Beiträge von Campino

    Dass man eine eher leicht bekleidete Frau vor dem Fernseher positioniert und die beiden Helden können sich dann überhaupt nicht mehr auf die Straße konzentrieren.

    Du brauchst mir nicht das Video zu erklären, das hab ich gesehen. Ich frag mich trotzdem immer noch, was daran lächerlich ist.

    Kneipe Germania - 5:10 Uhr


    Die Schüsse im Hinterhof hallten durch den Flur bis in den Schankraum, wo sich Kevin und Luni gegenüber standen. Verdammt, musste er sich jetzt hier mit diesem Kirmesboxer abgeben, statt seinen Freunden zu helfen, dachte Kevin missmutig. Die beiden Männer standen sich auf einen Meter gegenüber und gingen langsam im Kreis, jeder abwartend wer zuerst angreifen würde, sich zuerst aus der Deckung wagen würde. Lunikoff war vielleicht ein guter Boxer, aber als Karatekämpfer und Kickboxer hatte Kevin ein paar Finten, und er würde sich nicht scheuen, sie gegen den Typen einzusetzen. "Du kannst froh sein, dass ich im Ring nicht ernst gemacht habe, sonst hätte ich dich tot geschlagen.", drohte der Neo-Nazi, was den Polizisten nur ein müdes Lächeln entlockte. "Hättest du mal besser gemacht.", war seine Antwort im Hinblick auf die Abreibung, die er sich gleich einfangen würde. "Kommt noch, linke Zecke... jetzt hol ich nach, was ich verpasst habe." Kevin blieb stehen, denn er hatte von dem Abtasten genug, hob eine Faust vors Gesicht und grinste. "Dann mach mal." Luni schlug zu... seine Schläge waren hart und gezielt, doch Kevin sprang immer wieder einen Schritt nach hinten, so schnell, dass Luni mit keinem seiner Schläge ernsthaft traf. Als die bedrohliche Wand hinter ihm näher kam, setzte er zum Vorwärtsgang ein, der nur einen Schlag beinhaltete, ein Fauststoß zum Bauch, der Luni wehtat, und dessen Schlagserie erstmal unterbrach. Mit zwei Händen konnte Kevin den Angreifer von sich wegdrücken und sich von der Wand abwenden.

    "Na, was ist denn? Ist die Luft schon raus, Fascho?", provozierte Kevin den Kerl und fühlte sich um Jahre zurückversetzt. Soviele Schlägereien hatte er mit Rechtsradikalen, oft gingen sie gut aus, am Anfang musste der Punk für seinen Übermut häufiger mal bezahlen. Luni nahm Luft und sein Gesicht drückte nun mehr Wut und Zorn statt Überheblichkeit aus. "Na warte...", knurrte er wütend und kam schnell wieder auf Kevin zu. Ein gezielter Schlag gegen Kevins Rippen traf dieses Mal, mit der anderen Hand gegen die Schläfe ließ er den Polizisten taumeln, und zu Boden gehen. Verdammt, der Typ verstand sein Handwerk doch, schoß es dem Polizisten durch den Kopf. Doch Luni machte spätestens jetzt klar, dass er kein Interesse an einem fairen Boxkampf hatte.
    Statt Kevin aufstehen zu lassen, holte er aus und trat mit seinen Springerstiefeln dem Polizisten gegen den Kopf. Manches ändert sich eben nie, dachte der Polizist als seine Augenbraue aufplatzte und ein kleiner Blutstrom an seinem
    Auge vorbei über die Wange lief, sein Kopf brannte und alles um ihn herum verschwamm. Bei Prügeleien zwischen Punks und Nazis wurde selten fair gespielt. Es wurde reingetreten, wenn jemand am Boden lag, es wurde noch weiter
    geschlagen, wenn jemand längst aufgegeben hatte. "Los du Schwächling. Wehr dich gefälligst!", schrie Lunikoff voll Adrenalin, als er den Polizisten blutend am Boden hatte. Gerade als sich Kevin hochstemmen wollte, trat Luni wieder zu, diesmal gegen seinen Körper, woraufhin Kevin wieder zu Boden sank, und das hämische Lachen hören konnte.

    "Jetzt bist du fällig." Ein Schnappgeräusch eines Butterfly-Messers war es, was Kevin in die Realität zurückholte. Er drehte sich schmerzhaft auf den Rücken, sein Blick vom Blutnebel ein wenig verschleiert, doch das Messer konnte er im Schein des schummrigen Lichtes deutlich aufblitzen sehen. So oft hatte er, auch unter Bedrängnis geübt, einem Angreifer mit einem Messer zu entwaffnen. Bei einer Übung war alles so leicht, es ging um nichts, das Messer war aus Plastik und dein Lehrer würde nie zustechen. In der Realität war dein Lehrer ein Totschläger, das Messer war echt und es gab keinen zweiten Versuch.
    Luni holte aus und stach zu, doch die Klinge kam nicht dazu Kevins Shirt zu durchstechen, den sein Griff legte sich ums Handgelenk des Nazis, der davon so überrascht war, dass er nicht dazu kam noch einmal mit der anderen Hand zuzuschlagen. Mit unbändigem Willen, der den Schmerz in den Muskeln besiegte, drehte Kevin das Handgelenk herum, bis es knirschte und Luni aufschrie. Klackernd fiel das Messer auf die Holzdielen, krachend landete Kevins linke im Gesicht seines Gegners, der zurücktaumelte und den Polizisten endlich die Gelegenheit gab zum Aufstehen. Er wischte sich das Blut von der Lippe, schubste das Messer in den Flur und wandte sich dann zu Lunikoff, der sich die
    Gesichtshälfte hielt. "So, unfair willst du werden, so wie früher. Kein Problem.", sagte er und der Nazi verstand nicht, was Kevin meinte... doch er verstand in den nächsten Sekunden was passierte, wenn Kevin unfair war.

    Den ersten Tritt zur Leber konnte Luni gar nicht kommen sehen. Er sah nur eine Bewegung und dann hörte er schon den dumpfen Aufprall von Kevins Fuß und spürte das scharfe Brennen, was ihm den Atem raubte. Die zwei aufeinanderfolgenden Faustschläge ins Gesicht ließen seine Lippe und Augenbraue aufplatzen, und Kevin war imponiert von Lunis Nehmerqualitäten. Er stöhnte zwar und taumelte nach hinte, doch er ging nicht zu Boden. Nur, wehren tat er sich auch nicht mehr, denn bereits der erste Lebertritt hatte seine Wirkung erzielt. Ein hochgezogenes Knie in die Magengrube ließ ihn sich nach vorne beugen und wieder ein paar Schritte zurücktaumeln, so dass er mit dem Rücken schon fast die Fensterfront hinter ihm berührte. Luni sah nochmal auf, mit blutverschmiertem Gesicht und schwer atmend. "Respekt...", sagte Kevin diesmal hämisch. "Dein Führer hätte sich längst selbst umgebracht."
    Mit einer Körperdrehung riss der Polizist, obwohl es nicht mehr nötig war, und er den Fascho verhaften hätte können, das rechte Bein nach oben und trat Lunikoff direkt am Kopf. Durch die Wucht des Trittes wurde der Nazi nach hinten
    geschleudert und durchbrach mit lautem Klirren die Fensterscheibe hinter sich und stürzte bis nach draussen auf den Bordstein, wo er regungslos liegen blieb. Mit lautem und schnellem Atem sah Kevin nach draussen. Er fühlte keinen Stolz oder Genugtuung, dass er dem Typen jetzt mehr weh getan hatte, als nötig. Früher war das anders. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lief Kevin hinter den Tresen und nahm dort die Schrotflinte des Barmanns auf, der dort immer noch gefesselt war. "Ich leih mir die mal aus."

    Er folgte den Schüssen, lud die Flinte durch und sah an der Tür Ben in Deckung stehen, der immer noch zwei Neo-Nazis im Schussduell hatte. "Wie läufts?", fragte er seinen Partner der gerade wieder in Deckung ging, nachdem er Semir Feuerschutz gegeben hat. "Semir ist dem Anführer hinterher. Und mir geht langsam das Material aus.", sagte Ben mit gehetzter Stimme. Die Nervosität war, nachdem er die Schüsse gerade schadlos überstanden hatte, ein wenig gesunken, und er war schon wieder zu Scherzen aufgelegt. "Bei dir läufts aber auch.", sagte er und zeigte mit dem Finger auch auf die blutende Wunde an Kevins Schläfe. "Müsstest den anderen erstmal sehen.", war dessen flapsige Antwort, und mit einem lauten mechanischen Geräusch zog er die Schrotflinte auf.
    Er drehte sich um die Tür und feuerte eine Ladung ab, was die hölzerne Deckung eines der Nazis zur Hälfte zersplittern ließ, so dass sich dieser die Hand vors Gesicht halten musste um vor den Splittern nicht getroffen zu werden. Auch der zweite Schuss auf die zweite Deckung hinterließ mehr Schaden als alle Kugeln aus Bens Waffe. Kevin drehte sich wieder zurück hinter die Deckung. "Was brauchst du eigentlich so lange?", fragte er mehr sarkastisch und Ben sah ihn mit gespielt genervten Ausdruck an. Ihm tat der Zeigefinger schon weh vor lauter Abdrücken, und Kevin kam mit einem Großkaliber und hinterließ mehr Schaden in kürzester Zeit. "Danke fürs Gespräch. Das nächste Mal nehme ich mir ne Panzerfaust." Die Lockerheit tat Ben gut wie nie in diesem Moment.

    "Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch mit den nächsten Schüssen eure hässlischen Nazischädel pulverisiere, dann will ich jetzt sofort eure Waffen auf dem Boden sehen!", rief der Polizist laut, und linste um die Tür. Ben kniete vor
    Kevin und war bereit, eine Etage tiefer auch nochmal zu schiessen. Einer der Nazis warf tatsächlich die Waffe über die Holzkiste und kam mit erhobenen Händen heraus, doch der andere hatte andere Pläne. Er kam aus der Deckung heraus und schrie laut den Führergruß und "Für Deutschland", bevor er wild schießend auf die Deckung von den beiden Polizisten zulief. Er schoß aber auf Höhe von Kevins Kopf, der sofort zurückwich und Ben anschubste. Der beugte sich auf Kniehöhe nur wenig aus der Deckung heraus und schaltete den Irren mit zwei Kugeln im Oberschenkel aus. Wimmernd blieb er, so wie die anderen auch, liegen und hielt sich die ungefährliche Fleischwunde.
    Das SEK hatte sich beeilt, die Straße war erfüllt von Blaulichtern, und die ersten Maskierten stürmten durch die Eingangstür. Sie kamen von der anderen Seite des Dorfes und erkannten am Dorfausgang Semir und Rocky nicht. Sie waren verwundert darüber, dass bereits alle Nazis aufgegeben hatten, oder verwundet waren. Ben und Kevin liefen in den Schankraum und wiesen sich aus. "Gut dass ihr kommt. Kehrt hier zusammen, wir müssen unseren Partner suchen.", sagte Ben eilig und die beiden Polizisten liefen nach draussen auf die Straße, wo sie sich umsahen. Im aufkommenden Nebel, an einer Straßenlaterne am Ortsausgang, konnte Ben etwas erkennen. "Guck mal, da hinten... was ist das? Ist das...?" Sie sahen nur Umrisse eines dampfenden Autos, und zwei Personen davor. Eine kniete, die andere stand hinter ihr. Beide Polizisten rannten los...

    Kneipe Germania - gleiche Zeit


    Rocky schien nicht glauben zu wollen, welches Schauspiel der türkischstämmige Polizist ihm gerade bot. Mit Stolz, trotz Schmerzen und der Tatsache, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war, hatte er sich aufgerafft und nicht vor Angst wie der kleine Punk Sammy in den Bordstein gebissen. Er ließ sich nicht demütigen wie ein Hund, Semir hatte dafür zuviel mitgemacht in seinem Leben, war so oft dem Tod Auge in Auge gegenüber gestanden und hatte soviele Hürden überwunden. Von einem Menschen mit solch einem kruden Weltbild wie dem der Neonazis, ließ er sich nicht unterkriegen. Sie hätten ihn schlagen können, foltern können... dass er in der gefaketen Gaskammer vor Angst zusammengebrochen war, war bereits Scham genug.
    Der Anführer der Sturmfront schien nachzudenken, seine Meute hinter ihm wurde unruhig. Sollte er den Polizisten einfach abknallen. Würde das seine Position stärken, schwächen? Er kam nicht mehr dazu, sich für eine Lösung zu entscheiden, als er laute Schüsse im Inneren der Kneipe hörte. Instinktiv sah er herüber zur Hintertür des Hauses, eine Gelegenheit, die Semir sich nicht nehmen ließ. Mit einem schnellen Griff, zigtausend Mal in Selbstverteidigungstrainings mit seinen Expartnern André und Jan geübt, entwaffnete Semir den Mann, der gerade noch die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Ein Mann mit strengem Mittelscheitel schräg neben ihm reagierte als Erster und griff in seine Innentasche, doch der Polizist drückte instinktiv den Abzug und schaltete den Neonazi aus.


    In die zuvor noch starre Szene im Hinterhof kam auf einmal Bewegung. Der getroffene Neo-Nazi ging zu Boden, Stuka zog eine Waffe und warf sich zur Seite hinter eine Holzkiste, bevor er das Feuer auf Semir eröffnete. Eine Brennen im linken Arm, der für Semir so etwas wie eine Zielscheibe geworden ist, so oft wie er dort schon getroffen wurde, signalisierte ihm, dass es mal wieder soweit war, bevor er hinter einer großen Mülltonne in Deckung ging. Auch die anderen beiden Neo-Nazis suchten sich Deckungen, und Semir wurde von drei Zielen unter Beschuss genommen.
    Rocky wollte gerade in die Kneipe rennen, um sich im Waffenlager auszurüsten, als Ulrich ihm entgegen gestürzt kam. "Die Bullen sind hier... was?", fragte er atemlos, als er fast mit Rocky zusammenstieß und mitbekam, dass im Hinterhof eine große Schiesserei im Gange war. Gerade wurde einer der Nazis von Semir in der Schulter getroffen, und es waren nur noch zwei übrig. "Wir müssen hier raus!", schrie Rocky seinem Kameraden zu. Der Hinterhof war in sich abgeschlossen, von der Kneipe, einem Nachbarhaus und kleineren halbhohen Schuppen. Rocky rannte zu einer Feuerleiter und sprang die ersten Sprossen hinauf, was Semir im Augenwinkel sah. Nein, das durfte nicht wahr sein, er durfte diesen Mistkerl nicht entwischen lassen. Aber er konnte sich nicht aus der Deckung raustrauen, ohne von den anderen beiden Neo-Nazis getroffen zu werden.


    In diesem Moment linste Ben um die Tür aus der Kneipe hinaus, und sah, was sich im Hinterhof abspielte. Ulrich stand in seiner Nähe, und wollte gerade Rocky hinterher, doch Ben stoppte ihn mit einem gezielten Schuss in den Oberschenkel. In diesem Moment war er noch innerhalb der Kneipe und für die anderen beiden Nazis nicht einsehbar. Die Luft war erfüllt von Schüssen und Dampf der Pistolen. "SEMIR?!", rief Ben laut hinter seiner Deckung, in dem er sich mit der halboffenen Tür schützte, nachdem die beiden anderen Angreifer mitbekamen, dass dort noch ein Polizist aufgetaucht war. "Ben, ich bin hier!", gab Semir von dem gegenüberliegenden Müllcontainer zur Antwort, und Ben fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn sein Herz gerade explodieren wollte, so aufgeregt war er, als die Kugeln gegen die Feuerschutztür knallten.
    Ben kam für Semir wie gerufen. "Gib mir Feuerschutz, Ben!", rief er laut, ohne wirklich zu sehen, wo Ben überhaupt stand. Das bedeutete, Ben musste aus seiner Deckung heraus und Dauerfeuer auf die beiden Ziele geben, damit diese in dem Moment nicht schießen konnten. Aber aus seiner Deckung heraus? Ben begann sofort zu schwitzen und zu zittern. Das ging doch nicht... das ging doch schon mal schief. "BEN??? Was ist los??", schrie Semir gehetzt, denn je länger sie warteten, desto weiter weg entfernte sich Rocky der Verhaftung. "Ich... ich...", stammelte Ben und wünschte sich so sehr, Kevin würde auftauchen. Doch sein junger Partner war gerade mit Lunikoff in der Kneipe beschäftigt. "BEEEN!!", hörte der Polizist erneut die Stimme seines besten Freundes. Er schloß die Augen, er biss auf die Zähne bis sein Kiefer schmerzte. Er wechselte das Magazin, denn im Gegensatz zu Kevin hatte er sich ein volles eingesteckt. "Jaaa! Auf drei!!", schrie er mit unsicherer Stimme zurück. Es war für Semir, für seinen Freund! "DREI!"


    In einer sekundenlangen Feuerpause aus der Deckung der beiden Nazis drehte Ben sich um die Tür und schoß, was das Magazin hergab. Die Kugeln prallten von den Deckungen und der Wand hinter dem Versteck der beiden Nazis ab, doch hätten sie nur den Kopf ein bisschen hinter der Deckung hervorgestreckt, hätte Ben sie getötet. Semir nahm all seine Kraft zusammen, und sprintete hinter seiner Deckung zur Feuerleiter, und wuchtete sich, zwei Sprossen auf einmal nehmend, das halbhohe Dach des Schuppens herauf. Auf dem Dach wurde er von dem Dunkel der Nacht verschluckt, und als sein Partner sah, dass Semir es geschafft hatte, drehte er sich wieder zurück hinter die Tür... und atmete tief durch, denn er spürte, dass die Beine unter ihm nachgeben wollten.
    Es war schwierig für Semir die Orientierung zu behalten. Es war dunkel auf dem Flachdach des Schuppens, aber wenn Rocky entkommen wollte, gab es nur einen Weg... die Straße. Diese Richtung konnte er erkennen, denn die Straßenlaternen erleuchteten den Horizont ein wenig. Semir lief, er sprang über ein Geländer, das zwei Dächer voneinander trennte, als er an dem Abgrund zur Straße ankam. Er konnte gerade noch eine Gestalt in ein Auto springen sehen... Rocky startete den Motor. Er wollte seine Kameraden nicht im Stich lassen, aber wenn alle gefasst werden würden, wäre es weitaus schwieriger, wieder heraus zu kommen. Er musste zu einer anderen Untergrundgruppe, musste sich Alibis verschaffen um mit Hilfe des Staatsschutzes und seiner Verbindung zu einer noch gefährlicheren Organisation auf freiem Fuß zu bleiben. Es war der Notfallplan, den er und seine Kameraden geschmiedet hatten... einer versucht zu fliehen.


    Semir sah, wie der Wagen sich vorwärts bewegte, und mit quietschenden Reifen Fahrt aufnahm. Um das Dort zu verlassen, musste er an der Hinterseite des Schuppens nochmal vorbeifahren. Vom Dach bis zur Fahrspur war es nur die Breite des Bordsteins, die er hatte überqueren müssen. Semir ging einige Schritte zurück, und atmete... er atmete, er spürte keinen Schmerz, so voll von Adrenalin war sein Körper. Als der Wagen eine gewisse Distanz entfernt war, rannte Semir los. Er rannte, drei, vier Schritte bis seine Schuhspitze genau den letzten Flachdachziegel vor der Regenrinne traf. Dort sprang der Polizist, eine Hand um die Waffe geklammert und er überwand die Distanz zum Bordstein. Statt auf dem Dach, wie geplant, schlug Semir auf der Motorhaube des Fluchtwagens auf und bekam mit der linken freien Hand den Scheibenwischer zu greifen.
    Rocky hätte vor Schreck fast den Wagen verissen, doch als er sah, wer ihm da gerade auf das Auto gesprungen war, begann er wild Zick Zack über die freie Straße zu fahren. "Türkischer Bastard!", rief er wütend, als dieser zwar wild über die Haube rutschte, es jedoch schaffte sich festzuklammern und die lebensnotwendige Waffe nicht los zu lassen. Der erfahrene Polizist wollte dem Treiben ein Ende bereiten und schlug mit der Waffe auf die Frontscheibe, die beim zweiten Versuch zersplitterte und Rocky jegliche Sicht nahm. Durch den zweiten Schlag jedoch verlor Semir den Halt am Scheibenwischer, durch einen Ruck des Fahrzeugs kam er nun endgültig ins Rutschen. Zu seinem Glück fiel Semir seitlich von der Motorhaube auf den Asphalt, was zwar erneut schmerzhaft war, er aber zumindest vom Auto nicht überfahren wurde. Er schürfte sich die Haut an den Händen und im Gesicht ab, da er sich nur mit der linken Hand abfedern konnte. Die rechte behielt er fest um die Waffe geklammert. Er hatte sich gerade fertig abgerollt, lag nur für Sekundenbruchteile auf dem Bauch, als er drei der letzten vier Kugeln auf Rockys Wagen abfeuerte.


    Die dritte Kugel ließ den Hinterreifen des Wagens laut zerbersten. Mit einem Ruck wurde das Lenkrad verissen, und die Mischung aus einem geplatzten Reifen und einer geborstenen, undurchsichtigen Frontscheibe machte die Flucht für Rocky unmöglich. Mit einer hohen Geschwindigkeit traf der Wagen direkt hinter dem letzten Haus des kleinen Dorfes einen Grenzstein vor dem Ortschild und hob ab, bevor er auf einem Acker aufschlug und sich noch zweimal überschlug, bis er auf den Rädern zum Stehen kam. Stöhnend raffte Semir sich erneut auf die Beine und lief, so schnell es ging, zu dem dampfenden Wrack. Er hörte schon ein Stöhnen des Fahrers, der im Gesicht blutüberströmt überm Lenkrad hing. Semir riss die verbogene Tür auf, der Gurt war gerissen, und Rocky kippte ein wenig aus dem Auto, doch ein fester Griff um seinen Kragen hielt ihn aufrecht.
    "So, du beschissenes Arschloch!", knurrte Semir wütend und zog Rocky aus dem Auto heraus. Der fiel zuerst im feuchten Acker in der Dreck, stolperte und taumelte dann mehr als er lief, einige Meter vor Semir her, aus dem Acker heraus, auf die Straße zum Bürgersteig. Dort gab der Polizist dem Nazi einen Stoß, so dass er auf seine wackeligen Knie fiel. Beide Männer atmeten schwer, vor ihren Gesichten bildete sich Kondensdampf. Rocky spürte Schmerzen im Gesicht und im Rücken, doch was er vor allem spürte war Semirs Waffe im Genick. "Los! Beiß in den Bordstein." Der Neo-Nazi konnte nicht glauben was er hörte. "Das... darfst du nicht, Bulle.", sagte er mit keuchender Stimme... Keuchend wegen des Unfalls, keuchend vor Aufregung, und keuchend vor Semirs Wut und Entschlossenheit. "Du glaubst gar nicht, wie scheiss egal mir das ist! Los!! Tu was ich dir sage!!", schrie er, und erkannte sich fast selbst nicht wieder...

    Kneipe "Germania" - 5:00 Uhr


    Die Straße war wie leergefegt um diese Uhrzeit in dem kleinen Dörfchen, als die beiden Polizisten mit gezückten Waffen die Straße überquerten. Ben lehnte sich neben der Eingangstür an die Wand, während Kevin davor in die Knie ging um seinen Dietrich zu zücken. Mit ruhiger Hand und ohne ein Zittern hantierte der junge Polizist an dem Schloß herum, während Ben auf einmal seinen Herzschlag spüren konnte... er raste und pochte so fest gegen die schützenden Rippen, dass er glaubte, es würde ihm herausspringen. Auf einmal war die Angst wieder da, die Panik die er mit sich herumtrug, seit der Schießerei in dem alten Krankenhaus, bei der er schwer verletzt wurde. Seine Hände krampfen sich um den Griff der Waffe und das Blut rauschte ihm in den Ohren.
    "Vielleicht... sollten wir... also wir sollten vielleicht... doch warten... auf das SEK...", stammelte er plötzlich und Kevin unterbrach seine Tätigkeit am Türschloß für einige Sekunden, um Ben schief und verständnislos anzublicken. Doch bevor er etwas sagen konnte, schüttelte Ben selbst den Kopf, als sei er gerade zur Besinnung gekommen. "Nein! Nein... wir gehen jetzt rein." Dabei nickte er, als wolle er seine zögernden Worte selbst nochmal unterstreichen. Mit
    einem leisen "Klack" fiel der Schließbolzen in die Tür zurück, und diese gab auf sanften Druck nach. Kevin steckte den Dietrich zurück in die Tasche, nahm wieder die Waffe auf und stellte sich aufrecht hin. "Bleib dicht hinter mir.",
    sagte er zu Ben, denn er spürte die Unsicherheit seines Partners.

    Drinnen empfing die Beiden ein schummriges Licht, denn nur eine Reihe an Lampen über der Bar brannte. Der Schankraum war gesäumt von Stühlen und Tischen, hinter der Theke in einem Regal standen Dutzende Flaschen. Gerade als Ben die Tür hinter sich schloß, erhob sich hinter der Theke ein bulliger Glatzkopf, um die beiden Polizisten mit einer Schrotflinte in Empfang zu nehmen. Scheinbar hatte er Wache gehalten, und das Geknacke des Dietrichs richtig interpretiert. Ben und Kevin konnten gerade noch nach links und rechts hinter einer Tischreihe in Deckung gehen, als die Schrotkugeln die Eingangstür aus Holz zersplittern ließ.
    Mit lautem Geräusch lud der Nazi hinter der Theke seine Schrotflinte nach und nahm nun Kevins Deckung ins Visier, der sich dahinter duckte und Zähne zusammen biss. Er sah herüber zu Ben und wunderte sich, warum der die Gunst nicht nutzte um zu schießen, den der Angreifer konzentrierte sich ausschließlich auf Kevins Deckung. "Was ist nur mit dem los?", dachte der junge Polizist, der mit dem Rücken zum umgekippten Tisch saß, und wartete bis der Rauch sich verzogen hatte. Als der Angreifer dann Bens Deckung unter Beschuss nehmen wollte, schnellte Kevin hinter seiner Deckung hervor und betätigte seinen Abzug zweimal, wobei er den Angreifer an Schulter und Arm traf, der dann stöhnend hinter der Theke zu Boden sank. Blitzschnell war der junge Polizist bei ihm, zog die Schrotflinte weg und sicherte den wimmernden Mann mit Handschellen.

    "Ben?", rief er dann, da sich sein Partner nicht hinter der Deckung raustraute. Etwas verwundert, mit Adrenalin im Blut ging Kevin von der Theke zurück zu den Tischen und schaute bei Ben hinter die Deckung. Der Polizist saß immer noch mit dem Rücken zu den Tischen, und hatte die Pistole fest umklammert. "Was ist denn los mit dir?", wurde er verwundert gefragt, und sah herum zu seinem Freund. "Hast du gesehen wie knapp das war?", sagte er mit erregter Stimme. "Ja, natürlich hab ich das gesehen. Komm jetzt, Semir braucht uns." Er streckte Ben die Hand hin, der einschlug und sich hochziehen ließ. Er schämte sich ein wenig für seinen Auftritt, kontrollierte über die Atmung seinen rasenden Puls und folgte Kevin zu einer Tür an der Rückwand des Schankraums.
    Die beiden Polizisten positionierten sich rechts und links neben der Tür, die zum dahinter liegenden Flur aufging. Auf einmal hörten sie Schritte, Getrampel und Schüsse ausserhalb des Hauses, allerdings nicht nach vorne zur Straße,
    sondern nach hinten zum Hof. "Scheisse...", sagte Ben erschrocken und malte sich schon so manches Horror-Szenario aus. Zumindest war es für die beiden eine Bestätigung, dass hier so manches nicht richtig lief und ein klarer Hinweis, dass die Nazis etwas zu verstecken hatten.


    Der Polizist musste nur die Tür aufdrücken, da kamen bereits die ersten Kugeln geflogen und zersplitterten im Hintergrund Fensterscheiben und aufgehängte Dekoration. Zwei Neonazis, einer davon Lunikoff, der Kevin im Boxring vorgeführt hatte, hatten sich in zwei Zimmer links und rechts des Flures verschanzt und eröffneten nun das Feuer auf die Polizisten, die dieses immer wieder erwiederten. Ben meist blind, in dem er sich nocht aus der Deckung wagte und einfach nur den Arm in den Flur streckte. Die Kugeln schlugen in der hinteren Wand ein, wo der Flur eine Kurve machte.
    "Wäre jetzt vielleicht Zeit, die Kavalerie anzurufen?", schrie Ben in den Krach der Schüsse herüber zu Kevin, der antwortete: "Ich glaub' auch." Ben zückte in sicherer Deckung sein Handy und wählte die Bereitschaftsnummer der SEK- Leitstelle und forderte umgehend Verstärkung an. "Es wäre echt super, wenn ihr euch beeilt.", schrie er heiser, bevor er auflegte und erschrocken herüber zu Kevin sah, der gerade sich für weitere Schüsse aus der Deckung neigte, als
    Lunikoff einen Schuss abfeuerte. Die Kugel flog so dicht an Kevins Hals vorbei, dass dieser sofort einen brennenden stechenden Schmerz verspürte und instinktiv zurückwich und sich an den Hals fasste. Die Kugel hinterließ eine
    Schrammwunde, die sofort ein wenig blutete. "Aah scheisse...", fluchte der Polizist mit verzerrtem Gesichtsausdruck, und Ben fragte sofort ob alles okay sei. "Scheisse, ich hab keine Munition mehr, Ulrich.", rief Lunikoff herüber zu
    seinem Kameraden. Der wagte sich aus der Deckung, schoss noch zweimal in Richtung der Polizisten und verschwand um die Kurve des Ganges, während Luni sich in das Zimmer verzog, aus dem er heraus geschossen hatte. "Schnapp dir den Typ, der den Flur entlang gelaufen ist.", sagte Kevin, als die Luft rein war.

    Die beiden Polizisten stürzten in den Flur, Ben sicherte sich vor der Kurve im Flur nochmal ab, dass Ulrich nicht lauerte, doch am Ende des Flures war eine offene Tür, die scheinbar in eine Art Hof führte. Ben lief diesen Flur entlang, und linste aus der Tür hinaus ins Freie.
    Kevin ging mit vorgestreckter Waffe in das Zimmer hinein, wo Lunikoff hineingegangen war. An der Wand tastete der Polizist nach einem Lichtschalter. Als er ihn fand und betätigte, stand Luni direkt vor ihm und ließ sofort einen harten
    Gegenstand in das Gesicht des Polizisten sausen. Von der Wucht des Schlages taumelte Kevin nach hinten, sofort schoss Blut aus beiden Nasenlöchern, und die Waffe klackerte auf den Boden. Lunikoff hatte mit seiner eigenen, leeren Pistole zugeschlagen und stürzte sich sofort auf die Waffe des Beamten, der diese Bewegung regestrierte und sofort aus dem Zimmer rannte. Er bog nach links ab Richtung Schankraum, weil er da um seine Deckung wusste. Der Neonazi brauchte zu lange, um die Waffe aufzuheben und zu zielen, und obwohl Kevin während des Sprints nur darauf wartete, gleich mehrere Kugeln in den Rücken zu bekommen, schaffte er es im Schankraum mit einem Hechtsprung über den gekippten Tisch in Deckung, bis Lunikoff die ersten Schüsse abfeuerte, die wiederrum in den Tisch einschlugen. Zu Kevins Glück war aber auch seine Waffe so gut wie leer, so dass sein Gegner die Kugeln nutzlos verschenkte. "Was seid ihr den für Bullen, dass ihr nur ein volles Magazin habt. Wie kann man denn so in einen Krieg ziehen?", sagte er beinahe höhnisch und warf die Waffe hinter den Tresen, als Kevin aus seiner Deckung auftauchte. Hätte der Typ eine weitere Waffe gehabt, wäre jetzt eh alles zu Ende gewesen.

    Doch er stand da, hob die Fäuste nach oben und grinste. "Na komm schon. Du kriegst eine Revanche.", sagte er selbstsicher, als der Polizist hinter dem Tisch hervorkam. Aus seiner Nase lief das Blut über die Lippen, ein wenig spuckte Kevin davon auf den Boden, und das Atmen durch die Nase fiel schwer. Boxen ohne Boxhandschuhe könnte verdammt weh tun, wenn der recht weiche Polster der Handschuhe fehlt, aber Kevin war es egal. Er hörte den Lärm draussen, und wollte so schnell wie möglich den Kerl ausschalten, um Ben zur Hilfe zu kommen...

    Landstraße - 4:50 Uhr


    Sie waren ganz alleine auf der Straße. Um diese Uhrzeit waren in der Woche entweder Nachtschwärmer unterwegs, die in der Stadt die Zeit vergessen hatten, und nun unter Alkoholeinfluss versuchten den Nachhause-Weg zu finden, oder eben zwei Polizisten, die auf dem Weg waren, ihren besten Freund zu retten. Das Blaulicht erhellt für Sekundenbruchteile die Landstraße, den länger hielten sich Ben und Kevin nicht auf einem Kilometer auf. Die Tachonadel zeigte auf dem kurzen Geradeausstück, das rechts und links gesäumt war von Bäumen ohne eine, bei dieser Geschwindigkeit eh nicht mehr rettende Leitplanke, 190. Kevin, dem hohe Geschwindigkeiten in einem Auto nichts ausmachten, sah immer nur einen Schatten an Bäumen an sich vorbeifliegen und bemerkte nur kurz und süffisant, dass es länger dauern würde, wenn sie den Benz erst von einem Baum abkratzen mussten und sich ein neues Auto suchen müssten. Dass man die beiden Polizisten dann allerdings ebenfalls vom Baum kratzen müsste, erwähnte er gar nicht erst.
    Ben hörte nicht zu. Komischerweise nagte die Angst um sein Leben in diesem Moment gar nicht an ihm, denn im Moment erinnerte ihn nichts an die Schiesserei im Krankenhaus, auch wenn er gerade genauso sein Leben für Semir aufs Spiel setzte. Mit quietschenden Reifen bog er an einer dunklen Kreuzung ab auf eine andere Landstraße, die in Richtung des Dorfes führte, was Jerry ihnen genannt hatte.


    "Was ist jetzt? SEK oder nicht?", fragte Kevin die gleiche Frage, die er beim Startschuss aus dem Gefängnis bereits gestellt hatte. Ben wog, genau wie beim Start, den Kopf hin und her. "Ich weiß nicht... Was ist, wenn der Tip ne Ente ist.", befürchtete er. Also wieder keine klare Antwort... Kevin legte das Funkgerät beiseite. Das gelbe Schild mit der Aufschrift des Ortes konnte er nur kurz erkennen, als es an ihnen vorbeihuschte, und der Beifahrer schaltete das Blaulicht aus. "Mach langsam jetzt...", mahnte er, weil sie sonst zu sehr auffallen würden.
    Anhand Jerrys Wegbeschreibung hatten sie die Kneipe "Germania" schnell gefunden. Ben hielt den Mercedes auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das Fenster zur Straße war schwach erleuchtet. Ben und Kevin sahen beide durch die Frontscheibe auf das Objekt ihrer Hoffnung. "Also?" Ben blickte zu Kevin, der blickte zurück zur Kneipe. "Wenn wir das SEK rufen und auf die Jungs warten, ist es da drinnen zu spät, und wir haben keine Chance, Semir zu retten. Wenn der Tipp eine Ente ist, haben wir ausserdem den Verfassungsschutz auf dem Hals.", analysierte Semirs bester Freund, während Kevin nickte: "Gehen wir alleine rein, lebt Semir vielleicht noch, und wir könnten ihn retten. Oder aber, wir sterben alle drei zusammen.", vollendete er die Analyse, und wieder sahen sich die beiden so ungleichen Freunde, die schon zwei emotionale Tiefphasen miteinander erlebt hatten und gestern wieder so etwas wie eine Auferstehung ihrer Freundschaft gefeiert hatten, an. Sie wechselten kein Wort, sie kommunizierten mit Blicken und Gesten, beide nickten sie entschlossen. Ben griff zu seinem Hosenbund um seine Waffe zu nehmen, das Magazin zu prüfen und zu entsichern, während Kevin für den gleichen Vorgang in seine Mantelinnentasche griff. Es war eine Geste, die beide verstanden: Wir holen Semir JETZT da raus.


    Keller - gleiche Zeit


    Semir konnte die Tränen der Verzweiflung nicht unterdrücken, als er mit dem Rücken zur verschlossenen Tür saß, und sich in Gedanken seine trauernde Frau und die weinenden Kinder vorstellte. Er konnte die Hilflosigkeit, die Wut und den Zorn nicht mehr in Kraft umwandeln. Das Zischen aus den Rohren verwandelte den Raum in eine Nebellandschaft, es wurde warm und wärmer. Fühlte sich so der Tod an? Er konnte in dem Raum eh wenig erkennen, er spürte aber Feuchtigkeit auf seinen Händen und seinem Gesicht. Sein Herz schlug schneller, es kam ihm vor, als könne Semir nicht richtig atmen, doch der harmlose Wasserdampf, der aus den Löchern in den Raum entwich, beeinträchtigte nicht seine Atmung. Nur die Angst lähmte ihn, die Verzweiflung, den Horror den er gerade erlebte.
    Er wusste nicht, wie lange er in dieser umfunktionierten Kammer gesessen hatte, wie lange dieses grausame Zischen gedauert hatte. Irgendwann hörte es auf, und die Tür hinter ihm gab nach, so dass er nicht darauf vorbereitet war, und rückwärts auf den Boden fiel, wo ihn sofort kräftige Hände packten, und ihm wieder gleißendes Licht in die Augen brannte. Er war schweißüberströmt, vor Angst und von dem heißen Wasserdampf, der diesen kleinen Raum in eine Sauna verwandelt hatte. "Ich denke, du weißt jetzt, was deinesgleichen hier bald wieder erwartet.", hörte er Rockys Stimme. Semir sah sich um... er war nicht tot, er lebte. Diese Schweine spielten ein Spiel. "Doch jetzt ist das Spiel zu Ende.", sagte Rocky unheilsvoll, und die beiden Männer, die Semir gepackt hatten, zerrten ihn durch den Flur nach draussen, an die für Semir eiskalte Luft. An die gleiche Stelle im Hinterhof an den gleichen Bordstein, wo im Schein der schwachen Hinterhoflampe noch Sammys Blutfleck auf dem Asphalt schimmerte.


    "Los, knie dich hin.", sagte er und stieß Semir ebenfalls eine Waffe ins Kreuz, um ihn zu zwingen. Doch der Polizist, der nur wackelig auf den Beinen stand, sah sich um. Hasserfüllte Gesichter, die ihn tot sehen wollten, gedemütigt im Staub, die Wangen feucht von Schweiß und Tränen. Plötzlich erwachte in Semir ein Verzweiflungs-Kampfgeist. Ein Kampfgeist eines Mannes, der dem Tod geweiht war, der nichts mehr zu verlieren hatte, weil er sowieso sterben würde, weil er nicht mehr an Hilfe glaubte. In der Zelle war dieser Geist tot, weil er alleine war, weil er keinen Ausweg fand. Jetzt hatte er Gegner, er sah die Männer, die ihn töten wollten, und so schüttelte Semir langsam den Kopf. Breuer trat dem Polizisten in die Kniekehle, so dass dessen zittrigte Beine doch nach gaben, und er vor dem Bordstein auf den Asphalt fiel.
    "Beiß in den Bordstein, Türke." Semirs Brustkorb hob und senkte sich, seine Hände waren frei neben seinen Hüften, zerkratzt mit Striemen vom Kabelbinder am Handgelenk. Er blickte auf den blutverschmierten Bordstein, seine Stirn glänzte von Schweiß, seine Wangen von Blut und Tränen. Wie in Zeitlupe schüttelte er den Kopf und sagte leise "Nein." Rocky stieß einmal, zweimal mit dem Lauf ins Genick des Polizisten. "Ich werde nicht zögern, dir einen Genickschuss zu verpassen, wenn du nicht tust, was ich sage. Beiß in den Bordstein." Alle Unwegsamkeiten, die Semir überwunden hatte, um ein Leben in Deutschland zu führen, gingen ihm durch den Kopf. Das Deutsch lernen in der Grundschule, die Lästereien auf der Realschule, so mancher Spruch in der Polizeiausbildung. Andrés Vorwürfe, er sei auf einem Auge blind, als ein Cousin von ihm des Mordes verdächtigt wurde. Er hatte einen Beruf, er hatte eine Familie und er hatte vielen Deutschen das Leben gerettet. Nein... er, Semir, würde sich nicht in den Staub werfen, sich demütigen lassen.


    "Knall ihn ab, Rocky.", sagte Breuer, als er merkte, dass sich der Polizist nicht zitternd in den Staub warf, wie der kleine Punk Sammy. Doch der Anführer der Nazis hörte nicht auf seinen Kameraden, und wiederholte nochmal, deutlicher und schärfer seine Anweisung an Semir, der nun langsam, mit festem Blick, ohne eine Spur der Verzweiflung in den Augen zur Seite, nach hinten zu Rocky blickte. "Ich werde mich von dir... von euch nicht demütigen lassen." Seine Stimme klang erst leise, und wurde dann immer kraftvoller, immer lauter, immer selbstbewusster. "Ich habe in diesem Land eine Familie. Ich habe Deutschen, Türken, Russen und anderen ihr Leben gerettet, und ich habe genauso viele ins Gefängnis gebracht. Ich habe für dieses Land mehr getan, als ihr mit eurer Vision jemals tun könnt."
    Breuer sah unsicher zu Rocky, dessen Blick immer mehr verkniff, als er Semirs Widerstand hörte. Auch der Nazi mit dem Handy in der Hand, wurde unsicher, und blickte herum. Er wimmerte nicht, er jammerte nicht, er bettelte nicht um sein Leben. Er kniete zwar, aber er kniete aufrecht, trotz aller Schmerzen, seelisch und körperlich. "Ich bin deutscher, als ihr alle zusammen.", spuckte er ihnen vor die Füße, und langsam drehte sich sein Blick von links nach rechts, durch die Runde, an die Nazis, die noch dabei waren, 4 oder 5 neben Breuer und Rocky. "Die Menschen, die jetzt Angst vor FLüchtlingen haben, werdet ihr nicht bekehren mit Gräueltaten. Die Menschen sind durch den 2. Weltkrieg aufgeklärt, ihr Idioten. Ihr werdet kein viertes Reich gründen können, versteht ihr das.", sagte er und spürte deutlich den Lauf von Rockys Waffe im Genick. Dabei schüttelte er den Kopf und biss die Zähne aufeinander, sein Atem ging immer noch etwas heftiger zwischen den Worten. "Das ist Wahnsinn.", setzte er noch dahinter um zog Luft durch die Nase, die vom Blut ein wenig verstopft war.


    Rocky biss sich auf die Zähne. Er platzte vor Wut, dass dieser Türke nicht wie ein Hund vor ihm lag, sondern sich so verhielt, wie es gerade Neo-Nazis und damals die alten Nazis von ihren Männern erwarteten. Stolz und aufrecht, ohne Angst. War der Kerl nur ein Schauspieler, ein verdammter Schauspieler, oder hatte der Türke so etwas wie Ehre im Leib. Jedenfalls hörte Rocky zu, und ahnte bereits, dass eine weitere Aufforderung, endlich sich zu demütigen und in den Bordstein zu beißen, nichts bringen würde. Er sah dann wieder, wie sich Semirs Kopf zu ihm drehte und sich die braunen Augen auf ihn richteten... wie sich der Polizist langsam aufrichtete, und sich noch mehr Stolz verschaffte, als aufrecht zu knien... nämlich aufrecht vor Rocky zu stehen, Auge in Auge, auch wenn der seine Waffe noch auf Semirs Oberkörper richtete.
    "Du wirst mich vielleicht töten...", sagte der Polizist mit fester Stimme, spürte zwar seine weichen Knie, aber das Adrenalin ließ ihn aufrecht stehen. "... aber du wirst mich nicht demütigen. Du wirst mir nicht meine Ehre nehmen. Nicht meine türkische Ehre und nicht meine deutsche Ehre. Beim Leben meiner Töchter!"

    Keller - 4:45 Uhr


    Wie lange er jetzt schon an diesen Seilen hing? Semir konnte es nicht genau sagen. Im Dunkel des Kellers hatte er sein Gefühl für die Zeit völlig verloren. Aber draussen wurde es noch nicht heller, jedenfalls konnte er das durch die Ritzen des zugenagelten Kellerfensters halbwegs erkennen. Seine Arme schmerzten, denn sein gesamtes Körpergewicht zog an seinen Muskeln nach unten, sie hatten ihn gefesselt und mit den Händen an einem Ring an der Decke fixiert. Seine Fußspitzen berührten nur ganz leicht den Boden, er konnte sich minimal abstützen um seine Muskeln zu entlasten, doch dann schmerzten irgendwann die Oberschenkel und seine Fußgelenke. So langsam musste Andrea doch mal aufgefallen sein, dass er nicht zu Hause ist, dachte der Polizist... und irgendjemanden informieren. Aber niemand wusste wo er war... verdammt noch mal.
    Sein Herz schlug schneller, als er an die Brutalität der Neo-Nazis zurückdachte, mit welcher Skrupellosigkeit sie den jungen Punk einfach totgetreten hatten. Das Krachen der Knochen, als Rocky das erste Mal zutrat, hallte ihm noch im Ohr. Hatten sie ihren Gegner unterschätzt? Keine einfache Nazi-Schlägertruppe, diese Typen schreckten auch vor eiskaltem Mord nicht zurück, was Semirs Situation nicht angenehmer machte... im Gegenteil. Was hatten sie mit ihm vor? Ein Exempel statuieren, über Internet Propaganda betreiben und damit die härtesten aller fremdenfeindlichen Menschen auf ihre Seite zu ziehen? Schaut her, das machen wir mit Ausländern, wenn wir an der Macht sind? Oder hatten die Kerle einfach Spaß an dem, was sie taten...


    Er hörte Geräusche, das erste Mal seit mehreren Stunden konnte Semir Geräusche wahrnehmen. Das Poltern von schweren Schuhen auf der Treppe, Gejohle und Gespräch. Die Tür ging auf, das Licht wurde angeknipst und Semir musste die Augen zusammenkneifen, weil das gleißende Licht in seine Pupillen stach, nach 6 Stunden Dunkelheit. Er blinzelte und sah verschwommen, wie mehrere Männer auf ihn zu kamen. "Jetzt bekommst du dein Zeichen, Türke. Und dann machen wir eine kleine Zeitreise.", hörte er Rockys Stimme an seinem Ohr, und das Klacken eines Butterfly-Messers neben ihm ließ sein Herz höher schlagen. Er drehte den Kopf weg, und begann, zur Seite auszutreten um Rocky irgendwie am Knie oder einer anderen schmerzhaften Stelle zu erwischen. "Verschwinde, du Wahnsinniger!", rief der Polizist dabei, doch statt Rocky wirklich weh zu tun erhielt er einen kräftigen Schlag in den Magen, was sofort jegliche Gegenwehr unterband. Der Neo-Nazi allerdings wollte auf Nummer sicher gehen, und fixierte Semir die Beine mit Kabelbinder fest aneinander, dass er diese nicht mehr als Waffe benutzen konnte. Der Polizist windete sich, ätzte und stöhnte, wollte den Kampf nicht aufgeben und musste aber einsehen, dass er unfähig war, sich gegen die drohende Gefahr zu wehren. "Hör auf zu zappeln! Sonst werde ich dafür sorgen, dass du dich nie wieder bewegen kannst.", sagte Rocky drohend, zog Semir auf der rechten Seite die Jacke halb von der Schulter und riss ihm die obersten beiden Knöpfe des Hemdes auf. Semirs Herz schlug schneller, es raste, als sich ein stechendes Gefühl an seinem Hals nach oben und unten ausbreitete. Es war ein scharfer brennender Schmerz, als die Messerklinge die erste Hautschicht durchtrennte und sein warmes Blut aus dem Schnitt trat. Rocky schnitt nicht, er ritzte nur, nicht tief aber tief genug um später ein deutliches Abbild zu sehen. Und obwohl Semir nicht sehen konnte, was der Neo-Nazi ihm da für ein Zeichen in den Hals schnitt, konnte er es durch die Kälte der Klinge in seiner Haut erraten... es war das Symbol einer Swastika, eines Hakenkreuzes.


    Es waren nur kleine und wenige Schnitte, die Rocky für sein Werk brauchte. Dann ging er lächelnd einen Schritt zurück und nickte zufrieden. "Damit wird jeder sehen, wer für Ordnung sorgen wird.", sagte er zufrieden, während einer der umstehenden Nazis das Handy hochhielt. "Ihr verfluchten Bastarde.", stöhnte Semir und spürte, wie ein wenig Blut seinen Hals herunterlief, und das Brennen nur langsam abklang. "Und jetzt gehts weiter.", sagte der unbeeindruckt von Semirs Wutausbruch. Der Typ, den sie Breuer nannten, kam hinter Semir, schnitt den Kabelbinder an dessen Handgelenken durch, unvorbereitet, so dessen Beine nachgaben und er zu Boden fiel. Semir war mit Schmerzensstöhnen noch nicht fertig, da hatte Breuer den kleinen Polizisten schon gepackt und ihm einen frischen Kabelbinder um die Handgelenke gelegt und zugezogen.
    "Wie gut kennst du dich denn in der Geschichte aus?", fragte Rocky beinahe wie ein Lehrer, als Breuer Semir wieder auf die zitternden Beine zog. Der Polizist stöhnte, sein Atem raste, noch geschockt von dem, was ihm hier gerade passierte. Es war ein Alptraum, es war der blanke Horror, er fühlte sich schrecklich hilflos. Diese Menschen konnten mit ihm machen, was sie wollten, niemand konnte ihm helfen und die Hoffnung auf Rettung schwand immer mehr. Und was immer wieder in seinem Kopf hämmerte... diese Typen taten es nicht aus Profitgier, weil sie Geld von Semir wollten, oder weil er zuviel wusste. Sie taten es, weil er kein Deutscher war. Weil er aus der Türkei stammte, weil er keine blonden Haare hatte und nicht an das glaubte, an das sie glaubten. Er antwortete nicht.


    "Dann wollen wir dir mal eine kleine Nachhilfestunde geben.", sagte Rocky grinsend und nickte Breuer zu. Sie stießen Semir, der mit gefesselten Füßen nur hüpfen konnte, einen kurzen Flur entlang in einen anderen Raum unter der Kneipe. Dort blickte Semir auf eine graue Eisentür, die Breuer jetzt aufsperrte. Der Rahmen war kein normaler Türrahmen, er war mit einer dicken Gummiumrandung ausgestattet, was dem Polizisten sofort auffiel. Dann stießen sie Semir in den Raum, ihm fiel sofort auf dass der Raum recht klein war, das Neonlicht erhellte ihn ungemütlich kalt, er war gefliesst, sowohl der Boden als auch die Rände und die Decke. Semir lag halb auf dem Boden, weil er mit den zusammengebundenen Füßen das Gleichgewicht schnell verloren hatte, und sah sich panisch auf.
    Breuer durchschnitt ihm erneut die Kabelbinder an Händen und Füßen, und der kleine Kommissar sah es als einmalige Chance, als er versuchte, mit der Faust Breuer zu treffen und sich auf die wackeligen Beine zu stemmen. Es war eine Verzweiflungstat, denn er wusste dass ausserhalb des kleinen Zimmers noch mindestens 4 oder 5 Neo-Nazis warteten, und als Semir auch nur zuckte, traten zwei weitere in den Raum, und bestraften den Fluchtversuch mit Fausthieben und Tritten, bis Semir stöhnend und Blut hustend am Boden lag, und die klinisch weißen Kacheln versaute. Auch aus einem Cut über dem Auge lief Blut über das Gesicht des Polizisten. "Ihr kranken Schweine...", sagte er mit erstickender Stimme, als die Kerle rückwärts aus dem Raum traten und die Tür luftdicht abschlossen.


    Semir krabbelte unter schmerzhaften Stöhnen an eine der Kachelwände, um sich aufrecht zu sitzen. Was hatten diese Irren vor? Er sah sich in dem Raum um, ein Raum ohne Fenster der ihn zuerst an einen Duschraum erinnerte, wenn auch einen sehr kleinen Duschraum. Immerhin war das Sitzen hier bequemer als von einer Decke hängen, doch sein wild schlagendes Herz ließ ihm keine Ruhe. Hier stimmte etwas nicht, das war kein normaler Duschraum. Die Rohre, die an den Wänden und an der Decke vorbeiführten hatten keinen Duschkopf und kein Thermostat, der Boden keinen Abfluß.
    "Oh, mein Gott...", hauchte der Polizist als ihm klar wurde, wo er war... denn erst jetzt hatte er die kleinen Löcher in den Stahlrohren erkannt. Eine Gänsehaut befiel ihn, eine Panik kam ihn ihm auf. Horrorgeschichten des zweiten Weltkrieges, die er in Geschichtsbüchern gelesen oder in Dokumentarfilmen gesehen hatte, sich aber niemals vorstellen konnte, wurden auf einmal greifbar. Ihm wurde schwindelig, ihm wurde übel, und der Schmerz im Gesicht und an seinem Hals war auf einmal wie betäubt, als er zitternd mehr zur Tür fiel als wirklich lief, und mit der Kraft, die ihm blieb gegen die Tür hämmerte. "Lasst mich raus!! Hört auf damit!!" Er hatte nicht erwartet, dass eine Antwort kam, er hämmerte, schlug und schrie in Panik, bis ihn die Kraft verließ, und mit dem Rücken zur Tür wieder in eine sitzende Stellung sank. Mit einem Schlag erlosch das Licht im Raum, alles um ihn rum wurde schwarz, als er erst ein Gurgeln, und dann ein immer lauter werdendes Zischen vernahm, das von den Rohren ausging. Semir hielt instinktiv die Luft an, was er aber nicht lange durchhielt, und es unter Panik noch ein- zweimal versuchte, doch die Zeitabstände wurden immer kürzer, und zwischen durch atmete er immer einmal tief durch. Es war sinnlos... es gab keinen Ausweg... Semir entschloß sich, nicht weiter zu kämpfen, und atmete ganz normal weiter, schloß die Augen und dachte an Andrea, Ayda und Lilly...

    JVA - 4:20 Uhr


    "Habt ihr sie noch alle? Habt ihr schon mal auf die Uhr geguckt?" Der Beamte an der Pforte der JVA Düsseldorf war recht ungehalten, als er die beiden Polizisten vom Besucherparkplatz an das Eingangstor gelaufen kommen sah. "Hören sie, es ist ein absoluter Notfall. Wir müssen sofort mit einem Gefangenen sprechen.", sagte Ben mit rasendem Atem, der ungefähr genauso schnell ging, wie die Fahrt von dem besetzten Haus bis zur JVA. "Ich glaube, es donnert. Erstens mal wisst ihr genau dass ihr dazu einen staatsanwaltischen Beschluss braucht, und zweitens ist die Besuchszeit...", doch er wurde von Ben unterbrochen, dem so langsam die Nerven durchgingen. Annie schwieg, was Ben zum Kochen brachte und seinen Partner Kevin mehr als nur schwer enttäuschte, und dieser sture Beamte ritt nun auf Paragraphen herum. "Scheiss auf die Besuchszeit! Mein Partner stirbt, wenn wir nicht mit Jerry reden."
    Kevin legte Ben die Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. Er wusste, dass wir mit Lautstärke nichts erreichen würden, auch nicht bei dem Beamten. "Hören sie, unser Partner wurde entführt, und nur Jerry weiß, wo er sein könnte. Bringen sie uns bitte zu ihm, sie wollen doch sicher nicht schuld dran sein, wenn ein Polizist stirbt.", meinte der Polizist eindringlich, während Ben sich abwand und sich die Haare raufte. "Ich kann doch nicht auf eine Vermutung hin alle Regeln hier brechen. Woher weiß ich, dass ihr mir keinen Horrorstory auftischt." Kevin trat ein wenig näher an den Wärter heran: "Es sind noch nicht alle Aussagen zu dem Drogenskandal vor einigen Monaten gemacht. Hoffentlich beschreibe ich nicht einen Wärter, der darin verwickelt war, der dir ähnlich sieht.", sagte er leise mit scharfer Stimme, die Ben aufschauen ließ. Es war eine hammerharte Drohung, die Drohung einer Falschaussage, aber Kevin riskierte es für Semirs Leben. "Willst du mich erpressen?", fragte der Wärter, aber wirkte sofort etwas nervöser, und Kevins kalte blauen Augen beeindruckten ihn. "Ach, leck mich doch! Los, mitkommen!", sagte er in bester Wachmann-Manier, informierte kurz seinen Kollegen und ging dann mit den beiden Polizisten in den Zellentrakt.


    Zelle 139 war Jerrys Zuhause. Als der Wärter die Tür aufsperrte und das Licht anmachte, konnte Kevin nur Jerrys Kopf aus einer Decke herausragen sehen, er lag auf der Seite und schlief fest. Sein Zellenkumpan, in einem Bett daneben, wurde ebenfalls wach und zwinkerte ins gleißende Licht. "Was zum Teufel...", begann er müde und sah die drei Gestalten in der Zelle an. "Ruhe, Weißmann. Wir haben es nicht mit dir.", sagte der Wärter sofort und streckte ihm, wie bei einem Stopbefehl, die Handfläche entgegen. Kevin ging zu Jerry und schüttelte an der Schulter des breiten Mannes. "Jerry! Wach auf."
    Nun wurde auch Jerrys Schlaf unterbrochen. Er blinzelte in das Neonröhrenlicht seiner Zelle, und war erst verwirrt, als er Kevins Gesicht sah, das ihn weckte. Er musste sich vorkommen, als wäre er durch die Zeit gereist und würde träumen, er liegt in der Lagerhalle in auf seiner Matratze und wird von Kevin gerade geweckt, weil entweder Nazis oder die Polizei auf dem Weg war. "Was zum... was ist denn los? Kevin?" Langsam kam der Mann zu sich, er drehte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Ben trat einen Schritt zu dem Wärter. "Können sie uns 5 Minuten alleine lassen?" Er wollte nicht, dass der Kollege etwas von Semirs Entführung mitbekam, schon gar nicht von den Entführern, denn er erinnerte sich an die Worte von Eggestein. "Jetzt reichts aber. Sie können froh sein dass...", begann der Mann zu protestieren, doch Ben kam ihm zuvor, und sein zischendes "Bitte", war mehr Aufforderung als Wunsch. "Ach, machen sie doch was sie wollen. Wenn ihnen etwas passiert, ich habe sie nie hier gesehen.", krakelte er und verließ die Zelle und ließ die beiden Polizisten mit Jerry und dessen Zellenkumpanen allein.


    "Was macht ihr hier mitten in der Nacht, Jungs? Brennt der Knast?", fragte Jerry und rieb sich mit der flachen Hand über die kurzen Haare. "Jerry, wir brauchen deine Hilfe. Semir wurde von einer Nazi-Gruppe entführt... der Sturmfront." Jerrys, gerade noch verschlafen wirkenden Augen waren auf einmal hellwach. "Der Sturmfront? Oh, das ist nicht gut..." Ein Satz, der die Sorgen von Ben und Kevin nicht unbedingt minderte, im Gegenteil. Es war eine spontane Reaktion, das spürten die beiden Polizisten, und sie war ehrlich und nicht gespielt. "Wir müssen wissen, wo sie ihr Hauptquartier haben. Wo sie sich verkrochen haben.", fragte der Beamte mit dem Wuschelkopf eifrig und stand in der Zelle, als stehe er barfuss auf glühenden Kohlen.
    Jerry blickte von Ben auf Kevin, mit sorgenvollem Blick. "Was habt ihr vor?" "Wir müssen unsern Partner da rausholen natürlich. Wer weiß, was die mit ihm anstellen.", antwortete der sonst so stille Polizist. "Das sind nicht einfach ein paar hohle Faschos, Kevin. Die Sturmfront ist quasi eine kleine Widerstandsgruppe, teilweise ausgebildete Bundeswehrsoldaten. Ich glaube nicht, dass sich da soviel dran geändert hat, seit ich von der Bildfläche verschwunden bin, und ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, was euch da erwartet." Auch das war nicht beruhigend, schlug es doch in die gleiche Kerbe, in die Annie vor einigen Tagen stieß, als sie aus Angst um Kevin nicht mit der Sprache rausrückte, wo die Jungs sich versteckt hielten. "Völlig egal, Jerry... weißt du wo sie stecken, oder nicht? Wir haben keine Zeit."


    Der alternde Punk schien mit sich zu kämpfen. Es kam ihm vor, als würde er die beiden Jungs zur Hinrichtung schicken. "Ich hab auch Annie gefragt, aber sie hat mir nichts gesagt... obwohl sie es weiß.", setzte Kevin hinzu um deutlich zu machen, dass Jerry die letzte Hoffnung ist. Auch er hockte auf glühenden Kohlen, es kribbelte in jedem Muskel, die Unwissenheit um Semirs Schicksal ließ bei beiden jegliche Müdigkeit verschwinden. "Du warst bei Annie?", fragte Jerry ein wenig ungläubig, denn er wusste in welchem Verhältnis die beiden auseinander gegangen waren, und er wusste auch, dass sich dieses Verhältnis bei Kevins plötzlichem Verschwinden nach Janines Tod, nicht gebessert hatte. Kevin seufzte und nickte, seine Enttäuschung konnte er nicht verbergen.
    "Und warum hat sie es dir nicht gesagt?", fragte Jerry. "Beim ersten Mal hatte sie Angst um mich...", begann der junge Polizist, und sein damaliger Mentor nickte zufrieden... "...beim zweiten Mal wusste sie, dass ich ein scheiss Bulle bin.", sagte er dann mit etwas sarkastischem Unterton. Nun wandelte sich Jerrys Gesichtsausdruck von Zufriedenheit in einen genervten "Das-hätte-ich-mir-denken-können"-Ausdruck. "Das Erste war richtig, das Zweite war... dumm.", war sein Urteil über Annies Verhalten. "Und beim zweiten Mal wusste sie dass Semir entführt ist, und dass es nur um das Leben unseres Partners geht.", gab Ben zu bedenken. "Aber wir sind halt nur scheiss Bullen, Jerry...", vollendete sein Partner, und Jerry konnte bei seinem Zögling die Enttäuschung deutlich heraushören. "Ich glaube, wir müssen uns demnächst mal unterhalten, wenn du noch Gelegenheit dazu hast...", meinte er etwas düster klingend.


    Es klang unheilvoll, Jerrys Zusatz, aber auch hoffnungsvoll. Denn es klang so, als wüsste er etwas, und als wäre er bereit, Ben und Kevin in die tödliche Gefahr zu schicken. "Bitte Jerry. Ich weiß, dass du dich sorgst. Aber wir müssen Semir helfen, das sind wir ihm schuldig." Kevins Stimme klang bittend, aber überzeugend, etwas leiser setzte er hinzu: "Und du bist uns, und ihm auch noch etwas schuldig." Er erinnerte daran, dass sich die drei Polizisten sehr für Jerry einsetzten, weil er ihnen geholfen hat, seine eigene Bande aufliegen zu lassen, als Kevin im Knast war.
    Er seufzte... er wollte Semir helfen, aber er wollte vor allem Kevin nicht in Gefahr schicken, und er wusste, welche Gefahr auf ihn lauerte. "Ihr momentanes Versteck weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass sie sich damals, und was ich hin und wieder mal so hier höre, wenn geplaudert wird, auch heute noch oft in einer Kneipe treffen." Ben und Kevin hingen an Jerrys Lippen. "Die Kneipe heißt Germania, in einem kleinen Vorort...", sagte er und beschrieb den beiden Polizisten, wo die Kneipe zu finden war...

    Dienstauto - 3:55 Uhr


    Kevin kam im Laufschritt aus dem Haus heraus... und doch tief enttäuscht. Nicht mal ein solcher Notfall hatte Annie erweichen lassen, ihren Hass der Polizei gegenüber abzulegen. Sie sah den Polizisten, der einem anderen Polizisten helfen wollte, und nicht den Menschen Kevin, der einem engen Freund das Leben retten wollte. Sie blieb stumm, bis Kevin den Raum verlassen hatte, und bis zur Treppe hoffte der Polizist noch, dass er die schnellen Schritte seiner Ex-Freundin hörte, die ihm hinterherlief und ihn zurückhielt, um ihm letztendlich doch die benötigte Information zu verraten. Aber nichts passierte. Sie hatte das letzte bisschen Hoffnung in Kevin, dass sie sich vielleicht doch ändern könnte, zerstört mit einem Schweigen.
    Ben sah bereits an Kevins Haltung, an seinem Gesichtsausdruck, einfach an seiner Ausstrahlung der Enttäuschung, dass das Gespräch negativ verlaufen war. Sein Puls stieg, sein Atem beschleunigte und mit einem kräftigen Ruck seines Körpers war er aus dem Auto ausgestiegen, und ging mit schnellen Schritten auf Kevin zu. Auf halber Höhe des Weges, der zur Eingangstür des Blocks führte, trafen sie sich, und der junge Polizist ahnte sofort, was sein Partner vor hatte.


    "Wenn sie es dir nicht sagt, wird sie es mir sagen.", knurrte Ben, und wurde von Kevin gestoppt, der ihn mit beiden Händen an der Schulter festhielt. "Lass es. Es wird nichts bringen." Kevins Stimme klang nicht belehrend, nicht mahnend, sondern deprimiert. "Das werden wir ja sehen." Ben wollte sich aus dem Griff losreißen und stieß Kevin zur Seite, getrieben von Angst um seinen Partner, getrieben von Wut auf diese Frau, die für ihre Ideale einfach das Leben seines Freundes opfern wollte. Doch bevor er die Tür erreichte, spürte er wieder, dass er gebremst wurde, diesmal mit einem Griff am Arm. "Hör auf Ben! Es bringt nichts, sie wird es dir nicht sagen." Kevin befürchtete Eskalation, er wusste wieviel Semir Ben bedeutete, er wusste wie wenig Annie Ben bedeutete. Er wusste aber auch, dass Annie nur darauf wartete, nun von seinem Kollegen körperlich unter Druck gesetzt zu werden, und es würde das Vorurteil der Punks bestätigen... Polizeigewalt. Es würde genau zum Gegenteil führen...
    "Lass mich los, Kevin.", sagte Ben mit drohendem Unterton. Die beiden Männer blickten sich an, Kevin zum Haus mit ausgestreckten Arm und den Griff fest um Bens Handgelenk, der mit Schrittrichtung zum Eingang, den Oberkörper durch Kevins Haltegriff aber zu seinem Partner gedreht. "Reiß dich jetzt zusammen, Mann.", kam vom jungen Polizisten, obwohl er sich gerade schrecklich hilflos fühlte. Er versuchte Ben die einzige Chance auszureden, Semir zu finden und wusste selber keinen Rat, wie er die Suche fortsetzen wollte.


    "Ich soll mich zusammenreißen? Ich soll mich zusammenreißen??? Bist du eigentlich bescheuert?", rief Ben nun erbost und Kevin direkt ins Gesicht. Logisches Denken war nicht mehr möglich bei ihm in diesem Moment, zu erregt war er ob der Situation. "Semir passiert bei diesen Irren gerade weiß Gott was, und diese Frau sitzt da oben, weiß vermutlich wo er ist, und verschweigt es aus Stolz vor... ja vor was eigentlich? Und du kommst ganz locker runter, und sagst mir, dass ich mich zusammenreißen soll??" Mit etwas mehr Gewalt als vorher versuchte er sich loszureißen von Kevins Griff. "Lass mich SOFORT los!", wiederholte er schärfer. "Ben, jede Minute, die du da oben mit Annie verbringst ist verloren! Sie wird es uns nicht sagen, weil wir Bullen sind.", gab ihm Kevin erregt zur Antwort und bemühte sich nach Kräften, nicht auch noch die Nerven zu verlieren. Er blieb in der Rolle, die er früher bei seiner Schwester eingenommen hatte, für die seine Schwester ihn geliebt hatte... er blieb ruhig, er behielt die Kontrolle... nur einen Ausweg sah er noch nicht.
    "Wieso schützt du sie?", fragte Ben provokant, und der Polizist musste sich selbst ermahnen, nicht wieder etwas zu sagen, was ihm leid tat... das Gleiche war ihm damals passiert, als sie beide im Krankenhaus waren, nachdem Jenny angeschossen wurde, und Ben seinem Partner unschöne Dinge an den Kopf geworfen hatte, was zum Bruch zwischen den beiden führte. "Ich schütze sie überhaupt nicht.", entgegnete ihm Kevin. "Aber ich kenne sie, und ich weiß wie sie tickt. Ich habe an ihr Gewissen ermahnt, an Sammy, dass sie ihren Mörder deckt. Das hat alles nichts genützt. Was willst du tun? Sie verprügeln? Dann wird sie erst recht nichts sagen. Glaub mir!"


    Bens Wut schlug um in Verzweiflung. Sein erregtes, ärgerliches Gesicht, was ihn immer ein wenig den Mund offen stehen ließ, die Stirn in Falten und die Augen etwas aufgerissen, entkrampfte langsam. Seine Schultern senkten sich, und Kevin spürte an seiner Hand, dass seine angespannten Handgelenksmuskel sich ebenfalls entspannten. "Fuck.", rief er laut und trat gegen die Mülltonne, die neben den beiden Polizisten stand. Nun traute sich Kevin auch, den Griff zu lösen, und den Arm seines Partners los zu lassen. "Wir müssen ihn finden, Kevin. Wenn ihm etwas passiert... das... das würde ich nicht ertragen."
    In diesem Moment klingelte Bens Handy, und Hartmuts Nummer leuchtete auf dem Display auf. "Hartmut, hast du was?", meldete sich der Polizist aufgeregt. "Ich habe Antwort des Netzbetreibers bekommen. Das letzte Funksignal stammt von einem Funkmast ausserhalb der Stadt auf der Bundesstraße zu Semirs Wohngebiet. Die Funkzelle ist aber ziemlich groß, fast über den ganzen Wald, einen Teil der Bundesstraße, zwei Fussgängerbrücken und eine Autobrücke. Ich schick dir die grafische Aufbereitung, aber ich befürchte fast, dass ihr ohne Unterstützung da nichts finden werdet." Ben bedankte sich bei dem rothaarigen KTU-Beamten, öffnete die Nachricht, die bald danach aufs Handy kam um den Ausschnitt der Karte zu betrachten. "Ich kenne Semirs Heimweg. Los gehts.", sagte er und die beiden Polizisten stiegen in den Dienstwagen ein.


    Ben bog gerade auf die Bundesstraße ein, es waren noch mehrere Kilometer bis zur betreffenden Zelle, als Kevin auf dem Beifahrersitz plötzlich den Kopf zu Ben drehte. "Ich habe ne Idee! Kehr um!", sagte er und Ben trat, beinahe erschrocken, sofort in die Eisen. Die Straße war so verlassen, dass niemand in die rot aufleuchtenden Bremsleuchten hineindonnerte, als er den Benz auf wenige Meter auf 0 bremste. "Was denn?", fragte er verwirrt, warum sollte er umkehren? War ihm noch was eingefallen, um Annie unter Druck zu setzen?
    "Fahr zur JVA!", sagte Kevin eifrig und nickte. "Zur JVA?" Ben war verwirrt, er sah etwas irritiert und wollte das Auto noch nicht wenden, bis sein Partner ihm die Idee schmackhaft machte... er kannte noch jemanden, der das Quartier der Sturmfront kennen könnte... und der würde es ihnen garantiert sagen.

    Besetztes Haus - 03:40 Uhr


    Das Haus war baufällig, so wie es vor 14 Jahren schon war. Drinnen war es größtenteils dunkel, nur vereinzelt brannten Öllampen, wo jemand übernachtete, Kerzen oder Taschenlampen. In den, teilweise zerbrochenen Fenstern konnte man von der Straße das Flackern erkennen. Es war ein großer Block, gekauft vor 20 Jahren zur Immobilienspekulation, eigentlich leer stehend mit mehreren Etagen und Wohnungen. Der Putz blätterte ab, die Wohnungen waren teilweise dem Vandalismus zum Opfer gefallen. Irgendwann hatten sich in der Nähe vermehrt Punks, Hausbesetzer und Autonome eingefunden, Antifa-Fahnen wehten aus dem Fenster, es gab immer wieder Übergriffe mit der Polizei. Hier hatte Kevin Nächte und Tage verbracht, es war sein zweites Zuhause gewesen, neben der Lagerhalle.
    Es gab in diesem Haus ein Zimmer im oberen Stockwerk, von wo aus man einen Ausblick bis ins Industriegebiet hatte. Dort hatten Annie und Kevin oft gesessen und auf die düstere, dreckige Stadt geschaut. Oft war sie dort aber auch alleine, nachdem sie sich gestritten hatten, wenn Kevin dann wutentbrannt das Haus verlassen hatte, konnte er Annies roten Schopf im Fenster erkennen. Meistens war er dann schon umgekehrt. Wenn sie die Angewohnheiten, wenn sie nachdenken musste sich dort hin zurück zu ziehen, beibehalten hatte, dann wäre sie genau dort.

    Ben hielt den Dienstwagen vor dem Haus und öffnete bereits Gurt und Tür, als er Kevins Griff am Ärmel spürte. "Lass mich alleine hochgehen." Ein etwas entgeisterter Blick traf den jungen Polizisten, und Ben protestierte: "Kevin, es
    geht hier nicht um dich und Annie... es geht um Semir. Wir gehen jetzt zusammen da hoch, und quetschen sie aus." "Wenn wir jetzt zu Zweit da aufkreuzen, wird sie garantiert keinen Ton sagen. Lass mich bitte alleine hoch gehen. Vertrau mir, ich weiß dass es um Semir geht." Ben fiel es unheimlich schwer, die Hand um Kevins Jackenarm zu öffnen. Nicht, dass er Kevin nicht vertraute... aber es ging um Semirs Leben. Da wollte er das Kommenado nur ungern aus seinen Händen geben. Sein Blick drückte auch eher Zerissenheit, jetzt untätig im Auto zu sitzen und zu warten, aus statt Misstrauen. "Na gut.", meinte eher zögerlich und Kevin nickte.
    Die Tür, nur angelehnt, knarrte als Kevin den dunklen Flur betrat. Mit schnellen Schritten hechtete er die knarrenden Holztreppen nach oben, manche Wohnungstüren standen auf, manche waren verschlossen, überall waren Graffiti-
    Sprayereien zu sehen, meistens Parolen aus dem linken Spektrum, Anarchie-Symbole und durchgestrichene Swastikas.
    Der junge Polizist kannte das Zimmer, in dem er und Annie immer saßen. Sein Herz klopfte, als er die Klinke der Wohnungstür herunterdrückte, und sie langsam knarrend nachgab. Eine Mischung aus muffigem Geruch, aber auch der kühlen Prise des offenen Fensters gegenüber der Tür, an dem eine schlanke Gestalt auf der Fensterbank saß, schlug ihm entgegen. Annie hatte ihn scheinbar schon unten auf der Straße gesehen, und für einen Moment blieb Kevin im Türrahmen stehen, als Annie sich umdrehte.

    "Verschwinde.", war ihre erste Reaktion auf den jungen Polizisten, denn das nicht verschreckte und nicht erstaunte. Entgegen ihrer Aufforderung trat er ein, und dass Annie gegen ihren eigenen Willen sprach, gegen ihr Bauchgefühl
    sprach erkannte er, dass sie sich nicht rührte, als er langsam auf die zu kam. "Annie, ich will nur mit dir reden. Und nicht über uns beide." Ihre Augen funkelten ihn an, ihr Gesicht verkniffen, die Lippen aufeinander gepresst, als er
    zwei Meter von ihr entfernt stehen blieb. In seinem Mantel und seiner zerschlissenen Jeans sah er immer noch eher wie ein Punk, als ein Polizist aus. "Lass mich in Ruhe. Ich hab mit euch Polizisten nichts zu schaffen." Jedes Wort, das sie sprach, tat ihr in der Seele weh, weil sie gleichzeitig auch mit dem Menschen Kevin sprach, den sie im Innersten noch liebte. Dieser Mensch sah nun kurz auf den Boden, auf die schmutzigen Holzdielen die unter ihm knarrten.
    "Vielleicht willst du ja eher was mit Kevin zu schaffen haben.", sprach er genau ihren inneren Konflikt an, und sie blieb erst stumm.
    Die unangehme Wahrheit musste raus, und vielleicht würde sie Annie auch gesprächiger machen. "Was willst du?", fragte sie immer noch feindseelig, erzwungen feindseelig. "Wir haben Sammy gefunden.", sagte er mit ernster Stimme, und die Verkniffenheit wich Angst und Entsetzen. "Gefunden... was?" "Sammy ist tot. Wahrscheinlich die Faschos..." Für einen Moment blieb Annie wie erstarrt. Sie blickte den Mann an, der ihr gegenüber stand, rutschte von der Fensterbank und dann lösten sich alle Fesseln. Ihr Gesicht verzerrte sich, ihre Augen füllten sich und ihr Beine gaben ihr nach, so dass Kevin mit zwei Schritten bei ihr war, und sie festhielt. Ein Weinkrampf schüttelte das Mädchen, eine Mischung aus Weinen und Schluchzen, sie klammerte sich an Kevins Arme, der sie fest im Arm hielt.


    Obwohl ihm die Eile unter den Nägeln brannte, ließ er Annie einige Minuten Zeit, bis sie sich beruhigt hatte. Sie löste sich auch sofort von ihm, obwohl es ihm ganz und gar nicht unangenehm war, und ging zwei Schritte um sich, leise
    schniefend wieder auf die Fensterbank zu setzen. "Du musst mir sagen, wo die Sturmfront ihr Versteck hat.", sagte er dann eindringlich, ohne dass das Mädchen reagierte. Sie blickte nur auf die Holzdielen und dachte an Sammys Lachen, an seine Scherze, an seine Versuche sie aufzumuntern, wenn es ihr schlecht ging. Unablässig kullerten immer wieder Tränen über ihre Wangen.
    "Annie...", brachte sich Kevin zurück in ihre Wahrnehmung. "Ich kann es dir nicht sagen.", sagte sie tonlos, ohne ihn anzublicken. Kevin ging vor der sitzenden Annie in die Hocke, um sie von unten anzusehen, kam mit dem Gesicht dicht an sie heran. "Mein Partner ist verschwunden. Wahrscheinlich haben die Faschos ihn entführt. Ich will ihn nicht auch finden müssen, wie ich heute Sammy gefunden habe.", sagte er eindringlich. Er wusste, dass er mit roher Gewalt bei Annie rein gar nichts erreichen würde, und war froh dass Ben im Auto geblieben war. Der hätte wohl, spätestens jetzt, die Nerven endgültig verloren. "Sie werden mich umbringen." "Niemand wird dich umbringen. Wenn wir wissen, wo die Bande ist, werden die alle in den Knast gehen." Annie blieb stumm... ihr Blick getrübt, auf den Schmutz des Bodens gerichtet.

    Kevin erhob sich wieder ruckartig, ging einige Schritte durch den Raum und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Warum schwieg sie... war es wirklich Sorge um sich selbst? War es Sorge um Kevin? War es die späte Rache an einem Polizisten, der jetzt vielleicht sterben würde. Der Polizist blickte das Mädchen an, sie schien undurchdringbar. Mit zwei Schritten war er wieder bei ihr und beugte sich wieder herunter. Seine Stimme war eindringlich, aber ruhig. "Du deckst Sammys Mörder. Willst du das?" Sie schienen für ein Moment wie ein Stillleben, Annie auf der Fensterbank sitzend nach vorne gebeugt, Kevin neben ihr leicht gebeugt, der auf eine Reaktion wartete. "Niemand ist schuld an Sammys Tod, ausser der Verursacher. Aber ich sage dir etwas: Wenn du uns nicht sagst, wo die Sturmfront ihr Quartier hat, wird jemand sterben. Und daran hast du schuld. Und wenn die Sturmfront dann nochmal bei euch aufkreuzt, und wieder tötet, wirst du auch schuld sein." Ihre Finger, mit denen sie sich abstützte, zuckten. "Und ob du es glaubst oder nicht, ich fühlte mich immer noch mit euch verbunden. Denn durch unsere Begegnung habe ich gemerkt, dass zwei Herzen in meiner Brust schlugen. Aber heute vormittag die Begegnung hat vieles kaputt gemacht. Ihr habt euch genauso verändert, wie ich. Ihr seid nicht mehr die von Früher."
    In ihm wurde es unruhig. Er spürte, dass er gegen eine Wand lief, und dass die einzige Spur im Sande zu verlaufen drohte. Annie schwieg, auch wenn es in ihrem Innersten brodelte. Sie konnte den Hass, den sie spürte nicht unterdrücken, die Liebe zu Kevin konnte den gleichzeitigen Hass gegen ihn nicht aufwiegen. Hass auf seinen Beruf, Hass auf ihn, dass er die schönen Träume, die sie nach dem Wiedersehen strickte, zerstört hatte. Und ihr Hass gegen sich, die Angst um ihn und um ihre Freunde, Angst vor der Rache der Sturmfront. Sie konnte sich nicht durchringen, dem Polizisten zu helfen. Trotz der Träume, trotz ihrer Einsicht... die anderen würden sie als Verräterin erachten, mit der Polizei zusammengearbeitet zu haben. "Wir werden das für Sammy selbst regeln.", murmelte sie leise.

    Kopfschüttelnd wandte sich Kevin von ihr ab, ging einige Schritte Richtung Ausgang, bevor er sich nochmal zu ihr umdrehte. "Ich hatte erwartet, dass du geschockt bist, wenn du erfährst, wer ich wirklich bin. Deswegen habe ich dir nichts gesagt, weil ich dich immer noch mochte und dir diese Enttäuschung ersparen wollte. Aber ich hätte gedacht, dass du jetzt, in dieser Situation, den Menschen siehst, und nicht den Polizisten. Semir ist ein enger Freund, genau wie Sammy dein enger Freund war. Und scheinbar willst du mich bestrafen, in dem ich mich vielleicht morgen genauso fühle, wie du jetzt." Eine kurze Pause folgte. "Aber du wirst die Zeit dadurch nicht zurück drehen können, Annie. Niemand kann das. Du wirst mich nicht mehr ändern, Annie. Es ist vorbei!" Ihr Blick traf ihn. Ihr Blick, traurig und gebrochen von Sammys Tod und ihrer Sehnsucht. Sie hatte beide verloren... und Kevin fühlte sich schrecklich hilflos. "Und ich verspreche dir... wenn Semir stirbt, weil du uns nichts gesagt hast... Dann werde ich für dich nicht mehr der Mensch sein... sondern der scheiss Bulle, der dich drankriegt wegen Beihilfe zum Mord. Das schwöre ich dir." Sie konnten beide ihre Herzen schlagen hören... und Kevin spürte, dass er das, was in der Halle heute vormittag in ihm gestorben war, nicht wiederbeleben konnte... so sehr er es auch wollte... Annie ließ es nicht zu.

    Ben's Wohnung - gleiche Zeit


    Er schlief... ja, er schlief. Er schlief schnell ein und schlief tief und fest bis ihn der Klingelton seines Handys aus den Träumen riss. Er hatte seine Sorgen, Ängste und Gedanken, die er seit Wochen mit sich herumschleppte, vergessen. Einfach mal verdrängt, einfach mal unterdrückt und mundtot gemacht. Das Gespräch mit Semir hatte ihm sowieso geholfen, und dieser Abend mit Kevin hatte Ben soviel Spaß gemacht, dass er in diesen Stunden einfach mal nicht daran dachte, was ihm im Kopf umher geht. Es tat so gut, er spürte wieder, dass er mit Kevin eigentlich sehr gut auf Wellenlänge funkte, obwohl die beiden grundverschiedene Typen waren. Doch gemeinsames Hobby, Musik verbindet. Sie hatten komponiert, gespielt, gelacht und getrunken. Ja, sogar gelacht hatte Kevin.
    Jenny hatte ihn danach nach Hause gefahren, Ben fühlte sich nicht betrunken sondern war aufgezogen, wie eine Spielzeugpuppe. Er hätte am liebsten noch weiter geschrieben und gespielt, doch die Aussicht darauf morgen früh aufzustehen, ließ ihn dann doch wieder müde werden. Er duschte, und schlief sofort ein, nachdem er die Decke über sich gezogen hatte. Jetzt, nur 2 Stunden später wurde er wieder wach. Neben ihm rumorte es, der Vibrationsalarm ließ sein Handy über den Nachttisch wandern und er erklang das Intro von "Smoke on the Water", sein momentaner Klingelton. "Verdammt...", sagte er leise, als er bemerkte, dass er nicht träumte, sondern dass ihn tatsächlich gerade jemand aus dem schönsten Schlummerschlaf riss.


    "Jäger?", meldete er sich verschlafen und erkannte die nervöse, etwas ängstlich klingende Stimme von Andrea sofort. "Ben... bitte sag mir, dass ihr noch unterwegs seid.", sagte Semirs Frau und Ben konnte das Zittern in der Stimme deutlich hören. Scheinbar dachte Andrea, Semir wäre mit den beiden Kollegen noch auf die Piste gegangen, wie eigentlich geplant... und jetzt war sie wach geworden, und das Bett neben ihr noch leer und kalt. "Ähm... nein... aber Semir war auch gar nicht mit. Der wollte nach dem Dienst nach Hause.", sagte der Polizist wahrheitsgemäß. "Ben... er ist nicht zu Hause. Sein Auto ist nicht da, er ist hier nicht angekommen. Was..." "Andrea, jetzt beruhig dich. Dafür gibt es bestimmt eine Erklärung." Auch wenn ihm gerade keine einfiel. Was sollte Semir dazu bewegen, mitten in der Nacht unterwegs zu sein? Ein wichtiger Anruf auf unseren Fall bezogen? Aber, dann hätte er doch Ben und Kevin informiert. "Ich hab solche Angst, dass was passiert sein könnte...", sagte Andrea, der jetzt klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte gehofft, Ben würde ans Handy gehen, und mit Musik im Hintergrund sagen, dass man versackt wäre und gleich nach Hause käme.
    "Hast du auf seinem Handy probiert?" "Ja, das ist ausgeschaltet. Er hat sowas noch nie getan, wenn er was anderes vor gehabt hätte, was so lange dauert, hätte er mich angerufen." Andrea stiegen die Tränen in die Augen, die Erinnerung an das spurlose Verschwinden ihrer Tochter wurde wieder wach, alte Ängste erwachten zu neuem Leben. "Ich mach mich sofort auf den Weg. Wir finden Semir, hab keine Angst. Soll ich... soll ich vorbeikommen?" "Nein... nein. Such ihn bitte, und sag mir schnellstmöglich Bescheid."


    Ben schlug die Decke von sich und setzte sich auf den Rand des Bettes. Er war sofort hellwach und dachte nach. Was war jetzt der nächste Schritt? Erstmal cool bleiben, ruhig bleiben. Du bist Polizist, auch wenn es um deinen Partner geht. In Gedanken ging Ben den Abend durch. Sie hatten die Dienststelle verlassen, Semir hat die Akten bearbeitet. Dann wollte er nach Hause fahren, und ist dort nicht angekommen. Was hatte ihn bewogen, etwas anderes zu machen, und wo hat sich die Spur verloren? Instinktiv wählte der Polizist die Handynummer seines Partners, doch die Mailbox ertönte sofort, das Handy war tatsächlich ausgeschaltet. Entweder wollte er nicht erreicht werden, oder jemand verhinderte, ihn zu erreichen. Hartmut musste helfen.
    Der Polizist erhob sich von der Bettkante und sprang in Rekordzeit in Jeans, Schuhe, Shirt und Pullover, schnappte seine hellbraune Lederjacke von der Garderobe und lief aus der Tür zu seinem Wagen. Er war noch nicht angeschnallt und auf der Hauptstraße in Richtung Kevins Wohnung, als er die Privatnummer von Hartmut wählte. Es dauerte einige Freizeichen, bis das KTU-Genie abnahm. "Was, zum Henker...", meldete er sich ziemlich verschlafen. "Hartmut, ich brauche deine Hilfe. Es ist dringend.", sagte Ben ohne Umschweife, um dem rothaarigen Techniker keine Gelegenheit zu geben, zu meckern und lamentieren. "Weißt du wie spät es ist? Nicht nur, dass ihr mir tagsüber Überstunden bereitet, jetzt auch noch nachts...", doch Ben unterbrach Hartmut sofort. "Bitte Hartmut. Semir ist verschwunden."


    Nach diesem Satz war Hartmut hellwach und saß aufrecht im Bett. "Was kann ich tun?", fragte er sofort, und Ben dankte ihm insgeheim. "Ich brauch den Standort von Semirs Handy beim letzten Signal. Er hat seit einigen Stunden das Handy abgeschaltet." "Okay. Ich handel das ab über "Gefahr für Leib und Leben", und werde beim Netzbetreiber die Koordinaten der Funkzelle anfragen. Ich melde mich.", sagte Hartmut und beugte sich seitlich aus dem Bett heraus, um seinen Laptop vom Boden aufzuheben. Von dort aus konnte er sich auf seinen Server in der Werkstatt verbinden und das benötigte Fax heraussenden. "Ben, warum schläfst du nicht?", meldete sich der junge Polizist statt mit seinem Namen, und Ben war überrascht, dass er sich fit anhörte und sofort abnahm... zu schlafen schien er nicht. "Das Gleiche könnte ich dich fragen.", meinte er sarkastisch, schob aber die Erklärung gleich hinterher. "Andrea hat mich gerade angerufen... Semir sei nicht zu Hause." "Wie?" "Ja... sie war davon ausgegangen, dass wir noch weg sind, also ging sie ins Bett. Jetzt ist sie wachgeworden und bemerkt dass Semir immer noch nicht zu Hause ist, und hat mich angerufen. Da stimmt doch was nicht." Schweigen auf der anderen Seite. Kevin schien nach zu denken, doch statt einer Antwort lieferte er die Erklärung, warum er gerade nicht schlief. "An der Lagerhalle wurde die Leiche eines der Punks gefunden... vermutlich getötet von den Faschos." Ben rutschte das Herz in die Hose. Das konnte kein Zufall sein, dass heute Nacht einer der Punk getötet wird, und Semir verschwindet... verdammt. "Oh nein, bitte nicht... glaubst du dass Semir...?" "Keine Ahnung... wo bist du jetzt?", fragte Kevin, der etwas ruhiger zu sein schien, als Ben selbst. "Auf dem Weg zu eurer Wohnung.", antwortete er und fuhr nach einer roten Ampel wieder an. "Komm zur Lagerhalle. Ich warte dort auf dich.", hörte er seinen Partner und wechselte die Richtung.


    Er brauchte nicht lange bis zu dem betreffenden Gebiet und hielt seinen Dienstwagen hinter dem Pathologie-Dienstwagen und dem schwarzen Leichenwagen. Er konnte das Licht der eingeschalteten Strahler entdecken und kam mit schnellen Schritten an die Menschenmenge heran. Zwei uniformierte Kollegen, einige in weißen Anzügen, Kevin und einer der Punks, der auf dem Betonsockel saß. "Und?", fragte Ben nervös, während Kevin mit einer Nickbewegung in die Ecke deutete, wo Meisner seine Arbeiten gerade abschloss. "Erschlagen, aber nicht hier. Wurde scheinbar als Gruß an die Autonomen hier abgelegt. Dass es die Faschos waren kann ich nur spekulieren, aber mir fällt nichts logisches ein. Wurde anonym gemeldet. Ausserdem waren gestern zwei Faschos bei Annie, und vielleicht ist Sammy ihnen gefolgt." "Und er?", fragte Ben mit einem Blick auf Ole. "Der... kam zufällig vorbei.", wich der junge Polizist aus.
    Ben ging auf Ole zu, der aufblickte und Ben scheinbar auch sofort als Bullen erkannte. "Was weißt du über die Sturmfront?", fragte Ben sofort und Ole schaute unsicher. "Nicht viel... wir wollen, dass sie uns in Ruhe lassen." "Wo haben sie ihr Hauptquartier?" Ole sah, als hätte man ihm die Frage auf chinesisch gestellt. "Das weiß ich nicht... das hab ich dir doch schon gesagt.", sagte er mit Blick auf Kevin. "Ich will es auch gar nicht wissen. Das sind keine normalen Faschos, das sind alles Schwerverbrecher." "Ist Annie drin?", fragte Kevin, den er wusste dass Annie das Quartier kannte. Ole schüttelte den Kopf. "Wo ist sie?" Der Punk biss sich auf die Lippen. "Ich glaube nicht, dass sie dich nochmal sehen will, Bulle." Ben drehte sich weg, denn er hatte das Bedürfnis zu zu schlagen. "Es ist mir scheissegal, was du glaubst. Ich will wissen wo sie ist!", wiederholte Kevin ein wenig schärfer. Als Ole nicht sofort antwortete, packte Ben zu. Er griff Ole an seiner Lederjacke und zog ihn auf seine Höhe. "Mein Partner, mein Freund ist verschwunden! Entweder sagst du mir jetzt, wo die Sturmfront sich verkriecht, oder wo Annie ist! LOS!" "Ihr Bullen seid doch alle gleich!", spuckte Ole aus, und in diesem Moment wendete Ben die Methode an, die Kevin als Punk zu dem damaligen Steinewurf hinreissen ließ... Gewalt. Heute wusste er, dass es manchmal nötig war. "Was ist jetzt?", rief Ben deutlicher, so dass auch Meisner und die Streifenbeamten sich zu den Drei umblickten, doch Kevin machte eine beruhigende Handbwegung, das alles unter Kontrolle war.


    "Sie ist nicht hier... ich weiß nicht wo sie ist. Sie wollte alleine sein, und über alles nachdenken, aber ich weiß es wirklich nicht." Kevin griff Ben an die Schulter. "Ich weiß wo sie ist! Los komm." Ben blickte etwas verwirrt, aber er ließ den Punk los. Im Vorbeilaufen sagte Kevin zu den Polizisten noch: "Lasst die Jungs da drin zu Frieden. Die haben nichts damit zu tun." Dabei deutete er auf Ole und die Lagerhalle, der verwirrt blickte. Dass Kevin die Punks in Schutz nahm, hatte er nicht erwartet.

    Lagerhalle - 3:15 Uhr


    Die Ratten ließen sich nicht mehr blicken, so lange etwas Lebendiges, Kevin, in der Nähe war. Der Polizist hatte sich eine Zigarette gegen die aufkommende Kälte angesteckt und zog an dem Glimmstengel. Er hatte für einen Moment noch nachgedacht, Ben und Semir anzurufen um sie über diesen Fund zu informieren... aber das würde Zeit haben bis morgen früh. Sie würden in dieser Nacht eh nichts unternehmen, die Leiche müsste genau untersucht werden... auch das würde wohl bis morgen dauern. Kevin war in die Knie gegangen und durchsuchte die Taschen des Toten, doch er fand, bis auf Tabak und ein paar Münzen nichts was ihm sonderlich geholfen hätte. Dann ging Kevin einige Meter von der Leiche weg und sah im feinen Sand Schleifspuren.
    Kevin hörte die Schritte erst, als sie ganz nah waren, denn das Knarzen des Sandes, hatte den Angreifer verraten. Den Baseballschläger hatte Ole bereits im Anschlag, bereit Kevin von hinten niederzuschlagen. Doch im letzten Moment war der Punk zu unvorsichtig und sah wohl an dem Polizisten auch nicht vorbei auf Sammy, der einige Meter weiter im Dunkeln lag. Das Geräusch ließ den Polizisten blitzschnell aufstehen und sich umdrehen, um zu erkennen, dass der Angreifer nur noch wenige Meter entfernt war. "Jetzt wird dir keine Annie helfen, Bulle.", knurrte Ole angriffslustig und ließ den Schläger drohend einige Male über dem Kopf kreisen und Schritt für Schritt näher kommen. "Lass den Schläger fallen, Junge.", sagte der Polizist mit eisesruhiger Stimme.


    Sie standen sich vielleicht in anderthalb Meter Entfernung gegenüber, immer wenn Ole einen Schritt auf Kevin zumachte, wich dieser einen zurück. "Willst du Annie damit beeindrucken? In dem du mich hier zusammenschlägst?", fragte Kevin und regte den Kopf ein wenig nach oben. "Vergiss es. Ich zeig dir nur was mit Bullen passiert, die ihre Nase in fremde Angelegenheiten stecken." Ole hob den Schläger nun drohend, machte einen Schritt auf Kevin zu, der diesmal stehen blieb, in seine Jacke griff und blitzschnell seine Waffe zog und auf Ole richtete, noch bevor dieser zuschlagen konnte. "Und ich zeig dir was mit Jungs passiert, die mit nem Baseballschläger zur Schiesserei kommen.", sagte er drohend und doch gleichzeitig lächelnd. Ole verharrte in seiner Schlagstatur. "Du bist doch nur ein feiger scheiss Bulle." "Hör auf mit dem Scheiss. Glaubst du, ich lass mich jetzt hier mit dir auf ne Schlägerei ein?" Langsam, wie in Zeitlupe ließ Ole den Knüppel zu Boden sinken.
    Der Punk hätte keine Sekunde später kommen dürfen, denn in der Ferne blinkte das Blaulicht um die Ecke und wurde erst, wie auf Geheiß von Kevin, abgeschaltet, als man auf das Gelände fuhr. "Fuck, was ist das hier?", fragte Ole in Panik und sah sich um als ein Kleinbus und ein Polizeiauto vorfuhren. "An deiner Stelle würde ich den Baseballschläger jetzt wegwerfen, und zwar so weit wie es geht!", riet ihm der junge Polizist und Ole, der bei dem Anblick der Autos in Panik geriet, tat wie ihm geraten. Mit einem Klimpern fiel der Baseballschläger hinter dem Zaun auf den Asphalt.


    Aus dem Kleinbus stiegen einige Männer in weißen Schutzanzügen, unter anderem auch Roland Meisner, der Chef der Pathologie. "Bleib hier... es wird dir nichts passieren. Wenn du jetzt abhaust, kann ich dir nicht helfen.", zischte Kevin zu Ole, der gerade Anstalten machte, zu fliehen und griff ihm ans Handgelenk. "Ihr seid alle in Gefahr. Sie haben Sammy getötet.", raunte er ihm noch zu. "W...was?", stotterte Ole und wurde kreidebleich, was Kevin sogar im Dunkeln erkennen konnte. Meisner stapfte durch den Sand auf Kevin zu. "N'abend, mein Junge. Wo haben wir denn die Leiche?", fragte er und er sah aus, als käme er gerade von einem feinen Essen, denn Meisner war immer top gepflegt. Kevin hatte ihn noch nie mit einem Drei-Tage-Bart gesehen, und seine Haare saßen immer akkurat gleich lang, als wäre er jeden Tag beim Frisör. Der Polizist machte eine Kopfbewegung in die Ecke, wo es noch dunkler war, als auf dem übrigen Gelände, und Meisner ließ sofort die Strahler aufbauen.
    "Was... was ist passiert?", fragte Ole dann, als die Männer in den weißen Uniformen mit der Arbeit begannen. "Wir sind anonym angerufen worden, dass hier eine Leiche gefunden wurde.", bekam der Punk zur Antwort. Langsam ließ er sich auf einem Betonsockel nieder und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. "Sammy... er war seit vorgestern nachmittag verschwunden. Wir dachten, er übernachtet im Park, aber wir haben ihn nirgends gefunden.", sagte Ole, ohne dass Kevin konkrete Fragen stellen musste. "Er... er ist vielleicht..." "Was ist er?" "Vorgestern waren zwei von diesen Faschos bei uns... von der Sturmfront. Sie hatten mit Annie geredet." So langsam dämmerte es Kevin... sie hatten Annie verraten, dass er ein Bulle ist. Wenn sie ihn immer noch beobachtet hatten, wusste er, dass er zweimal bei Annie war, und sie bekamen mit, als Annie den Schriftzug an der Hauswand ansprayte. Also konnte sie die mitgenommene Flasche als Brandanschlag Annie unterschieben. "Glaubst du, Sammy hat die Typen verfolgt?" "Ich... ich weiß es nicht."


    Der Polizist ließ Ole erstmal alleine... der war so geschockt, dass er nicht dran dachte, jetzt einfach abzuhauen. Kevin ging mit knarzenden Schritten durch den Sand zu Meisner, der bereits kräftig bei der Arbeit war. "Und?" Mit weißen Gummihandschuhen hob der Arzt gerade den Kopf des Toten an, was sehr unappetitlich aussah und sich entsprechend anhörte. "Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Gewalteinwirkung von vorne und hinten. Von vorne auf jeden Fall mit einem Gegenstand. Schädelbruch, Kieferbruch, mehrere Kampfspuren am Körper. Der Junge wurde äusserst brutal verprügelt und dann erschlagen." "Was denkst du, wie lange ist das her?" "So lange nicht... vielleicht drei bis acht Stunden ungefähr. Aber Fundort ist ungleich Tatort." Kevin sah sich kurz um. "Also ist er nicht hier getötet worden?", fragte er nach, obwohl er die Aussage des Pathologen schon verstanden hatte. "Offener Schädelbruch... das muss geblutet haben wie ein Schwein, aber hier ist nur sehr wenig. Der Junge wurde definitiv nicht hier umgebracht."
    Nachdenklich nickte Kevin. Wollte Sammy vielleicht Annie beeindrucken, nachdem die Nazis hier waren, und war ihnen gefolgt... bis zu ihrem Unterschlupf? Und dort wurde er getötet? Aber warum bringen die Typen ihn hierher? Warum rufen sie selbst anonym die Polizei? Wollten sie bewirken, dass Kevin hierher kommt, und es vielleicht für die Punks so aussieht, als hätte die Polizei Sammy getötet. Von daher war es ja gut, dass Kevin alleine hierher gekommen war, und man nun nicht zu dritt um den Leichnam herumgestanden hatte. Aber wenn diese Theorie zuträfe... es war ja nun reiner Zufall, dass Ole hierher kam... oder?


    Kevin ging noch einmal zu dem Punk. "Warum bist du hier draussen? Hast du mich gehört?", fragte er. Ole schüttelte den Kopf und sah dabei Richtung Boden. "Nein. Ich war in der Stadt bei einigen Obdachlosen und bin jetzt zurück gekommen. Ich hab dich von der Straße gesehen, wie du deinen Wagen abgestellt hast." "Also war es reiner Zufall? Niemand hat dich angerufen?" Ein Nicken... "Ja... reiner Zufall." Ole schien zu ahnen, dass dieser Schock über den Tod von Sammy ihn vermutlich einige Nächte in Gewahrsam kosten würde. Er vertraute Kevin nicht, der den Angriff sicher zur Anzeige bringen würde.
    Kevins Handy klingelte, und er war perplex als der Name "BEN" auf dem Display blinkte. Er nahm ab. "Ben, warum schläfst du nicht?" "Das Gleiche könnte ich dich fragen.", hörte er aus der Leitung schnarren. "Andrea hat mich gerade angerufen... Semir sei nicht zu Hause." In Kevin breitete sich blitzschnell ein ungutes Gefühl aus. "Wie?" "Ja... sie war davon ausgegangen, dass wir noch weg sind, also ging sie ins Bett. Jetzt ist sie wachgeworden und bemerkt dass Semir immer noch nicht zu Hause ist, und hat mich angerufen. Da stimmt doch was nicht." Im Hintergrund konnte Kevin ein Rauschen hören... Ben schien bereits unterwegs zu sein. "An der Lagerhalle wurde die Leiche eines der Punks gefunden... vermutlich getötet von den Faschos.", sagte Kevin mit ernster Stimme. "Oh nein, bitte nicht... glaubst du dass Semir...?" Die Stimme von Semirs Partner klang ängstlich und besorgt. "Keine Ahnung... wo bist du jetzt?" "Auf dem Weg zu eurer Wohnung.", war Bens schnelle Antwort. "Komm zur Lagerhalle. Ich warte dort auf dich.", sagte sein Partner, dann trennten sie die Verbindung.

    Katzen fressen nicht an Leichen, und ein wilder Hund hätte sich ohne (verräterischem) Schuss nicht verjagen lassen. Die Raben waren ne Notlösung ;)

    Andrea nahm an, dass Semir, wie eigentlich geplant, mit Ben und Kevin noch weggeht. Also geht sie alleine ins Bett ;)

    Schlafzimmer - 2:30 Uhr


    Gerade mal zwei Stunden lang hatte Kevin geschlafen... ein Gefühl, was er nur selten erlebte. Von Müdigkeit übermannt zu werden und zu schlafen, dazu war meistens entweder harte Arbeit oder Alkohol nötig. Gestern abend wars viel harte Arbeit und ein wenig Alkohol, von dem er jetzt aber nichts mehr spürte. Er lag im Dunkeln, und dachte nach... über sich und sein Leben, Zufriedenheit, über die Frau die gerade neben ihm lag. Jenny lag mit dem Rücken zu ihm und es fühlte sich für den Polizisten an, als zeige sie ihm absichtlich die kalte Schulter, obwohl sie natürlich nur zufällig so schlief. Kevin lag dahinter ebenfalls auf der Seite, beobachtete die sich langsam gleichmäßig bewegende Schulter Jennys, ihren Nacken und ihre Wange. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt, den Ellbogen ins Kissen.
    Das Gefühl, dass er verspürte als er wieder bei Annie war, bekam er nicht mehr aus dem Kopf. Freiheit, Abenteuer, tun was man will. Keine Regeln. Wollte er das wirklich noch? Er war nicht mehr der sorglose Junge, der mal eben Polizisten mit Steinen bewarf ohne sich Gedanken über die Folgen zu machen. Jetzt bekam er die Folgen auf dem Silbertablett serviert... Pflegefall, Berufsende, Frührente. Heute machte Kevin sich Gedanken, heute hatte Kevin Schuldgefühle auch wenn ein kleiner Teil seines alten Lebens, das noch in ihm steckte, sich rechtfertigte. Dieser Polizist hatte vorsätzlich und ohne Not mit einem Schlagstock auf die Punks geprügelt, und dabei einen von ihnen ebenfalls schwer verletzt. War das jetzt ein Teil von Gerechtigkeit? Wollte er diese Gerechtigkeit heute noch?


    Und wollte er diese Frau aufgeben, die sich einließ auf den schwierigen Typen, auf den drogenabhängigen Polizisten? Die Opfer vollbrachte, keine normale Beziehung ohne (ausser die alltäglichen) Sorgen zu führen, sondern sich auf ein Abenteuer einzulassen. Die Angst hatte, ihrem Freund gewisse Dinge zu sagen, weil sie nicht wusste wie er reagierte... dieser Satz stach tief in Kevins Gedanken, ohne dass er es zugeben wollte. War er tatsächlich so unberechenbar im Sinne seiner Reaktion, plötzlich sich wieder zu verschließen? Hätte er sich wieder verschlossen, wenn Jenny nach der Kiste gefragt hätte, statt sie einfach zu nehmen?
    Der Polizist seufzte und strich der jungen Kollegin mit der Hand liebevoll über die Schulter, die nur von einem dünnen Träger ihres Nachthemds bedeckt war. Er wollte sich gerade wieder gemütlich hinlegen, als er den Klingelton seines Handys im Wohnzimmer vernahm. Kevin stieg aus dem Bett und tapste barfuss aus dem Schlafzimmer schnurstracks Richtung Tisch, auf dem das Handy lag, klingelte und blinkte... es war die Zentrale. "Ja?" "Kevin? Entschuldige wenn ich dich wecke...", hörte der Polizist die Stimme seines Freundes Herzberger, der scheinbar Nachtdienst hatte. "Kein Problem Hotte... ich hab sowieso noch nicht geschlafen. Was gibts?" "Wir hatten gerade einen merkwürdigen Anruf, anonym. Im Industriegebiet an der Lagerhalle hätte jemand eine Leiche gefunden. Du weißt schon..." "Dort, wo die Autonomen sind?", bestätigte Kevin quasi Hottes kleinen Wink mit dem Zaunpfahl, und ihm lief ein Schauer über den Rücken. Das war sicher kein Zufall. "Genau. Ich dachte, ich rufe dich zuerst an, bevor ich die Kollegen hinschicke." Natürlich war der dicke Streifenpolizist über die ganze Sache eingeweiht, wie auch sein Partner Bonrath. "Danke, das war gut. Ich schau mir das mal an, und melde mich dann." Die beiden trennten die Verbindung und Kevin kehrte zurück ins Schlafzimmer, wo er schnell seine Jeans anzog und das Schlafshirt gegen sein Langarmshirt tauschte. "Was ist denn los?", hörte er Jennys verschlafene Stimme hinter sich, die durch den Lärm geweckt wurde. "Ich muss nochmal weg...", sagte er nur leise und kurz. Die junge Frau sah besorgt, wie er seine Schuhe schnürte und die Kapuzenweste anzog, denn draussen war es kalt. "Du gehst wieder zu den Punks?" Es war eher eine Feststellung, als eine Frage und Kevin sah zu seiner Freundin. "Mach dir keine Sorgen... sie werden mir nichts tun." Er gab Jenny nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor er den Autoschlüssel griff und die Wohnung verließ.


    Lagerhalle - 3:00 Uhr


    Kevin fuhr nicht bis an die Lagerhalle heran, sondern stellte den Wagen auf dem Bürgersteig ab. Er hatte Ben und Semir nicht angerufen, weil er erst einmal selbst nachschauen wollte... ausserdem war es wohl besser alleine zu sein, wenn er nochmal auf die Punks traf. Alleine konnte er sich vor ihnen eventuell besser rechtfertigen, auf Annie besser einwirken, als wenn er mit der ganzen Kavallerie hier auftauchte. Der Polizist ging durch das dunkle Tor und knipste seine schwere Taschenlampe an, um nicht irgendwo gegen Wände zu laufen oder den Müll zu stolpern, der hier überall herumlag. Der Mond versteckte sich hinter dichten Wolken und die Nacht war ungewöhnlich dunkel. Lichtquellen gab es hier keine, keine Straßenlaterne, keine Lampen an den Eingängen der Lagerhalle. In einer der Oberlichter der Halle konnte Kevin ein Flackern vernehmen... die Autonomen hatten abends und nachts desöfteren Kerzen brennen, und er stellte sich vor, dass vielleicht sogar Annie es war, die nicht schlafen konnte wie er.
    Schritt für Schritt tastete Kevin sich über das Gelände. Unter seinen Schuhen knarrten Steine, und krachten leise Glasscherben. Er hatte über seine Kapuzenweste seinen Mantel für kalte Tage angezogen und der Wind strich ihm durch die abstehenden Haare. Der Lichtkegel der Taschenlampe schwebte wie ein Geist über dem Asphalt, erhellte Grasbüschel an einer bröckeligen Trockenmauer und schwang immer wieder hin und her, während Kevin irgendwelche Hinweise auf ein Verbrechen oder die gemeldete Leiche suchte. Dabei klopfte sein Herz gegen den Brustkorb, denn er wusste ja nicht, wenn er finden würde...


    Plötzlich hörte er ein Geräusch, und blieb stehen. Es war wie ein Knurren, ein Schmatzen, aber kein menschliches. Der Lichtkegel der Taschenlampe fuhr herum, und das Geräusch schien aus einer Ecke zu kommen, wo zwei der Lagerhallen im rechten Winkel zueinander gebaut waren. Kevin nahm seine Waffe aus dem Halter unter seiner Jacke und entsicherte sie, während er langsam dem Geräusch folgte. Er versuchte seinen Atem zu kontrollieren um seinen Puls, der vor Aufregung und vor allem um Sorge in ungeahnte Höhen schnellte. Wer sollte eine Leiche jetzt ausgerechnet hier ablegen... oder hier umbringen. War es einer der Punks, die überfallen wurde? Ein Neo-Nazi, der sich hierher verirrte. "Bitte lieber Gott, lass es nicht Annie sein.", erwischte sich Kevin dabei, an den schlimmsten Fall zu denken, und schüttelte den Gedanken schnell wieder ab.
    Langsam kam in dem Lichtschein etwas zum Vorschein, was Kevin befürchtet hatte, auch wenn der schlimmste Fall nicht eintrat. Das Schmatzen war jetzt deutlich, doch wurde es unterbrochen als Kevin dichter kam, ein wildes Quieken dreier Ratten, die sich auf dem Leichnam niedergelassen hatten, suchten das Weite. Kevin atmete aus, und steckte die Waffe weg, der Lichtschein fuhr von den Springerstiefeln über die zerflickte Hose nach oben zum Oberkörper und dem blutüberströmten und deformierten Kopf des jungen Mannes. "Scheisse...", murmelte der Polizist leise, als er das Ausmaß der, wahrscheinlich tödlichen Kopfverletzungen sah. Er ging neben Sammy in die Hocke und erkannte den Punk dann doch an einigen Gesichtszügen... es war der Junge, der ihn recht eifersüchtig angeblickt hatte, als er bei Jenny war.


    Kevin zückte sein Handy und rief Herzberger wieder an. "Und, hast du was?" "Kann man wohl sagen... schick mir bitte die Spurensicherung zu der Adresse... die sollen aber ohne lautes Tatütata kommen, ich hab keine Lust die Punks aufzuscheuchen.", sagte er, obwohl es wohl unmöglich war dass mehrere Autos über das Gelände fuhren, ohne dass irgendjemand in der Halle etwas davon mitbekam. "Alles klar, Kevin. Die werden in wenigen Minuten bei dir sein.", sagte der erfahrene Polizist und trennte die Verbindung, um sofort weiter zu telefonieren.
    Der junge Polizist zog sich Gummihandschuhe, die er wohlwissentlich aus dem Auto eingesteckt hatte an, und betrachtete im Schein der Taschenlampe den Kopf des Opfers. Dabei verzog er zwar angewidert das Gesicht, doch so manches Mordopfer bei der Mordkommission, wo er mal war, sah noch schlimmer aus... er war einiges gewöhnt. Einige Zähne waren abgebrochen, Sammys Mund unnatürlich aufgerissen, womöglich der Kiefer gebrochen. Dazu war der Hinterkopf weich, der Schädel eingedrückt. Da muss jemand ordentlich zugeschlagen haben, dachte Kevin... und er hatte sofort die Neo-Nazis in Verdacht. Was hatte der kleine Kerl getan, dass ausgerechnet er ein Opfer werden musste...

    Germania, Keller - 21:00 Uhr


    Er hing am seidenden Faden... im wahrsten Sinne des Wortes. Sammy, der Punk aus Annies Gruppe, hatte Probleme mit dem Atmen. Sicher hatte er einige Rippen gebrochen, sein Gesicht glühte vor Platzwunden und Blutergüssen, sein Kopf dröhnte schmerzhaft von den Schlägen und Tritten, bis er bewusstlos wurde. Sie hatten ihn dann in diesen feuchten miefigen Keller geschleift, und an den Handgelenken zusammengebunden wie Schlachtvieh aufgehängt... was anderes sei er nicht, hatte ihm einer der Neo-Nazis gesagt. Er hatte sich dämlich drangestellt, das wusste er spätestens jetzt als er aufwachte, mit brutalem Stechen in den Schultern. Seine Beine waren eingeknickt wie Streichhölzer, die Fußspitzen berührten den Boden. Wenn er Kraft finden würde, könnte er seine Arme wenigstens etwas entlasten, in dem er sich aufrecht hinstellte... er wollte, er versuchte es und biss auf die Zähne.
    Es war nur wenig Entlastung, aber immerhin. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit um ihn herum... er war immer mal wieder wach geworden, immer mal im Dämmerschmerz Geräusche und Gestalten wahrgenommen, aber durch das verschlossene Kellerfenster hatte er jeglichen Sinn für Zeit verloren. Wie lang war er hier? Ein paar Stunden? Tage, Wochen? Nein, Wochen nicht... dann wäre er wohl längst verdurstet. Sein Shirt war blutverschmiert, ein Auge zugeschwollen und er spürte die krustigen Blutspuren überall in seinem Gesicht. Annie und die Gruppe würde ihn hier rausholen... ganz sicher...


    Wieder hörte er Geräusche. Das Schlagen einer Autotür, Stimmen, Lachen, Schritte. Knarzendes Holz direkt über ihm. Das Geräusch bewegte sich weg, wieder hin und wieder weg als würde jemand unruhig Auf und Ab gehen. Dann Schritte auf der Treppe, wieder ein Rufen, doch Sammy konnte nicht verstehen, was gemeint war, wer gemeint war bis sich die Holztüre des alten Kellers, die er jetzt erst als Holztüre wahrnahm, öffnete und das Licht des Flures in den Raum fiel. An einem altmodischen Drehschalter knipste einer der Faschos, die allesamt ganz in Schwarz angezogen waren, das Licht an, im Schlepptau hatten sie einen Mann in Lederjacke und kurzen Haaren. Nur mit anderthalb Augen, eins halb zugeschwollen, versuchte Sammy die Gesichter zu erkennen.
    "Na, Kleiner? Wie gehts uns denn?", fragte Breuer, der seine Frisur fast schon zynisch als extremen Seitenscheitel gegelt hatte. Er ging zu Sammy, packte ihm grob an seine geschwollene Wange und drehte den Kopf hin und her. "Oh, das sieht aber böse aus.", meinte er gespielt fürsorglich. "Ich glaube, da müssen wir ein wenig kosmetisch tätig werden." Sammy hatte die Augen zugekniffen vor Schmerz, presste den schmerzenden Kiefer aufeinander und sagte kein Wort. "Lasst den Jungen gehen! Ihr habt jetzt mich, reicht das nicht?", ereiferte sich Semir und zog ein wenig Alibimäßig an den Griffen der muskulösen Nazi-Händen. Rocky kam hinter der Gruppe herein und meinte zu Semir: "Keine Sorge... unser kleiner linker Freund wird nicht mehr lange hier sein."


    Mit freundlichem Lächeln ging Rocky zu Breuer, der das Gesicht des Punks wieder losgelassen hatte und stieß den hilflosen Jungen ein wenig an, so dass der an den Füßen sofort wieder den Halt verlor. "Und weißt du auch warum? Weil es wie im wahren Leben ist. Die Deutschen müssen Platz machen für die Ausländer." In Semir stieg ein ungutes Gefühl auf... noch schlechter als das Gefühl, was er seit der Bundesstraße sowieso schon hatte. "Weißt du eigentlich, welcher Abschaum bei uns eine Marke und eine Waffe herumtragen darf?", fragte Ronny den Gefangenen an den Seilen, der nur schwer atmete. "Guck da rüber. Und genau wie jeder ordentliche Deutsche seine Wohnung für Flüchtlinge, Asylbetrüger und kriminelle Ratten ihr Haus räumen muss... so musst du jetzt diesen gemütlichen Keller räumen. Und weißt du, was mit den armen Leuten dann passiert?" Semir hatte die Hände zu Fäusten geballt, als Rocky mit seinem Gesicht dicht an Sammys Ohr heranging. "Sie erfrieren, mein Junge... sie sterben. Wie findest du das, als Deutscher... hmm?"
    Sammys kleiner Körper zitterte, vor Erregung, vor Schmerz, aber auch vor Angst. Doch er würde vor diesen Typen, seine größten Feinden, Nazis und Polizisten, niemals einknicken. "Deutschland verrecke.", quetschte er unter Schmerzen heraus, eine linksradikale Parole die Semir genauso wenig teilte wie rechtsradikale Parolen. Dabei wurde ihm klar, dass solche Dinge wohl auch Kevin als Jugendlicher gerufen haben muss, und ähnlich dachte. Für den Jungen war es vielleicht noch nicht zu spät. "Was hast du gesagt?", fragte Rocky fast schon drohend, obwohl er die Worte klar vernommen hatte. "Deutschland... verrecke...", wiederholte Sammy mit zitternder Stimme. Der Neo-Nazi grinste und drehte sich zu Semir um. "Hey, Kanacke. Kennst du den Film "American History X?" Semir stand hilflos da, unfähig einzugreifen, immer noch wurde er bedroht und mehrer Hände hatten sich um seine Arme gelegt. Er schwieg zu der Frage. "Da geht es um einen amerikanischen Neo-Nazi... der geläutert wird.", erklärte Rocky mit ruhiger Stimme, und fügte ein leises "Unrealistisch" dazu. "Und da gibt es eine ganz bekannte Szene... ich werde sie dir zeigen. Schafft sie nach oben in den Hof."


    Sammy war auf das Abschneiden des Seiles, an dem er hing, nicht vorbereitet und krachte zu Boden. Vier grobe Hände packten den schlaffen, sehr schmalen und leichten Körper und beförderten ihn mit Stößen und Zerren die Treppen nach oben. Semir folgte ihm auf die gleiche Weise, allerdings auf den eigenen Füßen. "Lass den Jungen gehen, verdammt. Er hat hiermit nichts zu tun.", sagte er nochmal und erkannte die Hoffnungslosigkeit seiner Worte. Diese Typen hatten einen klaren Plan, von dem sie niemand abbringen konnte. Und sie brauchten Semir im Prinzip nicht. Mag sein, dass sie etwas besonderes mit ihm vor hatten, doch wenn sie es wollten, könnten sie ihn auch einfach töten, wenn er sich wehrte. Draussen glänzte der grobe Asphalt im Hinterhof vom leichten Regen, als sie die Germania verließen. Die Gegend, wo die Kneipe war, war einsame, die alten verkommenen Wohnungen standen weitestgehend leer. Niemand würde sie hier hören, als Rocky Sammy zu Fall brachte, der dann vor einem leicht erhöhten Bordstein kniete.
    Der Boden war hart, und Sammys Körper war voll Schmerzen. Er wusste nicht, wie es um ihn geschah, aber er hatte eine Hoffnung. Diese Typen würden ihn doch nicht töten. Neo-Nazis waren dumpfe Typen mit wirren Parolen, die Aufmärsche durchführten und vielleicht bei einer Schlägerei mal zu fest zu schlugen... aber sie würden ihn doch nicht einfach abknallen. Semir beobachtete die Szene, beobachtete wie Sammy auf dem Boden kniete und begann fester an seinen menschlichen Fesseln zu zerren. "Beiß in den Bordstein.", sagte Rocky leise, hinter Sammy, der diese Worte nicht fassen konnte. Eine Demütigung für einen Menschen, sich so zu unterwerfen und zynisch, dass Rocky den Ausländern in Person von Semir die Schuld dafür gab. "Na los! Beiß in den Bordstein."


    Sammy hatte zu viel Angst, als dass er sich wehrte. Zuviel Angst vor Schmerzen, zuviel Angst wieder geschlagen zu werden. Er beugte sich stöhnend nach vorne, sein Gesicht kam dem Bordstein immer näher, es schmeckte nach Staub und Dreck an seiner Zunge, als er seine Zähne an die Kante des Bordsteins hielt und seine Lippen den nassen Asphalt berührten. "Hört auf damit! Hört auf damit!!", begann Semir zu rufen und Breuer, der Semir ebenfalls mit festhielt, hielt ihm eine Pistole an den Kopf. "Du bist Zuschauer, du hast kein Rederecht, Kanacke.", machte er ihm klar.
    Rocky grinste ihn die Runde, als sich Sammy vor ihm erniedrigte in den Bordstein zu beißen. "Was hast du eben im Keller gesagt, Zecke?", fragte er nochmal nach unten, doch er hörte von Sammy nur ein Wimmern. "WAS HAST DU EBEN IM KELLER GESAGT?", schrie der Neo-Nazi dann und setzte seinen schweren Schuh auf Sammys Hinterkopf, seine Zähne kratzten durch den Druck über den Bordstein und ein schmerzhaftes Stöhnen entglitt dem jungen Punk. "HÖR AUF, du Arschloch!", schrie der Polizist nun, riss kräftig an seinem rechten Arm, konnte ihn sogar befreien, doch er bekam sofort einen Schlag in die Magengrube, der ihn auf die Knie fallen ließ. Er stöhnte auf und Rocky drehte sich um. "Genieß es... du wirst der Nächste sein." Dann wandte er sich wieder zu Sammy, reckte den rechten Arm in die Luft und brüllte den Gruß, wobei er ein "Für Deutschland" hinterher schmetterte, bevor er mit dem rechten Fuß, der noch an Sammys Hinterkopf ruhte, ausholte, und zutrat. "NEEEIN!", hörte er hinter sich noch Semirs Stimme, der bei dem ersten unnatürlichen Geräusch von Sammys Kiefer- und Schädelknochen die Augen zukniff und zur Seite sah. Einmal, zweimal, dreimal trat Rocky mit Wucht auf den zuckenden Kopf von Sammy, von dem kein Wort mehr aus seinem Mund kam, der nur langsam zuckend zur Seite fiel.


    Als Semir die Augen wieder öffnete, weil zwei Hände von hinten seinen Kopf umfassten, und seinen Blick zwanghaft auf den Körper des jungen Punks richteten, lag dieser in seinem eigenen Blut, das aus Mund, Nase und Ohren lief. Sein Kopf hatte eine unnatürliche Form angenommen, doch genauer wollte der Polizist, der schon allerhand Unfallopfer in seinem Leben gesehen hatte, nicht hinsehen. "Ihr verfluchten Bastarde...", brachte er nur hervor, als Rocky mit blutverschmierten Schuh auf Semir zukam. "Du darfst jetzt gerne seinen Platz einnehmen.", sagte er seelenruhig und die strammen Hände rissen Semir wieder nach oben, um ihn zurück in den Keller zu verfrachten. Der Kopf der Sturmfront beugte sich zur Seite zu Heinrich. "Und ihr bringt den Kadaver dieser Zecke dorthin, wie es geplant war. Hinterlasst ihnen einen schönen Gruß von mir." Heinrich nickte mit diabolischem Grinsen.

    Köln - 19:00 Uhr


    Nur eine Viertelstunde nachdem Ben und Kevin das Büro der Autobahnpolizei verlassen hatten, machte auch Semir Feierabend. Er gähnte, als er den Monitor in seinem Büro ausschaltete ausgiebig, es war ein harter Tag gewesen und er freute sich auf seine Couch. Als er nach draussen in die Dunkelheit trat, und er bemerkte dass es ordentlich kalt war, dachte er noch darüber nach, heute Abend ein wenig Holz herein zu holen und den Ofen anzufeuern um es vor dem Fernseher gemütlicher zu haben. Der erfahrene Polizist stieg in seinen Dienstwagen, startete ihn und drehte sofort die Sitzheizung an, bevor er das Gelände der PAST auf die Autobahn verließ.
    Die Sturmfront beobachtete ihn nun schon seit zwei Tagen. Sie kannten Semirs Weg zur Autobahndienststelle, sie kannten seine Abkürzung durch ein recht einsames Waldgebiet auf einer Landstraße. Heute hatten sie den Angriff minutiös geplant, wie eine Schlacht an der Kriegsfront... so hatte es Rocky bezeichnet. Er gab der Attacke sogar einen Namen, "Operation Brücke", so wie es viele Heeresführer im ersten und zweiten Weltkrieg getan hatten. Jedem Zug, jedem Angriff auf die Front, allen geplanten Überfällen wurden bekannte Namen gegeben, um sie voneinander abzugrenzen. Genauso tat es die Sturmfront, und ihr Anführer hatte diesen Plan, der eigentlich recht simpel war, schon vor einigen Wochen ausgearbeitet. Heute abend würde er umgesetzt werden.


    Heinrich hatte Stellung bezogen, auf der genannten Brücke. Es war eine kleine Fußgängerbrücke, die die beiden Waldstücke für Wanderer und Spaziergänger miteinander verband. Unter ihr führte die Bundesstraße hindurch, auf der jetzt wenig Verkehr war. Zwei weitere Neonazis sitzen mit Funkgeräten im Gebüsch nahe der Straße und kündigten das Kommen des silbernen BMWs an. "Beobachter an Attentäter: Er kommt jetzt.", knarzte es aus Heinrichs Funkgerät und der gab nur ein kurzes "Okay" zurück. Sie hatten nur einen Versuch an dieser Brücke, die Rückfallebene war eine Straßenbrücke 2 Kilometer später. Aber da war öfters um diese Uhrzeit noch Verkehr, so dass es schwierig war, unerkannt zu bleiben. Deswegen "Wäre es gut, wenn der erste Versuch klappt.", sagte Rocky, und seine Worte klangen wie eine Drohung bei der Vorbesprechung.
    Semir ahnte nichts. Die Bäume zogen links und rechts an ihm vorbei, und die Brücke, die ihm jetzt ins Sichtfeld gelangte, sah nicht anders aus als sonst. Ein schwarzer Bogen über der Straße, dahinter der dunkelblaue, teils mit schwarzen Wolken behangene Nachthimmel. Die dunkle Gestalt auf der Brücke, die sich mit einem großen schweren Stein nun erhob, nahm er nicht wahr. Nur das laute Krachen, als der Stein auf die Motorhaube aufschlug, um danach noch gegen die Frontscheibe zu prallen, und diese auf der Beifahrerseite splittern ließ, nahm Semir wahr. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, instinktiv griff er das Lenkrad fest um den Wagen nicht aus der Kontrolle zu verlieren und trat direkt auf die Bremse.


    Die Reifen frassen sich in den Asphalt, und ruckartig kam der Wagen am Straßenrand zum Stehen. "Was zum...", japste Semir und hielt sofort ein. Ein Stein, der von der Brücke kam... dann kann der Werfer noch nicht weit sein. Er löste die Gurte und riss die Tür auf, doch die Planungen der Sturmfront hatten genau das vorgesehen. Aus dem Wald kamen sie wie ein Überfallkommando, 4 oder 5 vermummte Typen mit Gewehren, die wie Sturmgewehre aussahen. Semir blickte sich um und sie zogen den Kreis um den Polizisten sofort zu. "Ein Griff zur Waffe, Türke, und wir richten dich hier und jetzt!", schrie einer drohend, als Semirs Hand langsam zu seiner Waffe an seiner rechten Körperseite wanderte. Er hielt dennoch ein... denn die Entschlossenheit in den Augen, die er durch die Schlitze der Sturmmaske erkennen konnte, machte ihm ein wenig Angst. Dieser Typ würde sofort abdrücken, und selbst wenn er es schaffen sollte ihn auszuschalten, würden seine Kollegen schiessen.
    "Was wollt ihr von mir?", rief Semir, als die Typen näher kamen, einer ihm den Lauf des Gewehrs sofort gegen die Wirbelsäule stieß, so dass der Polizist auf die Knie fiel. Der andere griff sofort zu seiner Dienstwaffe, um Semir zu entwaffnen, alles geübt. Scheinbar hatten die Kerle für diesen Auftritt trainiert, es wirkte aber nicht wie ein Training von SEK oder MEK, das Semir kannte, sondern eher wie Soldaten. Semir wurde zur Entwaffnung nicht flach auf den Boden gelegt, sondern in die Knie gezwungen. "Wir säubern unseren Staat!", gab ihm einer der vermummten zur Antwort, und sofort packten sie ihn, um ihn wieder auf die Beine zu ziehen, mit Kabelbinder wurden seine Hände auf dem Rücken fixiert.


    "Los, ab in den Wagen mit ihm.", befahl einer der Vermummten, der scheinbar das Kommando hatte. Er ging zu Semirs BMW und sah hinein... der Schlüssel steckte. Der Wortführer wies einen seiner Männer an, den Wagen wie besprochen "zu entsorgen." Währenddessen zogen und zerrten der Rest der Männer den gefesselten Polizisten in den Wald zu einem kleinen Waldweg, wo ein alter Geländewagen schon bereitstand. Dort zwangen sie ihn unter Waffengewalt zum Einsteigen. "Ihr seid die Sturmfront, das weiß ich. Ihr könnt euch die lächerliche Maskerade sparen.", keifte Semir genervt zu seinem Nebenmann, und der Wortführer, der auf der Beifahrerseite einstieg, zog sich die Maske vom Kopf. "Ihr habts gehört, Männer. Unser Staatstürke ist nicht so dumm, wie seine Landsleute." Nacheinander zogen die 4 Männer um ihn herum in dem Geländewagen die Masken vom Kopf. Neben sich erkannte er einen der Typen, die vor seiner Haustür waren, um die Nachbarin einzuschüchtern. Er wurde von hasserfüllten Augenpaaren angeguckt, und der Fahrer startete den Motor.
    "Was wollt ihr von mir? Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe.", fragte Semir nochmal, denn er konnte sich diesen Angriff nicht erklären. Bisher war die Sturmfront gegen ihn nur mit subtilem Psychoterror vorgegangen, aber nicht mit körperlicher Gewalt. Eine Entführung? Was nützte es ihnen? Wollten sie Lösegeld erpressen? Das passte doch überhaupt nicht in die Ideologie dieser Typen. Aber warum sollten sie ihn dann entführen?


    Der Wagen schaukelte auf dem buckeligen Waldboden hin und her, der Fahrer fuhr nicht gerade langsam und alle vier mussten sich im Fahrzeug ein wenig festhalten. Nur Semir konnte nicht, seine Hände waren auf dem Rücken, eingeschnürt von scharfkantigen Kabelbinder, die sich in sein Fleisch hineinschnitten. "Wir müssen der Gesellschaft zeigen, wie wir uns unser Land vorstellen. Was wir besser machen wollen und welcher Abschaum in unseren Straßen patroullieren darf. Mit einer Marke und einer Waffe in der Hand. Und mit dir, mein kleiner türkischer Freund...", und dabei zeigte der Wortführer, Rocky, mit seiner Waffe auf das Gesicht des Polizisten. "...fangen wir an." Semir schluckte... wenn das eine große Öffentlichkeitsaktion werden sollte, dann konnte man mit dem Tod eines Polizisten mit Migrationshintergrundes gut schocken... vor allem, wenn dieser vor einigen Tagen eine Flagge einer islamistischen Terrorvereinigung gehießt hatte. Semir wurde es mulmig... es war erst Abend... Andrea dachte eigentlich, dass Semir mit Ben und Kevin noch etwas trinken geht und würde ihn wohl nicht vermissen. Sie würde ins Bett gehen, einschlafen und erst morgen früh merken, dass etwas nicht stimmt... und vorher auch nicht Ben und Kevin alarmieren. Semir war auf sich alleine gestellt...