Rastplatz / Dienststelle - 03:15 Uhr
Das orangene Licht, das den großen Parkplatz der Raststätte erleuchtete, wurde irgendwann vermischt mit dem aufflackernden Blaulicht des Rettungswagen. Mittlerweile waren einige LKW-Fahrer, die ihre Nachtruhe in ihren Kabinen verbrachten wach geworden, waren ausgestiegen und zu der kleinen Versammlung gekommen. Ein 2m-Riese mit Pferdeschwanz und tättowierten Händen bot sich an, 5 Minuten mit dem "Fascho", wie er ihn nannte, alleine zu verbringen, doch Semir lehnte dankend ab und verwies alle Schaulustigen des Platzes, während Kevin stumm in sich hinein grinste.
Das Opfer hatte starke Schmerzen und war froh, dass ein Arzt sich um ihn kümmerte. Die beiden Polizisten konnten ihm immerhin noch einen Namen entlocken, und er händigte ihnen seine Papiere aus. Nguyen Giang stammte aus Vietnam, lebte auch dort und war auf dem Weg zu seiner Cousine, die in Essen wohnte. Er war am Abend mit dem Flugzeug gelandet und der Wagen, mit dem er hierher kam, war ein Mietwagen, wie an dem Aufkleber in der Heckscheibe unschwer zu erkennen war. Mehr konnte Giang den beiden Polizisten nicht sagen, denn der Notarzt gab ihm noch vor Ort ein starkes Schmerzmittel, was den Vietnamesen schnell schläfrig machte. "Vermutlich hat er schwere Gesichtsverletzungen. Wir müssen ihn sofort in die Klinik bringen.", sagte er den Polizisten und ließ Giang in den RTW verladen. "Können wir ihn vielleicht heute nachmittag schon vernehmen?", fragte Semir routinemäßig und der Arzt wiegte unentschlossen den Kopf hin und her. "Rufen sie mich vorher an, dann geben ich ihnen eine Antwort darauf.", richtete er aus, und mit einem Knall schlugen die Hecktüren des Transporters zu, und der Wagen fuhr mit Blaulicht, aber ohne Sirene ab.
Semir setzte sich in den BMW ans Steuer, während Kevin zu dem Kerl hinten einstieg. Der saß fast schon gelangweilt schräg hinter Semir und kaute in aller Ruhe Kaugummi. Der Polizist neben ihm wunderte sich, dass er sich daran nicht während des Kampfes verschluckt hatte, aber manche Menschen hatten ausserordentliche Fähigkeiten das Stück Gummi im Mund zu behalten, während sie Achterbahn fuhren, sich im Auto überschlugen oder schliefen. Das Stück Knatschgummi missbrauchte der Typ dann auch wortwörtlich um den jungen Polizisten, der ihn eben noch auf den Asphalt geschickt hatte, zu provozieren in dem er mit offenem Mund möglichst laut schmatzend davon Gebrauch machte. Dabei sah er Kevin neben sich möglichst herausfordernd an, der den Blick irgendwann aus seinen blauen Augen erwiderte.
Natürlich wollte er Kevin provozieren... natürlich wartete er darauf, dass er irgendetwas genervtes oder provokantes zu dem Typ sagte. Doch der Polizist schwieg... er schwieg mit seiner stoischen Ruhe, während die beiden Männer sich wie zwei Löwen anstarrten... nur dass ein Löwe wehrlos und angekettet war. Mit dieser Ruhe, meistens auch gepaart mit Arroganz, konnte der junge Kommissar manch ruhigen Zeitgenossen irgendwann völlig aus der Ruhe bringen. Nur Semir ging das Knatschgeräusch schräg hinter ihm irgendwann auf die Nerven. "Haben wir ein Rindvieh verhaftet?" Der Neonazi drehte den Kopf in Semirs Richtung und spottete als Antwort: "Wieso? Brauchst du noch was für einen guten Döner, Türke?" Der Puls des erfahrenen Kommissar ging kein Bisschen nach oben, auch wenn er bisher mit Ausländerfeindlichkeit sehr wenig konfrontiert wurde... für die Provokation hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Doch der Typ wollte Semir den Gefallen tun und den Kaugummi entfernen, also spuckte er ihn in die Richtung des fahrenden Polizisten, so dass der nasse Kaugummi hinter seinem Ohr landete und von dort in den Fußraum fiel. Mit einer Hand fuhr Semir sich an die Stelle und machte ein Geräusch, das Widerwärtigkeit ausdrückte. Er drehte sich ein bisschen zu dem grinsenden Kerl nach hinten um und nickte: "Auf solche Typen wie dich hab ich schon lange mal gewartet."
Als der Wagen vor dem Revier der Autobahnpolizei hielt, hatte sich der Regen fast komplett verzogen. Blickte man nach oben, konnte man sogar einige kleine Stecknadelköpfe am Himmel erblicken, die herunter auf die Erde schienen. Kevin trieb den Kerl vor sich her und hatte gute Lust ihn einmal mit Wucht gegen die geschlossene Eingangstür laufen zu lassen... doch wozu sich wieder unangenehme Fragen gefallen lassen. Die Sache war doch ganz klar. Schwere Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung weil er mit einem Baseballschläger zugeschlagen hat. Dazu mit wahrscheinlichen fremdenfeindlichen Hintergrund, verfassungsfeindliche Symbolik, und wenn die beiden Polizisten im Verhör auch noch ein bisschen tricksten würde es nicht schwer sein, ihn noch zu der ein oder anderen Beamtenbeleidigung hinreißen zu lassen.
Die drei Männer marschierten schnurstracks am fast leeren Großraumbüro vorbei in das Verhörzimmer, die Handschellen immer noch fest an den Handgelenken des Mannes, den Kevin jetzt auf den Stuhl am Verhörtisch drückte. Dann langte er in die Innentaschen der Bomberjacke und beförderte den Geldbeutel ans Licht der kleinen Lampe, die das Zimmer nur spärlich erleuchtete. "Soso... Ulrich Richter. Geboren 1989 in Köln, wohnhaft ebenfalls in Köln.", las er aus dem Personalausweis vor, und Semir schrieb das ganze in einen Vordruck zur Anzeige. Als Kevin fertig war, klappte er den Geldbeutel zu und gab ihm einem Kollegen, der draussen an der Tür gerade vorbei ging. Er solle den Namen mal schnell durch den Computer jagen, um weitere Informationen über den Mann heraus zu bekommen. "Hey, Bulle. Verdienst du so wenig, dass du mir jetzt auch noch mein Geld klauen musst.", rief Ulrich Richter hinter Kevin her. Der Schein der Lampe brach sich an seinem kahlen Schädel.
"So, Herr Richter. Sie haben also Spaß nachts im Wald auf vietnamesische Touristen einzuprügeln.", sagte Semir in aller Ruhe und lehnte sich im Stuhl ein wenig zurück. "Der Kerl hat uns provoziert. Wir haben ganz gemütlich am Ausgang der Tankstelle geraucht." Semir musste, ob der Unverfrorenheit grinsen. "Wie hat er sie denn provoziert?", fragte er, als würde er die Ausrede des Mannes erst einmal für bare Münze nehmen, was den Kerl kurzzeitig ein wenig verwirrte. "Na... er kam aus der Tankstelle, und hat mich weggestoßen. Dabei ist meine Kippe auf den Boden gefallen. Ich habe ihm hinterher gerufen, dass es hier in diesem Land üblich ist, sich zu entschuldigen." Dabei legte Ulrich die Hände mit den Handschellen auf den Tisch, als würde er sich wie ein kleiner Junge verteidigen. Für einen Moment sahen er und Semir sich schweigend an, und Semirs Lächeln wurde immer breiter. "Sie wollen mir jetzt also erzählen, dass ein Tourist, der auf dem Weg zu seiner Verwandtschaft in Deutschland ist, einen Schrank wie sie mit Absicht wegschubst, um sie zu provozieren?" Ulrich nickte heftig: "Jaja... genauso war es. Ich meine... diese Schl... diese Asiaten haben doch kein Benehmen."
Semir protokollierte die Aussagen des Mannes, auch wenn er schon wusste, dass sie erstunken und erlogen waren. Kevin, der sich bisher im Hintergrund an der Wand gehalten hatte, ging jetzt an Semir und dem Tisch vorbei auf den Kerl zu und zog ihm die Bomberjacke ein wenig auseinander. "Hey Mann, Finger weg!", wollte der sich erst wehren. "Schlechte Fälschung. Du hast da ein P zuviel.", meinte der wortkarge Polizist und verzichtete auf das typische "Sie", das Semir meistens noch bei behielt. Ulrich presste die Lippen aufeinander. "Was ist denn dann passiert, nachdem sie von dem Opfer eine Entschuldigung verlangt haben?" "Na... er ging einfach weiter. Da habe ich ihn zur Rede stellen wollen. Er ist in den Wald gelaufen, und hat dort ein Messer gezückt, und dann habe ich mich gewehrt." Wenn die Sache nicht so traurig wäre, Kevin und Semir wären vermutlich ob der Geschichte gleich in Tränen ausgebrochen... vor Lachen. Besonders helle schien der Kerl nicht zu sein, den sie hier vor sich hatten. "Und den Baseballschläger hatten sie sicherheitshalber schon mal mitgenommen?", fragte der erfahrene Polizist und wieder schwieg Ulrich.
Kevin wollte die ganze Sache abkürzen... ein strafmilderndes Geständnis erwarteten beide sowieso nicht. "Ich werd dir jetzt mal sagen, wie das für mich aussieht.", begann er und ging langsam, beinahe aufreizend lässig um den Mann herum. "Du erfüllst jedes Klischee einer rechtsradikalen Hohlbirne, wie ich sie seit meiner Jugend kenne. Das P in Lonsdale, die weißen Schnürsenkel in deinen Springerstiefel... und euer "Fidschi, Fidschi, gute Reise" ist auch nur in eurer Szene bekannt." Richter folgte dem jungen Polizisten mit seinen kalten Augen. "Ihr habt den Vietnamesen beobachtet, und wolltet ein wenig Spaß haben. Weil dieser Kerl die Frechheit hat, in einer deutschen Tankstelle deutsches Benzin zu tanken. Vielleicht hatte er sogar noch ein Bier gekauft, viel zu schade für einen Vietnamesen, hmm?" Kevins Stimme war dabei auffallend ruhig, und Semir versuchte, nicht zu lächeln. Sie hatten, ohne Absprache, die Rollen perfekt verteilt. Semir, der korrekte Polizist, der oberflächlich ein korrektes Verhör führte, und Kevin als Provokateur, der versuchte den Kerl jetzt aus der Reserve zu locken. "Das geht ja nicht. Also die Baseballschläger aus dem Auto genommen, und den Mann in den Wald gejagt. Dem Schlitzauge eine Lektion erteilt. So wars doch, oder?"
Für einen Moment war es still im Raum, und man spürte wie von der gespielten Gelassenheit des Mannes wenig übrig blieb. Er verfluchte sich vermutlich gerade selbst dafür, dass er Kevin eben auf dem Parkplatz nicht den Schädel eingeschlagen hatte. "Das Schlitzauge hatte hier nichts zu suchen. Und ihr wisst nicht, mit wem ihr euch hier anlegt... du und dein Kümmeltürke.", giftete er in Kevins Richtung, der zufrieden lächelte. "Gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung, Beamtenbeleidigung, Tragen von verfassungsfeindlichen Kennzeichen.", zählte Semir auf und blickte dann nach oben. "Viel Spaß in unserer Unterkunft.", meinte er noch, bevor er einen Kollegen rief, der Ulrich Richter in die Zellen der PAST führte.