Landstraße - 4:50 Uhr
Sie waren ganz alleine auf der Straße. Um diese Uhrzeit waren in der Woche entweder Nachtschwärmer unterwegs, die in der Stadt die Zeit vergessen hatten, und nun unter Alkoholeinfluss versuchten den Nachhause-Weg zu finden, oder eben zwei Polizisten, die auf dem Weg waren, ihren besten Freund zu retten. Das Blaulicht erhellt für Sekundenbruchteile die Landstraße, den länger hielten sich Ben und Kevin nicht auf einem Kilometer auf. Die Tachonadel zeigte auf dem kurzen Geradeausstück, das rechts und links gesäumt war von Bäumen ohne eine, bei dieser Geschwindigkeit eh nicht mehr rettende Leitplanke, 190. Kevin, dem hohe Geschwindigkeiten in einem Auto nichts ausmachten, sah immer nur einen Schatten an Bäumen an sich vorbeifliegen und bemerkte nur kurz und süffisant, dass es länger dauern würde, wenn sie den Benz erst von einem Baum abkratzen mussten und sich ein neues Auto suchen müssten. Dass man die beiden Polizisten dann allerdings ebenfalls vom Baum kratzen müsste, erwähnte er gar nicht erst.
Ben hörte nicht zu. Komischerweise nagte die Angst um sein Leben in diesem Moment gar nicht an ihm, denn im Moment erinnerte ihn nichts an die Schiesserei im Krankenhaus, auch wenn er gerade genauso sein Leben für Semir aufs Spiel setzte. Mit quietschenden Reifen bog er an einer dunklen Kreuzung ab auf eine andere Landstraße, die in Richtung des Dorfes führte, was Jerry ihnen genannt hatte.
"Was ist jetzt? SEK oder nicht?", fragte Kevin die gleiche Frage, die er beim Startschuss aus dem Gefängnis bereits gestellt hatte. Ben wog, genau wie beim Start, den Kopf hin und her. "Ich weiß nicht... Was ist, wenn der Tip ne Ente ist.", befürchtete er. Also wieder keine klare Antwort... Kevin legte das Funkgerät beiseite. Das gelbe Schild mit der Aufschrift des Ortes konnte er nur kurz erkennen, als es an ihnen vorbeihuschte, und der Beifahrer schaltete das Blaulicht aus. "Mach langsam jetzt...", mahnte er, weil sie sonst zu sehr auffallen würden.
Anhand Jerrys Wegbeschreibung hatten sie die Kneipe "Germania" schnell gefunden. Ben hielt den Mercedes auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das Fenster zur Straße war schwach erleuchtet. Ben und Kevin sahen beide durch die Frontscheibe auf das Objekt ihrer Hoffnung. "Also?" Ben blickte zu Kevin, der blickte zurück zur Kneipe. "Wenn wir das SEK rufen und auf die Jungs warten, ist es da drinnen zu spät, und wir haben keine Chance, Semir zu retten. Wenn der Tipp eine Ente ist, haben wir ausserdem den Verfassungsschutz auf dem Hals.", analysierte Semirs bester Freund, während Kevin nickte: "Gehen wir alleine rein, lebt Semir vielleicht noch, und wir könnten ihn retten. Oder aber, wir sterben alle drei zusammen.", vollendete er die Analyse, und wieder sahen sich die beiden so ungleichen Freunde, die schon zwei emotionale Tiefphasen miteinander erlebt hatten und gestern wieder so etwas wie eine Auferstehung ihrer Freundschaft gefeiert hatten, an. Sie wechselten kein Wort, sie kommunizierten mit Blicken und Gesten, beide nickten sie entschlossen. Ben griff zu seinem Hosenbund um seine Waffe zu nehmen, das Magazin zu prüfen und zu entsichern, während Kevin für den gleichen Vorgang in seine Mantelinnentasche griff. Es war eine Geste, die beide verstanden: Wir holen Semir JETZT da raus.
Keller - gleiche Zeit
Semir konnte die Tränen der Verzweiflung nicht unterdrücken, als er mit dem Rücken zur verschlossenen Tür saß, und sich in Gedanken seine trauernde Frau und die weinenden Kinder vorstellte. Er konnte die Hilflosigkeit, die Wut und den Zorn nicht mehr in Kraft umwandeln. Das Zischen aus den Rohren verwandelte den Raum in eine Nebellandschaft, es wurde warm und wärmer. Fühlte sich so der Tod an? Er konnte in dem Raum eh wenig erkennen, er spürte aber Feuchtigkeit auf seinen Händen und seinem Gesicht. Sein Herz schlug schneller, es kam ihm vor, als könne Semir nicht richtig atmen, doch der harmlose Wasserdampf, der aus den Löchern in den Raum entwich, beeinträchtigte nicht seine Atmung. Nur die Angst lähmte ihn, die Verzweiflung, den Horror den er gerade erlebte.
Er wusste nicht, wie lange er in dieser umfunktionierten Kammer gesessen hatte, wie lange dieses grausame Zischen gedauert hatte. Irgendwann hörte es auf, und die Tür hinter ihm gab nach, so dass er nicht darauf vorbereitet war, und rückwärts auf den Boden fiel, wo ihn sofort kräftige Hände packten, und ihm wieder gleißendes Licht in die Augen brannte. Er war schweißüberströmt, vor Angst und von dem heißen Wasserdampf, der diesen kleinen Raum in eine Sauna verwandelt hatte. "Ich denke, du weißt jetzt, was deinesgleichen hier bald wieder erwartet.", hörte er Rockys Stimme. Semir sah sich um... er war nicht tot, er lebte. Diese Schweine spielten ein Spiel. "Doch jetzt ist das Spiel zu Ende.", sagte Rocky unheilsvoll, und die beiden Männer, die Semir gepackt hatten, zerrten ihn durch den Flur nach draussen, an die für Semir eiskalte Luft. An die gleiche Stelle im Hinterhof an den gleichen Bordstein, wo im Schein der schwachen Hinterhoflampe noch Sammys Blutfleck auf dem Asphalt schimmerte.
"Los, knie dich hin.", sagte er und stieß Semir ebenfalls eine Waffe ins Kreuz, um ihn zu zwingen. Doch der Polizist, der nur wackelig auf den Beinen stand, sah sich um. Hasserfüllte Gesichter, die ihn tot sehen wollten, gedemütigt im Staub, die Wangen feucht von Schweiß und Tränen. Plötzlich erwachte in Semir ein Verzweiflungs-Kampfgeist. Ein Kampfgeist eines Mannes, der dem Tod geweiht war, der nichts mehr zu verlieren hatte, weil er sowieso sterben würde, weil er nicht mehr an Hilfe glaubte. In der Zelle war dieser Geist tot, weil er alleine war, weil er keinen Ausweg fand. Jetzt hatte er Gegner, er sah die Männer, die ihn töten wollten, und so schüttelte Semir langsam den Kopf. Breuer trat dem Polizisten in die Kniekehle, so dass dessen zittrigte Beine doch nach gaben, und er vor dem Bordstein auf den Asphalt fiel.
"Beiß in den Bordstein, Türke." Semirs Brustkorb hob und senkte sich, seine Hände waren frei neben seinen Hüften, zerkratzt mit Striemen vom Kabelbinder am Handgelenk. Er blickte auf den blutverschmierten Bordstein, seine Stirn glänzte von Schweiß, seine Wangen von Blut und Tränen. Wie in Zeitlupe schüttelte er den Kopf und sagte leise "Nein." Rocky stieß einmal, zweimal mit dem Lauf ins Genick des Polizisten. "Ich werde nicht zögern, dir einen Genickschuss zu verpassen, wenn du nicht tust, was ich sage. Beiß in den Bordstein." Alle Unwegsamkeiten, die Semir überwunden hatte, um ein Leben in Deutschland zu führen, gingen ihm durch den Kopf. Das Deutsch lernen in der Grundschule, die Lästereien auf der Realschule, so mancher Spruch in der Polizeiausbildung. Andrés Vorwürfe, er sei auf einem Auge blind, als ein Cousin von ihm des Mordes verdächtigt wurde. Er hatte einen Beruf, er hatte eine Familie und er hatte vielen Deutschen das Leben gerettet. Nein... er, Semir, würde sich nicht in den Staub werfen, sich demütigen lassen.
"Knall ihn ab, Rocky.", sagte Breuer, als er merkte, dass sich der Polizist nicht zitternd in den Staub warf, wie der kleine Punk Sammy. Doch der Anführer der Nazis hörte nicht auf seinen Kameraden, und wiederholte nochmal, deutlicher und schärfer seine Anweisung an Semir, der nun langsam, mit festem Blick, ohne eine Spur der Verzweiflung in den Augen zur Seite, nach hinten zu Rocky blickte. "Ich werde mich von dir... von euch nicht demütigen lassen." Seine Stimme klang erst leise, und wurde dann immer kraftvoller, immer lauter, immer selbstbewusster. "Ich habe in diesem Land eine Familie. Ich habe Deutschen, Türken, Russen und anderen ihr Leben gerettet, und ich habe genauso viele ins Gefängnis gebracht. Ich habe für dieses Land mehr getan, als ihr mit eurer Vision jemals tun könnt."
Breuer sah unsicher zu Rocky, dessen Blick immer mehr verkniff, als er Semirs Widerstand hörte. Auch der Nazi mit dem Handy in der Hand, wurde unsicher, und blickte herum. Er wimmerte nicht, er jammerte nicht, er bettelte nicht um sein Leben. Er kniete zwar, aber er kniete aufrecht, trotz aller Schmerzen, seelisch und körperlich. "Ich bin deutscher, als ihr alle zusammen.", spuckte er ihnen vor die Füße, und langsam drehte sich sein Blick von links nach rechts, durch die Runde, an die Nazis, die noch dabei waren, 4 oder 5 neben Breuer und Rocky. "Die Menschen, die jetzt Angst vor FLüchtlingen haben, werdet ihr nicht bekehren mit Gräueltaten. Die Menschen sind durch den 2. Weltkrieg aufgeklärt, ihr Idioten. Ihr werdet kein viertes Reich gründen können, versteht ihr das.", sagte er und spürte deutlich den Lauf von Rockys Waffe im Genick. Dabei schüttelte er den Kopf und biss die Zähne aufeinander, sein Atem ging immer noch etwas heftiger zwischen den Worten. "Das ist Wahnsinn.", setzte er noch dahinter um zog Luft durch die Nase, die vom Blut ein wenig verstopft war.
Rocky biss sich auf die Zähne. Er platzte vor Wut, dass dieser Türke nicht wie ein Hund vor ihm lag, sondern sich so verhielt, wie es gerade Neo-Nazis und damals die alten Nazis von ihren Männern erwarteten. Stolz und aufrecht, ohne Angst. War der Kerl nur ein Schauspieler, ein verdammter Schauspieler, oder hatte der Türke so etwas wie Ehre im Leib. Jedenfalls hörte Rocky zu, und ahnte bereits, dass eine weitere Aufforderung, endlich sich zu demütigen und in den Bordstein zu beißen, nichts bringen würde. Er sah dann wieder, wie sich Semirs Kopf zu ihm drehte und sich die braunen Augen auf ihn richteten... wie sich der Polizist langsam aufrichtete, und sich noch mehr Stolz verschaffte, als aufrecht zu knien... nämlich aufrecht vor Rocky zu stehen, Auge in Auge, auch wenn der seine Waffe noch auf Semirs Oberkörper richtete.
"Du wirst mich vielleicht töten...", sagte der Polizist mit fester Stimme, spürte zwar seine weichen Knie, aber das Adrenalin ließ ihn aufrecht stehen. "... aber du wirst mich nicht demütigen. Du wirst mir nicht meine Ehre nehmen. Nicht meine türkische Ehre und nicht meine deutsche Ehre. Beim Leben meiner Töchter!"