Beiträge von Campino

    Rastplatz / Dienststelle - 03:15 Uhr


    Das orangene Licht, das den großen Parkplatz der Raststätte erleuchtete, wurde irgendwann vermischt mit dem aufflackernden Blaulicht des Rettungswagen. Mittlerweile waren einige LKW-Fahrer, die ihre Nachtruhe in ihren Kabinen verbrachten wach geworden, waren ausgestiegen und zu der kleinen Versammlung gekommen. Ein 2m-Riese mit Pferdeschwanz und tättowierten Händen bot sich an, 5 Minuten mit dem "Fascho", wie er ihn nannte, alleine zu verbringen, doch Semir lehnte dankend ab und verwies alle Schaulustigen des Platzes, während Kevin stumm in sich hinein grinste.
    Das Opfer hatte starke Schmerzen und war froh, dass ein Arzt sich um ihn kümmerte. Die beiden Polizisten konnten ihm immerhin noch einen Namen entlocken, und er händigte ihnen seine Papiere aus. Nguyen Giang stammte aus Vietnam, lebte auch dort und war auf dem Weg zu seiner Cousine, die in Essen wohnte. Er war am Abend mit dem Flugzeug gelandet und der Wagen, mit dem er hierher kam, war ein Mietwagen, wie an dem Aufkleber in der Heckscheibe unschwer zu erkennen war. Mehr konnte Giang den beiden Polizisten nicht sagen, denn der Notarzt gab ihm noch vor Ort ein starkes Schmerzmittel, was den Vietnamesen schnell schläfrig machte. "Vermutlich hat er schwere Gesichtsverletzungen. Wir müssen ihn sofort in die Klinik bringen.", sagte er den Polizisten und ließ Giang in den RTW verladen. "Können wir ihn vielleicht heute nachmittag schon vernehmen?", fragte Semir routinemäßig und der Arzt wiegte unentschlossen den Kopf hin und her. "Rufen sie mich vorher an, dann geben ich ihnen eine Antwort darauf.", richtete er aus, und mit einem Knall schlugen die Hecktüren des Transporters zu, und der Wagen fuhr mit Blaulicht, aber ohne Sirene ab.


    Semir setzte sich in den BMW ans Steuer, während Kevin zu dem Kerl hinten einstieg. Der saß fast schon gelangweilt schräg hinter Semir und kaute in aller Ruhe Kaugummi. Der Polizist neben ihm wunderte sich, dass er sich daran nicht während des Kampfes verschluckt hatte, aber manche Menschen hatten ausserordentliche Fähigkeiten das Stück Gummi im Mund zu behalten, während sie Achterbahn fuhren, sich im Auto überschlugen oder schliefen. Das Stück Knatschgummi missbrauchte der Typ dann auch wortwörtlich um den jungen Polizisten, der ihn eben noch auf den Asphalt geschickt hatte, zu provozieren in dem er mit offenem Mund möglichst laut schmatzend davon Gebrauch machte. Dabei sah er Kevin neben sich möglichst herausfordernd an, der den Blick irgendwann aus seinen blauen Augen erwiderte.
    Natürlich wollte er Kevin provozieren... natürlich wartete er darauf, dass er irgendetwas genervtes oder provokantes zu dem Typ sagte. Doch der Polizist schwieg... er schwieg mit seiner stoischen Ruhe, während die beiden Männer sich wie zwei Löwen anstarrten... nur dass ein Löwe wehrlos und angekettet war. Mit dieser Ruhe, meistens auch gepaart mit Arroganz, konnte der junge Kommissar manch ruhigen Zeitgenossen irgendwann völlig aus der Ruhe bringen. Nur Semir ging das Knatschgeräusch schräg hinter ihm irgendwann auf die Nerven. "Haben wir ein Rindvieh verhaftet?" Der Neonazi drehte den Kopf in Semirs Richtung und spottete als Antwort: "Wieso? Brauchst du noch was für einen guten Döner, Türke?" Der Puls des erfahrenen Kommissar ging kein Bisschen nach oben, auch wenn er bisher mit Ausländerfeindlichkeit sehr wenig konfrontiert wurde... für die Provokation hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Doch der Typ wollte Semir den Gefallen tun und den Kaugummi entfernen, also spuckte er ihn in die Richtung des fahrenden Polizisten, so dass der nasse Kaugummi hinter seinem Ohr landete und von dort in den Fußraum fiel. Mit einer Hand fuhr Semir sich an die Stelle und machte ein Geräusch, das Widerwärtigkeit ausdrückte. Er drehte sich ein bisschen zu dem grinsenden Kerl nach hinten um und nickte: "Auf solche Typen wie dich hab ich schon lange mal gewartet."


    Als der Wagen vor dem Revier der Autobahnpolizei hielt, hatte sich der Regen fast komplett verzogen. Blickte man nach oben, konnte man sogar einige kleine Stecknadelköpfe am Himmel erblicken, die herunter auf die Erde schienen. Kevin trieb den Kerl vor sich her und hatte gute Lust ihn einmal mit Wucht gegen die geschlossene Eingangstür laufen zu lassen... doch wozu sich wieder unangenehme Fragen gefallen lassen. Die Sache war doch ganz klar. Schwere Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung weil er mit einem Baseballschläger zugeschlagen hat. Dazu mit wahrscheinlichen fremdenfeindlichen Hintergrund, verfassungsfeindliche Symbolik, und wenn die beiden Polizisten im Verhör auch noch ein bisschen tricksten würde es nicht schwer sein, ihn noch zu der ein oder anderen Beamtenbeleidigung hinreißen zu lassen.
    Die drei Männer marschierten schnurstracks am fast leeren Großraumbüro vorbei in das Verhörzimmer, die Handschellen immer noch fest an den Handgelenken des Mannes, den Kevin jetzt auf den Stuhl am Verhörtisch drückte. Dann langte er in die Innentaschen der Bomberjacke und beförderte den Geldbeutel ans Licht der kleinen Lampe, die das Zimmer nur spärlich erleuchtete. "Soso... Ulrich Richter. Geboren 1989 in Köln, wohnhaft ebenfalls in Köln.", las er aus dem Personalausweis vor, und Semir schrieb das ganze in einen Vordruck zur Anzeige. Als Kevin fertig war, klappte er den Geldbeutel zu und gab ihm einem Kollegen, der draussen an der Tür gerade vorbei ging. Er solle den Namen mal schnell durch den Computer jagen, um weitere Informationen über den Mann heraus zu bekommen. "Hey, Bulle. Verdienst du so wenig, dass du mir jetzt auch noch mein Geld klauen musst.", rief Ulrich Richter hinter Kevin her. Der Schein der Lampe brach sich an seinem kahlen Schädel.


    "So, Herr Richter. Sie haben also Spaß nachts im Wald auf vietnamesische Touristen einzuprügeln.", sagte Semir in aller Ruhe und lehnte sich im Stuhl ein wenig zurück. "Der Kerl hat uns provoziert. Wir haben ganz gemütlich am Ausgang der Tankstelle geraucht." Semir musste, ob der Unverfrorenheit grinsen. "Wie hat er sie denn provoziert?", fragte er, als würde er die Ausrede des Mannes erst einmal für bare Münze nehmen, was den Kerl kurzzeitig ein wenig verwirrte. "Na... er kam aus der Tankstelle, und hat mich weggestoßen. Dabei ist meine Kippe auf den Boden gefallen. Ich habe ihm hinterher gerufen, dass es hier in diesem Land üblich ist, sich zu entschuldigen." Dabei legte Ulrich die Hände mit den Handschellen auf den Tisch, als würde er sich wie ein kleiner Junge verteidigen. Für einen Moment sahen er und Semir sich schweigend an, und Semirs Lächeln wurde immer breiter. "Sie wollen mir jetzt also erzählen, dass ein Tourist, der auf dem Weg zu seiner Verwandtschaft in Deutschland ist, einen Schrank wie sie mit Absicht wegschubst, um sie zu provozieren?" Ulrich nickte heftig: "Jaja... genauso war es. Ich meine... diese Schl... diese Asiaten haben doch kein Benehmen."
    Semir protokollierte die Aussagen des Mannes, auch wenn er schon wusste, dass sie erstunken und erlogen waren. Kevin, der sich bisher im Hintergrund an der Wand gehalten hatte, ging jetzt an Semir und dem Tisch vorbei auf den Kerl zu und zog ihm die Bomberjacke ein wenig auseinander. "Hey Mann, Finger weg!", wollte der sich erst wehren. "Schlechte Fälschung. Du hast da ein P zuviel.", meinte der wortkarge Polizist und verzichtete auf das typische "Sie", das Semir meistens noch bei behielt. Ulrich presste die Lippen aufeinander. "Was ist denn dann passiert, nachdem sie von dem Opfer eine Entschuldigung verlangt haben?" "Na... er ging einfach weiter. Da habe ich ihn zur Rede stellen wollen. Er ist in den Wald gelaufen, und hat dort ein Messer gezückt, und dann habe ich mich gewehrt." Wenn die Sache nicht so traurig wäre, Kevin und Semir wären vermutlich ob der Geschichte gleich in Tränen ausgebrochen... vor Lachen. Besonders helle schien der Kerl nicht zu sein, den sie hier vor sich hatten. "Und den Baseballschläger hatten sie sicherheitshalber schon mal mitgenommen?", fragte der erfahrene Polizist und wieder schwieg Ulrich.


    Kevin wollte die ganze Sache abkürzen... ein strafmilderndes Geständnis erwarteten beide sowieso nicht. "Ich werd dir jetzt mal sagen, wie das für mich aussieht.", begann er und ging langsam, beinahe aufreizend lässig um den Mann herum. "Du erfüllst jedes Klischee einer rechtsradikalen Hohlbirne, wie ich sie seit meiner Jugend kenne. Das P in Lonsdale, die weißen Schnürsenkel in deinen Springerstiefel... und euer "Fidschi, Fidschi, gute Reise" ist auch nur in eurer Szene bekannt." Richter folgte dem jungen Polizisten mit seinen kalten Augen. "Ihr habt den Vietnamesen beobachtet, und wolltet ein wenig Spaß haben. Weil dieser Kerl die Frechheit hat, in einer deutschen Tankstelle deutsches Benzin zu tanken. Vielleicht hatte er sogar noch ein Bier gekauft, viel zu schade für einen Vietnamesen, hmm?" Kevins Stimme war dabei auffallend ruhig, und Semir versuchte, nicht zu lächeln. Sie hatten, ohne Absprache, die Rollen perfekt verteilt. Semir, der korrekte Polizist, der oberflächlich ein korrektes Verhör führte, und Kevin als Provokateur, der versuchte den Kerl jetzt aus der Reserve zu locken. "Das geht ja nicht. Also die Baseballschläger aus dem Auto genommen, und den Mann in den Wald gejagt. Dem Schlitzauge eine Lektion erteilt. So wars doch, oder?"
    Für einen Moment war es still im Raum, und man spürte wie von der gespielten Gelassenheit des Mannes wenig übrig blieb. Er verfluchte sich vermutlich gerade selbst dafür, dass er Kevin eben auf dem Parkplatz nicht den Schädel eingeschlagen hatte. "Das Schlitzauge hatte hier nichts zu suchen. Und ihr wisst nicht, mit wem ihr euch hier anlegt... du und dein Kümmeltürke.", giftete er in Kevins Richtung, der zufrieden lächelte. "Gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung, Beamtenbeleidigung, Tragen von verfassungsfeindlichen Kennzeichen.", zählte Semir auf und blickte dann nach oben. "Viel Spaß in unserer Unterkunft.", meinte er noch, bevor er einen Kollegen rief, der Ulrich Richter in die Zellen der PAST führte.

    Wald - 02:30 Uhr


    Sie konnten nun die Geräusche deutlich hören. Heiseres Hecheln, dumpfe Schläge, Rascheln auf dem Boden und lautes Schmerzensstöhnen. Auch ein zaghaftes, gebrochenes "Nein... nicht.", war zu hören, wurde aber sofort wieder von einem lauten "Fidschi, Fidschi, gute Reise.", übertönt. Die Lichtkegel der starken Taschenlampen, die Semir und Kevin in der Hand hielten, leuchteten immer noch einen geringen Teil des Waldes aus. Sie rannten, mussten aber immer wieder aufpassen, nicht mit Anlauf gegen einen Baum zu rennen. Unter ihnen raschelte das Unterholz, der Boden war vollständig mit nassen Laub bedeckt und Semir machte einmal Bekanntschaft mit dem Waldboden, als Kevin stehen blieb um sich zu orientieren, und sein Partner beim Bremsen auf dem feuchten Laub ausrutschte. "Brauchst du Gehhilfen?", flüsterte Kevin und packte den etwas älteren, aber immer noch unglaublich fitten Kommissar am Arm, um ihn wieder hoch zu ziehen. "Ich geb dir gleich Gehhilfen...", brummte der mit leichtem Keuchen.
    Kevin ließ den hellen Punkt der Lampe hin und her leuchten. Plötzlich war es ganz still im Wald, nur der leichte Regen war auf den wenigen Blättern zu hören, die sich mit letzter Kraft noch an den Ästen hielten. Doch bald würden sie auch dem Lauf der Natur nachgeben müssen, und sich ihrem Schicksal fügen. "Scheisse... haben die uns bemerkt?", flüsterte Semir. Sein Herz schlug gegen seinen Brustkorb und auch Kevin war es etwas mulmig zu Mute. Sie hatten bereits eine ordentliche Distanz zum Rastplatz zurückgelegt und standen nun im stockdunklen Wald, ohne große Orientierung, und versuchten irgendetwas aus der Entfernung zu hören. Grob sahen sie beide in die Richtung, in der sie die ganze Zeit gelaufen waren, doch je mehr sie sich konzentrierten, desto mehr fremde Geräusche vernahmen sie.


    "Hey... da...", sagte Kevin plötzlich, denn sie konnten nun wieder etwas lauter ein Stöhnen und ein Rascheln vernehmen. Eine Stimme in einer fremden Sprache versuchte ihren ganzen Schmerz auszudrücken, ein leises zaghaftes "Help... Hilfe..." war zu vernehmen. Die beiden Polizisten verfielen wieder in einen leichten Trab, die Lampen zum Boden gesenkt, um nicht auf einen Verletzten zu treten oder drüber zu fallen. "Nein... nein" Die Stimme war ganz nah, und offenbar hatte die Person Angst, dass der oder die Kerle zurückkamen, als sie das Rascheln vernahm. Jetzt geriet er in den Lichtkegel von Kevins Lampe, und der Mann, der dort am Boden lag, kniff die Augen zusammen... was ein reiner Reflex war, denn sehen konnte er nichts mehr. Beide Augen waren blau und zugeschwollen, aus seinem Mund sowie aus einer Platzwunde oberhalb der Schläfe sickerte Blut. Etwas unbeholfen, zitternd, hob er den Arm zur Abwehr, als Kevin näher kam. "Not beat... please... bitte.", stammelte er in einer Mischung aus Deutsch und Englisch. "Bleiben sie ganz ruhig. Wir sind von der Polizei. Police, you understand?", sagte Kevin leise und beugte sich zu ihm herunter. Das Wort Police schien er zu verstehen, und er senkte den Arm. Scheinbar war der Mann asiatischer Abstammung, was die beiden Polizisten jetzt auf den ersten Blick sehen konnten.
    "Wir müssen ihn hier rausbringen. Er braucht einen Arzt.", sagte Kevin und legte einen Arm des Mannes um seine Schulter. Semir tat es ihm auf der anderen Seite gleich, und zusammen schafften sie es, den Mann hoch auf seine Beine zu heben. "Wir müssen zuerst mal zum Rastplatz zurück. Dort können wir dann... hör mal."


    Semir verharrte, und das Rascheln schneller Füße war auf einmal ganz nah. Kevin leuchtete sofort mit der Lampe hin und her, und konnte an einem Baum vorbei eine Gestalt erkennen, die sich schnell entfernte. "Halt ihn fest, den schnapp ich mir.", sagte Kevin schnell und begann zu rennen. Semir wollte seinen jungen, manchmal etwas draufgängerischen Kollegen zurückhalten, doch nun hatte er erstmal damit zu tun, den rechten Weg heraus aus dem Wald zu finden.
    Immer wieder streifte der Kerl den Lichtkegel, immer wieder musste Kevin den Bäumen ausweichen. "Bleib stehen! Polizei!", schrie er, doch davon ließ sich der Flüchtende erst mal nicht aufhalten. Kevin fragte sich, warum er das eigentlich noch brüllte... bisher hatte es keinen der Flüchtenden zur Aufgabe bewegen können. Er merkte, dass er aufholte, und dass sie scheinbar zum Rastplatz zurückkehrten, denn er konnte die orangenen Lichter der Nachtbeleuchtung durch die Bäume schimmern sehen. Auch konnte er den Kerl jetzt deutlich vor sich sehen, und er überlegte bereits, dem Typ die schwere Taschenlampe an den Hinterkopf zu pfeffern, um ihn damit zu stoppen. Allerdings waren die Stimmen, die er eben hörte, mehr als nur eine... offenbar hatten sich die Kerle im Wald getrennt, damit wenigstens einer realistische Chancen hatte, zu entkommen. Die Leitplanke, die den Rastplatz vom Wald abtrennte, wurde endgültig zum Hindernis des Flüchtenden, denn er brauchte zu lange, um sich darüber hinweg zu wuchten. Kevin packte ihn an seiner Bomberjacke und beförderte ihn mit einem kräftigen Stoß auf den Asphalt.


    "So, jetzt ist Schluß mit dem Waldlauf.", keuchte der Polizist und sah nicht, was der Kerl unter seinem Körper begraben hatte. Schneller, als er über die Leitplanke gestiegen war, stand er wieder auf den Beinen und der Baseballschläger, der durch die Luft sauste, hätte ohne Weiteres Kevins Schädel zertrümmern können, oder ihm zumindest den Arm brechen. So musste die schwere Taschenlampe dran glauben, die von dem Schläger getroffen wurde und ihm hohen Bogen durch die Luft flog, bevor sie auf dem Asphalt niederfiel. Freilich, die Lampe funktionierte weiterhin, denn über MacLites konnte man mit einem LKW fahren, ohne dass sie Schaden nahmen. So war sie der perfekte Puffer, um Kevins Arm zu schonen. Auf den zweiten Schlag war er vorbereitet und wich aus, vorbereitet darauf, dass Kevin ein ausgebildeter Kampfsportler war, war der Kerl dagegen nicht.
    Die kalt blickenden Augen aus seinem kahlen Schädel staunten, als der Polizist die mangelhafte Deckung seines Gegners sofort nutzte. Der Baseballschläger nahm die gleiche Flugkurve wieder die Taschenlampe vorher, nur dass er nicht von einem anderen Schläger, sondern von Kevins Schuhen in die Umlaufbahn befördert wurde. Den Schmerz auf der Handfläche konnte der Typ gar nicht mehr genießen, zu schnell fuhr Kevins Knie ihm in den Magen, woraufhin er sich nach vorne beugte. Die Übung, die Kevin von Semirs Ex-Partner André beigebracht bekommen hatte, war erst zu Ende als Kevins Verse mit Wucht auf dem Rücken des nach vorne gebeugten Kerls herunter sauste, was ihn endgültig k.o. gehen ließ. Er packte einen Arm, riss ihn auf den Rücken und schon klickte die silberne 8, wie er seine Handschellen öfters nannte, mit dem anderen Arm zusammen. "Die Reise wirst du wohl antreten müssen, du Arschloch.", sagte er voller Abscheu und riss den Kerl auf seine Beine.


    Er erfüllte jedes Klischee, das man einem Neo-Nazi wohl anrechnen würde. Zu seinen Springerstiefel, szenetypisch mit weißen Schnürsenkeln, gesellte sich eine nun schmutzige Hose und eine Bomberjacke. Darunter ein Pullover der Marke Lonsadale, die in diesen Kreisen eine ungewollte Szenemarke war. Allerdings war es kein Original, sondern eine Fälschung der ganzen skrupellosen Art, denn statt dem Schriftzug Lonsdale stand dort LoNSDAPle. Sein Kopf war kahl geschoren... wie gesagt, jedes Klischee wurde erfüllt. Kevin hatte nicht nur in seinem Beruf, sondern auch in seiner Jugend oft genug Auseinandersetzungen mit der rechten Szene. Damals stand er auf der komplett gegenüberliegenden Seite.
    Der Kerl musste sich erstmal erholen, Kevins Tritt in den Magen ließ in ihm einen Brechreiz anschwellen, den er gerne mit Bier beruhigt hätte. Währenddessen rief Kevin mehrmals Semirs Namen in den Wald, um ihm eine Orientierungshilfe zu geben, und es dauerte nur wenige Minuten bis Semir mit dem verletzten Mann im Arm im Licht der Straßenlaternen erschien. "Gute Arbeit.", sagte er anerkennend, als er sah dass sein junger Partner den Kerl bereits verschnürt hatte. Zusammen schubsten sie den offensichtlichen Rechtsradikalen zu ihrem BMW, wo sie ihn an den Obergriff ketteten, und über Funk schnellstmöglich einen Rettungswagen anforderten.

    Dienststelle - 02:00 Uhr


    Die Nachtschicht gehörte nicht unbedingt zu den beliebtesten Schichten der Beamten. Sie war meistens sehr ereignislos, dementsprechend langweilig, und sie brachte den Schlafryhtmus sowie das soziale Leben, sofern man eins hatte, durcheinander. Kevin und Semir waren diese Art der Arbeit überhaupt nicht mehr gewohnt, denn Kripo-Beamte im Zivildienst hatten keinen Schichtdienst mehr. Sie arbeiteten normalerweise 8 Stunden am Tag, was die Autobahnpolizisten allerdings eh niemals einhielten, wenn sie gerade in einen bestimmten Fall verwickelt waren. Doch jetzt mussten sie ebenfalls in den Schichtdienst, weil der Dienststelle das Personal langsam ausging. Bonrath war in Urlaub, einige Beamte hatten die typische Spätherbst-Grippe, Ben war noch bis Montag ausser Gefecht.
    Die Dienststelle war nur spärlich besetzt. Einige Beamte waren im Funkraum, um den Kontakt zu den Kollegen auf der Autobahn aufrecht zu erhalten. Semir und Kevin hatten in gewisser Weise eine Sonderstellung, sie fuhren alle Stunde eine Streife über ihren Abschnitt und waren die restliche Zeit im Büro. Semir hatte noch ein wenig liegengebliebene Arbeit aufzuholen, die während seiner Abwesenheit, als Ayda im Koma lag, nicht bearbeitet wurde. Er war froh, wieder arbeiten zu können, sich von den schlimmen Ereignissen etwas ablenken zu können... und vor allem war er froh, seinen Job überhaupt noch zu haben. Es hatte einige Fragen gegeben nach dem Hergang der Verhaftung, bzw der versuchten Verhaftung der Koma-Entführer, die allesamt ums Leben gekommen waren. Vor allem gerieten er und seine beiden Kollegen in den Verdacht, den bereits festgenommenen Zange zur Flucht verholfen zu haben, doch auch diesen Kopf konnten die drei aus der Schlinge ziehen, in dem sie sich gegenseitig deckten. Cablonsky hatte Geld gefordert, keinen Gefangenenaustausch, und Zange sei von sich aus geflohen.


    Semir ließ die Geschehnisse hin und wieder Revue passieren, während seine Finger über die Tastatur flitzten, während sein junger Kollege Kevin ihm gegenüber saß, die Beine verschränkt auf den Schreibtisch gelegt und die Hände hinter dem Kopf. Eine optimale Schlafposition für den Polizisten, doch seine Augen waren auf das Schwarz hinter der großen Glasfront ihres Büros gerichtet. Kevin hatte ein weiteres Erlebnis während des Komakinder-Falls aus der Bahn geworfen, mit dem er immer noch zu kämpfen hatte. Ein Mädchen konnten er und Ben aus einem brennenden Gebäude nicht mehr retten, es verbrannte. Wieder gab der Polizist sich schwere Schuldgefühlen hin, die ihn abermals zu Drogen greifen ließen. Doch diesmal blieb sein Geheimnis nicht unentdeckt, denn Jenny, mit der er eine Beziehung hatte, kam hinter die Geschichte. Sie fing ihn auf, statt ihn auf zu geben, was Kevin ihr vermutlich nicht mal verübelt hätte. Sie versuchte ihn zu stützen, ihm zu helfen und mittlerweile war er bei ihr eingezogen, nachdem er einige Monate bei seiner Ziehmutter Kalle gewohnt hatte.
    Jenny hatte ein wenig Befürchtung, mit der Situation nicht klar zu kommen. Manchmal fühlte sie sich auch hilflos, wenn sie spürte, dass Kevins Stimmungsschwankungen in Extreme fielen, die sie nicht kontrollieren konnte, und wenn sie merkte, dass er etwas genommen hatte. Sie hatte sich geschworen, ihn zu beobachten, aufzupassen, dass er nicht vollends abrutschte, doch wenn sie ein Gefühl hatte, er könnte etwas genommen haben, fehlte ihr manchmal der Mut, ihn darauf anzusprechen. Sie hatte Angst, etwas zu zerbrechen, was sich gerade langsam zwischen ihnen entwickelte. Die junge Polizistin begann ein Tagebuch zu schreiben, was fast ausschließlich von Kevin handelte, und sie verglich ihn in diesem Buch mit einem Straßenkater, den sie bei sich zu Hause aufgenommen hatte.
    Manchmal schrieb sie Sätze wie: "Heute war er sehr zutraulich, er hat gelacht, er war zufrieden.", als würde sie von einem Haustier schreiben, statt ihn klaren Worten über den geheimnisvollen Mann, der bei ihr lebte. Manchmal schrieb sie aber auch: "Kam heute nicht aus seiner Hölle, fauchte wenn ich ihm zu nahe kam.", wenn Kevin einen seiner "schlechten" Tage hatte, wenn er unnahbar schien und nur einsilbige Antworten gab. Jenny war noch nicht dahinter gekommen, was bei Kevin gute und schlechte Tage auslöste... ein Gedanke, ein Traum, eine Erinnerung? Dass er manchmal schweißgebadet neben ihr erwachte, dass sie davon auch jedes Mal erschrak und ihn dann geduldig in den Arm nahm, bis sie beide wieder eingeschlafen waren, war mittlerweile Normalität für sie, an die sie sich aber immer noch nicht gewöhnt hatte.


    "Wollen wir fahren?", fragte der junge Polizist mit seiner, manchmal monoton klingenden Stimme. "Wir waren doch gerade erst weg.", bekam er zur Antwort und Semir sah auf die Uhr. Der Minutenzeiger hatte es heute besonders uneilig, verharrte er doch jetzt bereits seit gefühlten Stunden im Bereich zwischen der 4 und der 7, während der Stundenzeiger es sich genau zwischen der 2 und 3 bequem gemacht hatte. "Ich weiß, aber hier kriege ich gleich nen Lagerkoller." Kevin stand auf, rückte seine Kapuzenweste kurz zurecht, und tigerte dann ein wenig durch das Büro. Semir musste grinsen, sein Ex-Kollege André war ebenfalls ein so ruheloser Pol, der niemals still sitzen konnte und für den es nichts Schlimmeres gab, als stundenlange Observationen. Tom oder Chris hatten damit eher weniger Probleme.
    "Na gut...", meinte Semir, erhob sich von seinem Stuhl und warf sich seine Lederjacke mit Fell um. Draußen war es nachts bereits unangenehm kalt, und die Temperaturen pendelten um den Gefrierpunkt. "Lass uns nen kleinen Abstecher zur Raststätte machen. Unser Kaffee ist eh alle.", schlug er vor, während Kevin seinen schwarzen Mantel anzog, in dem er eher aussah, wie ein Heavy-Metal-Fan auf einem Konzert, als ein Polizist. Draussen bildeten sich beim Ausatmen ein Kondensdampf vor den beiden Polizisten, und die Wolken hatten Platz gemacht für einen klaren Sternenhimmel, der auch beeindruckende Kälte mit sich brachte. Semir drehte in seinem modernen BMW sofort die Sitzheizung und die Heizug für sein Lenkrad nach oben, während Kevin ebenfalls die Heizung auf seiner Seite einschaltete.


    Die Lichtkegel der Xenon-Lichter des BMWs durchschnitten die Schwärze der Nacht wie ein Schwert und erhellten genug, dass man ohne große Anstrengung die dunkle Autobahn entlang fahren konnte. Kevin fühlte sich in gewisser Weise zu Hause, jetzt wo er endlich bei der Autobahnpolizei fest angestellt war. So oft hatte er in den letzten Monaten die Dienststelle gewechselt, war gefeuert wurden, suspendiert, wieder eingestellt. Und trotzdem hatte er immer wieder mit Semir und Ben zusammen gearbeitet, hatte ihnen Geheimnisse anvertraut, ist für sie in die Bresche gesprungen und spürte, was Freundschaft wirklich bedeutet. Er wurde von Anna Engelhardt geschützt, er wurde von Hotte unterstützt und er hat in Jenny eine Frau gefunden, die ihn scheinbar mit all seinen Macken und Schwächen akzeptierte. Es fühlte sich an, als wäre er schon länger ein Teil dieser Truppe, doch erst jetzt war es auch offiziell auf dem Papier so.
    "Wie ging es Ayda heute so?", fragte der Polizist, während die getrennten Mittelstreifen im Zehntelsekunden-Takt an ihnen vorbei flogen. Semir wankte ein wenig mit dem Kopf, als müsse er überlegen ob es ein positiver, oder eher ein negativer Tag war: "Es geht so. Sie hatte heute viel gesprochen und nur ganz wenig Aussetzer gehabt. Dafür konnte sie sich beim Mensch-ärgere-dich-spielen aber dreimal nicht mehr genau erinnern, welche Farbe jetzt ihre Farbe war. Es ist sehr schwierig." "Ja, das kann ich mir gut vorstellen.", stimmte Kevin ihm zu, während einige Schilder die Raststätte bereits ankündigten. "Es ist auch so unbeständig. Du redest mit ihr, du spielst mit ihr und nach 3 Stunden denkst du, hey... es ist überstanden. Es ist alles wieder normal." Für einen kurzen Moment hielt er inne, bevor er fortfuhr. "Und dann... mit einem Mal fällt das Kartenhaus wieder zusammen, als sie redet, und ihr ein einfaches Wort wie "Wasser" oder "Glas" nicht mehr einfällt."


    Der Rastplatz war hell erleuchtet, die Gaststätte, die direkt an die Tankstelle grenzte hatte sowieso 24 Stunden am Tag geöffnet. Weiter hinten standen einige große LKWs, die allesamt die Vorhänge zugezogen hatten, Fahrer schliefen dort, weil sie wohl morgen sehr früh wieder aufbrachen um Tiefkühlpizzas und Schrauben für Windkraftanlagen ans andere Ende Deutschlands transportieren mussten. Auf dem PKW-Parkplatz war besonders viel Licht, um den Fahrern einen gefahrlosen Gang zum Eingang der Raststätte zu gewährleisten. Als die beiden Polizisten ausgestiegen waren und sich über den Asphalt in Richtung des wärmenden Gebäudes bewegten, konnte Kevin etwas hören. Es kam aus Richtung des Waldes, der direkt am Gelände des Rastplatzes angrenzte. Ein Stöhnen, ein Rufen, beinahe ein Johlen, das weit am Ende des Geländes, vielleicht sogar innerhalb des Waldes sich abspielte. Immer wieder dazwischen gab es ein Schlaggeräusch, und das Stöhnen wurde von einem kurzen Schrei unterbrochen.
    "Hast du das gehört?", fragte Kevin und hielt Semir am Jackenärmel fest. Der blieb stehen und hörte nun auch angestrengt und konzentriert, drehte sich dann wie Kevin auch instinktiv in Richtung des angrenzenden Waldes. "Da ruft jemand?" "Komm mit...", sagte der junge Polizist, und beide Männer gingen in Richtung der klaffenden Dunkelheit, nachdem sie sich die schweren MagLite-Taschenlampen aus dem Auto geholt hatten. Als sie sich dem Wald näherten, wurde das Rufen deutlicher, und Kevin bekam eine leichte Gänsehaut als er klar vernehmen konnte: "Fidschi, Fidschi, gute Reise." Er kannte diese Parole, und seine Schritte wurden schneller.

    Friedhof - 14:00 Uhr


    Wenn ein Leben endet, nimmt der liebe Gott eine Seele von der menschlichen Welt hinauf in den Himmel. Heute schien es so, als würde die Seele des verstorbenen Polizisten, der im Einsatz sein Leben riskiert und verloren hatte, durch mehrere Schichten Wolken nach oben zum Schöpfer steigen. Bei der Beerdigung, bei dem fast die komplette Dienstgruppe der Cobra 11 - Dienststelle, teilweise in Uniform, teilweise in schwarzen Mänteln, am Grab stand, zeigte sich das Herbstwetter von seiner möglichst unbequemen Seite. Der Wind, der durch die beinahe bereits kahlen Äste pfiff war lausig kalt, immer wieder spürten Semir und Kevin, die bei Anna Engelhardt und Jenny Dorn standen, leichte Regentropfen auf ihrem Gesicht.
    Die Chefin hielt als erstes eine kurze Rede, in der sie die lange und enge Zusammenarbeit betonte, und herausstrich, wie schwer der Verlust des Kollegen doch war. Tröstlich alleine war, dass er nicht umsonst gestorben war, denn er hatte einem jungen Mädchen das Leben gerettet, und dafür mit seinem eigenen Leben bezahlt. Die Rede rührte einige der Trauergäste zu Tränen, und der Chefin war es dann auch überlassen als erstes ein Schippchen Erde hinunter auf den hellbraunen Sarg zu werfen, während der Wind an ihrem schwarzen Mantel zerrte. Bernhard Zetterer war fast 20 Jahre bei der Autobahnpolizei gewesen, und wäre in 5 Jahren in den Ruhestand getreten. Eigentlich sollte er nur noch Innendienst absolvieren, doch eine Krankheitswelle, Bens Ausfall und ein Amokfahrer auf der Autobahn zwangen ihn, noch einmal in ein Auto zu steigen. Das Drama nahm seinen Lauf. Bei der ersten Unfallstelle, die durch den Amokfahrer verursacht wurde, war ein junges Mädchen in einem der Wracks eingeklemmt. In letzter Sekunde befreite Bernhard das Mädchen unter Einsatz seines Lebens, denn der Amokfahrer hatte auf der Autobahn gewendet und raste in die Unfallstelle, von der der Polizist nicht schnell genug flüchten konnte...


    Semir sah nach unten in das Loch, und wie bei jeder Beerdigung sprangen die Schatten über ihn herein. Er kannte Bernhard, wie er jeden Kollegen der Dienststelle kannte, und natürlich tat es immer weh, einen Kollegen im Dienst zu verlieren. Doch jedes Mal, bei jeder Beerdigung, egal ob jemand im Dienst oder ein bereits pensionierter Kollege an einem Herzinfakt, Krebs oder Altersschwäche starb... jedes Mal fielen Semir die Gedanken der drei schlimmsten Beerdigungen, die er überstehen musste, über ihm zusammen. Die Beerdigungen seiner Partner Chris und Tom, und natürlich die von André, obwohl dieser auf Mallorca nur verschollen war. Doch weil bei der Polizei keinerlei Hoffnung mehr herrschte, setzte Semir durch, dass man für ihn ein symbolisches Grab setzte, damit seine Kollegen von Ihm Abschied nehmen konnten. Doch André lebte, und das Grab war mittlerweile verschwunden.
    Um ein Haar hätte Semir vor einigen Wochen seinen vierten Partner auf ähnliche Art verloren. Ben hatte ebenfalls sein Leben riskiert, um das von Semirs Tochter zu retten. Ayda lag im Koma, ins Koma gespritzt von einem irren Arzt, dessen Helfer das letzte Gegenmittel hatte. Bei einer Schiesserei in einem baufälligen Krankenhaus verließ der Polizist seine Deckung, um das weggeworfene Mittel zu sichern, wobei er von einer Kugel in den Brustbereich getroffen wurde. Mit letzter Kraft schafften Semir und Kevin ihren besten Freund ins Krankenhaus, und während Semir mit dem Mittel seine Tochter rettete, musste Kevin mitansehen, wie Ben auf dem Weg in den OP das Bewusstsein verlor. Der Arzt machte Kevin nur minimale Hoffnung, nachdem er die Schusswunde, den Bereich der Wunde und das Symptom, das Ben Blut erbrochen hatte, einsetzte, dass Ben diese Verletzung überleben würde. Diese düsteren Aussichten musste Kevin Semir dann überbringen, als dieser zum OP-Saal gehetzt kam, in der Hoffnung, freudenstrahlend zu erzählen, dass sie Ayda knapp gerettet hatten...


    Doch Ben hatte einen Schutzengel. Nicht nur einen... eine ganze Armee. Die Kugel war nicht, wie erst gedacht, in die Lunge eingetreten, sondern traf exakt einen der Rippenbögen, die nunmal dafür da waren, die inneren lebenswichtigen Organe zu schützen. Diese Rippe brach, und bohrte sich in einen Lungenflügel, was das Blut in der Lunge erklärte. Der Perforation war aber gering und konnte operativ versorgt werden, während die Kugel am Rippenbogen ins Muskelgewebe abgelenkt und dort stecken blieb. Der Arzt versicherte den Beamten nach der Operation, dass man einem Menschen wohl 100 Mal auf exakt diese Stelle schiessen könnte, und in 99 Fällen würde die Rippe die Kugel nicht ablenken. "Herr Jäger kann ab jetzt zwei Mal Geburtstag feiern.", sagte er noch mit einem sanften Lächeln, während von den Seelen der beiden Polizisten zentnerschwere Gesteinsbrocken herabfielen. Ihr bester Freund würde in zwei Tagen das Krankenhaus verlassen können, und wollte sofort wieder arbeiten.
    "Ich drehe hier durch, Semir. Ich kann diese weißen Wände nicht mehr sehen.", hatte er zu seinem Partner gesagt. Er vertrieb sich die Zeit entweder damit, Zeitschriften zu lesen, die er bereits auswendig kannte, oder er war bei Ayda im Zimmer, spielte mit ihr Mensch-ärgere-dich-nicht oder Mau-Mau. Er entlastete damit Andrea, die nach mehreren Tagen endlich mal wieder für einige Stunden nach Hause konnte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Trotzdem wollte Ben so schnell wie möglich wieder arbeiten, mit Semir und mit Kevin, der endlich fest in das Team der Autobahnpolizei integriert wurde.


    Auf den ersten Blick schien Ayda das Koma unbeschadet überstanden zu haben. Nach dem Verabreichen des Gegenmittels, begann sie schnell wieder selbstständig zu atmen, und je mehr das Gift in ihrem Organismus verdrängt wurde, desto eher wurden ihre Körperfunktionen wieder normal. Einige Stunden später wachte sie, wie nach einem Dornröschenschlaf auf und war verwundert, wo sie sich befand. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich orientieren konnte, ihr war noch schlecht und sie fühlte sich erschöpft, wie nach einer schweren Grippe. Alles normale Symptome nach mehreren Tagen Koma, sagte der Arzt.
    Doch dass ihr Gehirn die lange Zeit des Dämmerschlafes nicht ganz unbeschadet überstanden hatte, zeigte sich erst nach einigen Tagen, und einigen Tests. Ayda begann hin und wieder zu stottern, was sie selbst sehr verwirrte. Sie hatte früh geredet und geplappert, unterhielt sich gerne auch mit Erwachsenen und hatte, laut ihrer Lehrerin, einen für ihr Alter bereits sehr ausgeprägten Wortschatz. Nun fielen ihr einige einfache Wörter mitten im Satz nicht mehr ein, so dass sie danach suchen musste, als wären die Worte nicht mehr in der gleichen Schublade in ihrem Kopf wie zuvor. Sie unterbrach ihren Redefluss dann, zuerst verzweifelt und verwirrt. Mittlerweile, nach einigen Tests und Gesprächen mit dem Arzt und ihrem Vater, wusste sie, dass es mit dem langen Schlaf zu tun hatte. Jetzt hob sie immer die Hand, wenn ihr ein Wort nicht einfiel, und Semir, Andrea oder Ben warteten so lange, bis sie das Wort gefunden hatte und weiterredete. Auch hatte sie erhebliche Konzentrationsmängel, so dass sie beim Memory spielen manchmal in zwei oder drei Zügen hintereinander die gleichen ungleichen Karten aufdeckte, wie in der Runde zuvor, weil sie sich nicht konzentrierte und sich merkte, welche Karten sie gerade aufgedeckt hatte. "Mit gewissen Übungen, und Training kommen die Fähigkeiten wieder zurück.", hatte der Arzt gesagt, und verwies auf einen guten Logopäden in der Stadt.


    Auch wenn dies ein Einschnitt in Aydas Leben war, so waren ihre Eltern dennoch froh, dass das schreckliche Abenteuer um ihre Tochter ein versöhnliches Ende gefunden hatte, nachdem sie eines der Komakinder wurde. Die Gangster, die für diesen Fall verantwortlich waren, waren allesamt tot... der Arzt erschossen von seinem Kumpanen, der die Entführungen plante, dieser und dessen Handlanger kamen bei der Festnahme und der anfolgenden Schiesserei ums Leben. Semir, Ben und Kevin sollten noch gehörigen Ärger vom LKA bekommen, da sie gegen deren Einwilligung ermittelt hatten, doch die Chefin spannte einen Schutzschirm über ihre Beamten... auch wenn die ihre Vorgesetzte nicht eingeweiht hatten, was Zanges Befreigungsaktion anbelangte.
    Trotzdem nahm die Chefin die Strafen auf sich, die da hießen: Disziplinarverfahren und ein Beförderungsverbot für 5 Jahre. Anna Engelhardt würde nicht mehr befördert werden, bis zu ihrer Pensionierung. "Sie glauben gar nicht, wie egal mir das ist, wenn wir im Gegenzug dazu Kindern das Leben gerettet haben.", sagte sie voll Souveränität dem Polizeipräsidenten ins Gesicht. Jetzt stand sie am Grab eines ihrer Mitarbeiter, ihr Gesicht sah älter, faltiger aus als noch vor einigen Tagen, und sie hielt mit einer Hand den Mantel geschlossen, an dem der kalte Wind zerrte...

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    @Yon

    Ihr, bzw die Ein oder andere haben mir einfachleid getan ;) :D. Ausserdem ist es wirklich gemein, weils nächste Woche erst weiter geht.

    Und deswegen auch der Spoiler... Wer weiter gespannt sein will, guckt nicht rein.

    Habs gut gemeint :whistling:

    Wer es nicht abwarten kann, soll im Spoiler lesen (und bitte auch im Spoiler antworten)

    Spoiler anzeigen

    Wollte ja eigentlich bis zum nächsten Kapitel warten, aber eure Angstzustände rauben mir den Schlaf :D . Ben wird nicht sterben, und weiter Bestandteil in meinen Storys sein. Mit "mit der Zeit gehen" meinte ich natürlich, dass ich auch mal ein paar fiese Cliffhanger einbauen will, wie in der realen Serie :whistling:

    Und Nein, ich entscheide mich nicht kurzfristig um, um meinen Feedern nach dem Geschmack zu schreiben, sondern das war von Anfang an geplant. Hätte ich wirklich vor einen der Hauptcharas aus "meinem" Serien-Universum zu schreiben, hätte ich die Story komplett danach ausgerichtet, vor allem mit den ganzen Emotionalitäten danach. Und warum Alex und Kevin zwar interessant, aber schwierig wären, habe ich ja schon mal geschrieben, und hat auch silli oder Schlumpf richtig erkannt.

    Also keine Bange: Das Trio bleibt (erstmal :D ) bestehen

    Sonnige Grüsse aus Sa Coma :saint:

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    Ich hoffe, das letzte Kapitel schlägt nicht so vielen auf den Magen... aber.... wie soll ich sagen... irgendwann muss man ja auch mit der Zeit gehen, nicht wahr?

    Jedenfalls danke für eure ganzen Feedbacks und mit welchem Interesse ihr meine Storys verfolgt. Ich hoffe, ihr werdet mit den nächsten Storys auch weiterhin so viel Spaß haben, allerdings verabschiede ich mich erstmal in einen einwöchigen Urlaub nach Mallorca, um Kraft und Ideen zu tanken.

    Krankenhaus / Dienstwagen - 12:20 Uhr


    Minuten kamen Andrea vor wie Stunden. Die Ärzte hatten die Mutter wieder zu Ayda gelassen, sie hielt die Hand des kleinen Mädchens die sich eiskalt anfühlte. Ihre Tochter war blasser als noch vor einigen Stunden, oder bildete Andrea sich das nur ein. Ach, wenn Semir doch wieder da wäre, mit oder ohne Gegenmittel, hauptsache er wäre jetzt da und könnte Andrea unterstützen. Doch sie wusste nicht, was ihr Mann gerade durchmachte, er wusste nicht, was Andrea gerade durchmachte. Beide durchlebten parallel einen Alptraum, der scheinbar kein Ende zu haben scheint, einen Alptraum wie Semir ihn in den letzten Tagen mehrmals in seinem Haus geträumt hatte.
    Gerade wollte sich die Mutter wieder etwas beruhigen, als das Diagnosegerät erneut begann zu piepen und wild zu blinken. Anna Engelhardt, die sich auf die Zurechnungsfähigkeit ihrer Sekretärin nicht mehr verlassen wollte, griff sofort und geistesgegenwärtig zum Notfallknopf und es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Tür erneut von einigen Helfern aufgestoßen wurde und einer der beiden Ärzte mit zwei Krankenschwestern hereingestürmt kamen. Wieder legte die Chefin die Hände sanft um die Schultern Andrea's, um sie, mit leiser Stimme, von Ayda weg zu holen und den Ärzten Platz zu machen. "Kammerflimmern!", war das Wort des Arztes, das sich tief in Andrea's Gehirn einbrannte, und sie wohl in den nächsten Nächten noch lange verfolgen wird. Die Arzthelferin bereitete den Defibrillator vor, während der Arzt mit einer Herzmassage begann. "Bringen sie die Mutter hier raus!", sagte er zu einer jungen Krankenschwester, die mehr im Weg zu stehen schien und sich nun an Andrea und die Chefin wandte. "Kommen sie... warten sie bitte auf dem Flur.", sagte sie und fasste Andrea sanft am Arm, die sich sofort wütend abschüttelte. "Ich bleibe bei meinem Kind!! Sie können mich nicht einfach rauswerfen!!", schrie sie, bevor sie wieder von einem Weinkrampf ergriffen wurde, als Aydas kleiner Körper von dem Wiederbelebungsgerät erfasst wurde und schlaff zurücksank. Das Piepsen wurde wieder regelmäßiger, bevor es erneut begann, zu stolpern.


    Geschwindigkeitsbeschränkungen interessierten Semir nicht mehr, rote Ampeln in der Innenstadt schon gar nicht. Er hatte so unendlich viele Verfolgungsfahrten erlebt, unendlich mal ist er selbst gejagt worden... aber er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so sehr ohne Rücksicht auf Verluste gefahren war, als heute. Jede Ausweichaktion glich einem Harakiri, ohne zu bremsen fegte er über eine vielbefahrene Stadtstraße. Seine Tochter lag im Sterben und konnte nur durch das Gegengift in dieser Ampulle gerettet werden und hinter ihm lag sein bester Freund mit einer Kugel im Körper quer auf zwei Sitzen. Semir konnte sein Stöhnen hören, er konnte hören wie sein Atmen immer schneller, immer schnapphafter klang.
    Kevin hatte seine Weste fest auf die Wunde gedrückt, um zumindest zu verhindern, dass Ben verblutete. Jeder Atemzug fiel dem Beamten schwer, jeder Atemzug fühlte sich an, als würde man ihm ein Messer in die Lunge rammen. Aber das Fläschchen hielt er immer noch mit seiner blutverschmierten Hand fest umklammert. Wenn er damit Ayda retten würde, dann war es ihm das wert. Er hoffte, dass er Semir das noch sagen könnte, er hoffte dass er noch mitbekommen würde, ob Ayda wieder wach wurde oder nicht. Immer wieder fiel sein Kopf zur Seite, wollten seine Augenlider zufallen. Er fühlte sich müde, das Atmen war so anstrengend und am liebsten wollte er einfach damit aufhören... einfach aufhören. "Bleib wach, Junge.", sagte Kevin immer wieder, wenn er endlich einschlafen wollte und wackelte kurz an Bens Kopf. Immer wieder wechselte das Auto seine Richtung, wenn Semir eine Abzweigung nahm, Ben konnte zwischen den Vordersitzen aus der Frontscheibe immer mal sehen, wenn sein Partner wild am Lenkrad kurbelte. "Semir...", sagte er keuchend und griff nach dem rechten Arm seines Partners. "Ben halt durch... wir schaffen es.", sagte der erfahrene Polizist. "Du musst Ayda retten... du... du musst deine Tochter retten.", sagte Ben leise.


    Andrea war endgültig zusammengebrochen. Sie konnte sich nicht mehr wehren, sie konnte nicht mehr hinsehen... sie war einfach zu schwach für alles, was auf sie einprasselte. Der Arzt schickte sie nicht mehr raus, nachdem sie einigen Abstand vom Bett genommen hatte und er ausserdem einen verbalen Einlauf von Frau Engelhardt erhalten hatte. Gerade musste er nochmal den Defibrillator bei Ayda einsetzen, einmal, zweimal, bevor sich das wilde Piepsen wieder zu einem regelmäßigen Ton geändert hatte. "Wir können das nicht die ganze Zeit so weitermachen.", stöhnte der Arzt, der Ayda natürlich nicht aufgeben wollte aber irgendwann würde ihr junger Körper das nicht mehr mitmachen.
    Die Chefin hatte Andrea weiter im Arm und sie spürte, dass die unangenehme Wahrheit irgendwann heraus musste. "Andrea... es tut mir unendlich leid, aber wir müssen jetzt entscheiden, was passiert. Die Ärzte können Ayda nicht ewig künstlich am Leben halten." Was meinte sie damit, fragte Andrea sich für einen Moment. Sie konnte doch nicht einfach entscheiden, ob sie Ayda sterben lassen sollten... ohne Semir. Das durfte einfach nicht passieren. Sie mussten sie hier behalten, sie mussten ihre kleine Tochter retten. Andrea war nicht fähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen und blickte herum. Der Blick auf ihre kleine Tochter brach ihr beinahe das Herz.
    Als das Telefon der Chefin klingelte, drehte sich einer der Arzthelfer herum: "Sind sie wahnsinnig? Hier sind Mobiltelefone verboten!", zischte er und die Chefin machte eine abwehrende Handbewegung und hob ab: "Herzberger, was gibts?" "Semir ist uns gerade entgegen gekommen, mit Blaulicht und Vollgas. Es kann nur noch Minuten dauern.", gab der dicke Polizist durch, während im Hintergrund Quietschgeräusche zu hören waren, weil Bonrath den großen Porsche Cayenne wendete. "Danke Herzberger.", sagte die Chefin und legte sofort auf. "Semir wird gleich hier sein. Er hat es bestimmt geschafft. Ayda wird nicht sterben.", sagte sie voll Überzeugung zu Andrea.


    An der Einfahrt zum Krankenhaus nahm Semir einem Audi die Vorfahrt und brauste links am Krankenhaus vorbei, wo sonst nur Zugang für Rettungswagen war. Die Schranke, die die Fahrer der RTWs öffnen und schließen konnten, hielt ihn auch nicht auf, sie zersplitterte in ihre Einzelteile. An der Pforte, wo man sofort zur Intensivstadion gelangte, hielt Semir mit quietschenden Reifen an. "Wir brauchen sofort einen Arzt!!", schrie er laut, nachdem er aus dem Auto gesprungen war und die Tür aufgerissen hatte. Dann rannte er zurück zum Wagen, wo Kevin bereits dabei war, Ben aus dem Auto zu helfen. "Hier Semir... schnell... rette Ayda.", sagte Ben und öffnete erst jetzt die Hand mit dem Glasfläschchen darin. Semirs Atem überschlug sich, er fühlte sich von zwei Mächten hin und her gerissen. "Lauf schon, ich bleib bei Ben.", bekräftigte auch Kevin seinen Partner. Aber Semir hatte plötzlich Angst... Angst davor, Ben nicht lebend wieder zu sehen. "Ich... ich kann dich doch jetzt nicht alleine lassen.", stammelte er, doch plötzlich erwachten in Ben ungeahnte Kräfte, als er mit einer Hand und schmerzverzerrtem Gesicht seinen Partner am Kragen packte. "Und ich sage, du rennst sofort hoch zu deiner Tochter! Sonst mache ich es selbst! Na los!!", sagte er deutlich mit zusammengebissenen Zähnen. Semir nickte... Ben hatte sein Leben riskiert, um Ayda zu retten... und er wollte nicht, dass es umsonst war. "Danke, Partner.", sagte der erfahrene Polizist und drückte Ben einen Kuss auf die Wange, bevor er sich umdrehte und im Sprint durch die Tür raste. "Er muss es schaffen, Kevin...", sagte Ben leise, als ihn zwei Sanitäter langsam auf eine Bahre legten. Das letzte, was Ben zu ihm einige Minuten später auf dem Weg in den OP war, bevor er das Bewusstsein verlor, war: "Wir haben... es geschafft?" Kevin wusste nicht, ob es eine Aussage oder eine Frage war, aber er geriet in Panik, als Bens Kopf zur Seite fiel.


    Der Weg erschien ihm unglaublich lange... da ein Flur, eine Abzweigung, Treppen nach oben, nochmal eine Abzweigung, und nochmal ein langer Flur. Semir hatte Ausdauer für drei beim Laufen, und so schnell rannte ihm keiner davon. Aber jetzt saß ihm der schlimmste Feind im Nacken, den er sich vorstellen konnte... die Angst. Die Angst um seine Tochter, die Angst um sein Kind. Eine Krankenschwester sprang zur Seite, um vom Kommissaren nicht über den Haufen gerannt zu werden, und endlich war er an dem Zimmer seiner Tochter angekommen. Der Polizist drückte die Tür auf und erblickte zuerst seine zusammengesunkene, von der Chefin gehaltene Frau, die jetzt hoffnungsvoll aufblickte, als die Tür sich öffnete. Dann sah er auf das Bett, um das Ärzte und Krankenschwestern standen, an seiner Tochter arbeitend, den Defibrillator in der Hand. Für einen Moment dachte Semir, dass er zu spät sei. "Hier! Spritzen sie ihr das!", sagte er sofort zu einem der Ärzte. "Gehen sie vom Bett weg, lassen sie uns arbeiten.", sagte einer sofort, weil er nicht sofort durchblickte, was Semir wollte. "Spritzen sie ihr das! Ich bin der Vater, damit können sie ihr helfen." Er wusste, dass es keinen Ausweg gab. Entweder sie würde durch das Zeug gerettet... oder sie starb so oder so. Es nutzte nichts, darüber nach zu denken, ob das Zeug wirklich ein Gegengift war oder nicht. "Um Himmels Willen, tun sie was er sagt.", rief Frau Engelhardt aus dem Hintergrund. Die Ärzte sahen einander an, sie hatten ihre Vorschriften, sie würde man verantwortlich machen. Semir zog seine Dienstwaffe, entsicherte sie und zeigte damit Richtung Boden. "Wenn ich sie mit einer Waffe bedrohe, sind sie nicht haftbar zu machen. Jetzt spritzen sie ihr das verdammte Zeug!", schrie er erregt, und der Arzt nickte. Eine Krankenschwester zerbrach den Kopf der Ampulle, und zog die Spritze damit auf, übergab sie dem Arzt, der die Nadel in die Kanüle an Aydas Arm einführte.


    Das Gegenmittel verdrängte das Gift im Blut, und Aydas Körper war an sich gesund. Ihr Gehirn sendete sofort Signale aus, die Vitalfunktion wieder aufrecht zu erhalten, das Mittel, dass dieses Signal langsam ausgeschaltet hatte, wurde langsam verdünnt. Andrea und die Chefin blickten wie gebannt, genau wie die Ärzte und Semir, der dicht bei Ayda war und ihre Hand hielt. "Bitte verlass mich nicht, mein Schatz...", sagte er leise und allmählich fiel das ganze Adrenalin von Semir ab. Das Gerät begann wieder, im Takt Töne von sich zu geben, nach wenigen Minuten stellte sich auch das selbstständige Atmen wieder ein. Die Ärzte sahen einander an, ungläubig aber erfreut. "Was war das? Was haben sie uns da gegeben?", fragte einer von ihnen, und Semir drehte sich um zu ihm. Seine Augen schimmerten voll Tränen als er erschöpft sagte: "Ich habe keine Ahnung... ich... ich habe keine Ahnung." Während dieses Satzes brach er langsam in Tränen aus, Andrea kam sofort zu ihm, ebenfalls weinend und ergriff die Hand ihres Mannes, die die ihrer Tochter hielten. Einer der Ärzte nahm Ayda die Atemmaske ab, und konnten sofort erkennen, dass das Mädchen selbstständig atmete. Die Ampulle war durch eine Spritze nur zu einem Drittel entleert und der Arzt befehligte sofort, das Mittel gleichmäßig gemäß dem Zustand an die restlichen Komakinder zu verteilen.
    Auch Anna Engelhardt, die dicht am Bett nun stand und Semir eine Hand auf die bebende Schulter legte, konnte ihre Rührung nicht zurückhalten. Sie hatte gebangt, und es geschafft, ihre Emotionen zurück zu stecken um somit für Andrea ein Halt zu sein. Jetzt brach auch ihre Schutzwand ein, und sie wischte sich schnell eine Träne aus dem Gesicht.


    Semir legte Aydas Hand, die auf den Druck reagierte und sich sanft schloß, in die seiner Frau. "Ich muss sofort zu Ben...", sagte er und wischte sich die Tränen ab. Er wusste, dass seine Tochter gerettet war... jetzt musste er sofort zu seinem Freund... zu seinem Partner. "Was... was ist mit Ben? Semir!?", sagte Andrea noch, doch ihr Mann hatte das Zimmer bereits verlassen. So schnell ihn seine Füße trugen rannte er die Treppen wieder herunter, nahm die Abzweigungen um wieder zum Ausgangspunkt zu kommen. Ein Sanitäter am Ausgang verwies ihn auf den OP.
    Der Polizist konnte seine Gefühle nicht beschreiben. Sein Herz voll Freude über Ayda, aber voll Sorge über Ben... und die Emotionen die ihn befielen, als er in den Flur gelangte, der erst von der OP-Tür beendet wurde, und er eine an der Wand neben den Stühlen auf dem Boden sitzende Gestalt erblicken konnte, bedeckt von Staub und Dreck mit einem blutenden Cut im Gesicht, blutverschmiertem Oberteil und unendlicher Leere im Gesicht... sie verfolgten Semir noch Wochen. "Kevin?", fragte er beinahe zaghaft, als sein Lauf sich zum Schritttempo verringerte, bis er vor seinem Partner stand. Kevin sah auf den Boden, verloren wie ein zerbrochenes Porzellan... und Semir deutete den Ausblick in seinen Augen, die Emotionen, die den jungen Polizisten geraden befielen. Und alle Freude und Sorge in seinen Herzen waren mit einem Schlag verschwunden, ein Loch im Boden tat sich unter ihm auf und wollte ihn verschlingen. Langsam, wie in Trance, bewegte sich der Kopf des Mannes, der gerade sein Leben für seine Tochter riskiert hatte, nach links und rechts: "Nein... bitte nicht..." und der Blick aus den eiskalt blauen Augen seines Freundes auf dem Boden, trafen Semir bis ins Mark...


    ENDE

    Altes Krankenhaus / Krankenhaus - 12:00 Uhr


    Kevin und Zange landeten in Staub und Geröll gehüllt im 1.Obergeschoss des Krankenhauses. Der junge Polizist fiel auf den Rücken, so unglücklich, dass ihm kurzzeitig die Luft zum Atmen wegblieb. Ausserdem hörte er dumpf, wie der Boden unter ihm bedrohlich knackte, und er meinte, auch eine leichte Stauchung zu vernehmen. Alles an diesem Haus war morsch und baufällig, wenn nicht sogar einsturzgefährdet. Auch Zange brauchte einen kurzen Moment, bis er sich erholt hatte, allerdings war er halb auf Kevin gelandet und weniger hart aufgeschlagen. Der Verbrecher rappelte sich langsam wieder auf die Beine, ein wenig schwindelig, doch sein Blick lag klar auf dem Mann, der hustend und keuchend auf dem Rücken lag, und nach oben zu Zange blickte.
    "Jetzt bist du fällig...", knurrte er und wankte langsam zu den Möbeln, die noch in dem Raum standen. Das Gebälk ätzte und keuchte unter Kevin, es hatte sicherlich etwas abbekommen von dem Aufprall. Zange krallte einen Stuhl an der Lehne und hob ihn drohend, um Kevin damit den Schädel einzuschlagen. "Lass es, Mann...", sagte der Polizist, als es unter ihm erneut bedrohlich knackte. Sein Rücken fühlte sich taub an, aus einem Kratzer an der Stirn spürte er warmes Blut in die Haare rinnen. "Was ist? Hä? Kannst du nicht mehr aufstehen?", schrie Zange der ebenfalls im Gesicht blutete und langsam auf den hilflos wirkenden Polizisten zu kam. Dessen Herz schlug, er spürte, wie das Gebälk unter ihm immer bedrohlicher knackte, je näher Zange kam. In dem Moment, in dem Zange mit wilden Aufschrei den Stuhl nach unten sausen ließ und dazu noch einen Schritt nach vorne machte, mobilisierte Kevin alle Kräfte in seinem Körper und rollte sich zur Seite in Richtung Wand. Die Wucht in Zanges Schlag war so enorm, dass der stabile Metallstuhl die Zwischendecke endgültig zum Einsturz brachte und Zange im sinkenden Boden und einer Wolke aus Staub laut schreiend versank. Durch seinen Schritt nach vorne fiel er kopfüber, ein Bett das in der Nähe stand wurde auch noch mitgerissen und fiel hinter Zange her. Für einen Moment blieb Kevin laut keuchend mit dem Rücken zum Loch liegen, bis er sich aufrappelte und sich zum Loch vortastete. Zange lag im Erdgeschoss, das Bettgestell halb über seinem zerschmetterten Gesicht, eingehüllt in eine große Blutlache.


    Es war für Andrea fast nicht zu ertragen, ihr kleine Tochter da liegen zu sehen. Es war bereits schlimm, die ganze Zeit über, nichts tun zu können, doch war zumindest der Anblick ein friedlicher, wie sie da lag und schlief, als würde sie ganz gesund zu Hause in ihrem Bett liegen. Doch jetzt hatte sie eine Maske auf dem Gesicht, ein Apparat zur Beatmung lief neben ihr und das Gerät zur Überwachung des Herzschlages gab nur noch unkonstante Töne von sich. Zwei Krankenschwestern und mittlerweile zwei Ärzte standen um das Bett herum, sie messten, untersuchten, sie klebten Pade mit Kabeln an den kleinen Körper und eine Schwester hatte für den absoluten Notfall bereits einen Defibrillator beigestellt, weil man von dem anderen Komakind wusste, dass nach dem künstlichen Beatmen als nächstes zu einem Kammerflimmern kommen könnte.
    Der Anblick des Gerätes machte Andrea rasend, sie hatte das Gefühl, dass ihr die Beine versagen wollten und weinend klammerte sie sich an ihre langjährige Chefin, die in diesem Moment der Felsen war, der sonst Semir war. Doch Semir war nicht da. Seine Tochter kämpfte um ihr Leben, und nur Andrea wusste in diesem Moment wo ihr Mann war, als die Chefin leise fragte, wo Semir denn sei? Nur bruchstückhaft, nur stockend und mit völlig verweinter Stimme brachte Andrea hervor, dass er dabei ist, dass Gegenmittel zu holen, um Ayda das Leben zu retten. Am liebsten hätte Anna Engelhardt sofort Bonrath, Hotte und Jenny zur Unterstützung geschickt, doch sie wusste überhaupt nicht, wo sich Semir aufhielt. "Wir können seinen Wagen orten.", sagte Jenny sofort und die beiden Streifenpolizisten nickten. "Wir sind schon unterwegs, Chefin.", sagte Hotte, auch wenn er Andrea jetzt ungern alleine ließ... aber er konnte sich darauf verlassen, dass die Chefin die Souveränität behielt, und hier die Kontrolle.


    Die Kugeln schlugen immer wieder dicht bei Ben und Semir ein, von Cablonsky abgefeuert. Semir war kaum an sich zu halten, am liebsten wäre er durch das Dauerfeuer gelaufen um ihm das letzte verbliebende Fläschchen abzunehmen. "Was ist, Bulle? Komm her, hol es dir.", rief Cablonsky hinter seiner Deckung und wedelte mit der Hand und dem letzten Fläschchen mit dem gelben, für Ayda lebensrettenden Inhalt. Sofort stoppten beide Polizisten mit Schüssen, um nicht aus Versehen den kleinen Glasbehälter zu trefen. Semir blickte verzweifelt in Bens Richtung, der ihm mit den Fingern ein Zeichen gab. Sie waren so lange Partner, waren bei sovielen Schiessereien und verstanden sich blind... oder eben mit Zeichensprache.
    Semir nickte, er verstand, was Ben vor hatte. Er lud sein Magazin voll, um genügend Schuss zu haben, dann gab er Ben das Startsignal. "Na schön! Hier, fang wenn du kannst.", schrie Cablonsky in diesem Moment, als Ben losrannte. Das Fläschchen flog hinter der Deckung hervor, Semir begann ohne Unterbrechung Schüsse abzufeuern, die an Cablonskys Deckung abprallten. Ben rannte, sah das fliegende Fläschchen und hechtete, als Cablonsky sich erhob und in Bens Richtung schoß, der eine Kugel an seinem Ohr vorbeijagen spürte. Darauf, dass Cablonsky die Deckung verließ, hatte Semir gewartet und traf den Verbrecher mit zwei Kugeln im Oberkörper. Ben prallte auf dem schmutzigen Boden, doch seine linke Hand hatte kurz vor dem Aufprall etwas Hartes, glattes, kaltes gegriffen und hielt es fest umklammert, während der Verbrecher stöhnend zu Boden ging.


    Einer der beiden Ärzte entfernte sich von den Untersuchungen um Ayda, und ging zu den beiden Frauen, von denen eine, Andrea, völlig fertig in den Armen der Chefin lag. "Frau Gerkhan... ihre Tochter ist jetzt in einem sehr kritischen Zustand. Sie ist zwar stabil, aber sie schwebt in Lebensgefahr.", versuchte er möglichst ruhig und sachlich zu sein. Die Mutter konnte mit dieser Sachlichkeit in diesem Moment nicht umgehen, und der erfahrene Arzt kannte vieler solcher Reaktionen in diesem Augenblick. "Retten sie meine Tochter. Ich flehe sie an, retten sie meine Tochter.", schluchzte Andrea und packte den Mann am Kragen der weißen Jacke, bevor sie von der Chefin sanft aber bestimmend wieder etwas zurück gezogen wurde. "Wir haben ihr ein Medikament gegeben, wir werden sie jetzt künstlich beatmen. Aber... das ist nur ein Hinauszögern."
    Die Chefin sah den Arzt mit ihrem strengen Blick an wie ihre Mitarbeiter, wenn mal wieder etwas schief gelaufen war oder sie anderweitig zu einer Standpauke ansetzte. "Nun sagen sie schon auf Deutsch: Welche Chance hat Ayda, und was können sie jetzt noch tun?" Der Arzt seufzte und sah für einen Moment zu Boden. "Tun können wir nichts mehr. Wenn ihr Herz aussetzt, wie bei dem Komakinder, das gestorben ist, können wir nur noch versuchen, die wieder zu beleben. Das kann vielleicht nochmal funktionieren, würde es aber nur herauszögern. Welche bleibenden Schäden auftreten oder schon aufgetreten sind, kann ich nicht sagen." Anna Engelhardt spürte, wie ihre Sekretärin ihre Finger in ihre Arme krallte und ihre Knie einknickten. Langsam geleiteten beide die weinende Mutter zu einem Stuhl. "Es tut mir wirklich leid, Frau Gerkhan. Aber das Koma-Mittel scheint bei ihrer Tochter stärker dosiert gewesen zu sein, als bei den anderen. Es tut mir leid."


    "Ben?", rief Semir, als die Schüsse verhallt waren, und der Qualm, durch die vielen abgefeuerten Schüsse seinerseits sich etwas verzogen hatten. Ben stöhnte, von dem Sturz, aber er hielt die kleine Glasampulle, die letzte, die da war, fest in seiner Hand. Von nebenan hörten sie schnelle Schritte, und Kevin, der den Schüssen gefolgt war, kam in das Treppenhaus gelaufen, wo sich die Schiesserei abgespielt hatte. "Ich habs...", presste Ben hervor und rappelte sich langsam auf. Auch Semir sah das Fläschchen in Bens Hand und kam sofort auf ihn zu. "Oh Gott sei Dank.", sagte er und fiel seinem Partner um den Hals, der sofort einen Schmerzlaut von sich gab und schwer atmete. Langsam kehrten Schmerzempfinden zurück in Bens Körper nach dem kurzen Adrenalinschock und sein bester Freund wich zurück.
    Für einen Moment war es still in dem Treppenhaus, und beide Polizisten starrten zu Ben. Semir hätte sich in diesem Moment eine Nadel in den Arm stechen können, und es hätte nicht geblutet, so geschockt war er und auch Kevins blaue Augen waren weit aufgerissen. Ben erkannte den Grund für sein mühsames Atmen erst, als er wie gebannt an sich herunterblickte. "Oh scheisse... oh scheisse.", stammelte er mühsam. Um eine Schusswunde unterhalb der Brust entstand langsam unter seiner Jacke ein dunkelroter Fleck, der Schmerz beim Einatmen nahm zu. "Semir... ich... ich glaube, der hat mich getroffen.", sagte er mit Panik in den Augen. Angeschossen wurde der Polizist schon öfters, Durchschuss im Arm, Streifschuss am Bein... aber niemals an einer so lebensbedrohlichen Stelle. "Los komm... wir bringen dich ins Krankenhaus. Den Krankenwagen zu rufen, würde zu lange dauern.", sagte Kevin. Er und Semir stützten sofort Ben, der sich nur durch den Adrenalinstoß noch auf den Beinen halten konnte, vorher zog Kevin seine graue Weste aus und drückte sie Ben gegen die Wunde. So schnell es mit den Dreien ging verließen sie das baufällige Gebäude und hetzten auf die Dienstwagen zu. "Bleib du bei ihm hinten, ich fahre.", sagte Semir. So sehr er Kevin vertraute, es zählte nun jede Sekunde... für Ben und für Ayda. Da empfand der Polizist es für wichtiger, wenn er selbst in der Hand hatte, dass sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus fuhren, als dass er jetzt sich selbst um Ben zu kümmern...

    Guten Morgen,

    Erneut, wie schon bei "Komakinder" ein kleiner Appetithappen auf die nächste Story. Das Kapitel spielt, wie man wohl erkennen kann, in der Vergangenheit. Somit ist auch ein Spoiler auf das nahende Ende von "Komakinder" absolut ausgeschlossen :whistling:

    Viel Spaß

    Prolog


    Alte Lagerhalle - 22:00 Uhr

    Die Luft in der alten Lagerhalle war durchsetzt von Krach, Schweiß und Rauch. 50, vielleicht 60 Jugendliche standen vor der leichten baulichen Erhöhung gedrängt, bewegten wild nickend den Kopf vor und zurück, während der Sänger der Punkband "Vorkriegsjugend" heiser und schräg ins Mikrofon schrie. Er blickte auf ein Knäuel Jungs und Mädchen herunter, die ähnlich gekleidet waren wie er selbst, mit Lederjacken, rotkarierten Hosen, jeder Menge Metall und wilden Frisuren. Über den grün gefärbten Irokesen-Schnitt, wilde Mähnen bei jungen Mädchen in Neongelb oder leuchtend rot. Sie sprangen umher, sie schubsten sich, sie feierten miteinander.


    "Du wohnst in einem besetzten Haus
    da hauen Dich die Bullen raus
    sie treten Dir die Türen ein
    und schlagen Dir die Fresse ein

    Rache"


    Es gröhlte aus den billigen Boxen, die die Band im klapprigen VW-Bus selbst hierher gekarrt hatten. Jerry, einer der älteren Jungs aus dieser Gegend, lehnte am anderen Ende der Halle, lächelnd und gelassen, an einem Geländer und blickte auf das Treiben vor ihm. Viele Freunde, Jugendliche aus der Jugendgang, die er unter Kontrolle hatten, stammten aus der Punkszene wie er selbst, und waren heute abend hier. Er hatte für sie und den Rest der Straßenkids seine Kontakte spielen lassen, und die Undergrund-Band eingeladen, einen lustigen Abend ohne Gage, aber mit viel Bier zu verbringen.

    Jerry war einer der ersten Punks in Köln, in den 80ern als Kind, als die Sex Pistols aus England herüberschwappten. Er geriet schnell auf die kriminelle Schiene und heute "organisierte" er einen Haufen junger Kids ohne Zukunft, viele davon ebenfalls ein Teil der linken Szene. Häusereinbrüche und Drogengeschäfte waren sein Metier. Wenn die Welt da draussen den Jungs schon keine Chance gab, hier bekamen sie von Jerry alles, was sie brauchten. Er zockte niemanden ab, er behandelte jeden fair, er sah sich nicht als Bandenchef sondern als "Papa", wie er sich manchmal scherzhaft nannte. Er kannte jeden seiner Jungs und Mädels mit Namen, und wenn es Probleme gab, nahm er sich derer an. Allerdings war Jerry auch nicht zimperlich wenn es darum ging, sein Revier gegen andere Jugendgangs zu verteidigen, wenn es darum ging eine Gruppe Nazis, die Mitte 90er auf dem Vormarsch waren, in die Schranken zu weisen oder wenn es darum ging, Verräter mundtot zu machen. Der Gangvater griff dann gerne mal nach dem Mittel der Gewalt, dem Mittel der Straße.
    Hauptsächlich hielten sich er und seine Jungs in der Gegend um die alte Lagerhalle auf. Einige der Kids lebten zu Hause bei ihren Eltern, einige im Heim, andere komplett auf der Straße. Viele hatten nur noch ein Elternteil, waren Scheidungskinder, aus ärmlichen Verhältnissen die früher oder später sowieso auf die schiefe Bahn gelandet wären. Allerdings gab es auch einige, die einfach den reichen Lebensstil ihrer Eltern satt hatten und dagegen revoltierten, hier draussen ihren Spaß und ihre Freiheit suchten. Jerry kannte alle Geschichten, alle Gesichter und alle Beweggründe, warum man sich mit 12 oder 13 für dieses Leben entschied. Freiheit, Nervenkitzel, Zusammenhalt.

    Den Beweis der Vertrautheit innerhalb der Punkszene machte ein Ritual aus. Klettere bei einem Konzert auf die Bühne oder eine Erhöhung, und springe ins Publikum. Vertraue deinen Freunden, die dich sicher auffangen werden und auf Händen bis ans Ende der Halle tragen. Der Junge, der jetzt gerade auf die wackelige Box kletterte, war recht schmächtig. Jerry beobachtete ihn, er hatte ihn vor einigen Monaten erst kennengelernt, und quasi in die Gang mitgenommen. Er kam aus einer zerrütteten Familie, wobei man die Verhältnisse eigentlich nicht Familie nennen konnte. Seine Mutter hatte er nie kennengelernt, sein Vater hatte sich nicht um ihn gekümmert, und ihn quasi sich selbst überlassen. Nur ein, dem Vater aus dessen damaligen Bordell bekannten Transvestit-Künstler tat der Junge leid, und sie nahm ihn bei sich auf.


    "Aus Hass wirfst Du 'ne Scheibe ein
    ab in die Zelle, Punkerschwein
    paar in die Fresse, Zähne im Rachen
    Alter, da haste nix zu lachen!

    Rache"


    Der Junge, der zu den Versen des Sängers mitgröhlte, hatte seine etwas längeren Haare hinter ein Stirnband gepackt, sie hingen über dessen Kante hinaus, der Rest stand wild von sich. Er atmete tief durch und ließ sich dann langsam von der Box fallen, nachdem die Meute unter ihm die Hände gehoben hatte und signalisierte, dass er sich fallen lassen könne. Zwar unsanft, aber sicher landete er auf den vielen Händen, versuchte sich noch so lange es geht oben zu halten, verschwand dann aber kopfüber in der Menge. Jerry grinste, und sah bereits den nächsten nach oben klettern, Anlauf nehmen und mit weit ausgebreiteten Armen in die Menge springen.
    Einige Minuten danach kam der Junge aus der Meute nach hinten zu Jerry. Sie begrüßten sich und der etwas ältere Mann sah etwas skeptisch auf den zusammengerollten Klimmstengel im Mund des Jungen. "Hat dir Fabi das gegeben?", fragte er. Die hellblauen Augen des Jungen waren leicht glasig. "Ja. Das Zeug ist geil.", sagte er lachend und nahm einen weiteren tiefen Zug. Die Jungs, vor allem die Neuen, waren schnell begeistert für Drogen aller Art. Joints waren noch das harmloseste, was Jerry auch tolerierte, Trips, LSD und Ecstasy, Speed sowieso waren allerdings auch sehr verbreitet. Alle wussten, dass sie bei Jobs, bei Drogengeschäften oder Einbrüchen clean sein mussten... denn wenn deswegen etwas schiefging, würde Jerry ungemütlich werden. "Inhalier nicht so viel von dem Zeug.", sagte Jerry etwas beschützend zu dem 13jährigen Jungen, der kurz nickte, sich umdrehte und wieder laut gröhlend in der Menge verschwand.


    "Du wohnst in einem besetzten Haus
    sie schlagen Dir die Zähne raus
    sie treten Dir die Fresse ein
    und schlagen dir den Schädel ein

    Rache"

    Zur Erklärung:

    Zange schnappt sich Semirs Waffe, nachdem er Semir an den Heizkörper bindet. Das hatte ich, in der Tat, nicht erwähnt. Als er um die Ecke biegt, ist er "scheinbar" unbewaffnet... er zeigt die Waffe nicht, um Kevin und Ben zu locken, unvorsichtig um die Ecke zu laufen, um dann von Cablonsky erschossen zu werden.

    Altes Krankenhaus - 11:45 Uhr

    Kevin konnte den silbernen BMW unter den Bäumen bereits sehen, als sie noch auf der Landstraße fuhren, mit einer Vollbremsung und quietschenden Reifen bog der Mercedes seinerseits in den Waldweg ab und kam mit blockierenden Rädern neben dem Dienstwagen ihres Kollegen zum Stehen. "Netter Ort...", meinte Ben ein wenig beeindruckt, als sie ausstiegen und erstmal den Blick über den gesamten Komplex streifen ließen. Auch sie nahm die beklemmende Stimmung der rauschenden Bäume, des feinen Regens und des bedrohlich wirkenden Hauses komplett ein. Sie versuchten irgendwo Bewegungen hinter den zersplitterten Scheiben aus zu machen, ein Gesicht, ein Kopf... irgendwas. "Lass uns reingehen.", meinte Kevin und beide Polizisten zückten ihre Pistolen und entsicherten sie.
    Drinnen war der Wind stiller und langsam tasteten sich die zwei Polizisten Stück für Stück über Geröll und Schutt. Sie versuchten, so leise wie möglich zu sein, unnötige Geräusche zu vermeiden und seinerseits auf Geräusche zu achten, die die Position der Geiselnehmer oder der von Semir verraten würde. "Das Ding ist riesig. Sollen wir uns trennen?", fragte Kevin flüsternd und sein Partner legte den Kopf ein wenig zur Seite. "Ich weiß nicht... ich finde, wir...", bis er von einem rasselnden Geräusch unterbrochen wurde. Es klang durch das Auge des Treppenhauses nach unten und hörte sich an, wie Geisterketten. Ben hätte es niemals zugegeben, schon gar nicht vor Kevin, aber für einen Moment befiel ihn eine Gänsehaut. Wortlos schritten die beiden Polizisten die Treppen hinauf, von wo sie das Geräusch gehört hatten.

    Gerade als sie am oberen Ende der Treppe angekommen waren, lief Zange um die Ecke. "Scheisse, sie sind schon drin!!", rief der hinter sich bevor er kehrt machte. Scheinbar war er unbewaffnet und lief wieder um die Ecke des Flurs zurück, von wo er gekommen war. "Stehenbleiben!!", schrie Ben und verfiel sofort in einen Sprint, Kevin verfolgte ihn. An der Ecke, an der der Flur eine Kurve machte blieb Ben stehen und lugte erst um die Ecke. Die Falle, die die beiden Gangster ihnen stellen wollten, funktionierte nicht, denn sie rechneten mit Unvorsichtigkeit. Cablonsky hatte Stellung bezogen und feuerte mehrere Schüsse in Richtung Ben, der den Kopf sofort wieder zurück zog und sich mit dem Rücken zur Wand stellte. Erst als die Schüsse verhallt waren, legte der Polizist einen nur den Arm an der Wand entlang und schoss blind mehrmals in die Richtung, von der die Schüsse kamen. Doch beide hörten Schritte, schnelle Schritte... Cablonsky und Zange flüchteten den Flur entlang, was Ben sofort sah, als er nochmal um die Wand sah. "Komm!!", rief er noch, was völlig unnötig war, denn Kevin folgte ihm auf dem Fuß.
    Beide Gangster rannten, und der Polizist mit dem Wuschelkopf erkannte an einer Heizung Semir sitzen, offenbar gefesselt, der die Geräusche verursachte. Cablonsky lief an Semir vorbei, Zange blieb bei ihm stehen und richtete die Waffe auf Semirs Kopf. Für einen Moment setzte dessen Herzschlag aus, scheinbar wollten die Typen nicht riskieren, dass sie es mit drei, statt nur zwei Polizisten zu tun hatten. Auch Bens Gesichtszug entglitt für einen Moment, doch Kevin, der schräg hinter ihm lief, reagierte beherzter. Im Lauf hob er die Waffe und feuerte eine Kugel, die Zange am Unterarm traf, was zur Folge hatte, dass dieser die Waffe fallen ließ. Ein brennender Schmerz durchzog seinen Arm, und sofort verfiel der Geiselnehmer wieder in Trab und bog ins übernächste Zimmer ab.

    Die beiden Polizisten stoppten bei Semir, Ben sperrte ihm die Handschellen auf. "Ich schnapp mir Zange.", sagte Kevin und rannte wieder los. Die Waffe, die Zange verlor, war Semirs Dienstpistole, und der junge Polizist schubste sie in dessen Richtung, als er an ihr vorbeilief.
    Das Zimmer, in das Zange abgebogen war, war ein alter OP-Saal, in dem noch allerlei Untensilien herumlagen. Zuerst versuchte der Kerl sich hinter einem Schrank zu verstecken, als Kevin das Zimmer betrat, die Hände fest um den Griff der Waffe gelegt. "Komm raus, Zange. Es ist vorbei." Zange war nun nicht mehr so cool, wie noch vor einigen Tagen beim Verhör. Die Sache war schief gelaufen, und nur wenn sie die Polizisten beseitigen würden, könnten sie so schnell wie möglich abhauen... Nach Kuba, wie Cablonsky eben erzählte. "Das... das war alles Cablonskys Idee. Ich... ich wollte gar nicht mehr zurück.", rief er laut und schritt hinterm Schrank hinaus. "Hör auf, Scheisse zu erzählen. Wenn du wirklich hättest aussteigen wollen, hättest du sofort die Schnauze aufgemacht. Hände hinter den Kopf und an die Wand!", sagte der Polizist, der sofort die Waffe auf ihn richtete. Nur einen Sekundenbruchteil sah er etwas blitzen, dass den Wurfarm von Zange verließ und spürte daraufhin einen brennenden Schmerz im Arm, als das rostige Skalpell ihn dort verletzt hatte. Aus Reflex fiel die Waffe klackernd zu Boden und Zange stürzte auf ihn.
    Zange war nicht kräftig, aber gewandt. Dass er im Knast öfters mal Gewalt anwenden musste, spürte Kevin bei den ersten Schlägen, die er im Gesicht spürte, doch der Kickboxer stieß den Angreifer von sich weg. Der griff auf den OP-Tisch zu einer spitzen Schere, mit der er Stichandeutungen machte um den Polizisten auf Distanz zu halten. Doch Kevin war jetzt in seinem Element, im Nahkampf war es ein Fehler ihn zu unterschätzen. Er ließ Zange auf einen halben Meter heran, dann spürte der Verbrecher eine Wucht des Trittes an seiner Hand, die die Schere im hohen Bogen wegschleuderte. Der zweite Tritt, der folgte, traf Zange an der Schulter und ließ ihn zur Seite taumeln. Kevin wollte sofort nachsetzen, doch bekam zwei überraschende Schläge auf die Schläfe. Der Verbrecher wollte die kurze Überlegenheit ausnutzen, und stürzte in Richtung des Kommissars, packte ihn am Kragen und beide Männer stürzten Richtung Boden, der unter dieser Belastung krachend nachgab, zerfressen von Morsch und Feuchtigkeit. In einer Staubwolke und unbändigem Lärm stürzten die Männer, gegenseitig gepackt, ein Stockwerk tiefer in eine Ansammlung alter Tische und Stühle.

    "Wo bleibt ihr denn so lange?", fragte Semir in Bens Richtung, nachdem dieser die Handschellen geöffnet hatte und seinem Partner auf die Beine half. Ben machte eher ein unverständliches Gesicht, doch für lange Diskussionen blieb keine Zeit. Semir klaubte seine Waffe vom Boden und beide rannten dem flüchtenden Cablonsky hinterher, der mittlerweile ein Stockwerk tiefer geflüchtet war. Dort verschanzte er sich hinter einem umgestürzten Bett auf dem Flur und ließ sofort die Waffe aufbellen, als Semir und Ben an der Treppe erschienen. Während Ben ein paar Schritte zurücktaumelte, wuchtete sich Semir über das Treppengeländer und stürzte einige Meter tiefer, landete aber zum Glück auf den Beinen und fand dort Deckung am Abgang hinunter ins Erdgeschoss. "Cablonsky!!! Ich will nur das Gegenmittel!!", schrie Semir, als der Kerl gerade eine Feuerpause einlegte.
    Auch Ben wartete einen Moment damit, zurück zu schiessen. "Das Gegenmittel wollen sie? Kein Problem.", schrie Cablonsky und Semir sah das erste Fläschchen über die Deckung fliegen und konnte nur noch hören, wie es mit einem klirrenden Geräusch auf dem Geröllboden zerbrach. "NEEEIN! Hören sie auf!", schrie Semir entsetzt, als er die einzige Chance, Ayda zu retten, auf dem Boden versickern sah. "Wir lassen sie gehen... geben sie mir das Gegenmittel." Hinter der Deckung von Cablonsky hörte Semir nur schallendes Gelächter...


    Krankenhaus - Gleiche Zeit

    Anna Engelhardt hatte einen Blumenstrauß dabei, Jenny Dorn einen kleinen Teddybär, den sie Ayda ins Bett legte. Beide redeten Andrea gut zu, wollten versuchen sie moralisch zu stützen. Auch Bonrath und Herzberger in Uniform waren bei dem Besuch dabei, die Dienststelle war gut besetzt so dass sie es sich für eine Stunde leisten konnten, die kleine Ayda im Krankenhaus besuchen zu gehen. Andrea gelang sogar ein Lächeln, hatte sie die schlimmen Nachrichten von heute Morgen noch nicht ganz verdaut und ausserdem war sie etwas in Sorge um Semir. Allerdings erwähnte sie die erneute Erpressung mit keinem Wort, denn scheinbar wusste von der restlichen Dienststelle niemand etwas davon.
    Gerade, als sie etwas vom Bett weg saßen, begann das Diagnosegerät an Aydas Bett zu piepen. Sofort richteten sich die sorgenvollen Blicke auf das Mädchen, das krampfhaft versuchte zu atmen, was scheinbar nicht mehr gelang. Der Puls stieg an und wurde unregelmäßig, es schien als könne Aydas Körper das selbstständige Atmen nicht mehr aufrecht erhalten. Andrea lief sofort panisch zu Ayda, während Hotte einen kühlen Kopf behielt und sofort auf den Flur ging und laut nach einem Arzt rief. Es dauerte nur wenige Sekunden, und mehrere Krankenschwestern, sowie ein Arzt kamen ins Zimmer gelaufen. Anna Engelhardt umfasste die völlig aufgelöste Andrea sanft an den Schultern und zog sie von Bett, damit die Ärzte arbeiten konnten, während Jenny mit Tränen in den Augen bei Dieter und Hotte standen und hilflos zusehen mussten, wie die Mutter von Ayda hemmungslos weinte, während Ayda nun künstlich beatmet werden musste. "Es dauert nicht mehr lange...", hörten sie den Arzt leise und hoffnungslos sagen...

    11:30 - Altes Krankenhaus

    Der Split knirschte unter den Reifen, als Semir den BMW nach dem kurzen Stück durch ein kleines Waldgebiet vor dem düster aussehenden, verkommenen Gebäude anhielt. Das alte Militärkrankenhaus, das bereits seit über 20 Jahren geschlossen und verlassen war, thronte zwischen den Bäumen, und wirkte auf Semir irgendwie erdrückend. Seit es leer stand, nahm die Natur schleichend wieder Besitz von dem Gebäude, es wucherte überall auf dem Gelände, Bäume ließen ihre nun bunt bewachsenen Zweige vor die kaputten Fenster hängen, Sträucher wuchsen vor den Eingängen, und aus den Rissen auf der Treppe, die zu den beiden Flügeltüren des Eingangs führten, spross grünes Gras und Löwenzahn. Das Gebäude war übersät von Graffiti, diente als Austobort für Teenager, die um Mitternacht Mutproben abhielten, ihre Künstlereien auftragen wollten oder ihre Wut an dem alten Gebäude ausließen.
    Beinahe kein einziges der vielen Fenster war noch intakt, wenn dann war es blind und milchig vor Staub. Leichter Regen lag in der frischen Luft, die an Semirs Lederjacke zerrte, es hatte eben erst aufgehört und die Blätter tropften noch, zumindest die, die sich mit letzter Kraft an den Bäumen festhielten. "Los gehts.", sagte er zu Zange, immer noch das Handy mit dem Entführer am Ohr, das er sich jetzt mit der Schulter festhielt, damit er zwei Hände frei hatte um Zange die Handschellen zu öffnen. Allerdings bekam er diese, sobald er von dem Obergriff befreit war, klickten die Handschellen seine Hände wieder auf dem Rücken zusammen, zusätzlich packte Semir den Kerl von hinten am Kragen, und beide steuerten auf das bedrohliche Gebäude zu.

    Als die beiden Männer die Treppen zum Haupteingang hinaufstiegen, stieg ihnen der Geruch von altem Beton in die Nase, überall im Inneren des Krankenhauses bröckelte der Putz, überall bunte Schmierereien an den Wänden. Der Boden war übersät von Schutt und alten Krankenhausutensilien, es sah beinahe so aus, als hätte man dieses Haus Hals über Kopf verlassen, und alles sich selbst überlassen. Die Stimmung hatte etwas apokalyptisches, als dann auch noch der Wind auffrischte und überall die schiefen, nicht mehr richtig befestigten Fenster hin und her klappten, und quietschende schiefe Geräusche verursachten. Schritt für Schritt gingen Semir und sein Austauschobjekt für Aydas Heilung durch die unheimlich wirkenden Gänge. "Wir sind jetzt da. Wo verstecken sie sich?", sagte er ins Handy und bemühte sich um eine feste Stimme. "Zweiter Stock. Ich hoffe, du hast ausser Zange niemanden in deinem Rücken." Fast unweigerlich drehte Semir sich kurz um, und biss die Zähne zusammen. Hoffentlich würden Ben und Kevin auf die Idee kommen, seinen Wagen zu orten...
    Die Stufen der Treppe in den zweiten Stock knarrten und ächzten, und Semir vertraute ihnen nicht, genauso wenig wie diesem ganzen Gebäudekomplex. Er hatte zwar nirgends ein Warnung vor Einstürzen gesehen, aber ständig hatte er das Gefühl, dass der Boden unter ihm nachgeben würde. Mit der linken Hand hielt er Zange am Kragen fest und trieb ihn vor sich her, die andere hatte er fest um den Griff seiner Waffe geklammert, die er aber noch in seinem Holster beließ. Aufmerksam blickte er immer wieder in die Zimmer, an denen sie vorbeikamen. Seine Fantasie spielte ihm Streiche, so hatte er manchmal das Gefühl, dass Ayda im nächsten Zimmer in einem der alten Betten lag und auf ihn wartete, doch immer wieder wenn er zu den Türen hineinblickte sah er Schutt, manchmal ein umgestürztes Bett und Graffiti.

    An der nächsten Biegung des Flurs blieben die beiden Männer ruckartig stehen. Ihnen gegenüber stand ein Mann, der eine Waffe in der Hand hielt und auf beide zielte. Er hatte ausserdem ein Handy am Ohr und hörte sich plötzlich ganz normal an, als er sagte: "Herzlich Willkommen, Herr Gerkhan." Dann ließ er das Handy langsam sinken. Was Semir aber viel mehr verwirrte, war ein zweiter Mann, der vor ihnen auf dem Boden lag. Er lag auf dem Bauch, war aschfahl im etwas zur Seite gedrehten Gesicht und hatte bereits Leichenflecken. Das Blut, dass aus zwei Schusswunden in seinem Rücken gesickert war, war bereits braun gefärbt. Sicher war er schon mindestens einen Tag tot, schätze der erfahrene Kommissar. "Wer ist das?", fragte Semir sofort, bevor er an den Austausch dachte. "Mein Auftraggeber.", sagte Cablonsky unberührt.
    Semir biss die Zähne zusammen und hielt die Hand um Zanges Kragen weiter geschlossen. "Was wird hier gespielt? Warum die Entführungen?" Cablonsky grinste etwas, ging es für ihn doch nur noch darum, mit Zange zu verschwinden, mit dem größtmöglichen Profit, dem Geld das Reuter noch nicht ausgegeben hatte. "Dieser Arzt hat ein neues Heilmittel für Krebs erforscht. Für die Finanzierung hat er Kinder entführt und sie ins Koma gespritzt. Wir haben die Drecksarbeit für ihn erledigt." Semir blickte nach unten auf den toten Mann, neben dem noch ein Koffer stand. "Krebsmittel? Warum muss man dazu Kinder entführen?", fragte er verwirrt. "Weil er ein Irrer war. Die Forschung hatte seine Theorie abgelehnt, aber er wollte sein Mittel unbedingt durchbringen um es allen zu zeigen. Wir haben nur für das Geld, das wir bekommen haben, unsere Arbeit getan." "Und warum haben sie ihn dann erschossen?" "Weil er meinen Freund einfach im Knast verschimmeln lassen wollte."

    Semirs Atem ging schneller. Ein Arzt, und zwei Profi-Kidnapper, die gemeinsame Sache machten, um eine illegale Forschung für einen guten Zweck voranzutreiben steckte also hinter der Geschichte der Komakinder. Kinder, die als Kolleteralschaden eingeplant waren, auf dem Weg zu einer besseren Zukunft ohne Krebs. Doch im Moment interessierte ihn nur Ayda, und das Gegenmittel, das ihr das Leben retten würde. "Okay... ihr interessiert mich einen Scheissdreck. Ich will nur das Gegenmittel für meine Tochter." Natürlich hätten ihn noch die Frage interessiert, wie sie sich darauf einlassen konnten, und warum der plötzliche Sinneswandel. Aber Zange und Cablonsky waren scheinbar zwei einfache skrupellose Söldner, die für den richtigen Sold alles tun würden... auch Kinder entführen, solange die Kasse stimmte.
    "Lassen sie Zange zu mir herüber. Öffnen sie ihm die Handschellen, und ausserdem werfen sie ihre Waffe weg." Mit grimmigen Gesichtsausdruck gehorchte Semir, trennte sich von seinem einzigen Schutz und öffnete Zange langsam die Handschellen, hielt ihn aber noch fest. "Das Gegenmittel!", rief er nochmals und Cablonsky griff hinter seinen Rücken. Hervor brachte er aus der Gesäßtasche ein Lederband, an dem drei Ampullen mit einer gelblichen Flüssigkeit befestigt waren. "Der Doktor hatte sie mal erwähnt, und ich habe sie an mich genommen. Dachte, die könnten uns nochmal Geld bringen, wenn das Ganze hier vorbei ist.", grinste Cablonsky und hielt die Ampullen in die Luft. Semir hatte keine Wahl... ein Wurf, und das Gegenmittel wäre verloren. Er öffnete die Hand, mit der er Zange weiter festhielt.

    "Fessel ihn an den Heizkörper.", sagte Cablonsky dann in Zanges Richtung und der nahm nun die Handschellen, die ihn eben gesichert hatten, und kettete Semir so an den Heizkörper. "Was soll das?", fragte der erbost. "Ich verschaffe mir nur einen Vorsprung.", sagte der Geiselnehmer, kam zu dem Polizisten und nahm das Handy aus seiner Jeanstasche. Er legte es ausserhalb von Semirs Radius auf den Boden. "Deine Kollegen werden dich ja sicher irgendwann finden. Bis dahin sind wir weg." Semir Herz schlug schneller... diese Zeit hatte Ayda nicht. "Bitte... lassen sie mich frei. Ich möchte nur meine Tochter retten, alles andere interessiert mich nicht... bitte.", flehte der Kommissar und zog an dem stählernen Ring, der seine Handschellen darstellte.
    Cablonsky lächelte nur zu Semir auf den Boden herab, das Lederband noch in der Hand. Er beugte sich zu Semir herunter und flüsterte: "Dann müssen sich deine Kollegen halt beeilen..." Ein diablolisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er mit Zange einige Schritte von Semir wegging, der wild begann an den Fesseln zu zerren. "HEY!", brüllte er. "Lassen sie mir das Gegenmittel! Ich hab den Teil der Abmachung erfüllt!" Cablonsky blieb gespielt ruckhaft stehen, als hätte er etwas vergessen. "Achja, richtig...", sagte er, und sein Blick fiel durch das zersplitterte Fenster nach draussen. Das Gesicht des Geiselnehmers verfinsterte sich, als er sah dass ein grauer Benz neben dem BMW anhielt. Dann blickte er zu Semir. "Diesmal waren deine Kollegen zu schnell...", sagte er und steckte das Band mit dem Gegenmittel wieder ein. "Fick dich, Bulle..."

    Dienstwagen - 11:15 Uhr

    "Wie, der hat das Handy ausgeschaltet?", fragte Kevin mit überraschendem Blick auf seinen Nebenmann, der ebenfalls verständnislos auf das Display seines Smartphones sah. Sofort wählte er die Wahlwiederholungstaste und probierte es erneut. Doch erneut hörte er sofort Semirs Stimme auf der Mailboxansage. "Das gibts doch nicht.", nuschelte Ben leise und biss sich auf die Lippen. Zog sein Partner das Ding jetzt alleine durch, jetzt wo er Zange hatte? Wollte er seine beiden Freunde nicht in Gefahr bringen? Aber verdammt, Semir wusste doch, dass sie mit ihm durch Dick und Dünn gehen würde, und das Wort "Gefahr" ihnen dann auch fremd war. "Mann, umgekehrt würde er sich jetzt genauso aufregen wie wir darüber, jetzt die Alleinikov-Tour zu fahren.", meckerte der Partner des erfahrenen Kommissars. Kevin meinte mit belegter Stimme: "Und umgekehrt würden wir die Alleinikov-Tour auch fahren, wenn wir es für richtig hielten, oder?" Die Blicke der Männer trafen sich für einen Moment, und Ben konnte seinem jungen Freund nicht widersprechen.
    Dafür zuckte er mit den Schultern: "Und was heißt das jetzt? Dass wir ihn einfach machen lassen sollen." "Natürlich nicht. Versuchs mal über Funk." Ben griff zum Funkgerät, drückte den Senden-Knopf und sprach ins Mikrophon: "Ben für Semir, melde dich. Semir?" Gebannt lauschten beide in die Stille, nur der Motor des Wagens war zu hören, aber keinerlei Funkgeräusche oder Anstalten einer Antwort. "Semir, melde dich bitte.", sagte Ben nun etwas lauter, er hielt das Funkgerät umklammert dass sich weiße Flecken an seiner Haut an der Hand bildeten. "Semir, verdammte Scheisse, melde dich." Kevin schüttelte den Kopf. "Vergiss es."

    Semir hätte ihnen gerne geantwortet... doch er konnte nicht. Kurz nachdem er mit Zange den Unfallort verlassen hatte, durchschritt der Zeige seiner Uhr die 11, und ließ das Handy des Polizisten klingeln. "Na, wie siehts aus?", hörte er die mechanisch verzerrte Stimme am Ohr. "Ich hab ihren Freund. Wie gehts jetzt weiter?", fragte Semir, als er sich wieder in den fließenden Verkehr einfädelte. "Sehr gut...", hörte er und es klang fast ein wenig hämisch. "Regel 1: Du wiederholst den Zielort, den ich dir gleich sage, auf keinen Fall, um über Funk deine Kollegen zu verständigen. Eigentlich kannst du das Spielzeug auch abschalten, sonst ist der Deal geplatzt. Regel 2: Wenn du den Anruf trennst, ist der Deal geplatzt. Wir bleiben in Verbindung, bist du hier bist. Und Regel 3: Du fährst jetzt auf schnellstem Weg zu dem alten Militärkrankenhaus im Wald ausserhalb der Stadt. Weißt du wo das ist?" Semir hätte fluchen können. Weder den Funk, noch sein Handy konnte er jetzt benutzen, um Kevin und Ben weiter anzuleiten. Er war auf sich alleine gestellt. "Ja, ich weiß.", sagte er nur knapp mit zusammengebissenen Zähnen. "Gut. Haupteingang rein, nach links und dann die Treppen nach oben in den zweiten Stock. Und wenn du nicht alleine kommst, siehst du das Gegenmittel niemals, und kannst deiner Tochter schon mal einen hübschen Sarg bestellen." Semirs Hände griffen das Lenkrad fest, als würde er sich eine Kehle vorstellen, die Kehle des Mannes, mit dem er telefonierte, die er zudrücken könnte vor Wut.
    "Hören sie. Wir wollen beide etwas... sie werden nicht ohne ihren Kollegen gehen, sonst wären sie schon längst weg. Sie sind von mir doch genauso abhängig, wie ich von ihnen.", sagte der erfahrene Polizist, um sein Gegenüber zu einer möglichst langen Antwort zu zwingen. Als der Entführer dann begann zu reden, nahm Semir das Handy vom Ohr, schob das Gespräch am Smartphone zur Seite und öffnete WhatsApp. Schnell versuchte er eine Nachricht an Ben zu verfassen.

    "ER SCHREIBT! ER SCHREIBT!", ertönte plötzlich Zanges laute Stimme von hinten, so dass Semir herumfuhr und den am Obergriff gefesselten Geiselnehmer hasserfüllt anblickte. Der schien einen siebten Sinn zu haben, oder wusste genau, wie sein Kollege die Bediengungen für Semir auslegte. Sie standen gerade an einer Ampel, und die Stimme aus der Hörmuschel klang schärfer und drohender als zuvor. "Wenn du versuchst mich hier zu linken, Bulle... ich schwöre dir, ich werde das Gegenmittel vor deinen Augen gegen die Wand werfen. Nimm das scheiss Handy ans Ohr." Langsam, wie in Zeitlupe ohne die Nachricht abgeschickt zu haben, hob der Polizist wieder den Arm mit dem Handy. "Ja, okay.", sagte er nur und fuhr wieder an, als die Ampel auf Grün umsprang. "Tja, dann werde ich dir jetzt noch ein schönes Gespräch halten müssen, bis du da bist.", knarrzte es aus dem Mobilteil, und der Polizist verzog den Mund nach unten. "Belassen sie es einfach beim Atmen, das reicht mir.", meinte er griesgrämig und ärgerte sich. Nun war er auf sich allein gestellt, wenn es zur Übergabe kam, und er betete dass es von Cablonsky kein einfacher Bluff war, und er ein Mittel bekam, das weiß der Teufel was bei Ayda auslösen würde. Aber hatte er eine Wahl? Konnte er noch auf Besserung hoffen, oder mussten er und Andrea dieses Risiko bei ihrer ältesten Tochter einfach eingehen, und die Ärzte bitten, ihr das Mittel zu verabreichen?
    Es würde eine hässliche, eine fürchterliche Entscheidung sein, vor die die beiden als Eltern gestelllt werden, wenn Semir das Mittel erstmal hatten. Die Tochter sich selbst und eventuell dem Tod überlassen, oder ein Mittel spritzen, bei dem nicht sicher war, ob es Leben oder Tod schenken würde.

    Die Augen von Ben wanderten hin und her, in jede Seitenstraße, in jede Abzweigung. "Das kannst du vergessen... Semir hatte soviel Vorsprung, der kann schon längst auf der Autobahn nach Essen sein.", sagte Kevin und schlug ein mal hoffnungslos auf den Lenker. "Verdammt, es hätte jemand von uns bei ihm mitfahren sollen.", sagte Ben und fuhr sich durch die langen Haare, die daraufhin auch nicht mehr ganz geordnet am Kopf lagen. "Das konnte ja keiner ahnen.", versuchte Kevin ihn zu trösten.
    Die Zeit nagte, die Ungeduld wuchs. Ziellos fuhren die beiden Polizisten in der Kölner Innenstadt umher, dann mal ein Stück Autobahn in ländliches Gebiet. Es gab soviele Locations, wo man gefahrlos eine Übergabe einer Person durchführen konnte, einige naheliegende fuhren die beiden Polizisten auch an, doch nirgends konnten sie den silbernen BMW von Semir entdecken. Ben seufzte, und als sie merkten, dass sie an der gleichen Stelle schon das zweite Mal vorbeifuhren, hatten sie das Gefühl, vor Verzweiflung gleich den Verstand zu verlieren. In Kevin wuchs langsam wieder die Erkenntnis, Fehler gemacht zu haben, und auch sein innerer Druck stieg langsam an.

    "Hartmut!", sagte Ben plötzlich und unerwartet. Ein Groschen fiel, ein Licht ging ihm auf, und er ärgerte sich beinahe, dass es ihm so spät aufging. "Was ist?", fragte Kevin etwas verständnislos, als Ben sein Handy zog und schnell die Nummer der KTU wählte. Scheinbar war sein junger Kollege überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen. Nach zwei Freizeichen hob der rothaarige Techniker ab: "Hartmut? Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche sofort eine Ortung von Semirs GPS-Signal am Dienstwagen.", rief Ben ins Telefon, dass das Genie der KTU in erster Reaktion erstmal den Hörer einige Centimeter vom Ohr entfernt hielt. "Wieso? Habt ihr den Kleinen etwa verloren?", ulkte Hartmut, und rollte mit dem Telefon in der Hand von einem Schreibtisch zum anderen. "Beeil dich, es ist dringend.", mahnte Ben zur Eile und schüttelte innerlich den Kopf. Manchmal hatte Hartmut den Humor an Stellen, an denen er nichts verloren hatte. Seine Finger schnellten über die Tastatur, und im Nu hatte er Semirs Position ausfindig gemacht. "Das letzte Signal war im Umkreis des Waldgebietes südlich von Köln. Genauer gehts nicht." "Ist da irgendwas, ein Gebäude, eine Fabrik, ein Gelände?" Mit dem Mausrad zoomte Hartmut die Karte näher, die dann schärfer wurde. "Da ist nichts... ausser... hmm... könnte.... ja, das ist das alte Militärkrankenhaus. Ich schick dir die Koordinaten aufs Handy." "Danke Hartmut, hast was gut." "Jaja, wie immer.", dann trennten die beiden die Verbindung.
    "Südlicher Stadtrand, vielleicht ein altes Krankenhaus... wir müssen umdrehen.", meinte Ben und wurde durch die folgende Vollbremsung vom Gurt aufgehalten. Als der Mercedes zum Stillstand kam, sah Kevin nach hinten, dort war alles frei und die Spur in Gegenrichtung nur durch eine doppelt durchgezogene Linie begrenzt. "Na, dann schauen wir mal, ob das so einfach ist, wie es im Fernsehen immer aussieht.", grinste der junge Polizist, legte den Rückwärtsgang des Mercedes ein und vollführte nach einigen Metern Anlauf eine 180° Grad - Drehung in die von Ben gezeigte Richtung.