Autobahn - 11:00 Uhr
Es dauerte nicht lange, bis die ersten Kollegen, gefolgt von einem Rettungswagen an der Unfallstelle eingetroffen waren. Zwei junge Kollegen, ein Mann und eine Frau hielten mit Blaulicht und Warnblinkanlage auf dem Seitenstreifen und kamen ebenfalls die Böschung herunter. Ben und Kevin wiesen sich aus und gaben kurz zu Protokoll, was passiert war, machten aber auch gleich klar, dass sie den Fall selbst übernahmen. Kevin verspürte ein leichtes Ziehen im Nacken und griff sich mehrmals an den hinteren Bereich seines Halses. Ben erschien er sehr wortkarg und nachdenklich zu sein nach dem Unfall, wobei sich der Polizist nicht sicher war, ob dies wirklich mit dem Unfall zu tun hatte, oder ob er mit seinen Gedanken schon wieder in Bogota war.
Die Besatzung des Notarztwagens wollten die beiden Kommissare überreden, mit ins Krankenhaus zu fahren, doch beide lehnten ab. Der Arzt betastete zumindest Kevins Nacken und sagte: "Das könnte ein Schleudertrauma sein. An ihrer Stelle würde ich das sicherheitshalber untersuchen lassen, damit keine Wirbel angebrochen sind." Kevin versprach, dass er heute nachmittag bei seinen Orthopäden gehen würde, um sich checken zu lassen, und Ben grinste bereits. Als ob... beide unterschrieben eine Erklärung auf eigene Gefahr nicht ins Krankenhaus zu fahren, und organisierten über einen Kollegen die Rückfahrt zur Dienststelle.
Als die beiden, ungewohnterweise, auf der Rückbank eines Streifenwagens saßen um zurück zur Dienststelle zu fahren, meinte Kevin: "Ich fahre dann nachher gleich zum Arzt." Nun war Bens Gesichtsausdruck nicht belustigt, sondern eher überrascht, denn so kannte er seinen Partner nicht. Während Ermittlungen, nach Unfällen oder sonstigen Verletzungen, musste man Kevin eigentlich mit Waffengewalt zum Arzt bringen. Semir und Ben waren da nicht anders gestrickt. "Ist es so schlimm?", fragte Ben und der Blick, der ihn in diesem Moment von Kevin traf, war ihm unheimlich. Es war kein böser Ausdruck in den Augen, eher etwas... Kaltes... skrupelloses. "Du hast doch gehört... mit einem Schleudertrauma ist nicht zu spaßen. Vielleicht brauch ich einen Krankenschein."
Diese Worte waren nun wirklich völlig ungewöhnlich. Tat ihm der Nacken wirklich so weh? Aber warum ist der dann nicht gleich mit dem Krankenwagen gefahren? "Wenn ich jedes Mal bei einem Schleudertrauma nen Krankenschein geholt hätte, könnte ich schon fast in Rente gehen.", meinte er und versuchte ein wenig, die betrückend wirkende Stimmung im Streifenwagen zu lockern, was zumindest bei dem Kollegen am Steuer für einen Lacher sorgte. "Aber du kennst deinen Körper besser als ich... du musst das selbst wissen.", betonte Kevins Partner nochmal, weil er keinesfalls seinen Freund zu etwas überreden wollte. Sollte es wirklich Haarrisse an der Wirbelsäule geben wäre der nächste Sturz oder Unfall ein sicherer Weg zum Rollstuhl. Ben selbst redete sich immer wieder ein, nach dem nächsten Unfall sich wenigstens durchchecken zu lassen. Doch meist trieb der Fall oder die Zeit, so dass es vertagt und später vergessen wurde.
Der Streifenwagen bog die Abfahrt zur Dienststelle ab und ließ die beiden Polizisten am Parkplatz raus. "Danke fürs Mitnehmen.", sagte Ben dem Kollegen, der zu einem ganz anderen Polizeibezirk gehörte, nahe der holländischen Grenze. Der Kollege gab noch ein Handzeichen zum Abschied, bevor er wendete und wieder zurück zur Autobahn fuhr, während Kevin und Ben das Gebäude betraten und auf dem Flur Kevin auf die Toilette abbog. Ben ging zwei Schritte weiter, bis er plötzlich stehen blieb. Die Erkenntnis, die in ihm plötzlich aufkam, traf ihn wie ein Blitz. Wobei es noch keine gesicherte Erkenntnis war, eher eine Vermutung... ein Verdacht, der sich aber in seinem Kopf so schnell erhärtete und zu einer gefühlten Gewissheit wurde, dass sich seine Fäuste ballten.
Für einige Sekunden blieb er wie angewurzelt im Flur stehen. Wenn ihn jemand beobachten würde, würde man meinen, er überlegte ob er nun zur Toilette müsste, oder nicht. Doch er war noch nicht auf der Höhe des Großraumbüros und auf dem Flur war auch gerade keiner. Er drehte um und ging mit schnellen und sicheren Schritten wieder zurück und trat ebenfalls in den Vorraum der Toiletten ein.
Kevin stand am Waschbecken und trocknete sich gerade das Gesicht ab, scheinbar musste er nicht zur Toilette sondern säuberte sich ein wenig die Schnittwunde im Gesicht. Ben verlor keinerlei Zeit, sondern konfrontierte seinen Partner sofort mit seinem Verdacht. "Du willst krank machen, um nach Kolumbien zu fliegen, stimmts?" Kevin sah Ben nicht an. Seine Bewegung, das Papiertuch über seine Haut im Gesicht zu streichen, unterbrach er für einen Augenblick und sah starr in den Spiegel, während Ben nur einen Meter von ihm entfernt stand und ihn von der Seite her anblickte. "Du weißt genau, dass die Chefin dir jetzt keinen Urlaub geben würde während des Mordfalls. Der Unfall kommt dir gerade recht." Wieder wurde er von dem, diesmal ironischen, fast schon sarkastisch abwertenden Blick Kevins, ein wenig erschrocken. "Genau... und ich war es auch, der uns in den Reifen geschossen hat."
Kevins Überheblichkeit machte Ben innerlich rasend, auch wenn er äusserlich noch die Fassung behielt. Doch seine linke Hand, die er auf das Waschbecken gestützt hatte, verkrampfte sich um den runden Rand und seine Lippen pressten sich aufeinander. "Also stimmt es? Du nutzt einen Krankenschein aus um nach Bogota zu fliegen und Annie zu suchen?", fragte er nochmal mit leicht zitternder Stimme. Er wollte eine klare Antwort von Kevin haben. "Das ist meine Sache.", sagte der nur ruhig.
Semir hatte gerade einen Funkspruch abgegeben und verspürte Durst. Er sagte Hotte Bescheid, dass der kurz auf den Funk achtgab und machte sich auf den Weg zur Kaffeeküche, wo er auch an den Toiletten vorbeikam. Die Tür zum Vorraum war nur angelehnt, und der erfahrene Polizist konnte hinter der Tür eine, ihm wohlbekannte Stimme vernehmen... nanu, warum waren die beiden denn schon wieder da? Die sollten doch erst am Nachmittag zurückkommen. Den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, wollte Semir schon die Tür aufdrücken, doch der Inhalt des Gespräches hielt ihn davon ab. Er hörte sofort, dass die Stimmung zwischen den beiden Männern nicht gut war, und obwohl es ihm widerstrebte, sie zu belauschen, so hielt ihn ein innerer Widerstand davon ab, die Tür zu öffnen... vor allem, als sein eigener Name fiel.
"Nein Kevin... das ist es nicht.", sagte Ben erregt und zeigte mit dem Finger auf seinen Kollegen, der sich mittlerweile vom Spiegel weggedreht hatte und sich Ben zu wandte. "Das ist auch Semirs Sache. Was willst du ihm denn sagen, hm? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht?" Kevin schüttelte den Kopf. Die Sache war eigentlich spontan, denn mit einem Unfall konnte ja keiner rechnen. "Semir braucht von der ganzen Sache nichts zu wissen. Das wäre für ihn sowieso das Beste."
Bens Gesicht entglitt nun zu einem fassungslosen Ausdruck. "Das ist nicht dein Ernst...", sagte er nur ein wenig leiser, und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. "Du willst ihn anlügen? Du willst ihm nicht mal sagen, dass du nach Kolumbien fliegst um die Frau zu suchen, die Semir fast das Leben gekostet hat? Die auch dran schuld ist, dass er zu einer Psychologin muss, weil es ihm so schlecht geht? Die nicht über ihren ideologischen Schatten springen konnte und geschwiegen hat, obwohl sie wusste, wo die Sturmfront ihn versteckt hielt?" Im Laufe der Fragen wurde Bens Stimme immer lauter und erregter, die Situation drohte immer mehr zu eskalieren. "Ja, genau das will ich. Und ich glaube, dass das für Semir auch besser ist.", sagte Kevin, und seine verdammte Ruhe in seiner Stimme brachte Ben immer weiter auf die Palme.
"Ey Kevin, du raffst es einfach nicht, oder? Du verstehst einfach nicht was Vertrauen heißt.", sagte der Polizist mit der Wuschelfrisur fassungslos. Er konnte es einfach nicht verstehen, dass sein Partner immer den Weg über das Misstrauen ging, das Verheimlichen. "Vertrauen heißt, dass man sich die Wahrheit sagt. Auch wenn es unbequem ist, verdammt! Auch wenn Semir damit nicht einverstanden ist, genauso wenig wie ich. Aber damit musst du klar kommen. Du kannst doch nicht dein Leben lang deine Freunde anlügen." Er spürte, wie sein Herz vor Erregung schneller schlug. "Wenn du es verantworten kannst, Semir jetzt damit zu belasten, wo er noch nicht gefestigt ist... dann erzähls ihm.", ging nun Kevin in die Offensive und es fühlte sich an, als würde er damit Ben die Verantwortung über die Wahrheit aufbinden, was den noch weiter in seiner Adrenalinskala steigen ließ. "Ich werde das nicht verantworten, und deshalb sage ich ihm auch nichts. Manchmal ist es besser, einfach zu schweigen. Und was Annie angeht...", für einen kurzen Moment unterbrach Kevin seinen, für ihn ungewohnten, Redeschwall und schien sich kurz an seine Alpträume zu erinnern... an Alpträume, die er nicht mehr hatte seit Janines Mörder tot war "... ich kann nicht anders. Ich muss sie suchen." Ben spürte, dass es scheinbar nicht mal Kevins freier Wille war... zumindest nicht seine Überzeugung.
Doch dazu konnte Ben nichts mehr sagen... denn er hörte nur, wie die Tür hinter ihm aufschwang, er sah Kevins Blick an Ben vorbei auf die Person, die dort im Türrahmen stand. Und erst, als der Polizist selbst sich umdrehte, denn er hatte die Tür im Rücken, konnte er in die fassungslosen braunen Augen seines Partners blicken. "Semir...", sagte er überrascht und spürte, wie der Boden unter ihm wankte. Er hatte mitgehört... natürlich hatte er mitgehört, den sein Blick drückte alles mögliche aus... Unverständnis... Wut... Fassungslosigkeit... Traurigkeit. Und sein Blick war in erster Linie auf Kevin gerichtet. "Das tust du nicht wirklich...", sagte er nur tonlos.
Kevin fühlte sich ans Krankenhaus erinnert... als Ben unglücklicherweise von Kevins Vergangenheit sprach und die Chefin übersah. Doch jetzt spürte er selbst, wie wenig sein Kollege damals dafür konnte, dass die Chefin etwas mitbekam. Es ging so schnell dass man redete, was andere nicht wissen sollten. Und diesmal hatte er selbst auch Dinge erwähnt, die nicht für Semirs Ohren waren. Der musste sich nun an der Türklinke festhalten, dass seine Beine nicht nachgaben und der erfahrene Kommissar spürte, wie seine Hände zittern, wie sein Adrenalin stieg und wie ein beinahe unbändiger Zorn auf Annie und Kevin in ihm aufkam...