Raststätte - 07:30 Uhr
Ben und Kevin legten auf dem Weg zur Dienststelle nur einen kleinen Zwischenstopp ein, um sich zu stärken. Bei Schoko-Crossaint, belegtem Brötchen und zwei Tassen starkem Kaffee standen die beiden an einer Autobahnraststätte am Stehtisch. Sie hatten nicht viel gesprochen, sie hatten gegenseitig gemutmaßt, was Semir bei den Neo-Nazis passiert sein könnte, doch sie konnten sich nichts so Schlimmes zusammenreimen, was den erfahrenen Polizisten, der schon so viele unangenehme, brenzlige Situationen überstanden hatte, so aus der Bahn werfen konnte. "Er kommt schon wieder auf die Beine, Ben.", sagte Kevin in seine Kaffeetasse, quasi als Abschluß der Diskussion und erntete ein nachdenkliches Nicken.
"Was war eigentlich los mit dir? In der Kneipe?" Ben wollte seinen Partner nicht ansehen, er blickte lieber in das schwarze Getränk in der Tasse. Kevin sah ihn an, ohne die Augen zu senken, und wartete auf eine Antwort. "Ich... ich habe in letzter Zeit Probleme...", begann sein Freund langsam, stellte die Tasse ab und änderte den Blick nach vorne, an Kevin vorbei. "Probleme?" "Ja... seit ich in dem alten Krankenhaus angeschossen wurde. Dass das so knapp war, dass ich nur aus purem Glück noch am Leben bin. Ich... ich hab mir da so meine Gedanken gemacht." Ben sprach zu Kevin, wie er immer mit Semir sprach. Offen, geradeaus. Er vertraute dem Mann, denn im Gegensatz zu Kevin hatte er keinen Grund für Misstrauen.
Bisher war Ben nie mit Problemen zu Kevin gekommen. Nie von sich aus. Als es knapp auf knapp kam, als er einen massiven Anfall von seiner Platzangst erlitt, da öffnete er sich Kevin. Er erzählte. Semir weiß heute immer noch nichts von Bens Klaustrophobie, denn sein junger Partner hatte dicht gehalten. Ben dagegen hatte Kevins Geheimnis damals verraten, was das Vertrauen aus der Sicht von Kevin zerstört hatte. Es muss erst mühsam wieder aufgebaut werden, was bei dem jungen Mann, der sowieso große Probleme hatte, anderen Menschen zu vertrauen, dauern würde. "Davor das mit dem Unfall im Wald... davor auf dem Fabrikgebäude...", sagte er langsam und blickte nun Kevin endlich an, der sich die Bilder ins Gedächtnis zurückrief... auch wenn ihm an die Situation letzten Winter einen Schauer über den Rücken jagte. "Ich hab einfach irgendwie das Gefühl, dass mein Glück langsam aufgebraucht ist."
Bevor Ben das Risiko einging, und eine emotionale Reaktion auf seine Worte folgen ließ schaute er wieder in seine Kaffeetasse. Kevin unterließ solche Phrasen wie "ich verstehe dich.", und "Ich kann das nachvollziehen." Er nickte einfach nur, er konnte den Gedanken nicht nachvollziehen, weil er solche Gedanken nicht hatte. Schlicht einfach, weil Kevin in den letzten Jahren nicht am Leben hing. Ihm ging es lange Zeit so schlecht, auch während des Polizeidienstes, er hatte (ausser Kalle) Niemanden, so dass es ihm recht egal war, ob er im Dienst sein Leben verlor oder nicht. "Ich habe sogar darüber nachgedacht, auf zu hören.", meinte Ben dann leise in seine Kaffeetasse. "Dann hättest du andere Probleme, glaub mir.", sagte Kevin nun, denn den Gedanken konnte er nachvollziehen. Die Zeit zwischen dem Ausstieg aus der Szene und dem Beginn der Polizei-Ausbildung, war die Schlimmste in seinem Leben.
Stumm standen sie an dem Stehtisch, schräg zueinander und hingen beide ihren Gedanken nach. Plötzlich zuckte ein Lächeln über Bens Gesicht und er sah Kevin seitlich an. "War gut gestern Abend, oder?", meinte er. Bei dem Versuch, seine Gedanken aufzuhellen war ihm der gestrige Abend eingefallen, als die beiden Musik machten, Lieder spielten, über Kevins alte Texte sinnierten. Der wiederum lächelte ebenfalls und nickte. "Ja, war gut. Können wir öfters machen.", meinte er sofort. Es tat beiden gut, sie vergassen ihre Probleme, Ben seine Ängste, Kevin seine Sehnsucht nach seinem alten Leben, die durch das Treffen mit Annie wieder aufgeflackert war. Doch Annie war für ihn heute Nacht gestorben, und das tat ihm weh.
"Du, es tut mir immer noch wahnsinnig leid, was ich damals verbockt habe. Wir... ich fand uns so ein gutes Team bei dem Fall, und es hat mir so weh getan, als ich gesehen habe, was danach mit dir passiert ist. Und dann noch die Sache mit Jenny...", sagte Ben, denn er fand gerade, dass sich das Vertrauen zu Kevin langsam wieder aufbaute und sie auf einem guten Weg waren, und obwohl er sich schon einmal bei ihm entschuldigt hatte, fand er dass es ein guter Zeitpunkt war, diese Entschuldigung nochmal zu erneuern. Doch Kevin winkte nur ab: "Es ist okay... ich bin ja auch nicht unbedingt leicht zu handhaben.", meinte er selbstkritisch, und Ben konnte ihm nicht widersprechen. Kevin war für ihn immer noch, wie ein Buch mit sieben Siegel... und hatte man vier Siegel geöffnet, und nahm fürs Fünfte den falschen Schlüssel, schnappten sofort alle vier Siegel wieder zu, und man konnte von vorne anfangen.
Die beiden Polizisten fuhren in die Dienststelle, wo sie sahen dass die Chefin Besuch von zwei Anzugträgern hatte. "Oh weia...", meinte Kevin leise zu Ben, als sie eintraten. "Was denn?" "Der Typ da mit der Glatze bei der Chefin. Das ist Krüger vom Staatsschutz. Ich kenne den, der hat damals einen Aufstand gemacht, als ich zur Polizei gekommen bin, weil ich noch in irgendeiner Akte aufgetaucht bin, als Mitglied des linksextremen Spektrums." "Dann wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn du dich ganz klein machst." Die beiden redeten und sahen dabei beide in Richtung des Büros der Chefin, doch beim letzten Satz sah Kevin seinen Freund etwas sarkastisch von der Seite an. "Weil ich das auch so gut kann, was?"
Jenny kam gerade vom Flur, und sah die beiden Männer. "Sag mal, bist du eigentlich wahnsinnig?", fragte sie aufgebracht in Kevins Richtung. Sie hatte leichte Schatten unter den Augen, ein untrügliches Merkmal, dass sie nicht lange geschlafen hatte in dieser Nacht. "Ich bin fast gestorben vor Angst! Warum rufst du mich nicht an, und sagst mir wo du bist?" Sie schwang Ernst in ihrer Stimme mit, und war scheinbar tatsächlich sauer. "Sorry... ich habs vergessen. Ich bin das noch nicht so gewohnt, dass ich mich bei jemandem melden muss...", sagte Kevin, doch es klang eher wie eine halbherzige Ausrede, was Jenny noch wilder machte. In diesem Moment rief die Chefin von der Tür aus die beiden Beamten herein, und Kevin murmelte nochmal ein "Sorry", bevor sie sich beide umdrehten. "Gerettet, was?", flüsterte Ben leicht grinsend. "Abwarten... wir haben uns gerade von den Löwen abgewendet um nun auf den Abgrund zu zu steuern.", meinte er fast schon philosophisch.
"Meine Herren, das sind Krüger und Schmidt vom Staatsschutz. Die Hauptkommissare Jäger und Peters." Die Männer schüttelten sich die Hände, wobei Krüger etwas süffisant bemerkte: "Aha, Peters. Wo sind denn ihre grünen Haare geblieben?" Kevin lächelte nur ein wenig, eine Mischung aus Überheblichkeit und Arroganz. "Krüger... ich schätze dort, wo ihre restlichen Haare jetzt sind.", spielte er auf das fehlende Kopfhaar des Staatsschutzbeamten an. Ben unterdrückte grunzend ein Lachen, während Anna Engelhardt ebenfalls etwas unterdrückte... nämlich einen Wutanfall. "Wir sind heute Morgen über den SEK-Einsatz in der Kneipe "Germania" informiert worden. Der Einsatz wurde von ihnen angeordnet. Dürfte ich vielleicht erfahren, warum?", fragte Krüger ohne auf Kevins Provokation einzugehen. "Wir waren einer Hetzjagd der Faschos ausgesetzt, die in der Entführung unseres Kollegen gipfelte. Ausserdem wurde ein junger Mann von den Nazis getötet.", sagte Ben mit ruhiger Stimme.
Nach und nach erzählten sie die Vorkommnisse, und obwohl sie eigentlich mit Entrüstung, Drohung der Suspendierung und weiterem gerechnet hatte, nickten die beiden Beamten der anderen Abteilung nur und machten sich Notizen. "Wir haben nicht gezielt gegen die Sturmfront ermittelt, wir mussten uns wehren.", schloß Ben den Bericht ab. "Und warum haben sie uns nicht informiert?", fragte Krügers Kollege. "Weil sie dann den Fall zwar übernommen hätten, aber wir der Gefahr immer noch ausgesetzt gewesen wären.", antwortete der Kommissar mit den Wuschelhaaren.
Für einen Moment herrschte Stille im Büro, dann erhob sich Krüger. "Na schön. Ich will nicht sagen, dass ihr uns einen Dienst erwiesen habt. Aber aufgrund ihrer Gefährdung kann ich ihre Vorgehensweise... nachvollziehen." "Wie meinen sie das, dass wir Ihnen keinen Dienst erwiesen haben? Wir haben einen gefährlichen Rechtsradikalen des Mordes und der Freiheitsberaubung überführt.", sagte Ben ein wenig verwirrt, obwohl ihm die Antwort bereits dämmerte. "Falsch. Wir haben einen seiner Kontakte zu noch gefährlicheren Neo-Nazis des Mordes und der Freiheitsberaubung überführt. Und einen Mord vertuscht man eben nicht so einfach, wie das Sprühen eines Hakenkreuzes auf einer Hauswand, nicht wahr?", meinte Kevin mit provokantem Unterton. Krügers Gesicht schien einzufrieren, und er schien den jungen Beamten mit seinen Blicken an die Wand zu nageln. "Es wäre besser für sie alle, wenn sie sich ab jetzt aus der ganzen Sache raushalten."
Er nickte kurz und wollte sich schon zum Gehen wenden. "Also ist es wahr?", fragte Ben fassungslos, als er sich vorstellte dass vielleicht viele der Kerle in dieser Gruppe nun straffrei ausgingen, während die Chefin ruhig sitzen blieb, weil sie diese Praktiken kannte. Ob man sie guthieß oder nicht, war Nebensache. "Diese Kerle haben meinen Partner seelisch fertig gemacht. Die gehören alle hinter Gitter. Die haben tatenlos mit zugesehen, wie einem jungen Menschen der Schädel eingetreten wurde.", sagte er laut. "Ich habe gesagt, dass für sie hier Endstation ist. Der Mörder wird seine gerechte Strafe erfahren, und gegen den Rest wird ermittelt.", sagte Krüger, während Anna Engelhardt Ben ein Zeichen gab, nicht weiter nach zu haken. Gegen den Staatsschutz kam auch die, bei der Polizei hoch angesehene Chefin nicht an. "Und ich kann Ihnen den Ausgang der Ermittlungen sagen. Sorry, mir ist das zu blöd...", sagte Kevin, der natürlich emotional auch betroffen war davon, dass einige der Typen, die ihn fast umgebracht hätten, den Kopf aus der Schlinge zogen. Sein Vertrauen in seine Arbeit generell stärkte das auch nicht, und plötzlich konnte er Annies Haltung wieder etwas verstehen.
Gerade als der junge Polizist an der Tür nach draussen war, hörte er Krügers Stimme. "Sie sollten sich lieber gut überlegen, was sie sagen, Peters. Nicht dass ich doch noch ein paar Akten mehr über ihre Zeit in der linken Szene finde. Ich weiß nicht, ob das für ihre Polizei-Zukunft so förderlich ist." Kevin drehte sich langsam zu Krüger um und sah ihn an. Ben hielt die Luft an, den er kannte diesen kalten Gesichtsausdruck von seinem Partner, und er sah die Katastrophe schon kommen. "Wenn das hier der Auftakt zu einer Erpressung sein sollte...", hörten die Männer die scharfe Stimme der Chefin... "dann sollten sie sich jetzt gut überlegen, was sie sagen. Denn auch der Staatsschutz ist nicht unantastbar, und es sind zwei Zeugen im Raum, Krüger."
Ben, wie Kevin, war stolz. Die Chefin hatte Kevin verteidigt, was ihr in letzter Zeit immer noch schwer fiel, weil sie sich an den Polizisten mit krimineller Vergangenheit noch gewöhnen musste. Krüger und Schmidt verließen danach das Büro, und Kevin bedankte sich bei Frau Engelhardt. "Trotz allem kann ich ihnen nur raten, sich an die Anweisungen zu halten. Ich weiß, wie schwer ihnen das fällt. Aber wenn der Staatsschutz es auf sie abgesehen hat, kann ich nichts mehr für sie tun." Und mit ernster Stimme und Mimik setzte sie hinzu: "Ich meine das wirklich ernst." Da war Ben und Kevin klar, dass es diesmal keine leere Drohung war, doch beiden schmerzte diese Erkenntnis.