Dienststelle - 16:30 Uhr
Früher hatte man den Kindern gesagt, sie würden viereckige Augen von zu vielen Fernsehgucken bekommen. Ben konnte sich lebhaft an die Worte seiner Mutter erinnern. Jetzt hatte er das Gefühl, sie hatte recht. Stundenlang saßen die beiden Polizisten jetzt in ihrem Büro an ihren Monitoren. Sie klickten, sie lasen, sie telefonierten. Ben hatte sich das Facebook-Profil des Toten angesehen, in dem aber nur wenige Informationen zu finden waren. Björn Bachmann schien nichts vom "gläsernen Menschen" zu halten, hatte nur wenige Bilder von sich und seiner Schwester in seinem Profil und gab weder seine Meinung zu politischen Themen ab, noch bloggte er irgendwelche Fussball-Ergebnisse. Likes hatte er lediglich bei einigen alten Rockbands und modernen Krimiromanen gesetzt.
Das einzige, was öfters in seiner Timeline erschien, waren Spielemeldungen von Casino und Pokerspielen, in denen man in der Mittagspause um virtuelles Geld auf Facebook spielen konnte. Ansonsten gab es keinerlei Nachrichten, und auch keinerlei Auffälligkeiten in Björns Freundesliste, kein Name kam Ben im kriminellen Spektrum irgendwie bekannt vor. Nach einer Stunde intensiven Lesens und Klickens lehnte er sich zurück, rieb sich mit den Fingern durch die Augen und streckte sich.
Kevin hatte sich mit einem Eilbeschluss die Einzelverbindungsnachweise des Toten besorgt und hatte jetzt den Kopf auf die Handfläche gestützt, während er diese studierte. Zahlen, Nummern, Gesprächsdauer der letzten 7 Tage waren dort aufgelistet, auffällige Nummern strich er sich mit einem Textmarker heraus. Einige Anrufe ins Ausland, niederländische Vorwahlen, genauso wie das letzte Gespräch... auffällig. Die Nummern sendete er sofort an die Bundesnetzagentur, um die Person zu ermitteln, der hinter diesen Nummern steckte.
Gegen späten Nachmittag ratterte das Faxgerät und spuckte einige Seiten Papier aus. Kevin stand auf um den Bericht von Robert Meisner entgegen zu nehmen, wobei er sich gegen den kleinen Schrank, auf dem das Faxgerät stand, lehnte während Ben mit einem kurzen Nicken fragend in die Richtung seines Partners schaute. "Bericht von unserm Leichenschnippler.", war Kevins Antwort auf die stumme Frage, und seine Augen flitzten von links nach rechts. "Und?" "Nichts auffälliges, nichts was wir nicht schon wussten. Tod durch Herzschuss, große Entfernung, glatter Durchschuss, nichts im Magen, keine Vorerkrankung oder akute Erkrankung...", las Kevin vor und schüttelte dabei den Kopf. "Man kann quasi sagen: Kerngesund, ausser dass er tot ist." Ben legte den Kopf ein wenig schief und setzte eine etwas sarkastische Miene auf: "Ach nein..." "Den Namen hinter den Rufnummern bekommen wir wohl eh erst morgen. Lass uns Feierabend machen, morgen fahren wir dann zu Bachmanns Arbeitsplatz und fragen mal an, ob wir auf sein Bankkonto gucken können.", meinte Kevin, warf Ben den Zettel auf den Schreibtisch und nahm seine Jacke vom Stuhl. "Was machst du jetzt noch?", fragte Ben, der eigentlich gar keine Lust hatte, jetzt alleine nach Hause zu fahren. "Ich setze meine Frühstück fort...", meinte sein Partner mit frechem Grinsen und wünschte einen schönen Feierabend.
Seine gute Laune verschwand, als der junge Polizist in seinem Dienstwagen in die Straße einbog, in der er und Jenny zusammen wohnten. Schon von weitem erblickte er die Gestalt, die dort vor seiner Tür auf der Treppe saß, und die sich scheinbar überhaupt nicht darum scherte, dass die Treppenstufen eiskalt waren. Sein zerisserner Parker und sein aufgestellter Iro waren von Weitem zu erkennen. Kevin parkte sein Auto und stieg aus, während Ole sich langsam von der Treppe erhob. Man konnte am Gesicht des Polizisten sehen, dass er sich selbst nicht einig war, wie er reagieren sollte... Freundschaftlich mit einem "Hallo, wie gehts", oder ablehnend mit einem "Verschwinde!". Ole gehörte zu der Jugendgruppe der Autonomen, zu der auch Kevins Ex-Freundin Annie gehörte, mit denen er bei seinem letzten Fall zu tun hatte.
"Hi...", sagte Ole, als die beiden sich gegenüber standen. Der junge Polizist hatte damals die Punks nicht auffliegen lassen, obwohl Ole kurz zuvor versucht hatte, Kevin zusammen zu schlagen. "Was gibts?", war der sehr kurz angebunden und versenkte seine Hände in die Taschen seines dunklem Mantels, der ihn eher wie einen Gothicrocker als einen Polizisten wirken ließ. "Ich... wir bräuchten deine Hilfe." Kevin hob die Augenbrauen, als wäre er überrascht, doch auch Ole bemerkte, dass es eher sarkastisch war. "Meine Hilfe?", wiederholte er, um diesen Eindruck zu untermauern.
Ole atmete einmal hörbar aus. "Annie ist verschwunden." Kevin erschrak, allerdings nur innerlich. Einerseits erschrak er bei dem Stich in seiner Brust, als Annies Name in Verbindung mit einem Verschwinden fiel, andererseits erschrak er ob seiner gleichzeitig aufkommenden absoluten Gleichgültigkeit dessen. "Und was habe ich damit zu tun?", war seine Antwort auf Ole's Äusserung... was wiederrum den Punk innerlich erschrecken ließ. "Was du damit zu tun hast? Ich dachte, du empfindest etwas für sie." Ein Umstand, bei dem Kevin gelogen hätte, wenn er es abgestritten hätte. Deswegen ließ er es unkommentiert und meinte stattdessen: "Ich habe mit Annie nichts mehr zu schaffen, okay." Dabei drehte er sich zur Treppe und wollte diese gerade hinauf.
"Wir machen uns alle Sorgen. Sie wollte weg von hier, hat sich aber jeden zweiten Tag gemeldet. Jetzt haben wir schon seit anderthalb Wochen nichts mehr von ihr gehört.", hörte er die leicht näselnde Stimme des jungen Punks hinter sich und blieb an der Haustür kurz stehen. Er atmete einmal kurz tief ein und wieder aus, bevor er sich umdrehte. "Annie ist erwachsen. Sie braucht weder mich noch euch als Kindermädchen." "Wir haben aber Angst, dass ihr was passiert ist." Für einen kurzen Moment sahen die beiden Männer sich an, und Kevin überlegte, ob er denn Satz, der im Gerade auf der Zunge lag, wirklich sagen sollte. Er entschloß sich dafür: "Ole... es ist mir scheissegal, was mit Annie ist. Okay?"
Danach drehte er sich wieder zur Tür und ließ den jungen Mann einfach an der Treppe stehen.