Beiträge von Campino

    Dienststelle - 09:15 Uhr


    Ben war bereits eine Stunde im Büro, Semir würde ein wenig später kommen. So langsam machte sich Ben's Schlafmangel mehr als bemerkbar. Er hatte Augenringe, er trank bereit den dritten Kaffee und er spürte den etwas sorgenvollen Blick der Chefin, als er eben gekommen war. Anna Engelhardt wunderte sich ein wenig, dass ausgerechnet Ben von ihren drei Beamten am schlechtesten die Tage aussah, obwohl sie annahm dass Semir und Kevin durch die Anschläge den meisten Druck hatten im Moment. Aber sie wollte ihren Mitarbeiter nicht darauf ansprechen, als Ansprechpartner bei privaten Problemen war der Partner die bessere Lösung. Semir würde sicherlich Bescheid wissen, dachte sie als sie beobachtete, wie Ben sich immer wieder mit beiden Händen nach einem Gähner durch die Augen fuhr.
    Wenig später kam Semir, ein Lächeln im Gesicht und zwei Bäckertüten in der Hand. Er hatte gut geschlafen, er hatte den Eindruck dass der größte Spuk vorbei war. Die Nachbarn begegneten im zwar weiterhin mit Schweigen und misstrauischen Blicken, aber der erfahrene Kommissar versuchte sich innerlich einen Schutzwall dagegen zu errichten. Sobald dieser Fall abgeschlossen war, wollte er die Sache komplett aufklären innerhalb seiner Nachbarschaft, wofür er auch schon einen Plan hatte. Die zweite Bäckertüte landete auf Bens Tastatur, der jedoch nur müde aufblickte. "Was ist das?" Semir blieb im Raum stehen und machte ein, gespielt erschrockenes Gesicht. "Wie, was ist das? Das ist das, was du schon seit gefühlt 100 Jahren, die wir zusammen arbeiten, jeden Morgen in dich reinschiebst.", sagte er und hängte seine Jacke über den Stuhl.


    Ben sah ein wenig wehleidig aus und schüttelte nur den Kopf. "Danke, aber ich hab keinen Hunger." Nun waren Semirs Sorgenfalten im Gesicht nicht mehr gespielt... dass Ben morgens keinen Heißhunger hatte, war selten... dann aß er nur ein, statt drei Schokocrossaints. Aber dass er gar kein Frühstück anrührte, hatte Semir erst einmal erlebt, und das war nach einer durchzechten Nacht nach einer Feier, als es ihm danach nicht unbedingt gut ging. Jetzt auch fiel Bens Partner dessen Schatten unter den Augen auf, er hatte auch das Gefühl dass sich einige Fältchen um den Mund mehr gebildet hatten als noch vor einigen Wochen. Zunächst ohne ein Wort zu sagen stand Semir auf und umkurvte den Tisch, bis er hinter seinem Partner stand, der scheinbar nichts bemerkend weiter auf den Bildschirm starrte, als würde er etwas lesen. Ben wusste, was jetzt kam, so bewegte er sich nicht und ließ seinen Partner gewähren, ließ ihn erkennen, dass er schon seit Minuten auf den ausgeschalteten Bildschirm starrte.
    "Was ist los?", fragte Semir dann, als er hinter seinem besten Freund stand und seine Hände auf dessen Schulter legte. Die erste Reaktion war wieder typisch... sowohl Ben, als auch Semir mussten immer erst dazu gezwungen werden, ihre Probleme dem jeweiligen Partner offen zu legen. So schüttelte er erst mal den Kopf und meinte. "Nichts... alles okay." Semirs Griff um Bens Schultern wurde fester, er packte zu und begann seinen Partner zu schütteln, um ihn, sinnbildlich, auf zu wecken.


    "WAS ist los?", wiederholte er nun mit deutlichem Nachdruck, als würde er keinerlei Widerrede akzeptieren. Ben seufzte, wieder der Griff der Hände zu den Augen, wieder ein Kopfschütteln. "Du hast doch selbst momentan soviel Probleme. Ich... ich erzähl es dir, wenn der Fall erledigt ist, okay?", wollte Ben ausweichen, einerseits tatsächlich aus Rücksicht auf Semirs momentane Situation und andererseits, weil er sich scheute über seine Angst zu reden. Nicht über seine Platzangst, sondern über seine Angst vor seinem Job... vor Gefahren, die auf ihn lauern.
    Semir spitze die Lippen, was Ben natürlich nicht sehen konnte. Er nahm also Rücksicht auf seine Probleme, soso. Der erfahrene Beamte spürte, dass es ihm heute gut ging wie schon lange nicht mehr, und dass er voll Zuversicht und Motivation war, diese Rechtsradikalen schnell dingfest zu machen, und sein Leben würde wieder in geregelten Bahnen verlaufen. "Ayda hat heute morgen einen Zeitungsartikel vorgelesen... ohne ein einziges Mal zu stottern.", wechselte er absichtlich und urplötzlich das Thema. Ben drehte sich nun mit dem Stuhl zu ihm um, ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er sah plötzlich ein völlig veränderten Semir im Vergleich zu gestern, als er völlig geschockt am PC stand, als er die Hasskommentare las. "Das ist ja toll...", meinte er ehrlich und der lächelnde Semir nickte. "Und in zwei Wochen, wenn alles normal verläuft, soll sie wieder zur Schule. Sie freut sich darauf, endlich ihre Freundinnen wieder sehen zu können." Ben bewunderte Semir. Er ließ sich nicht unterkriegen, und er schaffte es dass die positive Kraft, die er aus seiner Familie zog die dunklen Wolken um ihn herum einfach verdrängte. Semir war jemand, an dessen Stärke man sich aufrichten konnte, der aber selbst niemanden brauchte, der ihn aktiv aufrichtete... das schaffte er selbst.


    Die beiden Männer lächelten, und für einen Moment hatte Ben vergessen, dass einige Minuten vorher noch sein Partner gefragt hatte, was denn los sei. Er wurde erst daran erinnert, als Semir die Frage mit: "So, und nun erzähl, was los ist.", nochmal stellte. Bens Lächeln erlosch, und er fühlte sich irgendwie ertappt... denn jetzt war gewiss, dass Semir ein offenes Ohr hatte, dass dessen Sorgen Bens Seelenstriptease nicht mehr im Weg standen. Er sah kurz zu Boden und biss sich auf die Lippen, bevor es aus ihm herausbrach. "Ich hab Angst." Semir blickte ein wenig auf seinen Partner herab, weil er immer noch stand, während Ben seltsam zusammen gesunken in seinem Stuhl saß. "Angst wovor?", hakte er vorsichtig nach, und dachte zuerst an den aktuellen Fall bezüglich der Neo-Nazis. Aber hatte Ben vorher schon mal etwas wie Angst gezeigt? Eigentlich nicht... er ging, wie Semir auch, keiner Konfrontation aus dem Weg, keine Auseinandersetzung in seinem Job scheute er...
    "Nein... es ist eine generelle Angst. Seit... seit ich angeschossen wurde." Jetzt erst blickte Ben wieder auf zu Semir, und die Worte fanden nur schwer aus seinem Mund. "Als ich da im Auto lag... nicht richtig atmen konnte... die Ärzte nachher um mich herum, und ich habe immer wieder gehört, dass sie sagten "Wir schaffen das nicht."... ich träume davon ganz oft." Sein Partner hörte ihm stumm zu, denn er spürte, dass es Ben gut tat, einfach zu reden, was er gerade auf dem Herzen hatte. "Ich weiß dass ich Glück gehabt habe... aber wie oft werde ich, werden wir noch Glück haben?"


    Semir hatte über solch eine Frage auch schon nachgedacht, sie dann aber oft verdrängt. Wenn es passieren sollte, dann kann es überall passieren. Natürlich waren sie als Polizisten in ihren, teilweise gefährlichen Einsätzen, gefährdeter als ein Schreibtischtäter. Aber wie oft waren sie Zeuge von tödlichen Autounfällen, bei denen die Toten meist nichts dafür konnten. Es konnte doch immer und überall passieren, aber Semir würde Ben die Angst vor der täglichen Gefahr nicht ausreden können, weil er sie schlicht nicht ignorieren konnte und sagen: "Es ist doch alles gar nicht so gefährlich." Doch, ihr Job war gefährlich. Ob sie nun im Kugelhagel in einer Deckung lagen, oder ob sie bei schlechter Sicht mitten in der Nacht eine ungesicherte Unfallstelle anfuhren... ihr Job war und blieb gefährlich.
    "Vielleicht war es in letzter Zeit, im letzten Jahr auch zu oft, wo es so knapp war. Der Unfall im Wald, als Kevin bei mir war... oder als ich am Dach der Industrieanlage hing, als wir Janines Mörder jagten. Das... das verfolgt mich irgendwie.", sagte Ben leise. Mittlerweile hatte Semir eine Hand auf die Schulter seines Partners gelegt, die sich leicht bewegte, um seine Nähe zu zeigen. Sie wussten alles übereinander, sie waren so eng befreundet, dass eigentlich nichts mehr den anderen überraschen könnte. "Wir akzeptieren die Gefahr in unserem Beruf, Ben. Vielleicht ist es normal, dass man auf einmal Angst davor bekommt. Aber diese Angst vergeht dann vielleicht auch wieder.", meinte er vorsichtig. Er wusste, dass er damit seinem Partner vielleicht nicht helfen konnte, aber er wollte nicht einfach stumm daneben stehen. "Ich hab auch manchmal Angst. Ich frage mich manchmal auch morgens, wenn ich aus dem Haus gehe, ob ich abends wieder zurückkomme. Und ich habe schon drei... nein, zwei Partner verloren im Einsatz. Ich kann dir diese Angst nicht nehmen, aber du bist damit nicht alleine." Ben nickte dankbar, und schaffte es, diesmal ehrlicher als vorhin, Semir anzulächeln. "Ja... danke.", sagte er leise und sein Blick fiel auf die Bäckertüte. Plötzlich verspürte er sowas wie Appetit...

    Jenny's Wohnung - 08:30 Uhr


    Es dauerte gefühlt jeden Morgen länger, bis der Tag sich endlich entschloß, anzubrechen. Kevin musste warten, bis es draussen einigermaßen hell war, um den Vorfall von gestern Nacht noch einmal fest zu halten. Nur in Kapuzenjacke und Jeans bekleidet stand er in der Gasse, hatte die Schrift mit seinem Handy fotografiert und sofort Semir und Ben zugeschickt. "Wir müssen reden", schrieb er darunter und dass er ein wenig später kommen würde. Dabei zog er an der ersten Kippe des Tages. Die Marke der Spraydosen kannte er von früher... warum sollten sich Gewohnheiten geändert haben? Die Farbe war günstig und fürs kurze Sprayen gut geeignet, nichts für Kunstwerke, aber das war damals auch nicht das Ziel, wenn man irgendetwas verzieren wollte, um seine Meinung auszudrücken. "Nazis raus" oder "Haut die Bullen platt wie Stullen", "All cops are bastards"... Von Kevin wurde nicht nur eine Wand früher mit solchen Parolen beschmiert.
    Der junge Polizist ging einen Schritt zurück, er hatte die Arme verschränkt und schien gedankenverloren auf die Schrift zu starren, als wartete er darauf, dass sie ihm irgendwelche Antworten ausspuckte, irgendwelche Hinweise aus dem Nichts erschien. Er hatte eine böse Ahnung... dies war nicht das Werk von den Rechtsradikalen, die bisher eine völlig andere Strategie fuhren. Die wollten Kevin nicht als Cop "verunglimpfen", das war nicht die Art des Rechtsradikalismuses, die die Polizei nicht unbedingt als Feind Nr.1 sahen. Er nutzten sie den Schutz des Polizeiapparates so oft es geht aus. Bei Semir nutzten sie zum Diffamieren seinen Migrationshintergrund, bei Kevin hätten sie auf seine Vergangenheit anspielen können... wenn sie davon wüssten.


    Kevins Blick fiel auf eine grüne Flasche, deren Boden hinter einem Container rauslugte. Er ging mit wenigen Schritten hin und stieß sie mit dem Fuß an, dass es ein wenig klirrte. Schon beim Näherkommen und dem Verändern des Blickwinkels konnte er erkennen, dass es sich um keine normale Flasche handelte. Ein Tuch steckte im Flaschenhals und hing zur Hälfte heraus. Mit einem Taschentuch nahm der Polizist die Flasche in die Hand, und eigentlich brauchte er nicht mehr daran zu riechen, der Geruch von Brandbeschleuniger manifestierte sich sofort in sein Nase. Egal wer hier war, er hatte nicht nur vor, die Häuserwand zu verzieren, dachte er sich.
    Die Möglichkeit, dass die Rechten seine eigene Verbindung zur linken Szene rausbekommen hatten und nun versuchten denen einen möglichen Anschlag in die Schuhe zu schieben, reifte in seinem Kopf. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum die Autonomen ihn plötzlich im Visier hatten, hatten ihn doch gestern alle freundlich begrüßt, und ihn als einen ehemaligen Freund akzeptiert, auch wenn viele ihn gar nicht kannten. Egal wer das war, er würde, wenn wirklich aus der linken Szene, mächtig Ärger mit Annie bekommen, dachte er sich und legte die Flasche schon mal vorsorglich ins Auto. Bevor er in die Wohnung zurückging, zog er am letzten Rest seiner Zigarette, trat sie dann am Boden aus und warf sie in den Mülleimer. Bevor er wieder nach oben ging, nahm er einen Kaugummi in den Mund, um den Geruch ein wenig zu verdecken.


    Jenny saß am Küchentisch und hatte ihre Hände um ihre Kaffeetasse gelegt. Sie hatte heute frei, wollte mal einen Großputz machen und andere Dinge erledigen, trotzdem war sie keine Langschläferin und wollte gleich noch ein wenig Frühsport machen gehen. Ihr Gemüt wurde aber immer noch von der kalten Stimmung belastet, die seit vorgestern zwischen den beiden herrschte, und so blickte sie eher mit kläglicher Miene auf, als Kevin nochmal in die Wohnung zurückkehrte. "Und? Hast du noch was gefunden?", fragte sie, und ihr Freund nickte. "Einen Molotov-Cocktail. Da hatte gestern jemand Großes vor.", meinte er arggewöhnisch und in seiner monotonen Stimmlage. "Und der Spruch... denkst du, das waren wieder diese Faschos?" Kevin dachte einen Moment nach... er sah Jenny an. Ein guter Moment, um ihr Gewissen zu testen? Um sie aus der Reserve zu locken? Er wusste, dass sie um seine Vergangenheit Bescheid wusste... aber sie wusste nicht unbedingt, dass er das wusste. Er zuckte kurz mit den Schultern. "Hört sich eher nach Punks an.", sagte er.
    Die junge Polizistin erschrak innerlich. Warum die linke Szene? Kevin war doch... sie blickte zu ihm. In ihr tobte auf einmal wieder der Kampf, der Kampf des Gewissens, des Vertrauens. Offenes Visir oder weiter die Unwissende spielen... Kevin wartete nur darauf, dass sie sich entschied, und sah zu ihr herüber, ihre Blicke trafen sich in der Mitte des Raumes, und die Kaffeetasse, um die Jenny ihre Hände geschlungen hatte, war auf einmal überhaupt nicht mehr heiß... zumindest spürte sie es nicht mehr.


    Sie entschied sich falsch... und Kevins Ausdruck verhärtete sich. "Aber... was haben die mit dir zu tun?", fragte sie zaghaft. "Das weißt du doch seit vorgestern Abend..." war seine kühle Antwort. Jenny fühlte sich furchtbar vor den Kopf gestoßen, und ihr Herz sprang, als wolle es ausbrechen, gegen ihren Brustkorb. Er wusste es... woher auch immer, und jedes Abstreiten hätte es wohl noch schlimmer gemacht. Sie drehte sich auf dem Stuhl zu Kevin, um nicht den Kopf zu drehen und ihn anzusehen. "Ja... ich weiß es. Ich hab in die Kiste gesehen." "Also, warum fragst du dann?" Kevins Stimme klang abweisend, schnippisch... fast schon verhöhnend. Als hätte er keine Lust auf eine Diskussion, als wollte er Jenny nur vor der Tatsache bloßstellen, dass er wusste, dass sie in dem Karton geschnüffelt hatte. Und innerlich verfluchte er sich erneut dafür, dass er nun doch sauer darüber war, dass er es nun doch wieder ernster nahm, als er eigentlich wollte... dass er diese bescheuerte Kiste zum Vertrauensbruch mutieren ließ.
    "Es tut mir leid, Kevin. Ich... es war falsch. Aber... ich will wissen, wer du bist. Was du getan hast.", versuchte sich Jenny zu rechtfertigen, doch ihre Stimme klang nicht sicher. Sie stand unter dem Eindruck von Kevins Blick, von seiner ausstrahlenden Kälte, von seiner, in diesem Moment, brutalen Unnahbarkeit. Ein völlig anderer Mensch als er zum Beispiel damals war, als er verzweifelt und am Boden Schutz suchte bei Jenny, er solle sie retten, vor sich selbst, vor den Drogen. Und ein völlig anderer Mensch, als er der rettende Anker für Jenny war, stark, unerschütterlich. Als hätte sie es mit drei verschiedenen Menschen zu tun, die alle in Kevin steckten.


    "Warum redest du dann nicht mit mir?", fragte er, was wiederum Jenny wieder vor den Kopf stieß, jedoch nicht mit ihrem schlechten Gewissen, sondern mit seinem eigenen Verhalten. "Weil DU nicht mit mir redest. Weil DU Tage hast, an denen man nicht mit dir reden kann.", sagte sie etwas lauter und stand vom Küchentisch auf. Beide spürten, dass die Situation ausser Kontrolle lief. "Ich habe Angst vor gewissen Dingen, auf die ich dich ansprechen möchte. Egal, ob du gut gelaunt bist oder nicht. Wenn du gut gelaunt bist, habe ich Angst davor, dass deine Stimmung kippt und ich will deine guten Tage mit dir genießen. Ich würde gerne mehr über dich erfahren, über deine Vergangenheit, welcher Mensch du vor dem Tod deiner Schwester warst.", sprudelte es, fast schon verzweifelt aus ihr heraus, und der junge Polizist schaute sie an. War es wirklich so... musste man Angst davor haben, ihn auf gewisse Dinge anzusprechen. Nicht Angst davor, dass er ausflippen würde, aber eben Angst davor, dass er die Tür zu seinem Innersten wieder zuschlug... weil er selbst Angst hatte, eine Frau die er liebte wieder so tief hinein zu lassen, dass sie sich festfrass, festsetzte in seinem Kopf... wie Annie. Und es dann irgendwann vorbei war... so wie mit Annie? War das seine Angst...
    "Ich will, dass wir uns vertrauen... blind. Dass wir uns alles sagen können... ohne zu befürchten, dass wir dadurch wieder einen Schritt zurückgehen.", sagte Jenny und musste schlucken. Sie sagte sovieles, was sie schon seit Tagen auf der Seele mit herumschleppte. Sie wollte es Kevin mal bei einem gemütlichen Abendessen sagen, bei einem ruhigen Fernsehabend, einfach wenn sie beide gut drauf waren darüber reden. Doch jetzt war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, Kevin stand unter Druck und hatte den Kopf voll mit Gedanken, über seine Vergangenheit, Annie, Jenny, den Fall.


    Er blieb stumm... bis aus Jenny noch ein Halbsatz herausbrach, denn sie eigentlich nur dachte, und nicht sagen wollte. "Es ist so schwierig mit...", und ihr Blick senkte sich sofort. "Mit mir?", vervollständigte Kevin den Satz, der ihn einerseits ins Herz traf... den er andererseits aber wohl nicht abstreiten konnte. Jenny blickte wieder auf, ihre Augen wurden feucht, als sie den fassungslosen Blick im Gesicht ihres Freundes sah. Hatte sie es nicht vorher gewusst, fragte sie sich? Sich auf eine Beziehung einzulassen mit einem Mann, der so unnahbar war, der so schwer Vertrauen fassen konnte. Die Drogen waren nicht mal das größte Problem, eine Sucht konnte man mit Abläufen bekämpfen... aber einen Charakter nicht... ein Trauma auch nicht. Und mit diesem extremen Charakter fühlte Jenny sich überfordert. "Ich liebe dich, Kevin.", sagte sie leise und spürte wie eine Träne an ihrer Wange herunterlief. "Aber ich habe es mir nicht so schwer vorgestellt."
    Ein Satz wie ein Faustschlag, der Kevin aber nicht einfach traf, sondern vor die Fall stellte... K.O oder einfach nur eine Warnung? Schluss, oder einfach nur ein "Es muss sich etwas ändern?" Er konnte es nicht sagen, und er fühlte sich selbst auch überfordert. Es war so anders, als wenn er sich mit Annie stritt, die beiden schrien sich an, warfen sich Gemeinheiten an den Kopf, knallten Türen und warfen Gegenstände. Die feurige Rothaarige war in ihrer Emotionalität damals auf Augenhöhe mit Kevin. Das war Jenny nicht... sie machte keine Gemeinheiten, sie legte sich vor dem Polizisten komplett offen, ihre Gefühle, ihre Gedanken... und damit war Kevin überfordert. Und er wusste, dass er auf keinen Fall die richtigen Worte wählte. Er nahm den Autoschlüssel vom Wohnzimmertisch und ging Richtung Tür an Jenny vorbei, wobei er auf ihrer Höhe stehenblieb. "Dann solltest du dir dringend überlegen, WAS du dir wirklich vorstellst..." ... und ob du es dir mit mir vorstellst, vollendete er in Gedanken. Er hätte sich selbst schlagen können... er hasste sich.


    Später wird Jenny, nachdem Kevin letztendlich tatsächlich nach diesem Satz die Wohnung verlassen hatte, in ihr Tagebuch schreiben, dass der scheue Straßenkater, den sie aufnahm und pflegte, der sich bereits streicheln ließ an manchen Tagen, einen Rückfall erlitten hatte. Er kam nicht mehr aus seiner Höhle, fauchte wenn man ihn anfassen wollte. Sie schrieb dass sie überlegte ob es besser wäre, ihn wieder in seine Welt zu entlassen, und ihn zurück auf die Straße zu lassen...

    Köln - 16:00 Uhr


    Sie waren alle enttäuscht am späten Nachmittag, als Hartmut sich erneut auf der Dienststelle der Autobahnpolizei meldete. Das Handynummer, die sie von Ulrich Richter bei der Bundesnetzagentur abgefragt hatten, war ausgeschaltet... keine Möglichkeit zu orten um damit die Observation des Neo-Nazis zu beginnen. Natürlich konnte der rothaarige KTU-Techniker nichts dafür, trotzdem hörte er deutlich Bens Unmut in dessen Stimme durch das Telefon, Semir trat gegen die Blechtür seines Schreibtisches und auch Kevin hielt sich mit Flüchen nicht zurück. Es war der einzige Ansatzpunkt, den die Polizisten hatten... und dieser hatte sich gerade in Luft aufgelöst.
    Sofort danach schwärmten die Beamten aus. Ben und Semir fuhren verstärkt Streife im Industriegebiet nahe der Lagerhalle, wo sich öfters Jugendgangs umhertrieben, Kevin und Jenny fuhren zusammen Streife durch die Innenstadt. Es war ein aussichtsloses Unternehmen, ein Stochern mit der Nadel in einem großen Heuhaufen, aber es war besser, als untätig auf der Dienststelle zu sitzen. Immer wieder, alle 20 Minuten fragten sie bei Hartmut an, ob das Handy mittlerweile eingeschaltet war, bis dem so besonnenen Beamten der Kragen platzte: "Ich helfe euch ja wirklich gerne, aber ich habe hier noch andere Dinge zu tun.", schnauzte er in den Apparat, als die Uhr bereits deutlich nach Feierabend anzeigte. Eine deutliche Warnung für die überemsigen Beamten, es heute einfach mal sein zu lassen, und es morgen wieder von Neuem zu versuchen.


    Kevin und Jenny hatten die ganze Zeit nur wenige Worte gewechselt. Es fühlte sich wie eine Eiszeit an, eine Eiszeit ohne erkennbaren Grund. Kevin hatte in seinen Gedanken mehr mit Annie zu tun, als dass er wirklich noch sauer über den "Vertrauensbruch" mit der Kiste war. Ob und inwiefern in das berührte, damit war er sich selbst nicht einig. Einerseits wollte er nicht mehr so empfindlich sein, was das anging, andererseits hatte es ihn doch geärgert. Doch in seinem Kopf spukte Annie, ihr Geständnis, ihre Tränen und ihr Text, den Kevin noch in seiner Jeans hatte, und dran denken musste, ihn später in der Wohnung heraus zu nehmen, und nicht unbedingt auf dem Nachttisch liegen zu lassen. Sie wechselten nur Worte über Alltagsthemen, was sie heute abend essen wollten, und dass sie morgen gemeinsam ins Revier fahren würden.
    Jenny fühlte sich unwohl, denn sie spürte instinktiv, dass mit Kevin nicht alles okay war, nur wusste sie den wahren Grund nicht. Einerseits schob sie die Möglichkeit, dass er einfach einen schlechten Tag hatte, zur Seite, denn er war wieder im Dienst, er durfte wieder arbeiten, und das half ihm normalerweise über schlechte Phasen hinweg. Und so geriet ihr Verdacht, dass er vielleicht doch mitbekommen hatte, dass Jenny an seiner Privatschachtel war, wieder in ihr Gedächtnis. Das schlechte Gewissen plagte die junge Polizistin, die trotzdem nicht den Mut aufbringen konnte, ihm davon zu erzählen. Vielleicht machte es Kevin nichts aus... aber warum war er dann so merkwürdig... so wortkarg... so distanziert? Innerlich seufzte sie... es war so schwierig. Bei einem anderen Mann, ein Mann der keinerlei extreme Charaktereigenschaften hatte wie Kevin, würde sie es vielleicht einfach sagen, hätte sie ihn einfach darauf angesprochen. Dabei merkte sie, wie wenig sie Kevin eigentlich kannte, wie schlecht sie den jungen Mann einschätzen konnte...


    Jenny's Wohnung - 01:00 Uhr


    Es hatte alles nichts gebracht, doch es war zu erwarten. Sie hatten niemand Verdächtigen gefunden oder beobachtet, sie trafen sich danach auf der Dienststelle und machten alsbald Feierabend. Semir war froh, ein wenig abzuschalten und hoffte, zu Hause nicht wieder auf eine unangenehme Überraschung zu treffen. Seine Hoffnung wurde erfüllt, seine Kinder und seine Frau waren da, und er hatte endlich mal wieder einen schönen ruhigen Abend.
    Bens Abend war ebenfalls ruhig, jedoch nicht unbedingt schön. Nur widerwillig kochte er sich ein karges Essen in seiner Penthouse-Wohnung, saß vor dem Fernseher und interessierte sich eigentlich überhaupt nicht für die Politik-Talkrunde, die da gerade lief. Das Alleinsein machte dem jungen Polizisten normalerweise überhaupt nichts aus, er genoss es zur Zeit Single zu sein... doch heute hätte er sich über Gesellschaft gefreut. Er saß auf der Couch, raufte sich die Haare und ging früh ins Bett... wo er noch mehrere Stunden wach lag.
    Das Schweigen zwischen Jenny und Kevin setzte sich auch in der Wohnung nach Dienstschluss fort. Sie aßen gemeinsam, sie schauten gemeinsam Fernsehen, bis es der jungen Polizistin dann doch zuviel wurde, und sie sich vorsichtig an Kevin herantraute. "Was ist denn mit dir? Du bist seit der Sache in dem Boxclub so... unterkühlt." Kevin, der sich an die Sofalehne an der Seite gelehnt hatte, die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick gelangweilt auf den Fernseher gerichtet, schüttelte nur den Kopf. "Nichts schlimmes. Ich denke halt viel über den Fall nach." Eine Ausrede? Klar dachte er über den Fall nach... schließlich hatte er höchstwahrscheinlich mit seiner Vergangenheit einiges zu tun, dachte Jenny. Kevin aber nervte die Frage bereits... sie wusste doch, was sie getan hatte, warum fragt sie dann, warum ich schlecht drauf bin? Doch sofort flüsterte die zweite Stimme in seinem Kopf: Bist du doof? Ich dachte, es wäre dir egal, dass sie es getan hatte. Wie so oft stritten sie sich im Kopf, und Kevin hätte am liebsten laut gesagt, dass sie beide die Schnauze halten sollten...


    Jenny ging gegen 23 Uhr ins Bett, Kevin blieb noch auf. Das Fernsehprogramm juckte ihn auch nicht, er drückte an seinem Smartphone herum bis ihm der Kontakt von Annie vor die Augen fiel. Sie hatten ihre Nummern ausgetauscht gestern, falls sie mal miteinander telefonieren wollten. Kevin hatte ihr sogar gesagt, wo er derzeit wohne. Der junge Polizist presste die Lippen aufeinander. Würde er Annie jetzt schreiben, sie fragen ob sie mit ihm noch ein Bier trinken wolle, auf irgendeinem Dach auf einer Lagerhalle, oder irgendeiner alten Bank, von wo aus man auf den Rhein blicken konnte... seine Jugendliebe würde nicht Nein sagen, da war er sicher. Sollte er? Sollte er sie anrufen, ihr schreiben? Kevin drehte das Smartphone zwischen zwei Fingern, sein Gewissen grätschte ihm sofort dazwischen. Du hast eine Freundin, die nebenan im Bett liegt... und froh wäre, wenn du bei ihr wärst... wenn du mit ihr reden würdest, du verdammter Idiot! Deine wilden Zeiten sind vorbei! Vorbei!! In Kevins Kopf drehte es sich, zuviele Gedanken strömten auf ihn ein. Und doch musste er ihnen einfach recht geben, zu gerne hätte er ihnen Recht gegeben... zu gerne hätte er jetzt aber auch ein paar Pillen genommen...
    Er tigerte vom Sofa zum Fenster, zur Küche an den Schrank, wo er das Döschen aufbewahrte, vom Schrank wieder zurück ans Fenster. Sein Herz schlug schneller, seine Arme kribbelten, er spürte Druck... und den Entzug. "Rette mich", hatte er Jenny vor einigen Wochen angefleht... und sie ist nicht weggelaufen und hat ihn betteln lassen... sie hat ihm die Hand hingehalten und ihm auf die Beine geholfen, sie hat sich nicht versteckt oder geängstigt. Mit leisen Schritten ging der junge Polizist ins Zimmer seiner Freundin, es war bereits 1 Uhr. Das Mondlicht fiel durch das Fenster, Kevin konnte Jennys Haar und ihre nackte Schulter, nur von einem Träger ihres Nachthemds bedeckt hell erleuchtet erkennen. In Jeans und Shirt legte sich der Polizist neben sie ins Bett und küsste ihren nackten Oberarm, wobei sie sich leicht murmelnd im Schlaf bewegte. "Ich habe dich nicht verdient...", murmelte er leise, ohne dass Jenny es im Schlaf hören konnte. "Und du hast etwas Besseres verdient." Hier lag seine Zukunft... und der Polizist, der sich gerade für einen Vollidioten hielt, hätte sich am liebsten umgedreht und wäre in die Vergangenheit gerannt.


    Ein Geräusch riss ihn aus seiner Gedankenwelt... es war nur schwach wahrnehmbar, und er war überrascht, dass er es erst jetzt hörte. Das Fenster war offen, es schien von draußen zu kommen, und der Polizist stieg langsam wieder aus dem Bett heraus. Die Luft draussen war frisch, mittlerweile kalt, und das spürte er sofort, doch das Geräusch war leiser. Die Nacht war ungewöhnlich hell, durch den wolkenlosen Himmel und den großen Vollmond, der alles erleuchtete. Langsam, geräuschlos, ging Kevin wieder zurück in Richtung des Bettes und verharrte dort... jetzt konnte er das Geräusch wieder hören. Es war wie ein leises Zischen, was immer wieder unterbrochen wurde durch ein Klopfgeräusch. Er konnte hören, wie sein Herz gegen den Brustkorb schlug, als er das Schlafzimmer verließ und ins Wohnzimmer zurückkehrte. Jetzt konnte er das Geräusch wieder deutlicher hören, und wieder kam es von einem Fenster, das offen stand... diesmal das Küchenfenster, jedoch lag dies nicht zur Straße, sondern zu einer Gasse zwischen den Häusern. Als Kevin den Kopf aus dem Fenster streckte, war das Geräusch unter ihm klar zu vernehmen. "Hey!!", rief er laut aus dem Fenster, und das Zischen verstummte sofort.
    Ein lautes Klackern und Poltern war zu hören, das Tippeln von schnellen Laufschritten hallte durch die Gasse. "Bleib stehen!", rief Kevin nach unten und konnte gerade noch im Lichtschein der Laterne, als die Gestalt aus der Gasse auf den Bürgersteig rannte, ungefähr die Statur erkennen... klein, schlank, schmächtig und er hatte wohl eine Maske über dem Kopf. Obwohl es beinahe aussichtslos war, verfiel Kevin sofort in einen Sprint, aus der Wohnung heraus, die Treppen polternd herunter, so dass wohl jeder Bewohner des Dreifamilienhaus aus dem Bett fiel. Es dauerte keine Minute, bis er unten auf der Straße angekommen war. Mit lautem Atmen sah er nach rechts und links die beleuchtete Straße herunter, einige Autos waren noch unterwegs, aber er konnte keinen Fussgänger ausmachen. "Fuck...", keuchte er und ging zum Eingang der Gasse. Mit seinem Smartphone leuchtete er den Boden ab, von wo das Geräusch herrührte, dort lag eine Farbsprühdose. Als Kevin die Häuserwand beleuchtete, konnte er das Wort "Bullenschw" ausmachen, offenbar bis zur Stelle, wo Kevin den Täter gestört hatte. Den Rest des Wortes konnte er sich allerdings selbst denken...

    Hi susan,

    ja dieses Darknet gibts tatsächlich. Manche nennen es einen Segen weil man dort komplett anonymisiert über den sogenannten Tor-Service sowohl im normalen als auch im Darknet surfen kann. Gerade deshalb ist aber eben das Darknet Paradies für allerlei Verbrechen und Kriminalität.

    Das FBI soll mittlerweile aber Teile des Darknets unter Kontrolle haben und deswegen gilt es nicht mehr als 100% sicher. Ich habe darüber, aufgrund meines Jobs, einige Artikel gelesen.

    Dienststelle - 14:30 Uhr


    "Was soll das heißen, Hartmut? Du kannst doch sonst immer alles!" Ben hatte, von seinem Unterbewusstsein befohlen und von seinen Sehnen und Muskeln ausgeführt, die Faust geballt neben dem Telefon liegen, in der anderen Hand den Hörer. Sie waren eben wieder im Büro angekommen, nachdem sie noch bei der Staatsanwaltschaft waren, um einen Beschluss zu erwirken, um einen Namen hinter der E-Mail-Adresse zu finden. Ben und Jenny hatten Glück auf einen verständnisvollen Staatsanwalt zu treffen, der zwar mit Zähneknirschen bemerkte, was die Autobahnpolizei mit Staatsschutz-Angelegenheiten zu tun hatte, aber er kannte sowohl Ben, als auch Semir. Er würde es auf seine Kappe nehmen, und schrieb dabei "Gefahr im Verzug", dann dürften auch die Jungs von der Autobahnpolizei ermitteln.
    "Ben, wie stellst du dir das vor? Ich kann zwar vieles, aber ich kann nicht hexen. Die Bilder von Semirs Haus wirst du aus dem Internet nicht mehr rausbekommen.", versuchte der rothaarige KTU-Leiter am anderen Ende der Leitung mit Engelsgeduld seinem Kumpel Ben zu erklären. "Kannst du da nicht irgendwie den Facebook-Server hacken... Menschenskind, irgendwie müssen wir doch diese Bilder löschen." Hartmut lachte, ob des Unwissens seines Freundes am anderen Ende der Leitung auf. Ben war zwar ein hervorragender Polizist, aber auf der Windows-Oberfläche und dem Internet-Browser endete dann auch sein Horizont, was PC und Internettechnik anging. Das war aber bei Semir genauso. "Ben... die Server von Facebook stehen in den USA. Abgesichert wie das Pentagon. Es tut mir wirklich leid, aber die Bilder wurden so oft geteilt, die stehen in 100ten, 1000ten Profilen. Von anderen Newsseiten ganz zu schweigen. Vergiss es... es tut mir leid. Ich schau dass ich so schnell wie möglich rausbekomme, wozu die Mail-Adresse gehört, okay?" Ben seufzte und musste wohl einsehen, dass es auch für sein persönliches Genie Grenzen gab. Er bedankte sich und legte auf.


    Der Polizist sah auf die Wanduhr. Er wartete auf seinen Partner Semir, damit sie die geplante Observation von Ulrich Richter angehen konnten, so wie sie es eigentlich geplant hatten, bevor sie die schockierende Facebook-Nachricht gelesen hatten. Ben hatte seine Jacke ausgezogen und saß im T-Shirt da, weil es mittlerweile richtig warm wurde im Büro, der Herbst bäumte sich nochmal auf, und es schien als wäre es ein Vorbote vor den ersten richtig kalten Tagen, vielleicht aber auch ein Vorbote vor einem Unwetter, so empfand Ben es gerade. Er wusste nur noch nicht, ob das Unwetter draussen war, mit Regen, Schnee oder Sturm, oder ob das Unwetter sich gerade direkt über den Köpfen seiner Freunde und ihm selbst zusammenbraute. Diese versteckte Angst, diese latente Unsicherheit, die er empfand seit er angeschossen wurde, tobte immer noch in ihm. Er würde gerne mal reden, mit Semir oder Kevin, aber er nahm Rücksicht auf deren momentane Situation. Wenn dieser Fall vorbei war vielleicht... dann hätten sie Zeit, vielleicht mal Urlaub zu machen und Ben könnte sich in Ruhe Gedanken machen, wie es für ihn weiterging, ob es für ihn weiterging. Im Moment ging er mit Bauchweh zur Arbeit und fühlte sich erst besser, wenn er zu Hause war. Er aß auch weniger als sonst, und er hatte in den letzten Wochen mehrere Kilo abgenommen. Semir, in Sorge um seine Tochter, danach unter psychischen Druck des Terrors der Neo-Nazis, ist es gar nicht aufgefallen, dass sein Kumpel schlanker geworden war, blasser und irgendwie... verändert. Aber Ben nahm es ihm nicht krumm...


    Ein wenig gehetzt kam Semir dann auch ins Büro, denn er wusste ja, dass Ben auf ihn wartete. Im Schlepptau hatte er, für den Polizist mit der Wuschelfrisur überraschend, Kevin. "Hi... hast du nicht noch Krankenstand?", fragte er von seinem Schreibtischstuhl aus und legte den Kopf ein wenig schief. Kevin schüttelte nur den Kopf, ohne eine Antwort zu geben. Eigentlich hatte er die ganze Fahrt über nichts geredet, war abgetaucht in seine eigene Welt und hatte die ganze Zeit eigentlich nur das Gesicht von Annie vor sich, wie sie ihn anblickte nachdem er ihren Text gelesen hatte. Die Sehnsucht in den Augen, der Blick von damals, von dem er so lange danach vergeblich geträumt hatte... alles war wieder da, alles war wieder greifbar... und doch elendig weit weg.
    "Wir wissen, was das SF bedeutet.", kündigte Semir, ebenfalls zu Bens Überraschung, an und ging zur Flipchart-Wand, wo er in Klammern hinter das Kürzel SF "Sturmfront" schrieb. "Wie kommt ihr jetzt darauf?" Kevin begann dann zu erzählen, allerdings in kurzen knappen Sätzen, was sich gestern und heute so zugetragen hat in seinem Leben. Seine kurzzeitige Rückkehr in die Vergangenheit, und das erste Gespräch mit Annie. Infos von dem zweiten Gespräch ließ er allerdings komplett aussen vor, ausser der Tatsache, dass Annie sich nicht erweichen ließ, um etwas über den Treffpunkt der Sturmfront aus zu sagen. Ben war im Bilde und nahm daraufhin den Hörer in die Hand, als das Telefon klingelte: "Schlechte Nachrichten, Ben.", hörte er Hartmuts Stimme durch den Hörer. "Schon wieder?", war die seufzende Antwort und er stellte den Lautsprecher an, damit Kevin und Semir mithören konnten. "Die Mail-Adresse führt ins Nirgendwo... nämlich ins Darknet. Der Server steht in Lybien und der Verkehr ist verschlüsselt, genauso wie die Verbindung zu dem PC, der die Mails abruft." "Darknet?", fragte Semir laut, und bekam sogleich eine Erklärung von Hartmut. "Quasi eine paralelles Internet, allerdings ist der Datenverkehr über mehrere anonyme Knotenpunkte verschlüsselt. Quasi nicht nachvollziehbar. Im Darknet gibt es alles, was im normalen Internet verboten ist. Waffen, Drogen, Rechts- wie Linksradikalismus und verbotene Pornografie." "Irgendwie muss diese Sturmfront doch Werbung für sich machen... vielleicht dort.", mutmaßte Kevin, der sich bei Ben auf den Tisch gesetzt hatte. "Ich werde mal ein bisschen herumschnüffeln. Ich melde mich." Ein Knacken in der Leitung bedeutete, dass Hartmut schon wieder aufgelegt hatte.


    Köln - gleiche Zeit


    Er wollte Annie helfen... das stand für ihn fest. Wenn schon dieser komische Typ, der bei ihr war ihr nicht weh getan hatte... die beiden Faschos waren sicherlich nicht in friedlicher Absicht da. Sammy war nicht mehr zu Annie gegangen, um ihr von seinem Plan zu erzählen, er hatte in einer Gasse neben der Lagerhalle neben seinem klapprigen Motorrad gewartet, und sah die beiden Typen gerade noch die Straße entlang gehen bis zu einer Bushaltestelle. Dort warteten sie, zündeten sich eine Zigarette an und schienen sich zu unterhalten. Sie wirkten wie zwei ganz normale junge Männer, denn sie waren in ihrer Kleidung und ihrem Äusseren nicht besonders auffällig. Sammy wartete geduldig, er wäre sofort in der Menschenmenge aufgefallen mit seinen grell gelb gefärbten Haaren, seiner Lederjacke und seinen Buttons, die an selbige gepinnt waren.
    Als der Bus kam und die beiden Neo-Nazis einstiegen, heftete er sich mit seinem Motorrad an die Fersen des Buses. Sie fuhren vom Industriegebiet weg, durch die Innenstadt in ein ruhigeres Viertel, wo es die ein oder andere Bar, Kneipe oder ein schickes Restaurant gab. Zwei Haltestationen vor Schluß stiegen die Männer aus, als Sammy sie sah fuhr er sofort neben den Bus um unerkannt zu bleiben. Im Schatten des Buses fuhr er einige Meter, behielt die beiden Kerle im Rückspiegel im Auge und ließ sein Motorrad dann an einer Parkbucht stehen. Mit dem Helm auf dem Kopf beobachtete er, wie die beiden in eine Kneipe namens "Germania" gingen. "Passender Name", meinte er ironisch, und als die beiden verschwunden waren, nahm er den Helm ab und kam näher zur Eingangstür.


    Der schmächtige Punk dachte nach... solle er hier abbrechen? Annie erzählen, dass er weiß wo die Nazis ihre Gaststätte hatten, dass man eventuell eine Gegenaktion starten konnte? Oder sollte er sich noch ein wenig umschauen? Er sah sich das Haus an. Es war ein typischer Altbau, oben einige Wohnungen wahrscheinlich, neben der Kneipentür war auch eine Haustür mit 4 Klingeln. Das Haus war nur einseitig angebaut, auf der anderen Seite war eine schmale Gasse, die Sammy jetzt betrat. Hier standen Müllcontainer, aus Dachrinnen, deren Rohre nach unten führten tropfte es, und es wurde im Schatten auf einen Schlag kühler. Die Gasse führte in einen Hinterhof, der abgegrenzt wurde durch eine Mauer zur Seite, und das Paralellhaus nach hinten. Einige Rücktüren der Kneipe "Germania" und Türen in das Paralellhaus führten in den Hof. Auch hier waren mehrere Müllcontainer, leere Getränkekästen und sonstiger Schutt.
    Sammy packte der Übermut, als er versuchte an einer Kellertür, die am Fuße einer Treppe lag, in die "Germania" einzudringen. Allerdings war sie verschlossen. Sie bestand nur aus Holz und einer kleinen Scheibe, so dass Sammy der Meinung war, sie mit grober Gewalt aufzubekommen. Innen wollte er sehen, ob sich vielleicht etwas finden ließe, womit er ein Feuer machen konnte, um den Nazis ihre Stätte unterm Hintern abfackeln zu können. Doch Sammy war ungeschickt, und machte zuviel Lärm... soviel Lärm, dass Rocky mitbekam, dass in seinem Hinterhof etwas vorging... und soviel Lärm, dass Sammy nicht bemerkte, wie Rocky sich langsam näherte...

    Stadt Köln - 14:00 Uhr


    Kevin hatte das Gefühl, seine Beine wären aus Pudding, der Boden unter ihm aus zähflüssigem Gummi bestehen würde und jeder Schritt ihm extrem schwer fiel. Nicht nur aus dem Grund, dass er jetzt mit keinem Wort noch einmal den Standort der Sturmfront bei Annie angefragt hatte und ihn deswegen ein wenig das schlechte Gewissen gegenüber Semir quälte sondern vor allem, weil er von Annies Geständnis mehr als nur überfahren wurde. Ja, er hatte sich sofort an die Zeit zurückerinnert, als er sie gestern gesehen hatte, er fühlte sich zurückversetzt und es hatte sich verdammt gut angefühlt. Aber er hätte niemals, im Leben nicht daran geglaubt, dass seine Jugendliebe wirklich noch Gefühle für ihn hatte. Aber Annie hatte sich verändert. Hätte er sich vielleicht freiwillig hierher verirrt, wenn er das gewusst hätte? Hätte er es gewagt, würde er es jetzt wagen? Das gerade erkämpfte, in halbwegs geregelten Bahnen verlaufende Leben aufgeben für ein bisschen Chaos, ein bisschen Abenteuer, Unsicherheit und Freiheit?
    Semir erkannte sofort den verkniffenen, leicht abwesenden Blick seines Kollegen, und er kannte Kevin mittlerweile so gut, dass er diesen Blick richtig deuten konnte. Erfahren hatte er definitiv nichts... und scheinbar war das Gespräch in keinster Weise so, wie sich der Polizist es vorgestellt hatte. Ohne ein Wort zu sagen ließ Kevin sich in den BMW des erfahrenen Polizisten gleiten, begleitet von einem hörbaren Ausatmen. "Nichts?", fragte Semir kurz. "Nichts.", war auch die ebenfalls und exakt genauso kurze Antwort. Enttäuscht presste der Kommissar die Lippen zusammen und startete das Auto. Kevin hatte ihm vorhin in der Wohnung noch kurz und knapp geschildert, in welchem Verhältnis er zu Annie stand, einige Jahre zuvor. "Und das Gespräch war nicht gut?", hakte er nach, denn Kevin erschien ihm zu niedergeschlagen, als das dies nur von der gescheiterten Informationsbeschaffung herrührte. Ein wenig spitzte der junge Mann die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, während er gegenteilig ein "Doch...", aus dem Mund herausbrachte. Er hätte auch einen Satz auf Chinesisch sagen können, und Semir wäre genauso weit gewesen, wie er jetzt war als er auf die Hauptstraße einbog.


    Auch Annie fühlte sich nicht gut. Sie war wütend auf sich selbst, wütend auf ihr Leben, wütend darüber dass Kevin nochmal in ihrem Leben aufgetaucht war. Ja, sie hatte ihn vermisst... ja, sie hatte an ihn gedacht. Aber war das nicht normal? Dass man als Jugendlicher eine Liebe fand, die man nicht vergisst? An die man auch dachte, wenn man glücklich mit einem anderen Mann zusammen war, verliebt war, verheiratet und glücklich war? War da, irgendwo in einer geheimen Ecke, hin und wieder dann nicht dieser Kerl, mit dem es auch hätte klappen können? So hatte Annie es sich vorgestellt. Doch sie war allein, nicht einsam und nun tauchte dieser Typ wieder auf... und verdammt, er hatte sich verändert. Er war nicht mehr der unbeherrschte Junge von damals, sondern ein stiller Mann geworden, hatte sich so gewandelt dass er auf sie geheimnisvoll wirkte. Zu gerne hätte sie gewusst, was er alles gemacht hatte in der Zwischenzeit...
    Die junge Frau saß im Schneidersitz wieder auf ihrem Bett und hatte zwei, drei Tränen verdrückt, als der junge Punk mit den blonden Stachelhaaren seinen Kopf um die kleine Abtrennwand, die letztendlich nur eine aufgehängte Volldecke war, damit die Leute, die hier tatsächlich wohnten, ein wenig Privatsphäre hatten. "Annie? Weinst du etwa?", fragte er vorsichtig, um sicher zu gehen, dass er nicht völlig ungelegen kam. Sie schniefte zweimal und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres zu langen Pullovers von der Wange. "Hey Sammy... nein, es ist alles okay.", sagte sie und versuchte zu lächeln. Sammy war schon als 15jähriger hierher gekommen, ein etwas schmächtiger Junge, der sich in seiner Statur und seinem Wesen nicht alzu sehr geändert hatte. Jetzt war er 22, und war schon immer, seit er hier war, von Annie fasziniert... sowohl äusserlich, als auch von ihrer Art. Er wusste aber, dass er niemals eine Chance bei ihr haben würde, und musste sich das spätestens eingestehen, als er ihr bei einem Punkkonzert etwas Nettes über das Mikrofon gesagt hatte. Viele hatten ihn ausgelacht, belächelt, aber Annie fand es selbst großartig, was sie Sammy auch sagte. Aber natürlich auch, dass sie nicht die Richtige für ihn war...


    Aber der kleine Punk bemühte sich immer um sie, er war einfach gern in ihrer Nähe und unterdrückte seine Gefühle, und so waren sie einfach nur sehr eng befreundet. Jetzt kam er in seiner ganzen Erscheinung hinter dem Vorhang hervor und setzte sich zu Annie aufs Bett. "Ist es wegen dem Typ, der gerade da war?", fragte er, immer vorsichtig herantastend um die junge Frau ja nicht in die Enge zu drängen. Annie nickte lächelnd, sagte aber direkt: "Aber er hat nichts Böses getan, keine Angst." "Wer war das?" Die junge Frau fuhr sich mit einer Hand durch ihre Kurzhaarfrisur und atmete hörbar aus. "Er war vor ganz langer Zeit hier bei uns. Und er war ein sehr sehr enger Freund für mich.", sagte sie und trotz ihrer feuchten Augen, und einer weiteren Träne, die ihr über die Wange lief, lächelte sie ehrlich. "Und, warum weinst du dann?"
    "Genau, liebste Annie... warum weinst du dann?", fragte eine dritte Stimme, und beide Punks die auf dem Bett saßen, drehten den Kopf erschrocken in die Richtung des Vorhangs. Annie kannte die Stimme sofort, ihr Herz setzte für einen Moment aus und sie erkannte das Gesicht des Mannes, der da stand, sofort. Sie wusste nicht, wie sein wahrer Name war... sie wusste nur dass er bei der Sturmfront Lunikoff oder kurz "Luni" genannt wurde. Seine blonden Haare hingen ihm von einer Seite locker ins Gesicht und äusserlich entsprach er gar nicht dem typischen Klischee eines Rechtsradikalen. Schräg hinter ihm stand ein weiterer Mann, schmächtiger und etwas kleiner als Luni, die Haare an den Seiten kurz geschoren. Beide grinsten, als sie auf die, in diesem Moment so schwächlich wirkende Annie herunterblickten. "Was wollt ihr hier? Warum...", fragte sie zischend und versuchte sofort, ihre dominante Haltung an zu nehmen. "Warum uns niemand aufgehalten hat? Nun, wir hatten einen Schlüssel...", sagte Luni und hob die Jacke ein wenig an. Der Griff eines Revolvers glänzte aus dem Hosenbund, und die junge Frau biss sich auf die Lippen.


    "Was habt ihr hier verloren? Ihr habt gesagt, dass ihr uns in Ruhe lasst!" "Wir haben nur ein paar Fragen... und schon sind wir wieder weg.", sagte der Neo-Nazi mit katzenfreundlicher Stimme. "Ihr bekommt hier aber keine Antworten, ihr scheiss Faschos! Also verpisst euch.", knurrte Sammy und stand angriffslustig auf, denn er hatte das Gefühl, Annie schützen zu müssen und ging drohend auf Luni zu, der den Punk sofort an seiner Lederjacke griff. "Was willst du kleiner Hosenscheisser denn?" Luni war mindestens einen Kopf größer und 20 kg schwerer, während sein Freund Stuka schon die Zähne leckte. "Hört auf! Lasst ihn los, sonst verspreche ich euch, ihr kommt hier nicht lebendig raus.", keifte Annie sofort und stand ebenfalls von ihrem Bett auf. Das Lächeln bei Luni erkaltete, und auch wenn er eine Waffe bei sich hatte... mit 15 oder 20 gewalttätigen Punks, die hier in der Nähe waren und durch Lärm sofort angelockt wurden, war nicht zu spaßen. Er schubste Sammy von sich weg. "Los, verpiss dich!", befahl er ihm, und der Junge schien ein wenig seinen Mut verloren zu haben. "Annie...", sagte er ein wenig hilfesuchend, unsicher ob er die junge Frau alleine lassen konnte. "Geh. Wenn ich in 10 Minuten nicht bei dir bin, sag Olaf Bescheid, dass er alle zusammentrommeln soll." Eine Rückversicherung für die junge Frau, was auch Sammy ein wenig beruhigte, und er zog ab.
    "Disziplin ist in deiner Truppe nicht unbedingt eine Stärke, was?", witzelte Stuka aus dem Hintergrund. "Wir sind auch keine Militärtruppe, so wie ihr!", sagte Annie feindselig, während Luni sich auf der tiefen Matratze niederließ, und sich eine Zigarette ansteckte.


    "Kommen wir zur Sache, ich will mich hier nämlich nicht lange aufhalten... ich habe Angst, dass ich mir etwas einfange...", sagte er in aller Seelenruhe und blies Annie von unten den Rauch der Zigarette ins Gesicht. "Aus eurer Halle kam eben ein Kerl. Sah nicht aus, als würde er zu euch gehören, denn er sah aus als würde er sich zumindest alle zwei Tage ordentlich waschen. Was habt ihr mit ihm zu tun?" Annie rutschte ein weiteres Mal das Herz in die Hose... Zweifelsohne sprach sie von Kevin. Loyalität stand für die junge Frau in dieser Gruppe an erster Stelle, vor allem gegenüber ihren schlimmsten Feinde, gegenüber den Neo-Nazis und der Staatsmacht, der Polizei. Das hatte sie von Jerry zu beigebracht bekommen. "Ich weiß nicht wen ihr meint.", sagte sie mit einer möglichst starken Überzeugung. Luni sah zu Stuka, ein kurzer Blick, dann wieder zu Annie. "Schätzchen, ich fass dich nur ungern an, aber ich werds tun müssen, wenn du mir nicht sagst, was du mit dem Kerl zu tun hast."
    "Er hat sich hier verlaufen. Hat ne Adresse gesucht, und wir haben ihn wieder weggeschickt.", sagte sie und verschränkte die Arme zur Abwehrhaltung vor der Brust. "Dann scheint er nicht besonders helle zu sein, denn er hat sich gestern auch schon hier verlaufen.", meinte der Faschist nun mit schärferer und lauterer Stimme, und Annie erschrak innerlich. Die Typen schienen Kevin schon länger zu beschatten... scheinbar hatten sie es tatsächlich auf ihn abgesehen. Mein Gott, was sollte sie nur tun. "Also...", meinte Luni und erhob sich von dem Bett, während er nochmal an seiner Zigarette zog. "Entweder, du sagst uns jetzt, was wir wissen wollen... und wir verschwinden so schnell, wie wir gekommen sind und lassen euch Ratten wieder alleine. Oder wir gehen, und kommen morgen... oder übermorgen... oder in zwei Stunden mit soviel Männern, schlagen euch tot und heizen mit euren undeutschen Kadavern das größte Martinsfeuer der Stadt, wie hört sich das an?" Seine Stimme klang unheilvoll, Annie hatte keinen zweifel daran, dass er zumindest die erste Drohung, mit mehr Männern hier wieder aufkreuzen würde, wahr machen würde. Aber sie konnte doch Kevin nicht verraten... "Also, zum letzten Mal... was habt ihr mit dem Bullen zu tun?"


    Annies Herz setzte aus. Mit dem was...? Was hatte er gerade gesagt? "Hast du gerade "Bullen" gesagt?" Stuka grinste übers ganze Gesicht, und auch Luni schien angenehm überrascht darüber. "Oh... gibt es da etwa etwas, was du noch nicht weißt?" Die junge Frau konnte ihre selbstbewusste Haltung nicht mehr aufrecht erhalten, so groß war der Schock. Ihre Gesichtszüge entglitten, ihr Mund stand offen. Für die Autonomen, die Hausbesetzer waren die Polizei der größte Feind neben den Faschisten. So oft empfanden sie das Gesetz als pure Provokation, als Schikane, wenn sie mit Knüppeln aus besetzten Häusern gezogen wurden, wenn die Polizisten rechte Demos bewachten waren sie in den Augen der Punks gleich zu setzen mit den Rechten. Kevin gehörte dazu... und er hatte nichts gesagt. Hatte geschwiegen, sie im Unklaren gelassen. Er war nicht nur ein Bulle, ein dreckiger kleiner Polizist, sondern auch noch unehrlich und falsch. Ihre Wut überkam sie, wenn Kevin hier wäre, würde sie ihn anschreien, wahrscheinlich ohrfeigen oder Schlimmeres. Doch er war nicht da... ihre Wut entlud sich in ihrer Stimme.
    "Er heißt Kevin.", kam nur stockend aus ihr heraus. "Das wissen wir bereits. Hier...", sagte Luni und faltete einen Ausdruck aus dem Polizeicomputer, den sie von einem befreundeten Polizisten, der auf ihrer Seite stand (heimlich natürlich) bekommen hatten. Ein Portraitfoto des 26jährigen Kevin, kurz nach seiner Abschlussprüfung, in Uniform. Seine blauen Augen war das Einzige, was Annie sofort an ihm erkannte. "Wie wollen wissen, was er hier wollte, und was er mit euch zu tun hat." Die junge Frau konnte ihre Augen nicht von dem Bild weg bewegen. "Er... war in unserer Gruppe. Das ist schon lange her... über 11 Jahre. Er war... er war hier um... um..." Ja, warum war er eigentlich hier? Aus Zufall wohl kaum... und direkt am ersten Tag hatte er nach der Sturmfront gefragt. Annies Wut kochte über... er hatte sie schamlos ausgenutzt, kam nur um seine Haut zu retten, warum auch immer er sich mit der Sturmfront angelegt hatte. Wahrscheinlich hatte er heute nichts gefragt, weil sie ihn überrumpelt hatte. Dieses Schwein, dieses gottverdammte Bullenschwein... ihre Hände ballten sich zu Fäusten. "Er wollte wohl in seiner alten Gruppe Informationen über euch." Lunis Gesicht, das erst überrascht war darüber, dass ein Bulle mal in einer Punkbewegung war, wurde nun verärgert darüber, dass Kevin bereits ermittelt. "Und was hast du ihm erzählt?", fragte er beinahe drohend. Annies Ausdruck in den Augen, eine Mischung aus Wut, Traurig- und Hilflosigkeit, war auf einmal völlig überzeugend. "Nichts habe ich ihm erzählt. Ich... wollte ihn schützen."


    Luni wusste zwar nicht, warum er einer Zecke glauben sollte... aber die Worte, gerade die letzten, kamen aus purer Überzeugung... und er bildete sich ein, eine gute Menschenkenntnis zu besitzen. Er stand langsam auf und meinte: "Ihr seid Dreck in unseren Augen. Aber genauso seid ihr Dreck für die Polizei, so wie wir auch. Und deswegen würde ich mich nicht mit einem Bullen einlassen, egal was er früher war." Es klang wie ein freundschaftlicher Rat, doch aus dem Mund des Nazis hörte er sich wie eine Drohung an. Die wahre Drohung, die er dann, kurz bevor die beiden am Vorhang vorbeigingen, hörte sich dann schon fast harmlos an. "Solltest du ihm doch irgendetwas über uns erzählen, dann werden wir dich töten... egal wo du dich versteckst."
    Annie hörte die Worte, doch sie versackten einfach. Sie fühlte sich ohnmächtig, voller Wut, voller Zorn, voller... ja, beinahe schon Hass. Sie weinte, und sie weinte nicht vor Traurigkeit darüber, dass sie hintergangen wurde, sondern sie weinte vor Hass... vor Hass auf die Faschisten, von denen sie bedroht wurde, vor Hass auf die Polizisten, die ihnen das Leben schon lange zur Hölle machten... und vor allem vor Hass auf einen Polizisten... Kevin.

    Dach der Lagerhalle - 13:30 Uhr


    Es war ein seltsames Gefühl für beide, dort oben über der Lagerhalle zu sitzen und auf die Stadt herunterblicken, die Sonne, die beinahe kalt wirkte, auf sich zu spüren. Es war fast so normal, Annies Haare an Kevins Wange zu spüren, den leichten rötlichen Schimmer zu sehen, der von ihrer knalligen Haarfarbe abstrahlte, ohne dass er seine Augen auf sie richtete. Es war eine merkwürdige Stimmung, sie waren still geworden, hatten einige Minuten geschwiegen und auf die Stadt runtergeblickt, und unternahmen eine Zeitreise in ihre Vergangenheit, jeder für sich und doch gemeinsam. Was hatten sie falsch gemacht, was richtig... und taten sie gerade jetzt etwas Falsches? Tat Kevin etwas Falsches, dass er dieses, scheinbar unheilvolle Treffen nicht abbrach, nachdem Annie Andeutungen machte, noch Gefühle für ihn zu hegen. Aber war es ihm unangenehm? Ganz und gar nicht... Kevin war ein Mensch, der nur schwer mit etwas abschließen konnte, schon gar nicht, wenn es um Liebe ging. Er würde für Annie immer einen Platz haben, er hatte immer mit Sehnsucht an sie zurückgedacht, obwohl es schon so lange her war. Doch jetzt war Jenny in seinem Leben, er war gerade drauf und dran den Schritt zu machen, weg vom Auf und Ab, weg davon immer wieder zwischen Polizist und Verbrecher, zwischen Junkie und normalen Bürger zu schwanken. Er war kurz davor den endgültigen Schnitt zu ziehen... darüber hatte er nachgedacht. Endlich eine feste Dienststelle... ein festes soziales Umfeld, Semir und Ben als enge Freunde. Jenny als Lebenspartnerin, eine Wohnung, später vielleicht ein Haus. Gedanken, die für Kevin untypisch waren, für den jüngeren Kevin gänzlich absurd.


    Doch ausgerechnet Annie erweckte jetzt die Gedanken des jüngeren Kevin, des 17jährigen, der er tief in sich drin irgendwo immer noch war. Der das Chaos liebte, sowohl in seinem Leben als auch in seinen Gefühlen, der Routinen hasste und sich am liebsten kopflos ohne Gedanken in ein Abenteuer stürzte. Der leben wollte, solange es ging, ohne sich um Regeln, Vorschriften oder Verantwortungen zu scheren. Verantwortlich für sich selbst, und sonst für nichts. Doch er war nicht mehr 17, er war auch keine 18, er war Ende 20 und müsste sich so langsam entscheiden, wo sein Leben hingehen sollte. Noch einmal den absoluten Turn-around? Weg vom geregelten Leben hinein ins Exzessive? Nein... schon gar nicht ohne Jenny. So kompliziert es war, mit alten Liebesgeschichten endgültig abzuschließen und Gefühle einzufrieren, so leicht fiel es ihm andererseits treu zu sein. Ja, er liebte Jenny... daran gab es keinen Zweifel. Sie war zwar so anders als Annie, so bodenständig, vernünftig... das Wort "normal" schien Kevin in diesem Zusammenhang beinahe schon negativ... es klang nach "langweilig." Aber das war Jenny nicht, sie war wie sie war.
    Trotzdem konnte er sich vor dem Gefühlschaos nicht verstecken, von dem auch Annie ergriffen worden war, als sie Kevin gestern das erste Mal sah. Sie hatte oft an ihn gedacht, doch seinen Geist in ihrem Kopf immer wieder verdrängt. Sie wollte damals keine feste Beziehung, sie war jung und frei, und wollte sich einfach noch woanders die Hörner abstoßen. Damals hatte man gefeiert, viel getrunken und halt auch eben ausprobiert, was so ging... sie war im Kopf damals einfach nicht so weit wie Kevin, denn das Aus der Beziehung damals traf wie ein Hammerschlag. Für das Mädchen war das damals völlig normal... die Sehnsucht danach, dass der junge Punk der einzige war, für den sie wirklich mehr als nur Zuneigung empfand, diese Erkenntnis kam ihr erst, als es zu spät war. Sie hatte Kevin verloren, und hatte nicht damit gerechnet ihn nochmal zu sehen... bis gestern.


    Sein erster Satz, als er gestern kam, hatte sie erschreckt... als wäre es erst wenige Tage her, dass sie sich angeschrien hatten, er sich wie ein Arschloch verhalten hatte und seinen Nachfolger voller Eifersucht während eines Trips fast totgeschlagen hatte und sie danach kein Wort mehr gewechselt hatten. Damals hatte sie die kalte Arroganz von Kevin zu spüren bekommen, die sie verwirrt hatte, denn im Gegensatz zu ihm hatte sie die Beziehung eben als Abenteuer erfahren... nicht als Beziehung. In dem Punkt waren die beiden völlig verschieden... vielleicht brauchten sie das.
    Jetzt jedenfalls hatte sich Annie unendlich gefreut, dass Kevin wieder zu ihr kam, dass sie zusammen redeten über alte Zeiten, dass sie ihm vielleicht das Stückchen Papier, dass sie vor einigen Jahren geschrieben hatte, ihm vielleicht geben könnte. Sie hatte den Eindruck, es wäre jetzt, nachdem er sie mit der Wahrheit konfrontiert hatte, der beste Zeitpunkt. Ein wenig sehnsuchtsvoll seufzte sie und kramte das zusammengeknüllte Papier aus ihrer Jeanstasche, denn sie hatte es heute morgen wohlwissentlich als Hoffungsträger eingesteckt, in der Hoffnung, sie könne ihn heute sehen und es ergab sich eine Möglichkeit, sich ihm mit zu teilen. Sie hätte vor einigen Jahren, als sie den Text (denn sie wusste, dass Kevin damals unendliche Kreativität in Musik gesteckt hatte) geschrieben hatte, niemals gedacht, dass der jungen Mann neben ihr diese Zeilen nochmal zu Gesicht bekommen würde. Die junge Frau hatte sich die Umstände eigentlich auch schöner vorgestellt als jetzt... sie legte das Stück Papier in seinen Schoss, stand wortlos auf und ging langsam in Richtung der Leiter. Sie wollte nicht dabei sein, wenn Kevin es las, und das verstand er auf Anhieb. Er würde genauso reagieren... umdrehen, gehen, sie alleine lassen. Er war sich sicher, dass Jenny so niemals reagieren würde, als er den zerknüllten Zettel aufklappte, und ein komplettes Gedicht zum Vorschein kam...


    Ich bin es so leid, ohne dich zu sein
    Ich spür' wie das Leben aus mir rinnt
    Nichts dringt mehr bis zu mir herein
    Träumen und Wachen jetzt eins nur sind


    Die Stunden und Tage unterscheiden sich kaum
    Ich bin es so leid, ohne dich zu sein
    Wie Staub tanzt dein Bild durch jeden Raum
    Doch nichts dringt mehr bis zu mir herein


    Irgendwann bin ich doch irgendwie eingeschlafen
    Und habe die nacht überstanden, vielleicht
    War es ja die Kraft der ersten Strahlen
    Des neuen Tages, dass ich dich erreicht


    Hilf mir dich zu finden nach all diesen Jahren
    Nimm mich ein kleines Stück Weges mit dir
    Heile die Wunden, die unheilbar waren
    Ich wär fast gefallen, doch dann warst du hier


    Die letzte Zeile war durchgestrichen, und das, was Kevin las, mit einem anderen Kugelschreiber darunter geschrieben. Als hätte sie, als sie den Text geschrieben hatte, noch etwas anderes da stehen gehabt... etwas hoffnungsloseres. Es schien, als hätte sie die Zeile erst gestern, nachdem er aufgetaucht war, ergänzt. Mit einem Schlag wurde dem jungen Polizisten klar, dass er für Annie meht bedeutete, als ein guter Freund, der einfach eine Zeitlang weg war. Einer von vielen Bekanntschaften. Sie drückte damit aus, dass sie für den jungen Polizisten noch etwas empfand... mehr als Freundschaft, vielleicht sogar mehr als das, was sie empfand in der Zeit, als sie ein Paar waren. Und für einen Moment wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte, er umklammerte das Stück Papier wie einen Haltegriff, las es nochmal, hob den Blick um über die Stadt zu sehen, und las es ein drittes Mal.
    Es hielt ihn nicht mehr hier oben... Kevin erhob sich von den leicht abschüssigen Sitzplatz, ging mit vorsichtigen Schritten zurück zur Feuerleiter und stieg diese Stück für Stück nach unten, bis er an der Empore ankam. Von dort führten ihn seine, längst nicht mehr so sicheren Schritte, zur Treppe. Er ging zu Annies Schlafplatz, wo er vorhin auf sie gewartet hatte, wo er die junge Frau im Schneidersitz auf ihrer Matratze und dem Schlafsack sitzen sah. Ihre Augen hatten leicht die Farbe ihrer Haare angenommen, sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen, und als sie die Geräusche bemerkte, die Kevin durch seine Schritte machte, blickte das Augenpaar nach oben zu dem jungen Polizisten. "Tut mir leid.", sagte sie leise, als sie erahnen konnte, wie sie ihren Ex-Freund mit ihrer Emotionalität, ihrer Gefühlswelt überfahren hatte. Doch der wollte keine Entschuldigung hören, sondern streckte seine rechte Hand nach Annie aus, die diese dankbar ergriff und sich langsam aufrichten ließ. Als die junge Frau aufrecht stand, schloß der so schweigsame Mann sie in die Arme und Annie ließ dies gerne willenlos geschehen, schloß sie ihre Arme doch um den schlanken Körper Kevins, und konnte seine Wärme und seinen Duft klar spüren.


    Sie hielten sich aneinander fest... eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten? Sie wussten es beide nicht. Es kam ihnen unendlich lange und doch viel zu kurz vor. Es war nur Trost, den Kevin spenden konnte, wenn auch ein schwacher Trost, als er, während der Umarmung leise in Annies Ohr sagte: "Ich verspreche dir, dass ich immer für dich da bin. Aber ich kann die Zeit nicht zurückdrehen." Die erste Runde im Kampf zwischen Kevins altem und Kevin neuem Leben hatte das neue Leben gewonnen. Die Antwort war nur ein schwaches Nicken von Annie und die leise, aber verständnisvolle Antwort: "Ich weiß...". Jetzt spürte sie das, was Kevin vor Jahren spürte... Sehnsucht, Trauer, vielleicht auch Wut... jedenfalls das schwierige Gefühl, eine Person los zu lassen, die man eigentlich nicht los lassen will. Kevin wollte Annie nicht loslassen, als die Schluß gemacht hatte, Annie hatte für dieses Gefühl über 10 Jahre gebraucht...

    Du gibst nicht zufällig Kurse in "Beschreibung der Umgebung"? Das ist dir nämlich einmal mehr perfekt gelungen die Atmosphäre herüberzubringen.

    Danke,

    Ich denke, wenn ich die Umgebung beschreibe, meistens an die Szene, die um den Protagonisten abläuft. Allerdings nicht wie in einem Film, weil dort auf die Umgebung meist keinerlei Auge geworfen oder Wert gelegt wird, sondern stelle mir die Szene in einem Musikvideo vor. Da gibt es meist viel mehr Kamerafahrten, die auch die Umgebung einfangen, und durch bestimmte Lichteffekte Wert auf diese legen und diese aufwerten, wie zb in dem Falle die Sonne, die durch die skelettartigen Bäume bricht.

    Wenn in einem Film Kevin den Weg zur Halle geht, sieht man ihn evtl von vorne auf Brusthöhe, oder aus einer Helikopterperspektive. In einem Musikvideo würde er, vermutlich in Slow-Mo abgefilmt werden, von mehreren Perspektiven, die Kamera würde sich evtl um ihn herum drehen, von unten Filmen, von der Seite des Gesichtes usw und würde viel mehr von der Umgebung einfangen, und diese mit in die Atmosphäre einfließen lassen.

    Lagerhalle - 12:30 Uhr


    Der Tag hatte heute wirklich ein Einsehen mit den, vom schlechten Wetter genervten Mitbürgern. Die Sonne strahlte, es war beinahe für November schon unverhältnismäßig warm, es schien als würde sich der Herbst zum letzten Mal aufbäumen und durch die, bereits kargen skelettartigen Bäume, noch einmal die Sonne durchschicken, um die Blätter zu belohnen, die sich bis zum Schluss an den Ästen fest gekrallt hatten. Kevin hatte aufgrund der ungewöhnlichen Wärme seine Jacke im Auto gelassen und kam nun, nur im Langarmshirt bekleidet in die Lagerhalle, und es fröstelte ihn nun doch ein wenig, denn in der Lagerhalle war es zugig und schattig. Wieder war zunächst niemand zu sehen, doch es hatte sich mittlerweile herumgesprochen, wer dieser Typ war, der hier gestern aufgekreuzt war, der zwar nicht nach normalem Durchschnittsbürger, aber auch nicht nach linksradikaler Autonom aussah.
    Der junge Polizist war von Semir mit einem ganz klaren Auftrag hierher geschickt worden: "Finde mehr über die Sturmfront heraus!", hatte er ihm unmissverständlich mitgeteilt. Er war überzeugt davon, dass er in seinem Leben wieder Ruhe hatte, wenn diese Vereinigung anhand irgendwelcher Straftaten hinter Gitter gebracht werden würde. Semir hatte eingewilligt, schweren Herzens weil es ihm selbst unter den Nägeln brannte, Kevin alleine zurück zu den Punks gehen zu lassen, weil dieser drum gebeten hatte. Er hatte befürchtet, dass es dann zu sehr auffiele, nach der SF zu fragen. "Die riechen 10 Meter gegen den Wind, dass du ein Bulle bist.", hatte er grinsend gesagt und versichert, dass dann die einzige Informationsquelle für immer versiegt sei. Semir glaubte seinem Freund, und er vertraute ihm dahingehend... er würde wissen, was er tat.


    Die Schritte halten durch das große und in seiner Größe trotz der kargen Einrichtungsgegenstände, leere Gebäude. Wie oft hatte er hier seine Nächte, seine Tage, Wochen, Monate verbracht. Auf Konzerten von der Bühne gesprungen, gefeiert und getrunken, Drogen genommen, den Rausch erlebt und den Rausch danach ausgeschlafen oder einfach weitergemacht. Wieder strömten eine Flut von Erinnerungen seinen Kopf, viel stärker als gestern, denn heute begrüßten ihn die Jungs der Szene nicht mit Baseballschlägern und Totschlägern, sondern mit einem Handschlag. Annie hatte scheinbar einige darüber in Kenntnis gesetzt, wer Kevin wirklich war... ein ehemaliges Mitglied, das zwar, wie sie es sagen würde, "Opfer des Systems" wurde, aber dennoch hier freundlich aufzunehmen ist. "Wer einer von uns war, bleibt einer von uns.", hatte Jerry schon früher gepredigt. Ausnahmen gab es natürlich... wenn "der von uns" zum Beispiel ins rechte Lager wechselte, in die Politik, oder zur Staatsgewalt... zur Polizei. Er hätte gerne gewusst, wie Jerry auf ihn reagiert hätte, wenn er ihn in dieser Situation angetroffen hätte und zugegeben hätte, Polizist zu sein und nicht damals in einer Notsituation im Gefängnis, als es mehr oder weniger zufällig herauskam... und Jerry damit geholfen hatte.
    Zwei Jungs mit bunt gefärbten Haaren gaben Kevin die Hand, und sie fragte er dann, ob Annie irgendwo sei. "Die ist heute morgen ganz früh weg, aber du kannst auf sie warten.", gab einer zur Antwort, bevor sie sich auf den Weg in die Fussgängerzone machten, um dort zu warten dass Menschen Mitleid mit den zerissenen Jungs hatten, und ihnen ein paar Cents in den Kaffeebecher warfen.


    Früher war das selten, dass man betteln gehen musste... damals waren viele Mitglied der Diebesbande um Jerry und konnten davon ihren Drogen- und Alkoholkonsum, sowie ihr Essen bezahlen. Mehr brauchten sie ja nicht, wenn sie hier lebten. Aber mit Jerry verschwand auch die organisierte Kriminalität. Zurück blieben nur noch Gewaltdelikte vor allem gegen Polizisten, Hausfriedensbrüche wenn die Autonome leer stehende Häuser besetzten sowie Sachbeschädigung, wenn sie diese wieder verließen und den Bauspekulanten auf diese Art und Weise zeigen wollten, was sie von ihnen hielten.
    Kevin ging den Weg des gestrigen Tages, vorbei an manchen Matratzen wo Jugendliche lagen, manche hatten zerfledderte Bücher, einer kochte sich auf einer alten elektrischen Kochplatte ein Süppchen, während ein Mädchen laut meckernd zu ihm kam und sich beschwerte, dass die Sicherung der alten Halle ständig rausfliege, wenn man die Kochplatte zusammen mit dem Kofferradio anschloß. Ein Junge, der einen so hohen Iro hatte, dass er sich unter manchen Türen durch bücken musste, fragte Kevin nach einer Kippe, und etwas Speed... sein Dealer wäre gestern nicht erschienen. Der Polizist gab ihm drei Kippen, damit er über den Tag kam, aber mit Speed könne er nicht dienen. Trotzdem bedankte sich der Junge lächelnd und Kevin verzichtete mit mulmigen Gefühl auf den Standardspruch: "Lass den Speed besser sein." Wer war er denn, dass er in der Position sei, anderen Ratschläge über Drogenkonsum zu geben, er der seine Pillen selbst noch bei Jenny im Schrank hatte, nur um zu wissen, dass sie da waren.


    Zwei Jungs, die um eine Tageszeitung saßen, verwickelten ihn dann in ein Gespräch, und erzählten, dass sie schon länger hier waren und gerade noch die Verhaftung von Jerry mitbekommen hatten, bis Annie dann kam und mit einem Lächeln zu Kevin blickte. Es war eine Art Lächeln, als hätte sie den jungen Polizisten heute wieder erwartet. Sie umarmte ihn und sie begrüßten sich mit zwei flüchtigen Küssen, als wäre es das normalste von der Welt. Einer der beiden Jungs, ein etwas kleiner gewachsener Punk mit blond gefärbten, stacheligen Haaren, betrachtete dies mit eisiger Miene, wie Kevin kurz feststellte.
    "Na, was machst du hier?", fragte Annie dann und nahm den Polizisten bei der Hand, um ihn mit kessem Lächeln von der Gruppe weg zu ziehen. Eine Eigenart von Annie, nicht zu fragen dass man sich jetzt ein wenig absetzen wolle, sondern sich einfach zu nehmen, was sie wollte. Sie konnte einen dann vollkommen vereinnahmen, ohne dass man etwas dagegen tun konnte. "Ich habe gedacht, ich teste mal die neue Gastfreundschaft.", sagte der Polizist, ebenfalls mit einem Lächeln. "Und? Wie war die Gastfreundschaft?" Er reckte ohne Kommentar den Daumen nach oben und Annie lachte. "Ja, die Jungs mussten erst mal informiert werden. Aber jetzt wissen sie, wer du bist." Kevin lief es bei dem Satz ein wenig kalt den Rücken herunter, ähnlich als er damals im Knast mit Jerry redete. Wieder log er eine ehemalige Verbündete, eine Freundin, der ehemals wichtigste Mensch in seinem Leben, neben seiner Schwester, an... nein, sie wussten eben nicht, wer er ist. Sie glaubten zu wissen, wer er ist.


    Annie ging die Treppen nach oben, ohne zu sagen, wo sie hinwollte... aber Kevin ahnte es. Er kannte diesen Weg, die klirrenden Metalltreppen auf eine Art Empore. Von dort führte eine Feuerleiter hinauf aufs Dach der Lagerhalle, wo man zwar etwas wackelig, aber herrlich sitzen konnte und über einen Teil des Industriegebietes und die Stadt blicken konnte. Rauchende Schlote von Kraftwerken, leises Summen von Stromgeneratoren und immer währende Arbeitsgeräusche machten einen besonderen Charme. "Mensch, hier oben war ich ja schon ewig nicht mehr.", sagte er und lächelte, als sie an die frische Luft kamen. Sie setzte sich auf das, nur ganz leicht abschüssige Wellblechdach der Halle und winkelten beide die Beine an wenig an, um nicht herunter zu rutschen. "Hier haben wir früher ganz oft gesessen.", sagte Annie und blickte den jungen Mann von der Seite an. "Ja... nachts vor allem. Wir sind hier über das Dach gelaufen und haben die Polizisten ausgelacht, die dachten, wir wollten Selbstmord begehen."
    Für einen Moment waren sie still... die Beziehung zu Annie war damals soviel anders als zu Jenny. Sie war zwar oft geprägt von dem ein oder anderen lauten Streit, doch das brauchten sie. Sie brauchten diese Disharmonie um zu merken, wie sehr sie ihre Liebe brauchten. Und sie drückten ihre Liebe füreinander nicht aus, in dem sie zusammen vor dem Fernseher kuschelten, zusammen kochten, oder einen Ausflug in den Zoo machten, sondern dass sie über Dächer liefen, Einbrüche begingen und mal darüber sinnierten mit einer geklauten Harley einfach weg zu fahren, und sich zu nehmen, was sie wollten. Ein frei sein, frei von allen Verpflichtungen, frei von allen Gesetzen.


    Annie schien an diesen Traum zu denken, und äusserte dies auch. "Manchmal möchte ich einfach nur weg von hier. Die Szene ist nicht mehr das was sie war.", sagte sie, ohne ihren Nebenmann anzublicken. "Ich wollte hier eigentlich nie so lange bleiben... und jetzt sitze ich immer noch hier." Kevin strich sich mit den Fingern unter den Naseflügeln, und erinnerte sich auch an den Traum. "Ich dachte eigentlich, um diese Zeit wären wir beide schon zusammen im Knast.", meinte sie nun lachend und blickte den stillen Polizisten von der Seite an. "Was ist los? Erinnerst du dich nicht mehr an unseren Traum?", fragte sie und schubste ihn leicht in die Seite. "Doch, natürlich. Aber ich frage mich, ob dieser Traum wirklich noch so erstrebenswert ist.", meinte er mit seiner markanten monotonen Stimme. "Nagut, den Knast könnte man weglassen, und das Geld, was wir brauchten müssten wir uns vielleicht nicht auf kriminelle Art beschaffen.", sagte die junge Frau und lehnte ihren Kopf an Kevins Schulter, als wollte sie ihn als nächstes auffordern, sie mit seinem Motorrad abzuholen.
    "Was ist mit dir? Lebst du wenigstens ein bisschen den Traum?" Eigentlich nicht, dachte Kevin sofort und er zuckte nur mit den Schultern. "Nein, eigentlich nicht." "Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.", sagte Annie und blickte dem Polizisten in die Augen... Kevin konnte ein leuchten erkennen, ein unheilvolles Leuchten und er hatte seinen "Auftrag" seitens Semir vergessen. "Ich glaube doch... ich lebe ein anderes Leben jetzt. Ich habe eine Freundin, ich habe einen Job.", sagte er, und spürte, dass die Erkenntnis ein wenig schmerzte, und er Annies enttäuschtes Gesicht sah. Er wusste nicht, ob sie eher über den Job oder die Freundin enttäuscht war.


    Für einen kurzen Moment blieb sie mit eingefrorenem Lächeln sitzen, bis sie, beinahe spöttisch sagte: "Also ein schön geregelter Tagesablauf... Arbeiten gehen, Heiraten, Kinder kriegen, dem Staat zu Kreuze kriechen." Dabei blickte sie Kevin nicht an, sondern sah geradeaus vom Dach. "Alles das, wogegen du damals warst." Bei diesem Satz drehte sie sich doch wieder zu ihm um, wobei sich die Blicke erneut trafen. Kevin schwieg... er wusste nicht, was er sagen sollte, denn sie hatte im Prinzip recht. Zeiten ändern sich, doch hatte er sich im Herzen geändert? War er wirklich zu 100 Prozent glücklich? Glücklich war er mit Jenny natürlich, aber war es schon das Ultimative? Wie konnten ihm jetzt Zweifel daran kommen??
    Annie griff bestimmt, aber zärtlich an den Kragen von Kevins Oberteil und schob ihn ein wenig zur Seite, bis sie Blick auf Nacken hatte. Oben rechts, fast über dem Schulterblatt war ein kleiens Tattoo... eins, das man kaum bemerkte, wenn man nicht wusste dass es da war. Jenny hatte es bestimmt schon mal gesehen, aber nicht genau angeblickt. Es war ein Satz, geschrieben in verschnörkelten Buchstaben. "Viva la Revolution", ein Kampfruf von damals. Annie lächelte, und schob den Kragen wieder sanft zurück, wobei sie Kevin, der immer noch stumm blieb, ansah. "Die Zeiten sind also vorbei?" "Ja, die Zeiten sind vorbei..."

    Zeitungsredaktion - 10:00 Uhr


    Auch Jenny und Ben waren mehr oder weniger geschockt ob der Kommentare, die sie im Internet über den Vorfall vor Semirs Haus gefunden hatten. Auf dem Weg zu der Zeitungsredaktion, die den Artikel veröffentlicht hatte, unterhielten sie sich darüber. Jenny, die auf dem Beifahrersitz saß und immer mal wieder aus dem Fenster blickte, wie der Nebel auf den Wiesen stand, schüttelte immer wieder mit dem Kopf. "Wenn du so vor sich hinlebst... und dich damit nicht beschäftigst... du würdest doch nie denken, dass es in Deutschland noch soviele Menschen mit solch braunen Gedanken im Kopf gibt, oder?", sagte sie und blickte zu ihrem Kollegen herüber. Der hatte den Ellbogen auf die Kante der Tür, wo das Seitenfenster begann, gestützt und einen Finger ans Kinn gelegt, während die linke Hand das Lenkrad festhielt. "Ich denke, die Mehrzahl dieser Leute sind keine Nazis, oder Rechtsradikale oder Menschen mit rechter Einstellung.", sagte er nachdenklich. "Ich glaube, das sind einfach Leute, die uninformiert sind... naiv sind und nicht beide Seiten beleuchten. Die haben Angst... die glauben das, was andere sagen, dass es in Deutschland bald keinen Platz mehr gibt, dass es in den Städten, wo Flüchtlingsheime gebaut werden Unruhen gibt." Jenny blickte wieder geradeaus und wog den Kopf hin und her. "Sie glauben dem ein oder anderen übertriebenen Medienbericht, und lassen sich von Nachrichten, die eigentlich normal sind, beeinflussen und verängstigen." Ben lenkte den Wagen von der Autobahn hinein in die Innenstadt, wo die Zeitung ihren Sitz hatte. Zum Glück war es ein regionales Blatt, so dass sie keine Weltreise unternehmen mussten.


    "Stell dir mal vor...", sagte Ben irgendwann "Du lebst als Deutscher irgendwo. Vielleicht verdienst du nicht viel und musst mit deinen Kindern schauen, wie du über die Runden kommst. Du siehst, dass den Flüchtlingen geholfen wird und fühlst dich ungerecht behandelt. Dann hörst du von einem Überfall in irgendeinem anderen Stadteil, wobei der Täter ein Südländer war. Da formt sich dein Feindbild von selbst zusammen, selbst wenn es nichts damit zu tun hat." Jenny konnte Bens Gedanken irgendwo nachvollziehen, und eigentlich fragte sie schärfer, als sie überhaupt wollte: "Du nimmst die doch nicht in Schutz, oder?" "Nein, um Gottes Willen. Jeder, der etwas ins Internet schreibt, sollte natürlich vorher nachdenken.", wehrte sich der Polizist sofort energisch, und Jenny entschuldigte sich bei ihm. "Aber ich meine, man muss das eben von beiden Seiten sehen. Was ist die Angst von Menschen, die vorher ein ganz normales Leben geführt haben, und jetzt plötzlich Fremden gegenüber feindlich sind. Ich meine, es gab ja auch Ausländer hier, bevor seit einem halben Jahr oder so, die Emotionen so hochkochen. Es muss ja etwas geben, was den Menschen Angst macht, und damit meine ich nicht die überzeugten Rechten, sondern normalen Menschen."
    Damit konnte Jenny schon mehr anfangen und sie gab Ben durch Nicken ihre Zustimmung. Sie war ein wenig erstaunt, dass der sonst so lustige und unbeschwerte Ben, bei dem man manchmal den Eindruck hatte, es fällt ihm schwer bei einer Sache durchgängig Ernst zu bleiben, solche Themen aus seiner Sicht erklärte. Sie hatte immer gedacht, dass er sich nicht so sehr um Politik scherte und Musik, sowie seine Arbeit alles einnehme. Sie war positiv überrascht und lächelte ihn an.


    Ben parkte den Mercedes auf dem Besucherparkplatz des Zeitungsverlages, sie gingen in das hohe Gebäude und Jenny steuerte zielsicher die Aufzüge an, denn sie mussten in den 5. Stock. Bens Herz schlug ein wenig schneller als er sie beobachtete, und setzte sein lockeres Grinsen ein. "Na komm, Jenny...", meinte er und zwickte sie neckisch in ihre Seite. "Du könntest eher die Treppen vertragen." Durch seine Mimik machte er deutlich, dass er sie nur ärgern wollte und es natürlich nicht ernst nahm, trotzdem wusste er, wie penibel die junge Frau auf ihre Figur achtete und bei sowas immer einen Funken Wahrheit empfand weil sie ständig Angst hatte, zu dick zu erscheinen. Sie schnappte nach Luft, stemmte gespielt empört die Hände in die Seite und folgte dem, zu den Treppen steuernden, Ben. "Na warte, Freundchen. Ich werde dich bei deinem nächsten Schoko-Croissant daran erinnern! Oder wenn du wieder XXL-Pizza bestellst.", rief sie ihm nach, als er bereits die Treppen hochstieg.
    Leicht ausser Atem kamen sie oben an, und Ben war froh, dass er den Fahrstuhl zumindest jetzt umgangen hatte, ohne Jenny irgendetwas von seiner Klaustrophobie zu erzählen. Am Empfang fragten sie nach dem Chef, doch der war leider ausser Haus. Es stellte sich dann eine Frau Ingrid Schiller vor, eine noch recht junge Frau im Hosenanzug und blondem Pferdeschwanz. Sie war Abteilungsleiterin für Internetartikel, schüttelte Hände und bot den beiden Polizisten Kaffee an.


    "Frau Schiller, es geht um den Artikel über die IS-Flagge in einem Kölner Wohngebiet gestern abend.", sagte Ben und hatte auf seinem Smartphone auch sofort den Link parat. "Wir müssten sie bitten, das Foto des Artikels so schnell wie möglich zu entfernen." "Aber aber...", sagte sie ein wenig empört, nachdem sie den Artikel studiert hatte. "Sie wollen uns doch nicht in unserer Pressefreiheit einschränken." Der Polizist atmete kurz durch, und verschluckte die etwas flapsige Antwort, die ihm kurz im Kopf umher ging. "Nein, Frau Schiller. Aber es handelt sich hier erstmal darum, dass dem Betroffenen die Flagge untergeschoben wurde. Das ist mittlerweile polizeilich erwiesen." Natürlich war es das für die offizielle Polizei nicht, aber für Ben und Jenny... daran gab es natürlich keinen Zweifel.
    "Und zweitens: Das Foto zeigt ganz klar das Haus. Auch Verdächtige haben ein Recht auf Privatsphäre und stehem unter diesem Schutz. Insofern können wir sie gegen das Bild belangen." Als ob sich Frau Schiller vergewissern wollte, was von dem Haus wirklich zu sehen war, nahm sie das Smartphone des Mannes nochmal in die Hand. Währenddessen ergriff auch Jenny das Wort: "Wollen sie dafür verantwortlich sein, dass ein paar Chaoten bei dem Mann einfallen? Das Haus angreifen? Die Kinder belästigen?" Die Abteilungsleiterin blickte nun vom Handy zu der jungen Beamtin, die bisher noch gar nichts gesagt hatte, und die Worte schien sie zu beeindrucken. "Sie müssten doch wissen, was momentan so los ist in unserem Land, wenn es um das Thema geht.", schob sie noch hinterher.


    "Na schön. Ich werde das in die Wege leiten. Allerdings kämpfen sie gegen Windmühlen. Alleine unser Beitrag wurde schon mehrmals geteilt, und ich weiß nicht, wieviele Zeitungen dieses Bild bereits bekommen haben und verwendet haben." Ein Verb machte die beiden Polizisten aufmerksam. "Bekommen haben? Sie meinen, das hat keiner ihrer Reporter gemacht?", fragte Ben nun genauer nach. "Nein, wir haben das per E-Mail bekommen, dann bei der Polizei angefragt. Da gingen mehrere Anrufe ein, und die haben uns weitere Infos gegeben. Flagge, und dass diese angeblich untergeschoben wurde." "Diese wichtige Info haben sie aber hübsch in einem Nebensatz versteckt.", sagte Ben mit Schärfe in der Stimme, und Jenny wurde wieder sachlicher: "Wie haben sie das Foto bekommen?" "Per E-Mail. Anonym." "Wir bräuchten dringend die E-Mail-Adresse, um den Absender ermitteln zu können.", sagte die Polizistin und dachte sofort an Hartmut. Ingrid Schiller zeigte sich diesmal sofort kooperativ, schickte Ben und Jenny zu einem Kollegen, der die Mails verwaltete und bekamen dort ihre Information.
    Noch auf dem Weg nach unten (den Jenny, wohl in Erinnerung an Bens dezentem Hinweis, diesmal von sich aus über die Treppen einschlug.) kontakierte Ben die Chefin, um einen Beschluss zu erwirken, die E-Mail-Adresse einem Computer oder einem Namen zuzuordnen... vielleicht hatten sie Glück...

    Ja, der letzte Satz war verunfallt, den hab ich nochmal geändert, aber nicht ganz. Danke, wurde berichtigt.

    @Trauerkloß

    Na klar ist Semir jetzt auch Kevins Partner, so wie er Bens Partner und Kevin und Ben ebenfalls Partner sind. Die drei arbeiten jetzt eben als Trio ;) Das hab ich aber so, glaube ich, nicht zum ersten Mal geschrieben :)

    Jenny's Wohnung - 09:45 Uhr


    Er war ruhelos... er konnte nicht mehr schlafen. Kevin stand, kurz nachdem Jenny die gemeinsame Wohnung verlassen hatte, aus dem Bett auf, rauchte am Fenster, ging wieder ins Bett, wälzte sich durch die Laken. Als sich draussen langsam die Sonne durch den Nebel kämpfte, und es scheinbar heute ausnahmsweise und nach langer Zeit mal wieder ein richtig schöner Spätherbsttag werden sollte, ließ er die Rolladen am Fenster herunterschnellen, damit es wieder dunkel im Zimmer wurde. Wieder warf er sich zurück ins Bett, wieder lag er auf der Seite, auf dem Rücken und auf dem Bauch mit dem Gesicht im Kissen vergraben. Nichts ließ ihn zurück ins Reich der Träume versinken, nachdem er Jennys sanften Kuss auf seiner Wange gespürt hatte.
    Immer wieder kreisten seine Gedanken um gestern... um Jennys Blick in den Karton, um Annie. Meine Güte, warum musste er sich soviel aus sowas machen. Konnte er nicht einfach mal Vertrauen fassen... Jenny hatte doch sicherlich nicht mit bösen Absichten in den Karton geschaut. Sie waren zusammen... war es da überhaupt angebracht, Geheimnisse voreinander zu haben? Hätte er nicht hingehen sollen, nachdem er aufgestanden war gestern abend und der jungen Polizisten den Karton von sich aus zeigen. "Schau mal... mein altes Leben." Nein, über diesen Schatten war Kevin auch nicht gesprungen. Seine Wut schlug um, nicht mehr gegen Jenny sondern gegen sich selbst, er hielt sich selbst für dumm und ärgerte sich über sein Misstrauen und seine Verletztheit. Doch konnte er wirklich etwas dagegen tun?


    Irgendwann hatte Kevin die Faxen dicke, er schmiss das Kissen durch den Raum, stand aus dem Bett auf und zog die Rolladen wieder nach oben. Um die letzte Müdigkeit abzulegen stellte er sich unter die eiskalte Dusche, ließ das Wasser seinen Körper herunterlaufen, über seine Narben auf dem Rücken und das Konterfei seiner Schwester. Es tat gut, Kevin wurde wacher, wurde munterer und die Kopfschmerzen klangen ebenfalls etwas ab. Generell war der Schmerz heute nicht so stechend und intensiv, dass ihm davon schwindelig wurde, wie gestern. Eigentlich hätte er auch arbeiten gehen können, dachte er sich, als er vor dem Spiegel stand und sich mit einer Hand durch das feuchte Haar fuhr und auf den Föhn wieder mal verzichtete. In Jeans und langärmeligen Hemd ging er in die Küche, auf die Suche nach etwas Essbarem, doch anders als in seiner alten Bude brauchte er sich hier keine Gedanken machen, zu verhungern. Jennys Kühlschrank war prall gefüllt, als könne jederzeit eine Hungersnot ausbrechen.
    Gerade als sich der junge Polizist einen Kaffee aufgesetzt hatte, klingelte es an der Tür. Erwartete Jenny Besuch? Eigentlich unmöglich, jeder wusste ja, dass sie arbeitete. Ein Paket vielleicht, Briefträger, Nachbarn? Kevin blickte sich kurz um... seine Waffe hatte er in der Dienststelle und nicht hier. Sollten es also irgendwelche Neo-Nazis sein, die die Tür eintreten würden, wenn er sie nicht freiwillig hereinließ, konnte er sich nur mit Körperkraft, Besenstiel und Pfannen wehren.


    Als der Polizist jedoch den Hörer der Gegensprechanlage abhob, entspannte er sich. Sofort erkannte er die Stimme seines Partners Semir, der an der Tür stand und er betätigte den Summer, um ihm Einlass zu gewähren. Er hörte an der Tür die Schritte auf der Treppe nach oben, sie klangen müde und schleppend, hatte Kevin den Eindruck, als er die Tür zur Wohnung öffnete. "Guten Morgen... was verschafft mir die Ehre?", fragte Kevin mit einem Lächeln, als Semir mit einer kurzen Handbewegung grüßte. "Ich wollte mal sehen wie es dir geht...", meinte er mit müder Stimme... und müden Augen. Entweder war Vollmond, und Semir hatte schlecht geschlafen, oder eine zentnerschwere Last lag ihm auf dem Herzen, das spürte Kevin sofort. Sie setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer, und Kevin äusserte sich nur kurz zu seinem Gesundheitszustand, dass es ihm besser gehe.
    "Und dir? Du siehst nicht gut aus... wo ist eigentlich Ben?", fragte der junge Polizist, nachdem er seinem Partner Kaffee angeboten hatte. "Der arbeitet.", meinte Semir lächelnd und pustete in das heiße Koffeingetränk. "Ohne dich?" "Er ermittelt mit Jenny." Kevin nickte... verdammt, reiß dich zusammen, du Vollidiot. Kevin erwischte sich bei den abstrusesten Gedanken, nachdem Semir die Information rausgerückt hat. Nur weil du dir jetzt Gedanken machst, dass sie in einem Karton geschnüffelt hat, geht sie nicht wieder fremd... was heißt eigentlich "wieder"? Sie ist damals nicht fremdgegangen, das hast du selber gesagt, ihr wart gar nicht zusammen. Kevin führte ein inneres Selbstgespräch und war für einen Moment still, bis er es merkte. Hoffentlich hatte Semir von seiner Verunsicherung nichts gemerkt.


    "Und du? Hast du Urlaub? Ist etwas mit Ayda??", fragte Kevin ein wenig besorgt, als er seine Gedanken abgeschüttelte hatte. "Nein nein... also... meine Frau und die Kinder sind momentan bei ihrer Mutter.", sagte er etwas abwesend und seufzte. Dann setzte er sich nach vorne, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände zusammengefaltet. "Was ist los, Semir?", fragte Kevin eindringlich, er kannte Semir ja mittlerweile und spürte seine ungewohnte Angespanntheit. "Es ist gestern einiges passiert...", begann er und erzählte dann von den Vorkommnissen, genauso wie er es der Chefin erzählt hatte. Die Männer vor seiner Tür, die Ermittlungen in der Boxschule, und die Flaggenaktion am Abend, genauso wie die Berichte im Internet... und vor allem die Kommentare, die ihn so getroffen haben.
    "Weißt du... ich bin nie wirklich mit dem Thema in Berührung gekommen. Als ich jung war, klar hat man sich da mal ein Vorurteil angehört, aber sonst. Ich sehe ja jetzt auch nicht direkt türkisch aus, ich habe schon lange keinerlei Dialekt mehr, ich werde eigentlich nur durch meinen Namen verraten. Wie kann es sein, dass man so verurteilt wird, obwohl man mich nicht kennt? Ich verstehe das nicht...", sagte er hinsichtlich der Kommentare, und sah dabei beinahe verzweifelt aus. "Die Menschen haben Angst. Sie haben Angst durch die Medienberichterstattung aus den Krisengebieten, Angst vor den Berichten von Krise, Arbeitslosigkeit und Flüchtlinge.", sagte Kevin mit ruhigem Tonfall, der für Semir in dessen Lage sehr anngehnehm war. Bisher war es immer der erfahrene Polizist, der in extremen Situationen mit seiner Ruhe Kevin zur Seite stand, diesmal war es umgekehrt.


    Für einen Moment war es still im Wohnzimmer, und dann rückte Kevin mit der Sprache heraus. "Ich weiß, was dieses SF bedeutet.", sagte er und blickte Semir an, der sofort seine Augenpaare auf Kevin richtete. "Was? Woher?" "Ich... ich hab gestern eine Zeitreise in meine eigene Vergangenheit gemacht. An einen Ort, an dem ich als Jugendlicher oft war in der autonomen Szene. Ich hab mir dort Hilfe erhofft." "Du solltest doch im Bett bleiben!", polterte der erfahrene Polizist vorwurfsvoll, lächelte dann aber zwinkernd als er Kevins empörten Gesichtsausdruck vernahm. "Jedenfalls bin ich da auf eine alte Bekannte gestoßen und wir haben uns ein wenig unterhalten. SF steht für "Sturmfront", eine rechtsradikale Untergrundgruppierung. Und scheinbar, nach Annies Worten, ziemlich gefährlich." Semir dachte nach... gefährlich hatte er schon so oft gehört. "Wie gefährlich?" "Angeblich haben sie eins der Konzerte meiner damaligen Clique mit Messern, Pistolen und weiterer Bewaffnung angegriffen. Das sind keine prügelnden Hirnlos-Faschos."
    Nach einer kurzen Pause sprach Kevin weiter: "Sie wollte mir auch nicht ihren Aufenthaltsort verraten, obwohl ich mir sicher bin, dass sie ihn weiß. Weil es zu gefährlich ist." "Es geht doch um konkrete Ermittlungen. Der Typ hätte dich beinahe umgebracht, sie deckt damit einen Verdächtigen. Hast du ihr das so gesagt?" Kevin presste kurz die Lippen zusammen, und sah kurz auf den Boden. "Nein. Sie weiß nicht, dass ich mittlerweile Polizist bin." "Warum das nicht?" "Weil sie dann kein Wort mehr mit mir wechselt.", sagte er leise, denn er wusste um die Autonomen in ihrer Haltung zur Polizei. "Sie könnte uns aber noch weiterhelfen, deshalb darf sie nicht erfahren, dass ich bei der Polizei bin." Semir sah Kevin durchdringend an... "Ist das wirklich der einzige Grund, Kevin?" Manchmal hasste der junge Polizist Semirs feine Gedankenantennen...

    Es werden trotzdem zahlreiche Leute Tom Beck nachheulen, ist leider so.

    Sorry für OT.

    Ja schon, aber das wurde doch jetzt schon in jedem Thread, seit der Neuausrichtung von Cobra erwähnt, thematisiert und totgetreten. Irgendwann muss doch auch mal gut sein. Da wird nun nach der Bekanntgabe des neuen Partners, der mit Beck gar nix mehr zu tun hat, wieder Facebook-Zitate hier rein gebracht, es wird die Frisur des neuen mit der von Beck verglichen, was völlig abstrus ist, nur um die eigene Antipathie zu befriedigen oder andere irgendwie an den Pranger zu stellen.

    Es geht um den neuen Partner. Und wie schon im anderen Thread geschrieben, niemand, ich betone NIEMAND, egal welche Statisiken er kennt, weiß wie die Neuausrichtung von Cobra 11 sein wird. Man kann ja vermuten, spekulieren usw aber der ein oder andere tut so, als wäre beschlossen dass man Babyalarm reloaded bereits drehen wird...

    Es wird so langsam echt sehr mühsam hier zu lesen, und ich frage mich immer öfter, warum ich mir das hier in diesem Forum noch antue...