Jenny's Wohnung - 20:00 Uhr
Jenny hatte ihren lädierten Freund am Vorabend umsorgt...sie hatte es zumindest vor. Sie ließ Kevin ein heißes Bad ein, das er sogleich annahm und sich aus den verschwitzten Sportkleidern schälte. Jede Bewegung, die er mit seinem Kopf tat, verursachte einen stechenden Schmerz, der vom Hinterkopf die Wirbelsäule herunter zu sausen schien. Das warme Wasser, das sich fast bis zu seinem Haaransatz an seine Haut schmiegte, entspannte die Muskeln. Der Schwindel gab etwas nach, sobald er die Augen schloss und versuchte, sich zu erinnern. An den Kampf, was war passiert, warum war er so schlapp? Das Wasser? Natürlich, das Wasser. Dieser Anton hatte ihm doch eine Flasche Wasser mitgebracht, von der er getrunken hatte... vorher hatte er sich doch noch topfit gefühlt. Ohne diese plötzliche Müdigkeit hätte er in einem Boxkampf sicher mehr mitbekommen, und vor allem hätte er sich von dem Kerl nicht so verhauen lassen.
Aber was hatte er vorher gemacht... bevor ihm das Licht ausgepustet wurde. Sie hatten geboxt, er war getaumelt, konnte sich nicht mehr recht auf den Beinen halten. All das war vor Kevins innerem Auge vollständig sichtbar. Der Kerl wie er da stand, wie er wartete... was hatte er nur getan? Der Schwindel in Kevins Kopf setzte, genau wie die Schmerzen wieder ein, je stärker er versuchte, sich zu konzentrieren. Es hatte keinen Zweck, nichts wollte sich in dem verschwommenen Bild, das er vor sich hatte, wirklich konkretisieren. Er öffnete die Augen wieder und die Umgebung um ihn, das Bad, die Badewanne und das Wasser kam ihm, wie seine Gedanken, verschwommen und nicht klar vor. Kevin musste mehrmals blinzeln, um wieder klar zu sehen.
Seine Freundin kam nach 20 Minuten ins Bad herein, und fragte lächelnd, ob alles okay sei. "Es geht schon... ich hab ja kein Bein gebrochen.", sagte Kevin lächelnd und stand aus der Wanne auf, um nur zwei Schritte weiter unter die Dusche zu gehen, um sich das warme Badewasser mit kaltem Duschwasser abzuwaschen. Der Temperaturwechsel ließ die Muskeln wieder etwas anspannen, was sofort wieder ein wenig Schmerzen verursachte. Offenbar hatte auch der Schultermuskel und die Wirbelsäule etwas von dem Schlag abbekommen, eine Prellung mindestens. Kevin trocknete sich ab, zog Boxer-Shorts und eins seiner alten Shirts, in denen er schlief, an. Jenny hatte das Bad wieder verlassen, hatte ihm einen Tee aufgesetzt, der schmerzlindernd wirken sollte, auch wenn Kevin normalerweise Tee scheute wie der Teufel das Weihwasser. Sie hatte ihm außerdem ein Essen gezaubert, von dem er doch mehr aß, als er dachte weil ihm vorhin noch übel war. "Ich hatte heute Angst um dich, als ich gehört hatte, dass man dich bewusstlos gefunden hat.", sagte die junge Polizistin mit zitternder Stimme. "Es tut mir leid, dass du so informiert wurdest. Hätte Tom 5 Minuten gewartet, wäre ich wieder aufgewacht.", meinte der junge Mann und strich seiner Freundin sanft mit der Hand über den Unterarm. "Ich... ich wusste gar nicht, dass du dich umgemeldet hast." Jennys Worte kamen nur zögernd, sie war so glücklich darüber, dass Kevin sich damit einen weiteren Schritt für ein gemeinsames Leben mit ihr entschlossen hatte, was ihm scheinbar etwas schwer gefallen war. "Ja... es sollte eigentlich eine Überraschung sein.", sagte er und zuckte lächelnd mit den Schultern. "Wäre ja mal was nach Plan gelaufen..." Seine Ironie brachte auch Jenny zum Lächeln und sie zog ihn sanft an sich heran und küsste ihn. "Was läuft bei uns schon nach Plan...", sagte sie.
Kevin ging nach dem Essen sofort ins Bett, Jenny brachte ihm nochmal einen Kühlakku, den er sich auf den Hinterkopf legen sollte. Als sie das Zimmer betrat, war Kevin bereits erschöpft eingeschlafen... zärtlich küsste sie den eigenwilligen Kommissar auf die Stirn, strich ihm durch die Haare, die nach dem Trocknen ausnahmsweise beinahe züchtig am Kopf an lagen, und deckte ihn zu. So cool und unnahbar er sonst erschien, so zerbrechlich wirkte er in diesem kurzen stillen Moment, dachte Jenny...
Die Nacht hätte entspannender nicht sein können... Trotz mancher Schmerzen, die Kevin gegen halb vier mit einer Schmerztablette weitestgehend betäubte, schlief er richtig gut. Zu groß war die Erschöpfung in seinem Kopf durch die Gehirnerschütterung, zu groß die Nebenwirkungen des Mittels in der Trinkflasche. Sie waren Balsam für einen Mann, der schon seit Jahren nicht ordentlich schlief, auch nicht seit er bei Jenny wohnte. Wenn er nicht wach lag, schlief er unruhig, wurde ständig wach oder hatte Alpträume, aus denen er erwachen wollte. Diese Nacht nicht, als er von selbst gegen 7 Uhr morgens aufwachte und sich langsam zu Jenny drehte, eine Hand um ihren schlanken Körper schlang und die Augen wieder schloss. "Bist du schon wach?", fragte sie mit verschlafener Stimme. "Hmmm...",antwortete er, was als "Nein" aber auch als "Ja" durchgehen konnte.
Erst die nächsten Sätze waren etwas klarer: "Du kannst arbeiten fahren... ich verspreche dir, im Bett zu bleiben.", sagte er murmelnd. Mit einem offenen Auge blinzelte Jenny auf den Wecker. Dann müsste sie jetzt aufstehen, und ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen. Die Dienststelle lief bereits im Notbetrieb, heute würde Andrea immer noch fehlen... "Versprichst du es mir wirklich?", fragte sie und drehte sich zu ihrem Freund um, der müde nickte und am liebsten sofort wieder zurück ins Reich des erholsamen Schlafes wollte. Zu diesem Zeitpunkt verschwendete er noch gar keinen Gedanken daran, sich nicht an das Versprechen zu halten. Diese Versuchung sollte erst später kommen. Jenny vertraute ihrem Freund und kroch aus dem Bett, um sich für den Dienstbeginn fertig zu machen.
Semirs Haus - 7:45 Uhr
Noch einmal alleine schlafen, alleine aufstehen, alleine frühstücken. Heute Vormittag würde Andrea endlich mit Ayda wieder zurück nach Hause kommen, und diese unangenehme Stille im Haus wäre vorbei. Lilly würde auch wieder kommen, sie war immer noch bei ihren Großeltern, weil Semir keinen Urlaub nehmen konnte, und der Kindergarten aufgrund eines Streiks geschlossen hatte. Semir fühlte sich ein wenig müde, und aufgewühlt ob der Erlebnisse des gestrigen Tages. Er fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dass diese Kerle wussten wo er wohnte... unwohl bei den Gedanken, was sie wohl als Nächstes planten. Offenbar schreckten sie selbst vor Todschlag nicht zurück, denn der Schlag auf Kevins Hinterkopf hätte durchaus mehr Schaden anrichten können.
Gerade als er sich die leichte Jacke übergeworfen hatte, und die Haustür zugezogen hatte, konnte er nebenan bei Frau Zenner Stimmen hören. Eigentlich nichts außergewöhnliches, doch das Gespräch, was er mitbekam, ließ ihn aufhorchen. "Deshalb sind wir hier, um sie zu informieren, Frau Zenner. Wir sind von einer Gruppe, die in dieser hübschen Wohngegend dafür sorgen will, dass Menschen wie sie in Ruhe und Sicherheit leben können. Und wir werden auch besonders ein Auge auf ihren Nachbarn haben." Semir blieb knapp hinter der Tür stehen, eine Baumgruppe, die neben seinem Eingang wuchs, verdeckte ihn genügend, so dass man ihn von der Nachbarstür aus nicht erkennen konnte. Stocksteif verharrte der Polizist und schien den Atem anzuhalten. "Herr Gerkhan? Aber hören sie mal, der Mann wohnt hier schon seit 3 oder 4 Jahren. Das ist ein ganz netter Mensch.", hörte er die Stimme von Frau Zenner, die klang wie sich kleine Kinder eine herzensgute Oma vorstellten, die Geschichten erzählte und Süßigkeiten verteilte. "Natürlich ist er das, Frau Zenner. Aber sie wissen ja auch um seine Herkunft." Semirs Herz begann schneller zu schlagen, seine Hand ballte sich unweigerlich zur Faust. "Seine Herkunft?", schien Frau Zenner nicht sofort zu verstehen, was die beiden Männer, von denen immer nur einer sprach, ihr sagen wollte. "Dieser Mensch stammt aus der Türkei. Und sie schauen sicherlich Nachrichten, und wissen was in der Türkei und an der Grenze zu Syrien momentan passiert."
Semir konnte es nicht glauben. Ohne den Kerl zu sehen konnte er ihn sich vorstellen vor seinem inneren Auge. Man versuchte doch tatsächlich eine ältere Frau zu verunsichern, in dem man ihr unwahre Horrorgeschichten über die undurchsichtige Krisenlage im Nahen Osten erzählte. "Zu Syrien... sie meinen..." "Krieg, Frau Zenner. Sie wissen schon, Islamisten, ISIS und so weiter. Wir möchten nur sichergehen, dass so etwas, wie in Paris hier nicht passiert." Die Stimme des Mannes war angenehm für eine verunsicherte Person, sie strahlte Ruhe und Sicherheit aus, und schien die Frau zu beruhigen. "Und sie glauben, dass Herr Gerkhan..." Wieder ließ der Kerl die Frau nicht zu Ende reden, und schien ihr die Meinung so in den Kopf zu drehen, wie er es brauchte. So etwas funktionierte bei älteren Menschen wohl am besten, eine Schwachstelle des Menschen, den auch Enkeltrickbetrüger gerne ausnutzten. "Das wissen wir nicht, Frau Zenner. Aber wir werden ein Auge auf ihn haben, und sie halten sich in Zukunft vielleicht etwas von ihm fern. Wir wissen ja nicht, wie viel Kontakt sie..."
Diesmal wurde der Mann unterbrochen, denn Semir hielt es nicht mehr vor seiner Tür. Er ging mit schnellen Schritten den Weg seines Vorgartens entlang, und sobald die zwei Männer die Schritte des Mannes hören konnten, brachen sie ihren Satz ab. Genauso flink war Semir auf dem Weg zu Frau Zenners Haus. "Glauben sie ihnen kein Wort, Frau Zenner!", sagte er mit erregter lauter Stimme, und sein Gesichtsausdruck drückte Wut aus, seine Fältchen kamen dabei besonders zur Geltung. "Sehen sie diese Aggressivität... wir wünschen ihnen einen angenehmen Tag, Frau Zenner.", sagte der Mann scheinheilig, der, anders als Semir vermutet hatte, nicht mit Glatze und Springerstiefel, sondern normaler Frisur und Jackett an der Tür stand. Als Frau Zenner den wütenden Kommissaren entdeckte, war ihr Gesicht zuerst ein wenig verschreckt. "Hören sie nicht auf die! Frau Zenner, ich bin seit 4 Jahren ihr Nachbar. Die Türken haben mit der ISIS nichts zu tun! Die wollen Ihnen nur Angst machen!" Die energischen Worte des Polizisten schienen an der Haustüre abzuprallen, die Frau Zenner nun hastig zuzog. "Entschuldigen sie, Herr Gerkhan, ich muss leider hinein." Semir biss sich auf die Lippen... Frau Zenner war eingeschüchtert, und er konnte nicht mal sagen, ob von den Worten dieser beiden Männer, oder den Worten des Polizisten selbst.
Semir wandte sich zu den beiden Kerlen: "Habt ihr sie noch alle? Was soll denn das?", fragte er mit aggressiven Unterton."Ich weiß nicht, was sie von uns wollen. Wir machen hier nur Werbung für unsere Partei.", sagte der Wortführer und zog einen Flyer der rechtsextremen NPD aus seiner Umhängetasche, und wollte ihn dem erregten Polizisten geben. "Hört auf mich zu verarschen, ich habe genau gehört, was ihr Vögel Frau Zenner erzählt habt." Dabei nahm er den Flyer, zerknüllte ihn und warf ihm dem Mann vor die Füße. Dessen stummer Freund, ebenfalls im Jackett und Hemd, zückte bereits ein Handy, um eine mögliche provozierte Eskalation des Polizisten aufzuzeichnen. "Wollen sie uns drohen?", fragte der erste Mann provokant, und Semir sah die Kamera. Innerlich musste er sich beinahe die Zunge abbeißen, als er versuchte den aggressiven Gesichtsausdruck langsam verschwinden zu lassen. "Nein... ich wollte sie nur höflich bitten, an meiner Haustür keine Parteiwerbung zu betreiben.", sagte er mit gespielt,höflicher Stimme und die Blicke der beiden Männer trafen sich. "Schönen Tag noch...", warf der Polizist dem Mann noch vor die Füße, drängte sich an ihm vorbei und stieg in seinen Dienstwagen ein. Darin musste er erst einma ltief durchatmen ob dem, was er gerade erlebt hatte...