uns helfen." Etwas nervöser als vorher blickte Zange zwischen den beiden Männern hin und her, doch keine Antwort trat über seine Lippen. "Wer ist Cablonsky? Igor Cablonsky?", war Bens zweite Frage und er tippte mit dem Finger auf den Namen auf dem Blatt. Doch statt einer eindeutigen Antwort, formulierte Zange seine Drohung erneut... dieses Mal etwas abgewandelt, und auf die Frage bezogen: "Er würde ihnen sicherlich das Gleiche sagen wie ich: Sie vergeuden nur Zeit. Geben sie mir das Lösegeld, und sie bekommen die Kleine zurück." Ben hatte sich auf den Tisch gestützt, während Kevin immer noch saß. Der junge Kommissar mit den Wuschelhaaren nickte unmerklich und nahm die Akte wieder zur Hand: "Wir bekommen es schon raus." Dann stieß er Kevin an die Schulter und ging wieder zum Flur, wo er zu Hotte und Bonrath sagte: "Bringt ihn bitte in eine Zelle." Und im Nebenraum hatte Semir die Fingernägel fest in die Tischplatte gebohrt, als er jedes Wort des Geiselnehmers hörte...

    Dienststelle - 11:50 Uhr

    Ben hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützte, um sich mit beiden Händen durch die Haare zu greifen, er schien zu verzweifeln, an dem Mann der ihm gegenüber saß. Die Frage, wo sich Ayda aufhielt, hatte er nun bis zum Erbrechen gestellt, doch in den Antworten Zanges regte sich keinerlei Einsicht, keinerlei Zeichen davon, einzuknicken. Er saß immer noch entspannt, manchmal mit verschränkten Armen, manchmal die Hände auf dem Tisch gefaltet Ben gegenüber und wiederholte seine Forderung, ihm das Lösegeld zu überlassen, damit man Ayda freilassen konnte. Auch versuchte Ben, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, nachdem Hotte gerade eben noch Fotos von dem Mann gemacht hatte, und dabei nicht gerade zimperlich umging, als er ihn anherrschte, sich gerade hin zu setzen.
    "Was machen sie beruflich?", fragte Ben, nachdem Zange bereits zu seinem Namen geschwiegen hatte. "Das tut nichts zur Sache." oder "Das ist doch gar nicht interessant.", war stets die Antwort des Entführers, ohne dass er dabei in Rage geriet oder die Stimme erhob. "Doch! UNS interessiert es uns.", entgegnete Kevin, der mittlerweile an der hinteren Wand stand, den Fuß gegen die Wand gestemmt hatte und die Arme vor der Brust verschränkt. Er hielt sich im Hintergrund und war lange nicht so nervös, oder wurde langsam immer ungeduldiger wie zum Beispiel Ben am Tisch, der immer wieder hörbar ausatmete, seufzte oder mal etwas lauter wurde. Es war wie verhext, und der Polizist mit den wuscheligen Haaren spürte einen unbändigen Druck auf sich lasten, aus diesem Mann endlich Informationen zu bekommen. "Können wir eine Verhörpause machen?", fragte Zange irgendwann, und die beiden Polizisten sahen sich kurz an. "Eine was?", fragte Ben mit ungläubigen Blick. "Eine Verhörpause. Es ist 12 Uhr mittag, und ich bin hungrig. Laut Gesetz haben sie die Pflicht, wenn sie mich hier festhalten, auch zu verpflegen." Unrecht hatte er nicht, diese Pflicht hatten sie tatsächlich, jedoch fühlten sich die beiden Polizisten in diesem Moment fürchterlich vor den Kopf gestoßen, aufgrund seiner Unverfrorenheit.

    Plötzlich gab es einen Knall, als die Tür des Nebenzimmers zukrachte. Kevin blickte auf, sein Blick ging zur Tür und ein innerer Impuls ließ ihn sich von der Wand abstoßen. Fast als hätte er geahnt, welches Unheil gleich in den Raum gestürzt kam, in Form von Semir. Der hatte nämlich gerade mit Wucht die Tür aufgestoßen, kam mit weit aufgerissenen Augen und wütender Miene in den Raum gestürzt und ging schnurstracks auf den Festgenommenen zu. "Wo ist meine Tochter?? Was hast du mit meiner Tochter gemacht, du Ratte!!", schrie er und griff Zange sofort am Kragen, so schnell und unvorbereitet, dass in Ben und Kevin erst Bewegung kam, als Semir Zange mit dem Rücken gegen die Wand drückte. "Machs Maul auf!! Wo ist meine Tochter!", rief er dabei wie von Sinnen. "Semir, hör auf!!", hörte er die Stimme seines Partners, der versuchte, ihn von Zange wegzuzerren. "Lass mich los, Ben! Der Typ wird jetzt reden, wo Ayda ist.", knurrte Semir, als er Bens Griff um seinen Arm spürte.
    Ben wirbelte herum, zu Kevin, der beinahe immer noch am gleichen Platz stand, und es eigentlich gut fand, wenn Semir seiner ungezügelten Wut ein wenig freien Lauf ließe. "Hilf mir, verdammt nochmal!", rief der Polizist, als er merkte dass er seinen besten Freund alleine nicht von Zange wegbekam, der ein verängstigtes Gesicht machte, den Kopf wegdrehte weil er Angst hatte, Semir würde ihn schlagen. "WO IST MEINE TOCHTER??", schrie der nochmal, und in seiner Stimme mischten sich Wut und Verzweiflung, Angst um sein ältestes Kind und die Hilflosigkeit, die ihn antrieb.

    Erst jetzt kam Bewegung in Kevin, auch er packte Semir nun mit Ben zusammen an Kragen, Jacke und Arme um ihn von Zange wegzubekommen. "Lasst mich los!", schrie dieser wie von Sinnen, als er spürte dass er sich gegen zwei kräftige Polizisten nicht genügend wehren konnte, und langsam von Zange abließ. Auch die Chefin stand mittlerweile im Türrahmen, und rief mit lauter, dominanter Stimme: "Gerkhan, hören sie auf!" Es war ein lauter Krach, ein lautes Gepolter, als ein Stuhl umfiel, weil der ältere Polizist versuchte sich gegen seinen besten Freund und Kevin zur Wehr zu setzen. Angelockt davon kamen nun auch Bonrath und Herzberger, die ebenfalls mit anpackten um den wütenden Semir aus dem Verhörzimmer zu ziehen.
    An der Tür blieb Kevin zurück, denn er wollte Zange nicht alleine im Raum lassen. Bonrath, Hotte und Ben schafften es, denn langsam verließ Semir der Wille. Der Polizist war in einer emotionalen Extremlage, alle aufgestauten Gefühle der letzten Stunden kochten nun über, brachen erst in Wut, und dann in Verzweiflung aus. Als er merkte, dass ihm der Ausbruch nichts half, als er spürte dass seine Freunde ihn einerseits davon abhielten den Mann zu verprügeln, andererseits aber auch versuchten zu helfen, wich die Wut der Verzweifelung. Sie waren gerade zu viert im Knäuel im Großraumbüro angekommen, als Semir die Beine wegknickten und er auf die Knie fiel, wovon Ben ihn nicht mehr abhalten konnte, auch wenn er versuchte ihn am Arm festzuhalten. Eben war er noch die starke Schulter an Andrea's Seite und wollte sich da keine Schwäche erlauben, jetzt konnte er dieses Bild nicht mehr aufrecht erhalten. Semir brach in Tränen aus, er begann hemmungslos zu weinen, schlug sich dabei die Hände vors Gesicht. Bonrath und Hotte hatten ihn auch losgelassen und standen betreten daneben, während Ben die vollkommenste Art der Hilflosigkeit spürte. So hatte er seinen Partner noch nie gesehen... so aufgelöst, so hilflos, so vollkommen am Ende. Auch die Chefin, die hinter den Männern stand, spürte ein unbehagliches Gefühl, als sie den Mann, den sie schon seit 18 Jahren kannte, weinend am Boden der Autobahn-Dienststelle sah. Ben kniete sich zu seinem Freund, und nahm ihn in die Arme, was Semir geschehen ließ, und sein Gesicht an Bens Schulter drückte. Dabei hörte der junge Polizist die stockende und schluchzende Stimme seines Partners: "Ich will doch ... doch nur meine Tochter zurück..."

    Kevin hatte die Tür des Verhörraumes wieder geschlossen und atmete erstmal durch. Zange stand noch immer an der Wand, er war ein wenig blasser geworden und sein Gesicht zeigte verängstigte Züge. "Das... das dürfen sie nicht.", sagte er beinahe empört in Kevins Richtung, der auf ihn zu kam. Sein Gesicht gewohnt ausdruckslos, nur seine blauen Augen strahlten Kälte aus. Beinahe hatte Zange Angst, auch der schweigsame Polizist würde jetzt auf ihn losgehen, doch der deutete mit dem Kopf nur in Richtung des Stuhls. "Los, setz dich wieder.", sagte er streng, und Zange gehorchte.
    Der junge Polizist setzte sich dem Geiselnehmer wieder gegenüber und lehnte sich an die Lehne. Beide sahen sich in die Augen, wobei Kevin den Kopf ein wenig schief legte. "Haben sie Kinder?", fragte er als nächstes, es klang wie eine normale Fortsetzung des Verhörs. Zange gab darauf erneut keine Antwort, was Kevin als "Nein" wertete. "Dann wissen sie nicht, wozu ein Vater im Zorn fähig ist." Es sollte sich gar nicht wie eine Drohung anhören... und doch klang es so. Doch selbst auf die beängstigende Szene des wütenden Semirs, noch auf die versteckte verbale Drohung von Kevin reagierte Zange. "Das Ganze kostet sie nur Zeit...", sagte er mit ruhiger Stimme in das ausdruckslose Gesicht seines Gegenübers. "Was meinen sie damit?" Zange lehnte sich ein wenig nach vorne, und seine Stimme wurde ein wenig leiser, und blieb trotzdem gewöhnlich und souverän. "Wenn sie mir das Lösegeld nicht geben und mich gehen lassen, werden sie nicht erfahren, wo das Mädchen versteckt ist." Ein Satz, den er schon mehrmals sagte, doch dieses Mal schien er damit den Satz nicht zu beenden. "Und als ich das Mädchen gestern nachmittag zum letzten Mal sah, hatte sie noch eine halbe Flasche Wasser. Und ich weiß nicht, wie lange ein kleines Mädchen es ohne Wasser aushält." Er sagte es beiläufig, als wäre es eine unwichtige Information und diese Art und Weise, diesen Satz zu sagen, jagte Kevin eine Gänsehaut über den Rücken, ohne dass er es zeigte.
    Der Verbrecher lehnte sich wieder zurück, und wiederholte sein Anliegen, dass er Hunger habe und eine Pause wollte...

    Vorsicht Spoiler

    Spoiler anzeigen

    Wow...wow...wow...

    Atemberaubend, grandios, spektakulär, dramatisch... und in seiner Erzählweise für Cobra 11 revolutionär. Die Story eigentlich auf 10 Minuten gekürzt, aber aus vier verschiedenen Blickwinkel wiedergegeben. Dazu ein offenes Ende für eine "Rote-Faden-Story" für die nächste Staffel.

    Ich will diese Folge nicht besser als Ausgelöscht oder Angst bewerten, weil die beiden Folgen nochmal auf andere Art und Weise hervorragend waren, aber dieses Staffelfinale bleibt haften, und zwar beinahe ohne Fehl und Tadel.

    Herausragend... wow...