Beiträge von Campino

    Dienststelle - 16:30 Uhr


    Früher hatte man den Kindern gesagt, sie würden viereckige Augen von zu vielen Fernsehgucken bekommen. Ben konnte sich lebhaft an die Worte seiner Mutter erinnern. Jetzt hatte er das Gefühl, sie hatte recht. Stundenlang saßen die beiden Polizisten jetzt in ihrem Büro an ihren Monitoren. Sie klickten, sie lasen, sie telefonierten. Ben hatte sich das Facebook-Profil des Toten angesehen, in dem aber nur wenige Informationen zu finden waren. Björn Bachmann schien nichts vom "gläsernen Menschen" zu halten, hatte nur wenige Bilder von sich und seiner Schwester in seinem Profil und gab weder seine Meinung zu politischen Themen ab, noch bloggte er irgendwelche Fussball-Ergebnisse. Likes hatte er lediglich bei einigen alten Rockbands und modernen Krimiromanen gesetzt.
    Das einzige, was öfters in seiner Timeline erschien, waren Spielemeldungen von Casino und Pokerspielen, in denen man in der Mittagspause um virtuelles Geld auf Facebook spielen konnte. Ansonsten gab es keinerlei Nachrichten, und auch keinerlei Auffälligkeiten in Björns Freundesliste, kein Name kam Ben im kriminellen Spektrum irgendwie bekannt vor. Nach einer Stunde intensiven Lesens und Klickens lehnte er sich zurück, rieb sich mit den Fingern durch die Augen und streckte sich.


    Kevin hatte sich mit einem Eilbeschluss die Einzelverbindungsnachweise des Toten besorgt und hatte jetzt den Kopf auf die Handfläche gestützt, während er diese studierte. Zahlen, Nummern, Gesprächsdauer der letzten 7 Tage waren dort aufgelistet, auffällige Nummern strich er sich mit einem Textmarker heraus. Einige Anrufe ins Ausland, niederländische Vorwahlen, genauso wie das letzte Gespräch... auffällig. Die Nummern sendete er sofort an die Bundesnetzagentur, um die Person zu ermitteln, der hinter diesen Nummern steckte.
    Gegen späten Nachmittag ratterte das Faxgerät und spuckte einige Seiten Papier aus. Kevin stand auf um den Bericht von Robert Meisner entgegen zu nehmen, wobei er sich gegen den kleinen Schrank, auf dem das Faxgerät stand, lehnte während Ben mit einem kurzen Nicken fragend in die Richtung seines Partners schaute. "Bericht von unserm Leichenschnippler.", war Kevins Antwort auf die stumme Frage, und seine Augen flitzten von links nach rechts. "Und?" "Nichts auffälliges, nichts was wir nicht schon wussten. Tod durch Herzschuss, große Entfernung, glatter Durchschuss, nichts im Magen, keine Vorerkrankung oder akute Erkrankung...", las Kevin vor und schüttelte dabei den Kopf. "Man kann quasi sagen: Kerngesund, ausser dass er tot ist." Ben legte den Kopf ein wenig schief und setzte eine etwas sarkastische Miene auf: "Ach nein..." "Den Namen hinter den Rufnummern bekommen wir wohl eh erst morgen. Lass uns Feierabend machen, morgen fahren wir dann zu Bachmanns Arbeitsplatz und fragen mal an, ob wir auf sein Bankkonto gucken können.", meinte Kevin, warf Ben den Zettel auf den Schreibtisch und nahm seine Jacke vom Stuhl. "Was machst du jetzt noch?", fragte Ben, der eigentlich gar keine Lust hatte, jetzt alleine nach Hause zu fahren. "Ich setze meine Frühstück fort...", meinte sein Partner mit frechem Grinsen und wünschte einen schönen Feierabend.


    Seine gute Laune verschwand, als der junge Polizist in seinem Dienstwagen in die Straße einbog, in der er und Jenny zusammen wohnten. Schon von weitem erblickte er die Gestalt, die dort vor seiner Tür auf der Treppe saß, und die sich scheinbar überhaupt nicht darum scherte, dass die Treppenstufen eiskalt waren. Sein zerisserner Parker und sein aufgestellter Iro waren von Weitem zu erkennen. Kevin parkte sein Auto und stieg aus, während Ole sich langsam von der Treppe erhob. Man konnte am Gesicht des Polizisten sehen, dass er sich selbst nicht einig war, wie er reagieren sollte... Freundschaftlich mit einem "Hallo, wie gehts", oder ablehnend mit einem "Verschwinde!". Ole gehörte zu der Jugendgruppe der Autonomen, zu der auch Kevins Ex-Freundin Annie gehörte, mit denen er bei seinem letzten Fall zu tun hatte.
    "Hi...", sagte Ole, als die beiden sich gegenüber standen. Der junge Polizist hatte damals die Punks nicht auffliegen lassen, obwohl Ole kurz zuvor versucht hatte, Kevin zusammen zu schlagen. "Was gibts?", war der sehr kurz angebunden und versenkte seine Hände in die Taschen seines dunklem Mantels, der ihn eher wie einen Gothicrocker als einen Polizisten wirken ließ. "Ich... wir bräuchten deine Hilfe." Kevin hob die Augenbrauen, als wäre er überrascht, doch auch Ole bemerkte, dass es eher sarkastisch war. "Meine Hilfe?", wiederholte er, um diesen Eindruck zu untermauern.


    Ole atmete einmal hörbar aus. "Annie ist verschwunden." Kevin erschrak, allerdings nur innerlich. Einerseits erschrak er bei dem Stich in seiner Brust, als Annies Name in Verbindung mit einem Verschwinden fiel, andererseits erschrak er ob seiner gleichzeitig aufkommenden absoluten Gleichgültigkeit dessen. "Und was habe ich damit zu tun?", war seine Antwort auf Ole's Äusserung... was wiederrum den Punk innerlich erschrecken ließ. "Was du damit zu tun hast? Ich dachte, du empfindest etwas für sie." Ein Umstand, bei dem Kevin gelogen hätte, wenn er es abgestritten hätte. Deswegen ließ er es unkommentiert und meinte stattdessen: "Ich habe mit Annie nichts mehr zu schaffen, okay." Dabei drehte er sich zur Treppe und wollte diese gerade hinauf.
    "Wir machen uns alle Sorgen. Sie wollte weg von hier, hat sich aber jeden zweiten Tag gemeldet. Jetzt haben wir schon seit anderthalb Wochen nichts mehr von ihr gehört.", hörte er die leicht näselnde Stimme des jungen Punks hinter sich und blieb an der Haustür kurz stehen. Er atmete einmal kurz tief ein und wieder aus, bevor er sich umdrehte. "Annie ist erwachsen. Sie braucht weder mich noch euch als Kindermädchen." "Wir haben aber Angst, dass ihr was passiert ist." Für einen kurzen Moment sahen die beiden Männer sich an, und Kevin überlegte, ob er denn Satz, der im Gerade auf der Zunge lag, wirklich sagen sollte. Er entschloß sich dafür: "Ole... es ist mir scheissegal, was mit Annie ist. Okay?"


    Danach drehte er sich wieder zur Tür und ließ den jungen Mann einfach an der Treppe stehen.

    Semir's Haus - 14:30 Uhr


    Beschäftigung... das tat ihm gut. Er musste etwas tun, rumsitzen würde ihn wahnsinnig machen, da hörte er Geräusche, da sah er Schatten an der Wand, wo keine waren. Um 12 ging er Lilly aus dem Kindergarten abholen, eine halbe Stunde später stand er vor der Schule seiner älteren Tochter Ayda, die nach ihrem Koma seit einigen Wochen wieder normal zur Schule ging. Die beiden Mädchen plapperten, Semir gab Antwort und niemandem würde es auffallen, was gerade in seinen Gedanken, in seinem Kopf los war. Er brachte seine Töchter nach Hause, sie setzten sich zu ihm an den Küchentisch, während er begann, Essen zu kochen. Ayda begann mit ihren Hausaufgaben und erzählte von der Schule, während Lilly ihrem Hobby, dem Malen nachging. Sie sagte oft, dass sie später Malerin werden wollte.
    Danach aß Semir mit seinen Töchtern zusammen zu Mittag... etwas, was er sehr vermisste wenn er keinen Urlaub hatte, weil er über Mittag dann immer im Einsatz war. Dreimal in der Woche arbeitete Andrea nur halbtags, zweimal in der Woche gingen die Mädchen in eine Nachmittagsbetreuung der Schule. Heute gab es Spaghetti mit Tomatensoße, ein Leibgericht der beiden Mädchen und für Semir verhältnismäßig unkompliziert zu kochen. Er lächelte vor sich hin und schien für einige Zeit alles zu vergessen.


    Doch dann war es wieder da. Lilly war bei einer Freundin, Ayda in die Ballettstunde, und Semir allein zu Hause. Er saß wie angestrengt einen Film guckend auf dem Sofa, als würde er mit seiner Mannschaft am Fernseher mitfiebern, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf den Knien und die Hände zusammengefaltet. Doch der Fernseher war aus, Semir wippte unruhig hin und her, und obwohl es im Haus ganz still war und man nur hin und wieder ein Auto vor der Tür vorbeifahren hörte, schien es als würde im Kopf des Polizisten allerlei Geräusche zu herrschen. Ein Zischen, ein Ticken, Schweiß stand ihm auf der Stirn und sein Atem beschleunigte sich. Es schien, als würde sich der Raum verengen, es schien, als würde ihm jemand den Hals zu drücken und Gewichte auf die Brust legen.
    Er erschrak selbst darüber, dass sein Atem immer schneller ging, dass er hechelte, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Panisch stand er auf und öffnete die Terassentür, um an die eiskalte Luft zu treten, die draussen herrschte. Doch die Luft war nur unangenehm, nicht erfrischend, der Druck von seiner Brust, die ihn wie eine Zange umhielt, nahm nicht ab. "Fuck... Fuck...", murmelte er und drehte sich in seinem eigenen Garten um, als wäre ständig jemand hinter ihm.


    Er musste hier weg, schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Semir war nicht klar in seinen Gedanken, als er durch das Gartentor hinaus auf die Straße lief, seinen Autoschlüssel zückte, in seinen BMW einstieg und mit quietschenden Reifen aus der Hauseinfahrt fuhr. Der Motor des PS-starken Dienstwagen röhrte auf, als er das Gaspedal drückte und die verkehrsberuhigte Straße herunter fuhr. Semir schaute gehetzt nach links und rechts, er übersah Vorfahrtsschilder und andere Verkehrsteilnehmer. Als eine junge Frau mit einem Kinderwagen gerade über die Straße wollte, konnte Semir nicht rechtzeitig ausweichen, die Frau nicht rechtzeitig stehen bleiben. Mit der linken Fahrzeugfront streifte er den Kinderwagen, der herumwirbelte und umkippte, während die Frau schrie und der Polizist nur kurz die Augen schloß. Nicht anhalten... nicht anhalten.
    Autos hinter ihm blinkten auf und hupten, überall witterte Semir eine Gefahr. Es hatte zur Folge, dass sein BMW immer schneller wurde und der Zeiger des Geschwindigkeitsmesser die 160 überschritt, als er von der Landstraße auf die Autobahn wechselte, wo er rechts an einem dunkelgrauen Mercedes vorbeizog. "Sag mal, spinn ich?", fragte der verdutzte Fahrer des Mercedes und strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht, während sein Nebenmann mit den abstehenden Haaren ebenfalls überrascht aufblickte. "Das war Semir... was ist denn bei dem los?", fragte Kevin und schaltete sofort das Blaulicht an, während Ben ganz nach links auf die Überholspur wechselte und ebenfalls den Dienstwagen beschleunigte.


    Eine Funkmeldung über die Verfolgungsjagd unterließ der Polizist aus gutem Grund. Stattdessen wählte er die Nummer von Semirs Handy, während sein Partner nun direkt hinter seinem Freund fuhr und hupte, Semir damit aber noch mehr anspornte. Der erfahrene Beamte war in einem Tunnelblick gefangen und nahm gar nicht wahr, dass es seine Freunde waren, die hinter ihm fuhren und ihn zum Anhalten bewegen wollten. Stattdessen wich er gekonnt im letzten Moment einem LKW vor sich aus und fuhr links vorbei, während Ben eine Vollbremsung machen musste, so dass Kevin dass Handy aus der Hand fiel. "Mannomann!!", war dessen genervter Kommentar aus dem Fußraum, als er sich nach vorne bückte, um sein Mobilgerät wieder aufzuklauben.
    "Was macht der denn da?", fragte Ben gehetzt, denn Semir machte durch mehrere Haken wirklich den Anschein, flüchten zu wollen. "An sein Handy geht er nicht.", stellte Kevin fest, und drückte das Gerät wieder ab. "Was sollen wir tun? Ihn stoppen?" Ben schüttelte auf die Frage den Kopf, doch die Ausweichmanöver seines Freundes wurden immer waghalsiger und gefährlicher. Im stockte dann aber der Atem, als sein Partner einen Kleinwagen rammte, der die Kontrolle verlor und in die Leitplanke krachte. Auch Kevin zuckte zusammen und sah entsetzt aus dem Seitenfenster... Semir hatte gerade einen schweren Unfall verursacht... Als ein Stück Autobahn vor ihm frei war, gab Semir Gas und beschleunigte so sehr, dass der Zeiger über die 200 schritt. Kevin hielt sich an dem Griff über der Tür fest, als Ben mit der Geschwindigkeit mitzog.


    Semir überholte links einen Sattelschlepper um dann knapp vor diesem in eine Ausfahrt einzuscheren, um seine Verfolger, die er als gefährlich einstufte in seinem Panikanfall, abzuhängen. Doch zu spät sah er das Pannen-Fahrzeug, dass dort in der Ausfahrt mit geplatztem Reifen stand, und der Fahrer sich ob des heranrasenden BMWs gerade noch mit einem Sprung über die Leitplanke retten konnte. Ben trat wieder aufs Bremspedal, scherte hinter dem LKW ein auf die Ausfahrtsspur und sah gerade noch, mit erschrocken weit geöffneten Augen, wie Semir dem Pannenfahrzeug auswich und auf die ansteigende Leitplanke geriet, die die Abfahrt von der Autobahn trennte. "Das geht schief!", rief Kevin noch, und schon hob der BMW mit einem schleifenden Geräusch des Unterbodens über die Leitplanke ab.
    Es schien wie ein Zeitlupe zu laufen für Semir, der die Augen krampfhaft schloß und das Lenkrad fest umklammerte. Das Lenkrad stellte sich als seine eigene Hand heraus, sein Autositz als seine Couch. Er sah sich zögerlich um, seine Stirn war klatschnass, im Raum war es warm und die Terassentür war geschlossen. Er hatte sein Auto gesehen, den LKW, Kevin und Ben, den Kinderwagen, der Kleinwagen auf der Autobahn... Semirs Mund fühlte sich trocken an, als hätte er mit Mehl gegurgelt, und so langsam bekam er Angst vor sich selbst...

    Innenstadt - 10:30 Uhr


    Mitten in das Gemurmel des Fernsehers hörten Kevin und Ben plötzlich das Geräusch eines, sich im Türschloß drehenden Schlüssel, und wie die Wohnungstür aufschwang, nachdem die alte Frau langsam wieder zu ihrem Sofa geschlurft ist. Eine junge Frau in Kevins Alter, mit schlanker Figur und blonden, zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren kam hinein, stieß die Tür mit dem Knie auf, weil sie einen Einkaufskorb mit beiden Händen trug. Als sie aufblickte und die beiden fremden Männer im Flur bemerkte, erstarrte sie zur Salzsäule. "Wer... wer sind sie?", fragte sie sofort um direkt mit weit aufgerissenen Augen nach ihrer Mutter zu rufen. "Mama? Bist du da??" "Natürlich, mein Kind. Wo soll ich denn sonst sein?", kam sofort die Antwort aus dem Wohnzimmer.
    "Erschrecken sie nicht. Wir sind von der Polizei.", sagte Kevin sofort und beide zogen ihre Dienstausweise. Den ersten Schrecken schien die junge Frau jedoch nicht so schnell aus den Gliedern zu bekommen, und so betrat sie die langsam vorsichtig mit einem wachsamen Blick auf die beiden Polizeibeamten. Mit schlurfenden, langsamen Schritten kam auch Hermine Bachmann wieder aus dem Wohnzimmer in den Flur, und schien ob der Szene überrascht. "Wer sind sie denn, meine Herren?", fragte sie und blickte Kevin und Ben abwechselnd an. "Sind sie etwa hier eingedrungen? Carina, ruf die Polizei!" "Entschuldigen sie, wir sind die Polizei. Wir haben doch gerade mit ihnen gesprochen.", sagte Ben verständnislos und sah die ältere Frau an.


    Carina Bachmann dagegen sah klar und stellte den vollbepackten Einkaufskorb auf den Boden. "Mama, ist schon in Ordnung. Das sind Polizisten, es ist alles okay." Sie umarmte ihre Mutter liebevoll, nahm sie bei der Hand und führte sie mit langsamen Schritten wieder zurück zum Sofa, wo sich Hermine Bachmann wieder dem Fernsehen widmete. Die beiden Polizisten beobachteten diese Szene mit einem mulmigen Gefühl, und fühlten sich sehr unwohl ob der Tatsache, dass sie in diese schwierige Situation auch noch mit einer bedrückenden Nachricht herkamen. "Ich bin in der Küche, ja?", sagte Carina zu ihrer Mutter und kam zurück in den Flur. "Entschuldigen sie... aber meine Mutter leidet an Demenz. Ich nehme an, sie hat ihnen geöffnet?" Beide Männer bestätigten mit einem Nicken. "Komisch... mein Bruder sollte doch eigentlich auf sie aufpassen.", sagte die junge Frau nachdenklich und legte ihre Jacke ab, wobei ihr schlanker, beinahe zierlicher Körper zum Vorschein kam. Kurz kreuzten sich ihre tiefgrünen Augen mit denen von Ben.
    "Ähm... heißt ihr Bruder vielleicht Björn?", fragte Kevin vorsichtig mit ernster Miene, und Carina Bachmann nickte. "Ja... woher... woher wissen sie das? Sie sagten, sie sind von der Polizei. Ist was passiert?" Kevin leckte sich kurz verlegen über die Lippen, die Ben seinerseits zusammenpresste. "Nun reden sie schon." "Frau Bachmann, können wir uns kurz in die Küche setzen?"


    Den Seelsorger brauchten sie nicht, und doch war Carina Bachmanns Reaktion auf den Tod ihres älteren Bruders soviel "natürlicher", als die der kranken Mutter, die diese Botschaft vorhin wohl überhaupt nicht mitbekommen hatte. Fassungslosigkeit, ein kurzer Weinkrampf. Carina saß am Küchentisch, ein Arm auf dem Tisch aufgestützt mit der Hand vor den Augen, die andere Hand umklammerte ein Taschentuch und Ben erwischte sich bei dem Gedanken, diese Hand zu nehmen, zu drücken und Trost zu spenden. Er wusste nicht warum, aber diesen Gedanken hatte er bisher noch nie, wenn sie einem Menschen den Tod eines ihrer Liebsten überbringen mussten. Aber er saß mit am Tisch in der Nähe des Papiertuchspenders, um für Nachschub zu sorgen, während Kevin etwas abseits angelehnt an der Küchenarbeitsplatte stand.
    "Was... wie konnte das nur passieren?", fragte die junge Frau schniefend, nachdem Ben ihr möglichst schonend die Umstände des Todes ihres Bruders beigebracht hatte. "Bisher wissen wir leider selbst nicht viel. Sie sagten eben, dass er eigentlich hier sein sollte?", fragte Ben mit ruhiger und einfühlsamer Stimme. "Ja... wir können unsere Mutter nicht mehr alleine lassen. Deswegen wechseln wir uns größtenteils ab, ich gehe auch nicht mehr arbeiten deswegen." Sie schniefte und ließ sich von Ben noch ein Taschentuch reichen.


    "Sie wohnen hier alleine mit ihrem Bruder und ihrer Mutter?", fragte Ben. Wieder ein Nicken, ein Nasenschneuzen, bevor Carina sprach: "Wir sind beide nicht verheiratet. Das Haus hier hat unseren Eltern gehört, mein Vater ist vor 4 Jahren gestorben. Dann wurde es immer schlimmer mit meiner Mutter, weswegen wir beschlossen haben, beide hier zu bleiben, um uns um sie zu kümmern." Die junge Frau seufzte: "Wer hat das nur getan... und warum? Björn war der liebste Mensch, den man sich vorstellen kann. Nach Papas Tod hat er sich um alles gekümmert, auch als es mir sehr schlecht ging. Ich kann mir nicht vorstellen, warum ihn jemand hätte töten wollen..." Wieder wurde sie kurz von einem Weinkrampf erfasst und schlug die Hände vors Gesicht.
    Kevin wartete einige Minuten, bevor er die nächste Frage stellte: "Darf ich fragen, womit ihr Bruder sein Geld verdient hat?" "Mein Bruder war in leitender Position eines Versicherungsunternehmen. Er hat genug verdient, damit ich es mir leisten konnte, mit Unterstützung von Mamas Pflegeversicherung, meinen Job aufzugeben. Aber... warum fragen sie?" "Wir haben 1200 Euro in drei Scheinen in seinem Wagen gefunden. Hat er in seinem Beruf öfters soviel Bargeld bei sich mitgeführt?" Die Reaktion von Carina Bachmann war nun gut zu erkennen, und beide Polizisten waren sich einig, dass man eine solche Überraschung nicht schauspielern konnte. Nur zaghaft schüttelte sie den Kopf.


    "Wissen sie vielleicht, warum er soviel Geld brauchte, und mit sich führte? Hatte er etwas zu bezahlen, oder wollte er heute vielleicht noch etwas erledigen, was er vorziehen musste?", fragte Ben, und er hatte den Eindruck, dass seine Fragen wärmer und mitfühlender herüberkamen, als die kalte Stimmfarbe seines Partners. "Nein, er hatte heute frei. Deswegen konnte ich heute morgen endlich mal wieder in Ruhe einkaufen gehen. Wissen sie, wenn man den ganzen Tag hier ist, und sich um eine demenzkranke Frau kümmern muss, dann ist man für jeden Moment des Alleinseins, oder unter normalen Menschen zu sein, dankbar." Kevin und Ben konnten dazu nichts sagen, denn beide waren sie noch nie in der Situation, sich um eine kranke Person zu kümmern.
    Ben warf einen Blick auf Kevin, und machte eine eindeutige Handbewegung: Abbruch. Hier würden sie nicht mehr rausbekommen, und der Polizist hatte den Eindruck, die junge Frau mehr zu quälen, als dass es was bringen sollte. "Danke erstmal. Wir melden uns, wenn wir etwas Neues haben." Dann zog er eine Karte mit seiner Handynummer aus der Jacke und legte sie Carina Bachmann auf den Tisch. "Brauchen sie vielleicht professionelle Hilfe? Vielleicht, wenn sie die Sache ihrer Mutter sagen? Wir haben zwar eben, aber mir scheint, dass sie es nicht so recht verstanden hat." Carina Bachmann schüttelte nur den Kopf, wenn auch mit einem gequälten Lächeln. Kevin verabschiedete sich und ging schon aus der Küche, als Ben noch einmal bei Carina Bachmann stehenblieb. "Wenn sie mal Hilfe brauchen, jemanden zum Reden oder so... dann rufen sie mich an.", sagte er leise, und tat es nun doch. Für einen Sekundenbruchteil ergriff er die eiskalt wirkende Hand der jungen Frau, die sich leise bedankte.

    Moderne Mähdrescher haben SIM-Karten zur Ortung und Notrufabsetzung, wie auch viele moderne Autos der Oberklasse. Diese SIM-Karten sind mit dem Mobilfunk-Internet verbunden, haben eine IP-Adresse und sind, rein theoretisch, auch hackbar.

    Das Karussel war da schon um einiges blödsinniger, das war alt und hat definitiv kein Kontakt zu irgendeinem Netz... ausser dem Stromnetz.

    Meine Meinung aus dem Spoiler-Thread:

    Obwohl ich ja oft mit Rare oder Simon übereinstimme, weil wir, denke ich den gleichen Geschmack haben, muss ich dieses Mal sehr widersprechen...

    Ein ziemlich "liebloses", beinahe schon dahin geklatschtes Ende, das die Figur Alex Brandt nicht verdient hat.


    Auf die Story will ich nicht sonderlich groß eingehen. War nichts Neues, nicht unbedingt schlecht, viel unrealistisches und unlogisches. Wie kommen Kameras "in" das Karussel? Ein Karussel ist nicht mit dem Internet oder einem Satelliten verbunden. Warum wundern sich Alex und Semir nicht, dass der Erpresser erneut Forderungen stellt, obwohl sie denken dass Alex' Vater tot ist?

    Ein paar gute Szenen gab es, Alex Emotionalität war recht gut gespielt, aber das Ende, wie Alex Vater letztlich umkommt, war zu unspektakulär, zu vorhersehbar, zu durchsichtig. Das Klima zwischen Semir und Alex einfach zu lasch, es hätte viel mehr Würze reingebracht, wenn Semir sich gegen Alex und seinen Vater gestellt hätte, an dessen Tod nicht unbedingt Schuld, aber doch "Anteil" gehabt hätte, und es zum Bruch zwischen den beiden gekommen wäre, Alex deswegen gegangen wäre. Er sagt nirgends, dass er den Polizeidienst verweigert, dass er ausreist, dass er Abstand will... wenn man nicht wüsste, dass ein neuer Partner kommt, könnte man meinen dass Alex einfach mal ein paar Wochen in Urlaub fährt. Keine Versuche ihn von diesem Schritt abzuhalten, alle lachen und sind fröhlich... Hallo, da geht dein nächster Partner, Semir...

    Jetzt mal ehrlich.... wurde irgendwo genauestens erwähnt, dass Alex Schluß macht?


    Ne sorry... das Ende hat mir gar nicht gefallen, da war sogar Ben's Abschied emotionaler und prägender.

    Schade... man hat zu Beginn viel aus der Figur Alex Brandt gemacht. Man hätte in der vorherigen Staffel, gerade im Bezug auf Jenny (die Duschszene) soviel mehr noch machen können. Und man hätte das Ende der Figur auch ohne Serientod viel emotionaler, dramatischer und prägender gestalten können. Alex hätte zb nochmal einen kriminellen Rückfall haben können. Er hätte sein Erpresser vorsätzlich töten können, seinem Vater zu Flucht verhelfen und wäre nochmal ins Gefängnis gegangen.

    Das war wieder RTL-Seicht-Fernsehen... schade nach den tollen Staffeln zuvor, nach der Idee der durchgängigen Story vor allem, wie gesagt, letzte Staffel und Beginn dieser Staffel mit Sander und Frings... es bleibt viel hängen, aber irgendwie nichts übrig.

    Semir's Haus - gleiche Zeit


    Einen festen Tagesplan solle er sich zulegen. Nicht einfach in den Tag hereinleben und nichts tun... das wäre das Schlimmste, was er machen könnte. Das waren noch die letzten Worte der Psychologin, bevor Semir deren Büro beinahe fluchtartig verlassen hatte. Fester Tagesplan... wenn er endlich wieder arbeiten könnte, dann würde er seinen festen Plan haben. Mehr brauchte er nicht. Aber welchen Plan sollte er sich jetzt machen? Zuhause die Hecken schneiden? Das Haus frisch anstreichen? Der erfahrene Polizist wusste gar nicht genau, weshalb er sich aufregte, als er zurück in sein Haus fuhr. Er war einfach schlecht gelaunt, die Therapiesitzung überforderte ihn, denn er war der festen Überzeugung, sie nicht zu brauchen. Und dann auch noch dieses Ticken...
    Unterwegs hielt er in einer Bäckerei, kaufte sich zwei Brötchen und ein Glas Marmelade. Als er endlich zu Hause angekommen war, machte er sich Frühstück mit besonders starkem Kaffee und setzte sich mit Tasse und Teller auf die Wohnzimmercouch. Das Fernsehprogramm um diese Uhrzeit war eine reine Qual, er zappte mit der Fernbedienung durch die Sender, während er auf seinem Brötchen rumkaute, und er weder ein Hunger- noch ein Sättigungsgefühl verspürte. Es schien, als wäre es ein einfacher automatischer Reflex des Körpers, dass er das Brötchen kaute, und unterschluckte... so wie atmen. Er zappte von einer Verkaufssendung in eine Gerichtssendung zu einer Dokumentation über Neo-Nazis, als er den Kasten abschaltete, und die Fernbedienung hinter den Schrank warf.


    Schon wieder das Ticken... schon wieder dieses Zischen. Es setzte sich in seinem Kopf fest wie ein Geschwür, wie ein stechender Schmerz der gegen seine Schädeldecke schlug, wie ein Piepen als hätte er einen Tinitus. Semir saß stocksteif auf der Couch und sah sich um. Die Wanduhr! Er sprang auf, nahm die Uhr von der Wand und nahm die Batterien heraus. Auch der kleine Küchenwecker, der ausser einem Signalton, wenn man ihn auf eine bestimmte Uhrzeit einstellte, nichts von sich gab, musste dran glauben. Aber das Ticken hörte nicht auf. Semir riss eine Schublade auf und wühlte zwischen Krimskrams, Klebestiften, Pflaster und Gummiringen herum, bis er eine alte Armbanduhr fand, die er seit Jahren nicht mehr in der Hand hielt. Mit einem Schraubenzieher entfernte er die flache Batterie, damit dieses unsägliche Ticken endlich aufhörte...
    Und auch dieses Zischen war ein konstanter unbändiger Ton in Semirs Ohren, der einfach nicht weggehen wollte. Er drehte die Heizung im Wohnzimmer herunter, so dass das Zimmer nach nur wenigen Minuten auskühlte. Doch das Zischen war immer noch da. Auch an der Heizung in der Küche drehte er, er untersuchte jedes Fenster, dass vielleicht eines offen stehen könnte. Zu guter Letzt ging er herunter in den Keller, und drückte dort den Not-Aus-Schalter für die komplette Zentralheizung des Einfamilienhauses. Der Heizkessel gab einige Geräusche von sich, blieb dann aber still. Der Polizist atmete durch und fühlte sich gleich erleichtert, doch kaum war er wieder im Wohnzimmer, hörte er das Zischen erneut. Er ließ sich auf die Sofalehne fallen, stemmte die Ellbogen auf die Oberschenkel und hielt sich beide Ohren mit seinen Handflächen zu. Dabei wippte er ungeduldig nach vorne und hinten. "Seid still! Seid alle still!!", rief er laut, doch es war niemand da, der ihm Antwort geben konnte. Er musste hier raus...


    Dienststelle - 10:20 Uhr


    "Mensch Hotte, das gibts doch nicht. Du läufst ja immer noch in der grünen Uniform herum.", maulte Dieter Bonrath, baumlanger Polizeimeister und Streifenpolizist der Autobahnpolizei. Dabei hob er vorwurfsvoll die Hände, als er seinen dicken Partner Horst "Hotte" Herzberger am Schreibtisch sitzen sah. "Ja und?", meinte der unschuldig und verdrückte gerade eine Wurstsemmel. "Was, ja und? Wir hatten doch Anfang des Jahres die Mail bekommen, dass wir jetzt endgültig in den neuen blauen Uniformen auf Streife gehen sollen." Hotte winkte nur ab und meinte trotzig: "Die neue Uniform gibts nicht in meiner Größe. Die stellen doch nur noch halbe Portionen ein." Bonrath seufzte und verdrehte die Augen. Es bedurfte Engelszungen, um seinen Partner davon überzeugen, dass er jetzt nach 45 Jahren Dienst jetzt eine neue Uniformfarbe tragen müsse. Und jetzt weigerte er sich standhaft.
    "Hotte, willst du mich veräppeln? Deine neue Uniform, Größe XXXL, hängt schon seit Wochen in deinem Spind." Mit einer Schmollschnute begegnete der seinem besten Freund: "Bonrath, mit diesem Blau sehe ich aus wie von der Wasserschutzpolizei. Das ist doch völlig albern." "Es ist noch alberner, wenn wir einen Raser stoppen, und wir haben zwei verschiedene Uniformen am Leib. Ausserdem guckt die Chefin die ganze Zeit schon so grimmig. Jetzt geh dich doch bitte umziehen." "Grmpft... na schön", brummelte Herzberger und erhob sich gerade von seinem Tisch, als der kleine Kommissar mit türkischen Wurzeln in die Dienststelle kam.


    "Semir... was machst du denn hier?", fragte Hotte sofort und reichte dem erfahrenen Polizisten die Hand. "Ach... ähm... ich war zufällig in der Gegend, und dachte, ich schau mal vorbei." Er lächelte dabei, als würde es ihm tatsächlich gut gehen. "Wie gehts dir so?", fragte nun auch Bonrath, der dazu kam und ihm kurz die Hand auf die Schulter legte. Es sah immer lustig aus, denn Bonrath war mindestens zwei Köpfe größer als der kleine Kommissar. "Ja ja, alles gut. Ich komm bald wieder.", sagte er zuversichtlich und sah sich um. Seine Frau Andrea war zum Glück einen Moment nicht zu sehen, sie hätte ihren Mann wahrscheinlich postwendend und mit Pauken und Trompeten wieder nach Hause geschickt.
    "Wo sind die anderen?" "Andrea ist gerade in der Kaffeeküche, Jenny hat heute Urlaub und Ben und Kevin sind im Einsatz. Da gab es einen Leichenfund im Wald.", erklärte Hotte ohne Hintergedanke. "Leichenfund? Da brauchen die beiden doch sicherlich Hilfe, oder?", sagte er sofort eifrig. Er musste etwas tun, zu Hause würde er wahnsinnig werden. Auch wenn sein kritischer Blick sofort auf die Wanduhr im Großraumbüro fiel, die so laut tickte. "Naja, aber du hast doch noch Krankenschein, dachten wir ...", sagte Bonrath unsicher und sah seinen nickenden Kollegen an, doch Semir winkte ab: "Ach Papperlapapp. Ich bin fit und mir gehts gut, alles klar? Wo wurde die Leiche denn gefunden?" Die beiden ungleichen (nicht nur von ihrer momentanen Uniform-Farbe her) Polizisten sahen sich unsicher an und meinten: "Naja... also... ich weiß nicht...". Sie wollten Semir nicht einfach den Tatort verraten, weil sie wussten, dass er sich eigentlich noch ein paar Wochen schonen sollte.


    "Herr Gerkhan... was machen sie denn hier?", ließ Semir dann den Blick zum Büro der Chefin bewegen, die dort im Türrahmen stand. Hinter ihr auf dem Schreibtisch dampfte eine Zigarette. "Ach, Chefin... ich wollte mal fragen, ob ich hier vielleicht etwas helfen kann.", meinte er lächelnd. "Gehts ihnen denn schon wieder besser?" "Ja, natürlich. Bei mir ist alles okay, wirklich." Die unsicheren Gesichter und eine kopfschüttelnde Geste von Herzberger im Rücken Semirs zur Chefin gerichtet, ließ diese Worte doch etwas krotesk erscheinen. Mit einer kurzen Handbewegung bat Anna Engelhardt ihren wichtigsten Mitarbeiter ins Büro.
    "Semir... wieso sagen sie, dass es ihnen besser geht, wenn sie das Therapieangebot in keinster Weise nutzen?", fragte sie, nachdem beide Platz genommen hatten. "Wieso...", begann der Polizist vorsichtig, doch er wurde von seiner Chefin unterbrochen. "Frau Schneider hatte mich gerade eben angerufen und mir ihren Fortschritt mitgeteilt, wobei das Wort "Fortschritt" wohl eher fehl am Platz ist." Mit leicht schief angelegtem Kopf und tadelndem Blick sah Anna Engelhardt Semir an, dem das Lächeln langsam gefror. "Chefin, diese Therapie ist nichts für mich. Was ich brauche, ist meine Arbeit." "Semir, ich habe sie die letzten Wochen beobachtet. Sie sind in ihrem jetzigen Zustand keine Hilfe, eher eine Belastung, so leid es mir tut. Dass ich sie zur Therapie bitte, ist, wie ich schon sagte, eine Bitte. Wenn der Polizeipräsident von ihrem Zustand Wind bekommt, ist es keine Bitte mehr, sondern eine Anweisung. Und zwar eine Anweisung, bei der ihre Marke auf dem Spiel steht, auf die ich dann keinen Einfluss mehr habe." Semir verstand die Worte, doch der Wunsch, endlich zu Hause der Langeweile und der Erinnerungen entfliehen zu können, war größer als die Vernunft: "Aber Chefin... ich..." "Keine Widerworte, Semir. Bitte, gehen sie zur Therapiestunde, und erzählen sie dort alles, was sie Ben, Kevin und mir nicht erzählt haben. Erst dann kann ich sie wieder guten Gewissens in den Dienst lassen. Aber vorher auf keinen Fall, und das ist mein letztes Wort! Keiner draussen wird ihnen sagen, wo Ben und Kevin momentan ermitteln.


    Mit leicht gebückter Haltung und den Händen in den Taschen verließ Semir das Büro wieder. Andrea kam gerade aus der Kaffeeküche, als Semir die Dienststelle verlassen hatte, und sich in seinen BMW gleiten ließ. Da tickte doch schon wieder etwas, dachte er entsetzt, und sah sich im Auto um, als würde irgendwo an einer Scheibe, eine Wanduhr hängen. Doch den nächsten Gedanke, den er hatte, sagte er laut: "Du tickst nicht mehr ganz richtig, Semir. Du bist der Einzige, der hier nicht mehr ganz sauber tickt..."

    Innenstadt - 10:00 Uhr


    Was für eine Benzinverschwendung, würde die Chefin jetzt wüten, wüsste sie dass die beiden Hauptkommissare nun die Ermittlungen mit zwei Dienstwagen begannen. Aber Ben und Kevin fuhren nicht nochmal zur Dienststelle zurück um einen der beiden Wagen dort abzustellen, sondern suchten sich auf den Anwohnerplätzen nun eben zwei, statt nur einen Parkplatz an der Adresse des Mordopfers. Die Straßen waren weiß vom Frost und vom Streusalz, die Bäume absolut kahl. Die Adresse des Toten war in einem Viertel der Stadt, in dem die gute Mittelschicht wohnte, Zwei bis Dreifamilienhäuser aus den 70er standen hier unweit vom Trubel der City. Ben drückte auf die Klingel, an der sie den Namen "Bachmann" gelesen hatten. Einen Seelsorger hatten sie auf Abruf bestellt, falls sie bei der Überbringung der Todesnachricht Hilfe brauchen würden.
    Andrea hatte sich über Funk gemeldet, bevor sie die Adresse erreicht hatten. Semirs Ehefrau hatte, mit etwas müder Stimme, die Information weitergegeben, dass Björn Bachmann mit seiner jüngeren Halbschwester und der gemeinsamen Mutter in dem Haus wohnen würde. Mit einem leisen Summen wurde den Polizisten signalisiert, dass sie eintreten könnten. Im Treppenhaus war es angenehm warm, und man konnte sofort erkennen, dass die Bachmanns das Haus scheinbar für ihre Bedürfnisse entsprechend umgebaut hatten. Es wirkte wie ein großes Einfamilienhaus, jedoch gab es drei eigene Wohnungen. Da bei Carina Bachmann, der Schwester, niemand öffnete, klopften die beiden Männer bei Hermine Bachmann, die im Erdgeschoss die erste Wohnung hatte.


    Es dauerte einen Moment, bis eine ältere Frau mit gräulichen Haaren, die sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden hatte, die Tür öffnete. Ben schätzte sie auf ungefähr Mitte 70, was vom Alter des Mannes ja durchaus hinkommen könnte. "Guten Tag. Sind sie Hermine Bachmann?", fragte Ben höflich, bevor die beiden Polizisten sich auswiesen. Die Frau sah ein wenig unsicher von Kevin zu Ben. "Wieso?", fragte sie. "Wir würden uns gerne kurz mit ihnen unterhalten. Können wir vielleicht kurz reinkommen?" Frau Bachmann legte die Unsicherheit nicht ab, nickte jedoch und ging in kleinen Schritten ein wenig nach hinten um den beiden Männern den Weg frei zu machen. Ben und Kevin traten ein, und hatten sofort einen penetranten Geruch in der Nase, den sie nicht zuordnen konnten.
    Ihnen fiel sofort auf, dass ein Bett mit Gitter im Wohnzimmer stand... jedohc ein großes Bett, kein Gitterbett für kleine Kinder. Dazu ein altmodisches Sofa, Tisch und Fernseher, in dem eine Vormittagssendung lief. In der Küche stand ungewaschenes Geschirr in der Spüle, und Hermine Bachmann ging in kleinen und schnellen, aber unsicheren Schritten in Richtung der Couch, wo sie sich, festgehalten am Tisch, in Zeitlupe niederließ. Kevin erkannte sofort, dass die Frau Probleme mit der Fortbewegung hatte, und wohl mit einem Rollator besser bedient wäre. Er setzte sich selbst erstmal nicht, genauso wie Ben, der die Frau ansah. "Frau Bachmann... wir müssen ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen..." Ben hatte diesen Satz schon so oft gesagt... nach Mord, nach tödlichen Autounfällen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen dabei ganz unterschiedlich reagierten, und er deswegen den Notfallseelsorger immer erst in der Hinterhand behielt, und nicht mit ihm in die Wohnung einfiel.


    Die Reaktion einer Mutter war oft ähnlich. Fassungslosigkeit, sofortiges Weinen und auch eine Schwächeanfall oder ungläubiges Lachen waren keine Seltenheit. Doch die Reaktion von Frau Bachmann hatten sowohl Ben als auch Kevin vorher noch nie erlebt. "Wir müssen ihnen leider mitteilen, dass wir heute morgen ihren Sohn tot aufgefunden haben." Frau Bachmann sah Ben aus grünen Augen an und schien nachzudenken. "Mein Sohn... hmm...", sagte sie, wobei sie nicht etwa den Blick von Ben ablenkte, sondern ihn starr ansah. "Mein Mann ist schon... schon lange nicht mehr da. Der ist schon tot.", setzte sie dann hinzu, und Kevin sah seinen Partner ein wenig verwirrt an. "Ähm, Frau Bachmann. Ihr Sohn heißt doch Björn Bachmann, oder?" Diesmal nickte die Frau etwas schneller. "Björn ist oben. Er arbeitet immer soviel, wissen sie?".
    Die Verwirrtheit im Blick der beiden Polizisten wich nicht. Das war ja eine ganz neue Information. Sollte da jemand einfach Bachmanns Pass dabei gehabt haben? Dann musste der Tote dem Passbesitzer verdammt ähnlich sehen. Oder aber, Frau Bachmann irrte sich. Aber das ließe sich ja leicht überprüfen. "Frau Bachmann, wir gehen kurz nach oben und klopfen mal bei ihrem Sohn.", sagte Kevin und deutete mit einem kurzen Blick in Richtung Ben an, dass sie doch mal oben klopfen sollten. "Machen sie das. Ich mache inzwischen einen Kaffee für sie.", meinte die alte Frau, bewegte sich von ihrem Sofa aber keinen Millimeter weg.


    Zwei Stockwerke nach oben mussten die Autobahnpolizisten, bis sie vor der Tür von Björn Bachmann standen. Sie klopften einmal, sie klopften zweimal. Sie drückten den Klingelknopf der Wohnungsklingel... nichts rührte sich. "Sollen wir mal reingehen?", meinte Kevin, der schräg hinter Ben an der Tür stand. "Nein... wenn du nicht irgendwo gegen die Vorschriften verstoßen kannst, dann fühlst du dich nicht gut, oder?", meinte er schnippisch und drückte ein drittes Mal auf den Knopf. "Ich glaube eher, die alte Frau hat nicht mitbekommen, dass ihr Sohn das Haus verlassen hat. Los, wir gehen wieder runter.", bestimmte er und stiegen die Holztreppen wieder hinab ins Erdgeschoss. Bevor sie die, nur angelehnte Tür der Wohnung wieder öffneten, die konnten die beiden die Stimme von Frau Bachmann hören.
    "Bernard!! Bernard!! Herrgott, jetzt komm doch mal raus, wir haben Gäste!", rief sie, und schien mit kleinen Schritten durch die Wohnung zu laufen. "Frau Bachmann? Ihr Sohn ist nicht oben.", sagte Ben, als sie die Wohnung wieder betraten. Sie mussten kurz durch die kleine Wohnung schauen, wo Hermine hingelaufen war, doch sie stand im Flur vor einer Tür, gegen die sie rief. "Frau Bachmann?" "Ja?" "Ihr Sohn ist nicht oben.", sagte der Polizist geduldig und erntete ein Lächeln von Frau Bachmann. "Mein Sohn arbeitet."


    "Nach wem haben sie da gerade gerufen?", fragte Kevin nun, denn in beiden Köpfen der Polizisten reifte so langsam ein Verdacht. "Na, nach meinem Mann. Der sitzt schon wieder auf der Toilette, nachher muss ich alles lüften. Das ist doch unhöflich, wenn Gäste im Haus sind." Dann klopfte sie wieder. "Darf ich mal?", sagte Kevin höflich und ging zur Tür, wo er eine Hand auf die Klinke legte. "Das mag Bernard gar nicht, wenn man ihn während seiner Sitzung stört.", lachte die Frau und gluckste. Kevin reichte es, die Tür nur einen Spalt zu öffnen, um dann den Kopf in Richtung Ben zu schütteln. In diesem Bad war niemand, weder in der Dusche, noch in der Badewanne, noch auf der Toilette. Die alte Frau schien verwirrt, und so schlurfte sie wieder langsam zu ihrem Sofa zurück...

    Campino:

    Aus kreativer Sicht definitiv hoch interessant und für mich auch nachvollziehbar. Aber ich finde du übersiehst ein entscheidendes Kriterium: Meinst du ernsthaft Erdogan würde sich mal eben so damit zufrieden geben zum Nebendarsteller zu werden?

    Das weiß ich nicht. Ich kenne Erdogan nicht persönlich, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass es auch für einen Schauspieler nach 20 Jahren interessant sein kann, seiner "Figur" eine neue Sichtweise, eine neue Aufgabe zu geben.

    Spoiler anzeigen

    Ein ziemlich "liebloses", beinahe schon dahin geklatschtes Ende, das die Figur Alex Brandt nicht verdient hat.

    Auf die Story will ich nicht sonderlich groß eingehen. War nichts Neues, nicht unbedingt schlecht, viel unrealistisches und unlogisches. Wie kommen Kameras "in" das Karussel? Ein Karussel ist nicht mit dem Internet oder einem Satelliten verbunden. Warum wundern sich Alex und Semir nicht, dass der Erpresser erneut Forderungen stellt, obwohl sie denken dass Alex' Vater tot ist?

    Ein paar gute Szenen gab es, Alex Emotionalität war recht gut gespielt, aber das Ende, wie Alex Vater letztlich umkommt, war zu unspektakulär, zu vorhersehbar, zu durchsichtig. Das Klima zwischen Semir und Alex einfach zu lasch, es hätte viel mehr Würze reingebracht, wenn Semir sich gegen Alex und seinen Vater gestellt hätte, an dessen Tod nicht unbedingt Schuld, aber doch "Anteil" gehabt hätte, und es zum Bruch zwischen den beiden gekommen wäre, Alex deswegen gegangen wäre. Er sagt nirgends, dass er den Polizeidienst verweigert, dass er ausreist, dass er Abstand will... wenn man nicht wüsste, dass ein neuer Partner kommt, könnte man meinen dass Alex einfach mal ein paar Wochen in Urlaub fährt. Keine Versuche ihn von diesem Schritt abzuhalten, alle lachen und sind fröhlich... Hallo, da geht dein nächster Partner, Semir...

    Ne sorry... das Ende hat mir gar nicht gefallen, da war sogar Ben's Abschied emotionaler und prägender.

    Schade... man hat zu Beginn viel aus der Figur Alex Brandt gemacht. Man hätte in der vorherigen Staffel, gerade im Bezug auf Jenny (die Duschszene) soviel mehr noch machen können. Und man hätte das Ende der Figur auch ohne Serientod viel emotionaler, dramatischer und prägender gestalten können. Alex hätte zb nochmal einen kriminellen Rückfall haben können. Er hätte sein Erpresser vorsätzlich töten können, seinem Vater zu Flucht verhelfen und wäre nochmal ins Gefängnis gegangen.

    Das war wieder RTL-Seicht-Fernsehen... schade nach den tollen Staffeln zuvor, nach der Idee der durchgängigen Story vor allem, wie gesagt, letzte Staffel und Beginn dieser Staffel mit Sander und Frings... es bleibt viel hängen, aber irgendwie nichts übrig.

    Ich möchte mal eine Diskussion anstoßen, die vielleicht kontrovers ist. Aber sie spukt schon seit einigen Tagen, Wochen in meinem Kopf herum.

    Die Idee ist nicht ausgelöst durch die heutige Folge "Die Kämpferin", ihr Ursprung liegt für mich schon länger zurück. Und zwar habe ich mich gefragt, was man machen kann, um Cobra 11 wieder neuen Wind einzuhauchen. Man versucht es mit dem Ändern des Stils, vom lockeren, aber ernsten Actionkino zur Comedy, hin zum Thriller und jetzt wieder zurück zu ersterem. Man hat das Gefühl, man dreht sich im Kreis und findet den goldenen Weg nicht.

    Ich habe mir die Frage gestellt, woran das liegt, und bin auf eine interessante Antwort gestoßen... liegt es vielleicht gar nicht an den Partnern, sondern an Erdogan Atalay selbst?

    Versteht mich nicht falsch... ich halte Erdogan für einen prächtigen Schauspieler und würde ihn in der Serie schmerzlich vermissen. Aber ist es nicht so, dass er selbst der weiteren Entwicklung im Weg steht. Man hat das Gefühl, dass jeder neue Partner eine Geschichte bekommt, und sobald diese auserzählt ist, wird er ersetzt. Die Figur "Semir Gerkhan" kam gar nicht umhin, eine extreme Wandlung über die Zeit durchzumachen, weil sie eben schon so lange dabei ist. Und man fragt sich eben, wo diese Wandlung letztendlich hinführt. Ich habe persönlich das Gefühl, dass jede Figur irgendwann auserzählt ist. Semir hat soviel erlebt... er hat Freunde verloren, er hatte Affären, er hat geheiratet, Kinder bekommen, hatte eine verlorene Tochter gefunden, wurde geschieden, ist abgestürzt, ist wieder aufgestanden... was soll da noch kommen? Letztendlich wiederholt sich alles, und das waren auch mit die Hauptkritikpunkte (aus meiner Sicht) in den letzten Folgen. Mit der Hintergrundgeschichte um Semir, Andrea und seine Kinder dürfte die Familie nie mehr in Gefahr geraten... passierte doch, und alles war normal. Das ist unglaubwürdig.

    Für mich stellt sich die Frage, ob (mit sanftem Wechsel, vielleicht jetzt mit dem neuen Partner) ein kompletter Teamwechsel nicht Sinn ergibt. Zwei unverbrauchte Partner, mit etwas gegensätzlichen Charaktereigenschaften (vielleicht ein "Spießer" und ein lässiger Draufgänger), eigener Hintergrundstory. Darauf ließen sich viele Ideen aufbauen, die Macher wären freier und müssten nicht soviele faule Kompromisse, gerade wenn es um Semir geht, eingehen.

    Semir könnte ohne Probleme die Leitung der Dienststelle (anstelle von Kim Krüger) übernehmen, würde weiter als Chef Screentime bekommen, so wie heute (wie gesagt, die Idee hatte ich schon vor zwei Wochen... verdammt, ich hätte es eher sollen schreiben.) Ich persönlich würde das hochinteressant finden, und es wäre wirklich mal eine realistische Entwicklung des Charakters Semir Gerkhan, der nach 20 Jahren Lebensgefahr und Action weiter seinen Beruf ausführt, bei seiner Cobra 11, aber eben etwas ruhiger, nur ETWAS im Hintergrund und kann seinen "Nachwuchs" quasi selbst "erziehen", mit seiner Erfahrung.

    Was denkt ihr darüber?

    Wenn das die Komik sein soll, die in Zukunft Cobra 11 wieder "lockerer" machen soll... dann kann ich nur sagen: Klasse.

    Genau dem Mittelweg gefunden zwischen gelungenen Lachern, und ernsten Momenten. Semir auf dem Chefsessel, da haben die Autoren mal wieder in meinen Kopf geguckt ^^ (näheres in einem anderen Thread). Eine gute, solide, nicht abgehobene Story, ein irrer, aber cooler Gangster, Emotionen, ganz viel Jenny :love: und Spannung bis zum Schluß.

    Die Szene, in der Alex durch den explodierenden Tunnel/Gang gelaufen ist, hat mich sehr an die Folge mit Scooter erinnert.

    Wirklich ne gute Folge.

    Ich habe so langsam das Gefühl, dass zumindest diese Leiche tatsächlich ein "Blackout" von Mikael war... und dass man ihm später, wenn tatsächlich ein Verbrechen passiert, wirklich niemand glauben wird... oder sogar er sich selbst nicht glauben wird, wenn er beobachtet dass etwas passiert, bzw er zwischen Realität und Blackout nicht mehr unterscheiden kann.

    Sehr interessantes Thema, was du auch gut rüberbringst. Vor allem die Unsicherheit Bens, wie er zu seinem Freund stehen soll, und er sich dann noch recht taktlos benimmt, bringst du sehr glaubhaft rüber. Bin mal gespannt, was du dir sonst noch so überlegt hast.

    Wald - 09:15 Uhr


    Der Wald schien tot... genauso tot wie der Mann, zusammengesunken hinter dem Lenkrad seines VW Passats. Eine gespenstische Stille herrschte, nur unterbrochen von dem grummelnden Straßenlärm der Autobahn, die von dem kleinen Waldstück nur einen Steinwurf entfernt war. Gespenstische Stille, friedliche Stille. Der Nebel hatte sich vom Wald ferngehalten und hielt sich lieber auf den Feldern in der Nähe auf, deren Boden steif gefroren war. Im Wald selbst war es klar, der Boden weiß gezuckert von Frost und Flocken, die immer mal wieder den Weg nach unten fanden. Der angekündigte strenge Winter war pünktlich gekommen, und es war schon einige Tage her, als das Thermometer den Nullpunkt überschritten hatte.
    Plötzlich, wie von Geisterhand, wurde der Wald lebendig. Erst ein Mann mit vollem etwas längerem Haar, in Lederjacke und Motorradstiefel der sich Kondenzrauch in die eiskalten Hände pustete und diese aneinander rieb. Er guckte in das Auto, zog sich Einmalhandschuhe an und öffnete die Fahrertür. Nur wenige Minuten später tauchte ein halbes Dutzend Männer in weißen Ganzkörperanzügen auf und wuselten durch den Wald, angeführt von einem großgewachsenen Mann mit graumelierten Haaren und Wintermantel, der jetzt den Mann in Lederjacke begrüßte.


    "Morgen Ben... na, alles klar?", fragte ein, wie immer lächelnder Roland Meisner, Pathologe und gleichzeitig Chef der Spurensicherung. Ben lächelte ebenso und umklammerte seinen Körper mit den Händen, nachdem sie sich begrüßt hatten. "Wenns wärmer wäre, wäre mir wohler.", sagte er lachend. "Na, was haben wir denn da drin?" Meisner beugte sich durch die geöffnete Fahrertür um seine Arbeit aufzunehmen, während seine Mitarbeiter in einem gewissen Umkreis um das gefundene Auto jeden Stein umdrehten. Der Arzt beäugte die Schussverletzung in der Brust, die Spur des Blutes und kletterte dann auch in den hinteren Teil des Wagens, während Ben sich vor das Auto stellte und die kreisrunde Öffnung in der Scheibe begutachtete, von der Risse in mehrere Richtungen gingen.
    "Glatter Durchschuss...", hörte er die Stimme Meisners aus dem Auto. "Ja, die Scheiben halten sowas nicht aus.", war Bens Antwort, und er erntete einen schnippischen Blick von Roland Meisner, der den Kopf nochmal aus dem Auto streckte. "Ich meinte hier drin. Die Kugel trat zum Rücken wieder aus und durchschlug sogar noch den Sitz." Ebenfalls mit Handschuhen nahm der Profi eine recht große angespitzte und blutverschmierte Kugel, die im Rücksitz steckte, und verstaute sie in einem Plastikbeutel.


    Am Waldweg, wo mittlerweile Bens Dienstwagen, ein Bus der KTU, der Dienstwagen von Meisner und ein Streifenwagen, der als erstes zum Tatort gerufen wurde stand, hielt ein weiterer Wagen. Kevin stieg aus diesem aus, er hatte die Hände in seinen Manteltaschen vergraben und hinterließ, wie alle bei dieser Kälte, Rauchschwaden beim Atmen. Nur war es bei Kevin kein Kondensrauch, sondern Zigarettenrauch. Ben seufzte: "Mensch Kevin... in den Dienstautos ist doch Rauchverbot." "Wo steht das?", war die knappe Antwort als Frage formuliert von dem eigenwilligen Polizisten. "Guten Morgen übrigens.", setzte Ben noch hinzu, als Kevin die erste provisorische Tatortabsperrung durchschritten hatte. "Naja, das Gute am Morgen hast du mir ja schon versaut." Kevins Stimme klang keinesfalls schlecht gelaunt oder missmutig, es war die normale Kabbelei zwischen den beiden. Ben hatte es erfreut, das Kevin in seiner Arbeit immer mehr aufging, immer offener wurde, und ihr Verhältnis immer besser wurde. Es war schon wieder fast so gut, wie vor ihrem Streit im Krankenhaus vor einem halben Jahr.
    "Oh entschuldige bitte. Ich hoffe, ich habe dich nicht bei etwas ... Wichtigem... gestört.", meinte Kevins Partner gekünselt mitleidig, wobei er das "Wichtig" besonders betonte. Er wusste natürlich, dass sowohl Jenny als auch Kevin
    den heutigen Tag Überstunden abfeiern wollten. "Doch... beim Frühstück.", war die grinsende Antwort. "Ich unterbreche die Damen bei ihrer Frühzickerei ja nur ungern...", meldete sich Roland Meisner wieder zu Wort, der sich diesmal auf den Beifahrersitz gesessen hatte... "Aber ich hab hier den Personalausweis des Toten und im Geldbeutel ist auch Geld, EC-Karte und Kreditkarte. Kein Raubmord."


    Die beiden Autobahnpolizisten gingen um den Wagen herum zur Beifahrertür, und nahmen die Plastikbeutel mit dem Personalausweis und dem restlichen Geldbeutel entgegen. "Björn Bachmann, 51 Jahre alt.", las Ben vor. "Soll Andrea gleich mal checken." "Was ist eigentlich mit eurem Kollegen. Ich hab gehört, er sei... auf Urlaub?", fragte Meisner dann interessiert und besorgt, denn auch er kannte Semir schon seit Jahren und hatte nur Gerüchte im Präsidium gehört. "Semir ist momentan krank geschrieben. Mehr gibt es da nichts zu wissen, und das kannst du auch allen sagen, die anderen Unsinn verbreiten.", sagte Ben sofort und unmissverständlich ernst, so dass Meisner sofort entschuldigend die Hände hob.
    "Hey hey, keine Bange. Ich beteilige mich nicht an solchem Geschwätz, ich habe mir Sorgen gemacht." "Ich weiß... so war es auch nicht gemeint. Aber es sind genügend Gerüchte im Umlauf, die nicht wahr sind."
    Ben war zu Ohren gekommen, dass Gerüchte in der Kölner Polizei umhergingen, dass einer der besten Polizisten, Semir Gerkhan, an Depressionen leide, in Behandlung sei und seinen Job an den Nagel hängen wollte. Sein bester Freund hatte sich darüber furchtbar aufgeregt und konnte nur von Kevin und der Chefin zurückgehalten werden, dem Polizisten aufs Dach zu steigen, der diese Gerüchte wider besseren Wissens in Umlauf gebracht hatte. Jedenfalls verteidigte Ben seinen Partner sofort mit Herzblut, wenn ihn jemand darauf ansprach. Er war krankgeschrieben, und fertig. Ganz normal. Dass er allerdings nie den Grund der Krankschreibung nannte, ließ Unwissen aufkommen, und damit befeuerte Ben selbst die Gerüchte von Neuem.


    Kevin stellte sich nun seinerseits vor das Auto, in dem Björn Bachmanns Leiche saß, sah auf die Scheibe, und sah in die entgegen gesetzte Richtung. Das Auto stand paralell zur Autobahn. "Wir müssten Luftlinie mal den Weg abgehen, von wo die Kugel aus gekommen ist." "Das Kaliber ist recht groß. Könnte ein Jagdgewehr oder Präzisionsgewehr sein.", antwortete Ben und zeigte seinem Partner die tödliche Kugel. "Ein Schuss - ein Treffer. Da hat jemand kühl agiert, kein Streit, keine Auseinandersetzung... er ist scheinbar überrascht worden. Aber warum stand er hier?" Kevin blies Kondensrauch aus, als er laut ausatmete und sah sich um, während Ben wieder zum Auto auf die Fahrerseite ging, und den steckenden Zündschlüssel drehte. Die Tankuhr sprang auf "Voll". "Scheint vor kurzem getankt zu haben, der Tank ist scheinbar noch ganz voll. Sollen die Jungs in der KTU mal checken wieviel Sprit wirklich fehlt.", rief er Kevin zu, der die Reifenspuren abging, allerdings auf dem selben Weg endete, von wo aus auch die Beamten kamen.
    "Welchen Grund hat jemand, mit einem ganz normalen Auto so tief in den Wald zu fahren, hier dann zu sitzen und erschossen zu werden?", rätselte Kevin laut, als er wieder zurückkam. "Also ich weiß ja nicht wie du das siehst, aber ob er selbst wirklich nen Grund hatte, um erschossen zu werden?", witzelte Ben und grinste breit, so dass Kevin ihm die Zunge rausstreckte. Der junge Polizist öffnete die Beifahrertür nochmal und steckte den Kopf in den Fußraum. "Na, was haben wir denn da?", sagte er laut und beförderte einen lilanen Schein an die Helligkeit. Ben trat hinter ihm.


    "Geld...", war die eindeutige Antwort auf Kevins Frage, die von Meisner kam, der ebenfalls hinter ihnen stand. "Vielleicht auch Esspapier.", sagte Bens Freund flapsig und hielt den Schein gegen das Licht... er war echt, soviel war klar. "Ist da noch mehr?" "Wieso? Hast du Schulden?" Meisner lachte ob des Wortgeplänkels der beiden Polizisten und Kevin beugte sich nochmal in den Fußraum. Er beförderte noch einen lila und einen gelben Schein an die Oberfläche. "Wer hat denn 1200 Euro im Fußraum rumliegen?", meinte Ben nachdenklich. "Ja, normal ist das sicher nicht. Wird Zeit, dass wir mal erfahren, wer dieser Typ da wirklich ist."
    Ben steckte den Personalausweis in seine Jackentasche, und die beiden Polizisten machten sich auf den Weg zurück zu ihren Dienstautos. Sie verabschiedeten sich vorher bei Meisner. "Ich schick euch die Ergebnisse, wahrscheinlich bis heute abend." Als die beiden Männer den Weg zurück über den gefrorenen Boden gingen, beugte sich Kevin herüber zu Ben: "Was ist denn mit Semir? Weißt du etwas?" Ben seufzte... seine Fröhlichkeit und die Arbeit mit Kevin war die beste Verdrängung der Sorgen, die er sich um seinen besten Freund machte. Aber wenn ihn jemand darauf ansprach, konnte er sie nicht verbergen. "Andrea hat gesagt, er redet nicht in der Therapie. Solange er nicht redet, kann ihn niemand gesund schreiben. Mir sagt er nichts, und Andrea will mir auch nichts erzählen, solange Semir es nicht selbst tut." Der junge Mann zuckte mit den Schultern, als sie an den Wagen angekommen waren. "Es scheint, als wäre er in seiner eigenen Sturheit gefangen..." Kevin nickte und meinte: "Ja... oder er will einfach keine Schwäche zeigen."

    Jenny's Wohnung - 08:45 Uhr


    Schlafen war wie Medizin. Liebe war wie Medizin. Beides zusammen war das, was Kevin Peters jahrelang gefehlt hatte. Jetzt hatte er es und verdammt, er genoß es. Er hielt es mit seinen muskulösen Armen gefangen, als müsse er es mit seinem Leben beschützen. Jennys weicher Körper, ihre samtige Haut schmiegte sich unter der warmen Decke an diesem Januar-Morgen an ihn, sie konnte jeden Millimeter seiner nackten Haut erfühlen und ertasten. Sie hatte es geschafft, sie hatte den wilden unnahbaren Straßenkater gezähmt... domestiziert würde man bei Tieren wohl sagen, was sich bei Menschen eher klinisch anhörte. Es war ein langer steiniger Weg, denn die beiden beschritten hatten, denn Kevin war kein normaler Mann.
    Es war schwer für den Polizisten endgültig und blind zu vertrauen. Dass Jenny in seinen Karton geblickt hatte, einen tiefen Einblick in sein früheres Leben nahm, hatte er ihr übel genommen. Sie hatten sich gestritten deswegen, er war wieder geflohen deswegen. Gerade weil seine Vergangenheit so präsent war im Fall gegen die rechte Sturmfront, das Wiedersehen mit seiner damaligen großen Liebe Annie, und alle Erinnerungen, die damit verbunde waren... es war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, deswegen einen Streit zu beginnen.


    Doch als der Fall vorbei war, Kevin mit Annie endgültig abgeschlossen hatte, hatten sie miteinander geredet. Kevin hatte seiner Lebensgefährtin alles gezeigt, was in der Kiste war, alles was Jenny bereits gesehen hatte noch einmal gezeigt, und seine Geschichte erzählt. Der Seelen-Striptease fiel dem jungen Mann schwer, aber er half auch. Es gab nicht mehr viel, was Jenny jetzt nicht von Kevin wusste, und sie bildete sich ein, nun genau zu wissen, wie er tickte, wie er reagierte. Sie wusste nun seine Jugend, seine kriminelle Vergangenheit, über die sie zugegebenermaßen sehr erschrocken war, sein schwieriges Elternhaus und seinen psychischen Absturz nach dem Tod seiner Schwester. Jenny wusste jetzt, warum er zur Polizei ging, wie es ihm in der Ausbildung und bei der Mordkommission erging, und warum es ihm so schwer fiel, Vertrauen zu haben.
    Doch jetzt spürte er Vertrauen... er spürte Vertrautheit, wenn er in Jennys Wohnung kam, er spürte Geborgenheit, wenn sie abends in seinen Armen einschlief, und er spürte eine Gefühl der Heimat, des Ankommens, wenn er im Büro der Autobahnpolizei Jennys Lächeln sah. All das, was er jetzt hatte, hatte er vorher nie in dieser Perfektion... er musste es nur noch zu schätzen wissen. Und Kevin musste seine Angst verlieren... Denn immer wenn ihm etwas Schönes passierte, hatte er sofort Angst, dass es ihm aus den Händen gleitet, dass er es verlieren würde.


    Es wurde nur langsam hell im Zimmer der beiden. Das Fenster war gekippt, die frostige Luft kam durch den kleinen Spalt ins Zimmer. Jenny war als erste wach geworden, ihre Arme waren noch um Kevins nackten Körper geschwungen, und ein wenig fröstelte sie trotz der dicken Decke. Doch nichts und niemand würde die junge Frau jetzt aus diesem Bett bekommen, solange ihr Freund noch neben ihm schlief. Wenn seine Gesichtszüge so entspannt waren und nichts von der Melanchonie zeigten, die Kevin sonst ausstrahlte, nichts von der Trauer und der Wut, die er so lange mit sich herum getragen hatte, und deren Gesichtsausdruck er wohl nie wieder ablegen würde. Wenn er aber schlief, sah er einfach nur glücklich und zufrieden aus.
    Zärtlich strich sie dem Polizisten über die, wie imme abstehenden Haare, ein Bein noch auf seinem Bauch, und einen Arm noch um seine Brust geschlungen. Immer wenn sie ihn betrachtete, fragte sich Jenny, wie der junge Kevin wohl auf sie als junges Mädchen gewirkt hätte, seit sie die Bilder von ihm sah. Mit seinem wilden Auftreten, seiner Unbeherrschtheit, seiner Unbekümmertheit. Hätte er die gleiche Faszination auf sie ausgewirkt, wie er es jetzt als ruhiger, unnahbarer und beinahe schon geheimnisvoller Polizist es getan hatte? Sie fragte sich, wie sein Charakter wohl heute wäre, wenn ihm nicht seine Schwester geraubt worden wäre, und er vielleicht einen völlig normalen Weg gegangen wäre. Wäre er vielleicht ein lustiger, oftmals gut gelaunter Quatschmacher wie Ben? Ein herzlicher, aber wenn es sein musste ernster Typ wie Semir?


    Mit leichten Kontakt ihrer Lippen auf Kevins Stirn, seiner Nase und seinen Lippen schaffte Jenny es, ihn auf die schönste Art zu wecken, wie ein Mann geweckt werden konnte. Leicht blinzelnd gab der Polizist die Sicht frei auf seine hellblauen Augen, die Jenny so gut gefielen und spitzte seine Lippen ebenfalls zum Kuss. Erst dann erhob Kevin seinen rechten Arm um Jenny zu umarmen und an sich zu drücken. "Na, gut geschlafen?", fragte sie grinsend. "Neben dir schlafe ich doch immer gut.", war die wahrheitsgemäße Antwort. Früher schaffte Kevin, wenn überhaupt, 2-3 Stunden Schlaf am Tag. In seiner schlimmsten Zeit brauchte er Drogen um überhaupt einzuschlafen, manchmal blieb er mehrere Tage am Stück wach.
    "Ich mach uns mal Frühstück.", sagte Jenny leise, stieg über Kevin hinweg nackt aus dem Bett und zog sich ihr Nachtshirt, das neben dem Bett lag und ihr fast bis zu den Knie reichte kurzerhand über, während Kevin sie spitzbübisch lächelnd beobachtete. "Und wieso stehst du dann auf. Ich bin zwar für Frühstück, aber auf was ich Lust hab, war gerade noch hier bei mir im Bett.", sagte der Polizist, als Jenny sich schon einige Schritte zur Tür bewegt hatte.
    Die junge Polizistin drehte sich um und stemmte die Hände in die Seiten. "Mein lieber Herr Kommissar, das ist aber gänzlich gegen die Dienstvorschriften.", meinte sie künstlich mit strenger Stimme und ging wieder zurück an die Bettkante. "Frau Dorn, sie wissen doch dass ich mich einen Scheiss um Dienstvorschriften kümmere.", war Kevins Antwort, und mit einem schnellen Griff hatte er die vergnügt quiekende Jenny wieder ins Bett gezogen, und die beiden begannen sich innig zu küssen, bis der Klingelton von Kevins Diensthandy sie unterbrach.


    Die Polizistin hob zuerst den Kopf, wurde aber von Kevin zurückgehalten. "Lass es klingeln, wir haben frei heute.", und wollte den Austausch von Zärtlichkeiten fortsetzen. Als das Telefon aber keinerlei Ruhe gab, sah Jenny erneut auf das Display. "Es ist Ben. Vielleicht ist es wichtig.", meinte sie, obwohl sie ungern jetzt gerade die Spielverderberin sein wollte. Seufzend ließ Kevin den Kopf ins Kissen zurückfallen. "Ja... wahrscheinlich hatte der Bäcker keine Schokocrossaints mehr." Jenny lachte und angelte das Handy vom Nachttisch, weil sie leichter herankam, und gab es Kevin. "Was isn, du Nerv... ich bin am frühstücken.", war seine Begrüßung, als er das Gespräch annahm. "Solltest früher frühstücken, dann wärst du jetzt schon fertig.", war Bens flapsige Antwort, die aus dem Handy schnarrte. Kevin konnte im Hintergrund Fahrgeräusche erkennen. "Was ist los? Ich hab frei heute." "Jetzt nicht mehr. Wir haben nen Leichenfund im Wald neben der Autobahn. Kilometer 55, in einer Viertelstunde." "Wie, in einer Vierstelstunde habt ihr erst den Leichenfund, oder was?", fragte Kevin und streckte Jenny grinsend die Zunge raus, die sich schüttelte vor Lachen. "Nein! In einer Viertelstunde treffen wir uns am Tatort, oder ich lasse Hotte und Bonrath zu dir nach Hause kommen, um dich aus dem Bett zu zerren. Also gib Fersengeld! Ciao." Die beiden beendeten das Gespräch und Kevin sah Jenny etwas mitleidvoll an. "Na komm... daran bist du doch von der Mordkommission gewohnt.", meinte Jenny... natürlich war es nervig, wenn ein freier Tag sich plötzlich in Luft auflöste, aber sie war selbst Polizistin und hatte Verständnis.

    Büro Polizei-Psychologin - 08:30 Uhr


    Tick tack, tick tack, tick tack... das Geräusch konnte einen wahnsinnig machen, dachte Semir. Im Zimmer von Frau Schneider roch es angenehm nach einer Mischung aus der neuen Ledercouch, auf der Semir mit gekreuzten Beinen saß, altem Holz der Wandtäfelung und dem Parfüm der Polizei-Psychologin, die ihm gegenüber saß, und zu der er nun seit einigen Wochen zweimal in der Woche zum Gespräch musste. Anweisung von ganz oben, nicht diskutierbar. So lange bis die "Therapie", so nannte es Anna Engelhardt, abgeschlossen war. Ach, Semir war es selbst schuld. Die Probleme, die er hatte, wollte er einfach zur Seite schieben. Er war 20 Jahre im Geschäft, es durfte ihn einfach nichts mehr schocken, egal was passiert. Er hatte Explosionen überlebt, seine Familie wurde entführt, er wurde angeschossen, zwei Freunde sind gestorben. Was sollte ihm da ein wenig Psychoterror eines Neo-Nazis schon ausmachen.
    Weitermachen, immer weitermachen. So tun, als sei nichts gewesen. Die erste Woche ging es noch gut, nur müde war er, weil er nachts nicht schlief. Die Müdigkeit drückte zusehends auf Semirs Gemüt, Semirs Stimmung drückte zusehends auf das Klima im Dienstwagen mit Ben, auf das Klima im Büro mit Ben und Kevin. Ständig fragte Ben: "Semir, ist alles klar?" "Semir, sollen wir mal darüber reden, was im Keller passiert ist?" "Semir, was ist eigentlich mit deinem Pflaster am Hals, so lange kann doch keine Wunde heilen...", bis der sonst so besonnene Polizist die Beherrschung verlor, und seinen besten Freund vor der versammelten Büroschaft anschrie, er solle ihn, verdammt nochmal, endlich in Frieden lassen. Ben war davon so geschockt, dass er den Rest des Tages kein Wort mehr redete. Erst nach Feierabend nahm Kevin ihn zur Seite und sagte vielsagend: "Irgendetwas stimmt nicht..."


    Tick tack, tick tack, tick tack... wie konnte man nur eine Uhr in einem Büro aufhängen, die so penetrant tickte. Dabei hatte sie nicht mal ein Pendel, es war eine stinknormale batteriebetriebene Uhr. Andrea hatte schnell gemerkt, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmte. Sie wusste ja, was passiert war und es war kein Wunder für sie, dass er diesmal nicht wie ein Stehauf-Männchen sofort ohne Probleme wieder seinen Dienst verrichtete. Als seine kleine Tochter Ayda im Koma lag, war Semir stark. Er hielt allem stand, er behielt einen kühlen Kopf. Doch jetzt war er der Schwache. Er brauchte Hilfe. Er schlief zu Hause nicht, er ass nur noch wenig, er saß nach Feierabend im Wohnzimmer und blickte nervös umher. Nein, das war nicht mehr ihr Mann. Das war ein kaputtes Spielzeug, ein Ding, dass innerlich zerbrochen war. Sie wandte sich an Anna Engelhardt.
    Auch die Chefin hatte den Wandel ihres Beamten gemerkt. Er war nicht mehr offen, er sprach weniger, er reagierte abweisend. Und er wurde zunehmend zu einem Problem auf der Dienststelle. Bei einem Verhör eines Rasers, der mit Joints und Pillen bei einer Verkehrskontrolle festgenommen wurde, wurde er von dem Typ als "Kanacke.", beleidigt. Eine Beleidigung, die er sich in den Jahren als Polizist so oft anhören musste, über die er mehr als nur drüber stand. Doch diesmal flippte der kleine Polizist aus, er packte den überraschten Dealer am Hinterkopf und schlug ihn mit dem Gesicht auf die Metallplatte des Tisches. Kevin und Ben, die sofort ins Zimmer geeilt waren, als sie den Krach hörten, konnten den tobenden Kollegen nur mit allergrößter Mühe aus dem Verhörzimmer ziehen. Danach wurde er umgehend von Frau Engelhardt krank geschrieben und zu einer Therapie bei der Polizei-Psychologin Tanja Schneider eingeschrieben. Und hier saß er nun...


    Tick tack, tick tack, tick tack... Wie lange saß er jetzt schon hier? 2 Minuten, 5 Minuten? Semir verschränkte die Arme vor seiner Brust, als wolle er sich schützen, als würde er der Frau, die ihm gegenüber saß, nicht weiter als 5 Centimeter trauen. "Wie schlafen sie, Herr Gerkhan?", fragte sie mit freundlicher Stimme, einen Block auf ihrem verschränkten Bein und einen Kugelschreiber in der Hand. Eine Posse voller Klischees, doch wie eine typische Psychologin, mit streng zurück gekämmten Haaren, Rock und Anzugoberteil und einer viel zu großen strengen Brille sah Frau Schneider nicht aus. Sie trug Jeans, eine Kapuzenweste und sah aus, als käme sie frisch von der Uni. Dabei war sie schon beinahe 40, und schon 7 Jahre die beste Polizei-Psychologin in ganz Nordrhein-Westfalen. "Gut, wirklich.", antwortete Semir.
    Klar schlief er gut... wenn er schlafen würde. Das tat er schon Wochen nicht, das viertelstündige Eindösen konnte man nicht als Schlafen bezeichnen. Semir lag auf dem Rücken im Bett, und blickte in die Dunkelheit. Er lauschte auf jedes Geräusch, was in seinem Schlafzimmer zu hören war. Das Gluckern der Heizung, das leise Rauschen der Bäume bei einem Windhauch. Zischte da was? Ständig hatte er das Gefühl, es würde irgendwo ein Zischen herkommen... wie ein Gasrohr, das ein Loch enthielt. Dann bekam er Atemnot, er begann zu schwitzen, er musste aufstehen. Er musste die Zimmertür öffnen, um wieder Luft zu bekommen. Dann wieder war alles still. Kein Zischen, keine Schritte, kein geflüsterter Führergruß, der ihn manchmal aus dem Halbschlaf nach oben fahren ließ.


    Tick tack, tick tack, tick tack... gleich würde Semir den kleinen Aschenbecher, der eh nur aus Deko-Gründen auf dem Tisch stand, als Wurfobjekt gegen diese unsägliche Wanduhr missbrauchen. Es schien, als würde dieses Geräusch jedes andere Geräusch im Raum übertönen. "Wann haben sie denn ihren Termin beim Hautarzt?", fragte Frau Schneider und blickte auf das weiße quadratische Pflaster an Semirs Hals. Unweigerlich strich er sich darüber... es brannte und seine Haut um das Pflaster war gerötet. Eine allergische Reaktion. Niemals war ihm das bei dieser Art Heftpflaster passiert, dass seine Haut darauf reagierte. Jetzt juckte es und brannte, und er musste eine weiße Creme darauf streichen, wenn er das Pflaster austauschte. Jedes Mal war es eine Qual dieses schreckliche Symbol, das noch sehr gut sichtbar in seiner Haut zu sehen war, erblickte.
    "In zwei Wochen.", meinte Semir knapp. "Na das ist doch super. Da haben sie doch wieder ein Ziel, auf das sie hinarbeiten können. Ein Fixpunkt, zu dem sie blicken können, um einen weiteren Schritt zu machen." Semir blickte vom Boden zu der Psychologin auf. Ein Fixpunkt? Wenn er sich endlich dieses scheussliche Ding vom Hals entfernen lassen würde? Glaubte diese Frau, man könnte die Erinnerung wie eine Narbe kosmetisch entfernen? Das einzige, was Semir ablenken würde, war sein Job, und der wurde ihm momentan genommen.


    Tick tack, tick tack, tick tack... Semir würde vermutlich in seinem Hause erst mal alle Uhren abhängen, sobald er wieder daheim war. Das war ja schrecklich. Auf Fragen der Psychologin antwortete er einsilbig, seine Worte und seine Haltung zeigten deutlich, dass er sich von diesen Gesprächen weder Besserung seines Zustandes noch sonstige positive Dinge versprach. Tanja Schneider seufzte: "Herr Gerkhan. Ich versuche ihnen zu helfen. Schauen sie, wenn sie mir nicht erzählen, was diese charakterliche Veränderung in ihnen ausgelöst hat, dann kann ich ihnen nicht die richtigen Fragen stellen. Und ohne die richtigen Fragen, bekomme ich von ihnen nicht die richtigen Antworten um ihnen zu helfen, verstehen sie?" Sie hatte den Block wieder auf ihr Bein gelegt und sich nach vorne gelehnt.
    Semir konnte nicht gut mit jungen Kolleginnen. Er fühlte sich überlegen durch seine Diensterfahrung, und jetzt kam es ihm so vor, als wolle eine Studentin (da er die Psychologin auch fälschlicherweise zu jung einschätzte) ihm weismachen, sie könne ihm helfen. "Hören sie, junge Frau... es geht hier nicht um Fragen oder Antworten. Es geht hier einzig und allein darum, dass ich meine Arbeit wieder brauche. Meinen Job! Ich bin Polizist und habe genug erlebt um auch damit fertig zu werden. Ich habe nichts zu erzählen." Während er das sagte, löste er seine verschränkten Beine und stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie, um sich nach vorne zu beugen. Danach lehnte er sich wieder zurück und strich sich mit den Fingern über seinen kratzigen dünnen Bart. Tanja Schneider blieb davon unbeeindruckt, sah zuerst auf die Uhr an der Wand, und dann auf ihre Armbanduhr. "Na schön, wie sie möchten. Aber ich kann sie nicht wieder gesund schreiben, solange sie sich ausschweigen." Dann stand sie auf und hielt Semir die Hand hin. "Unsere nächste Sitzung ist dann übermorgen um 14 Uhr." Mit verstockter Miene sah Semir die Frau an, nickte kurz, stand wortlos auf um das Büro zu verlassen.
    Die Frau sah dem Beamten kurz nach und schüttelte den Kopf. Dann griff sie hinter sich zum Telefon, um den Hausmeisterdienst anzurufen. Sie brauchte endlich neue Batterien, schließlich funktionierte ihre Wanduhr jetzt schon über eine Woche nicht mehr...

    Ben zweifelt an Mikael und verschafft sich selbst Informationen. Schöne Stimmung auf dem Revier und am Tatort selbst. Natürlich ist es schwer für Ben seinem Freund einfach zu glauben, wenn es wirklich gar keine Hinweise gibt auf die Richtigkeit seiner Aussage. Und für Mikael wird es sicher schwer sein, das zu akzeptieren.