Beiträge von Campino

    Autobahn - 11:00 Uhr


    Es dauerte nicht lange, bis die ersten Kollegen, gefolgt von einem Rettungswagen an der Unfallstelle eingetroffen waren. Zwei junge Kollegen, ein Mann und eine Frau hielten mit Blaulicht und Warnblinkanlage auf dem Seitenstreifen und kamen ebenfalls die Böschung herunter. Ben und Kevin wiesen sich aus und gaben kurz zu Protokoll, was passiert war, machten aber auch gleich klar, dass sie den Fall selbst übernahmen. Kevin verspürte ein leichtes Ziehen im Nacken und griff sich mehrmals an den hinteren Bereich seines Halses. Ben erschien er sehr wortkarg und nachdenklich zu sein nach dem Unfall, wobei sich der Polizist nicht sicher war, ob dies wirklich mit dem Unfall zu tun hatte, oder ob er mit seinen Gedanken schon wieder in Bogota war.
    Die Besatzung des Notarztwagens wollten die beiden Kommissare überreden, mit ins Krankenhaus zu fahren, doch beide lehnten ab. Der Arzt betastete zumindest Kevins Nacken und sagte: "Das könnte ein Schleudertrauma sein. An ihrer Stelle würde ich das sicherheitshalber untersuchen lassen, damit keine Wirbel angebrochen sind." Kevin versprach, dass er heute nachmittag bei seinen Orthopäden gehen würde, um sich checken zu lassen, und Ben grinste bereits. Als ob... beide unterschrieben eine Erklärung auf eigene Gefahr nicht ins Krankenhaus zu fahren, und organisierten über einen Kollegen die Rückfahrt zur Dienststelle.


    Als die beiden, ungewohnterweise, auf der Rückbank eines Streifenwagens saßen um zurück zur Dienststelle zu fahren, meinte Kevin: "Ich fahre dann nachher gleich zum Arzt." Nun war Bens Gesichtsausdruck nicht belustigt, sondern eher überrascht, denn so kannte er seinen Partner nicht. Während Ermittlungen, nach Unfällen oder sonstigen Verletzungen, musste man Kevin eigentlich mit Waffengewalt zum Arzt bringen. Semir und Ben waren da nicht anders gestrickt. "Ist es so schlimm?", fragte Ben und der Blick, der ihn in diesem Moment von Kevin traf, war ihm unheimlich. Es war kein böser Ausdruck in den Augen, eher etwas... Kaltes... skrupelloses. "Du hast doch gehört... mit einem Schleudertrauma ist nicht zu spaßen. Vielleicht brauch ich einen Krankenschein."
    Diese Worte waren nun wirklich völlig ungewöhnlich. Tat ihm der Nacken wirklich so weh? Aber warum ist der dann nicht gleich mit dem Krankenwagen gefahren? "Wenn ich jedes Mal bei einem Schleudertrauma nen Krankenschein geholt hätte, könnte ich schon fast in Rente gehen.", meinte er und versuchte ein wenig, die betrückend wirkende Stimmung im Streifenwagen zu lockern, was zumindest bei dem Kollegen am Steuer für einen Lacher sorgte. "Aber du kennst deinen Körper besser als ich... du musst das selbst wissen.", betonte Kevins Partner nochmal, weil er keinesfalls seinen Freund zu etwas überreden wollte. Sollte es wirklich Haarrisse an der Wirbelsäule geben wäre der nächste Sturz oder Unfall ein sicherer Weg zum Rollstuhl. Ben selbst redete sich immer wieder ein, nach dem nächsten Unfall sich wenigstens durchchecken zu lassen. Doch meist trieb der Fall oder die Zeit, so dass es vertagt und später vergessen wurde.


    Der Streifenwagen bog die Abfahrt zur Dienststelle ab und ließ die beiden Polizisten am Parkplatz raus. "Danke fürs Mitnehmen.", sagte Ben dem Kollegen, der zu einem ganz anderen Polizeibezirk gehörte, nahe der holländischen Grenze. Der Kollege gab noch ein Handzeichen zum Abschied, bevor er wendete und wieder zurück zur Autobahn fuhr, während Kevin und Ben das Gebäude betraten und auf dem Flur Kevin auf die Toilette abbog. Ben ging zwei Schritte weiter, bis er plötzlich stehen blieb. Die Erkenntnis, die in ihm plötzlich aufkam, traf ihn wie ein Blitz. Wobei es noch keine gesicherte Erkenntnis war, eher eine Vermutung... ein Verdacht, der sich aber in seinem Kopf so schnell erhärtete und zu einer gefühlten Gewissheit wurde, dass sich seine Fäuste ballten.
    Für einige Sekunden blieb er wie angewurzelt im Flur stehen. Wenn ihn jemand beobachten würde, würde man meinen, er überlegte ob er nun zur Toilette müsste, oder nicht. Doch er war noch nicht auf der Höhe des Großraumbüros und auf dem Flur war auch gerade keiner. Er drehte um und ging mit schnellen und sicheren Schritten wieder zurück und trat ebenfalls in den Vorraum der Toiletten ein.


    Kevin stand am Waschbecken und trocknete sich gerade das Gesicht ab, scheinbar musste er nicht zur Toilette sondern säuberte sich ein wenig die Schnittwunde im Gesicht. Ben verlor keinerlei Zeit, sondern konfrontierte seinen Partner sofort mit seinem Verdacht. "Du willst krank machen, um nach Kolumbien zu fliegen, stimmts?" Kevin sah Ben nicht an. Seine Bewegung, das Papiertuch über seine Haut im Gesicht zu streichen, unterbrach er für einen Augenblick und sah starr in den Spiegel, während Ben nur einen Meter von ihm entfernt stand und ihn von der Seite her anblickte. "Du weißt genau, dass die Chefin dir jetzt keinen Urlaub geben würde während des Mordfalls. Der Unfall kommt dir gerade recht." Wieder wurde er von dem, diesmal ironischen, fast schon sarkastisch abwertenden Blick Kevins, ein wenig erschrocken. "Genau... und ich war es auch, der uns in den Reifen geschossen hat."
    Kevins Überheblichkeit machte Ben innerlich rasend, auch wenn er äusserlich noch die Fassung behielt. Doch seine linke Hand, die er auf das Waschbecken gestützt hatte, verkrampfte sich um den runden Rand und seine Lippen pressten sich aufeinander. "Also stimmt es? Du nutzt einen Krankenschein aus um nach Bogota zu fliegen und Annie zu suchen?", fragte er nochmal mit leicht zitternder Stimme. Er wollte eine klare Antwort von Kevin haben. "Das ist meine Sache.", sagte der nur ruhig.


    Semir hatte gerade einen Funkspruch abgegeben und verspürte Durst. Er sagte Hotte Bescheid, dass der kurz auf den Funk achtgab und machte sich auf den Weg zur Kaffeeküche, wo er auch an den Toiletten vorbeikam. Die Tür zum Vorraum war nur angelehnt, und der erfahrene Polizist konnte hinter der Tür eine, ihm wohlbekannte Stimme vernehmen... nanu, warum waren die beiden denn schon wieder da? Die sollten doch erst am Nachmittag zurückkommen. Den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, wollte Semir schon die Tür aufdrücken, doch der Inhalt des Gespräches hielt ihn davon ab. Er hörte sofort, dass die Stimmung zwischen den beiden Männern nicht gut war, und obwohl es ihm widerstrebte, sie zu belauschen, so hielt ihn ein innerer Widerstand davon ab, die Tür zu öffnen... vor allem, als sein eigener Name fiel.
    "Nein Kevin... das ist es nicht.", sagte Ben erregt und zeigte mit dem Finger auf seinen Kollegen, der sich mittlerweile vom Spiegel weggedreht hatte und sich Ben zu wandte. "Das ist auch Semirs Sache. Was willst du ihm denn sagen, hm? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht?" Kevin schüttelte den Kopf. Die Sache war eigentlich spontan, denn mit einem Unfall konnte ja keiner rechnen. "Semir braucht von der ganzen Sache nichts zu wissen. Das wäre für ihn sowieso das Beste."


    Bens Gesicht entglitt nun zu einem fassungslosen Ausdruck. "Das ist nicht dein Ernst...", sagte er nur ein wenig leiser, und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. "Du willst ihn anlügen? Du willst ihm nicht mal sagen, dass du nach Kolumbien fliegst um die Frau zu suchen, die Semir fast das Leben gekostet hat? Die auch dran schuld ist, dass er zu einer Psychologin muss, weil es ihm so schlecht geht? Die nicht über ihren ideologischen Schatten springen konnte und geschwiegen hat, obwohl sie wusste, wo die Sturmfront ihn versteckt hielt?" Im Laufe der Fragen wurde Bens Stimme immer lauter und erregter, die Situation drohte immer mehr zu eskalieren. "Ja, genau das will ich. Und ich glaube, dass das für Semir auch besser ist.", sagte Kevin, und seine verdammte Ruhe in seiner Stimme brachte Ben immer weiter auf die Palme.
    "Ey Kevin, du raffst es einfach nicht, oder? Du verstehst einfach nicht was Vertrauen heißt.", sagte der Polizist mit der Wuschelfrisur fassungslos. Er konnte es einfach nicht verstehen, dass sein Partner immer den Weg über das Misstrauen ging, das Verheimlichen. "Vertrauen heißt, dass man sich die Wahrheit sagt. Auch wenn es unbequem ist, verdammt! Auch wenn Semir damit nicht einverstanden ist, genauso wenig wie ich. Aber damit musst du klar kommen. Du kannst doch nicht dein Leben lang deine Freunde anlügen." Er spürte, wie sein Herz vor Erregung schneller schlug. "Wenn du es verantworten kannst, Semir jetzt damit zu belasten, wo er noch nicht gefestigt ist... dann erzähls ihm.", ging nun Kevin in die Offensive und es fühlte sich an, als würde er damit Ben die Verantwortung über die Wahrheit aufbinden, was den noch weiter in seiner Adrenalinskala steigen ließ. "Ich werde das nicht verantworten, und deshalb sage ich ihm auch nichts. Manchmal ist es besser, einfach zu schweigen. Und was Annie angeht...", für einen kurzen Moment unterbrach Kevin seinen, für ihn ungewohnten, Redeschwall und schien sich kurz an seine Alpträume zu erinnern... an Alpträume, die er nicht mehr hatte seit Janines Mörder tot war "... ich kann nicht anders. Ich muss sie suchen." Ben spürte, dass es scheinbar nicht mal Kevins freier Wille war... zumindest nicht seine Überzeugung.


    Doch dazu konnte Ben nichts mehr sagen... denn er hörte nur, wie die Tür hinter ihm aufschwang, er sah Kevins Blick an Ben vorbei auf die Person, die dort im Türrahmen stand. Und erst, als der Polizist selbst sich umdrehte, denn er hatte die Tür im Rücken, konnte er in die fassungslosen braunen Augen seines Partners blicken. "Semir...", sagte er überrascht und spürte, wie der Boden unter ihm wankte. Er hatte mitgehört... natürlich hatte er mitgehört, den sein Blick drückte alles mögliche aus... Unverständnis... Wut... Fassungslosigkeit... Traurigkeit. Und sein Blick war in erster Linie auf Kevin gerichtet. "Das tust du nicht wirklich...", sagte er nur tonlos.
    Kevin fühlte sich ans Krankenhaus erinnert... als Ben unglücklicherweise von Kevins Vergangenheit sprach und die Chefin übersah. Doch jetzt spürte er selbst, wie wenig sein Kollege damals dafür konnte, dass die Chefin etwas mitbekam. Es ging so schnell dass man redete, was andere nicht wissen sollten. Und diesmal hatte er selbst auch Dinge erwähnt, die nicht für Semirs Ohren waren. Der musste sich nun an der Türklinke festhalten, dass seine Beine nicht nachgaben und der erfahrene Kommissar spürte, wie seine Hände zittern, wie sein Adrenalin stieg und wie ein beinahe unbändiger Zorn auf Annie und Kevin in ihm aufkam...

    Dienststelle - 10:45 Uhr


    Es fühlte sich gut an, den BMW wieder auf seinen Parkplatz vor dem Dienststellengebäude zu stellen. Es war anders, als wenn man nach einem längeren Urlaub wieder arbeiten ging, man der freien schönen Zeit hinterher trauerte und sich nur mit anhand der Gedanken, die lieben Kollegen wieder zu sehen, irgendwie wieder mit der Arbeit anfreunden konnte. Es war anders, als wenn man nach einer Krankheit wieder arbeiten ging, die je nachdem wie unangenehm sie war, mit gemischten Gefühlen zur Arbeit ging. Semir war die Arbeit dann immer lieber je unangenehmer die Krankheit war. Als er wegen eines angeschossenen Oberschenkels zu Hause bleiben musste, war es herrlich... von leichten Schmerzen abgesehen lag er zu Hause auf der Couch, ließ sich von Andrea bedienen, er konnte essen und trinken was er wollte. Als er allerdings wegen Zahnschmerzen zu Hause bleiben musste, wünschte er sich nichts sehnlicher, als die Schmerzen gegen Arbeit einzutauschen, ganz davon abgesehen dass er nicht schlafen konnte und er nur Suppe zu sich nehmen konnte. Nein, das Gefühl jetzt war anders. Es war befreiend, es war wie ein kleiner Neuanfang. Und das, nachdem Semir gerade eben nochmal eine besondere Prüfung hinter sich bringen musste, bevor er sich auf den Weg machte.


    Er wollte den Gedanken nicht mit auf die Dienststelle nehmen, den Gedanken daran, dass er das unvermeidliche eh heute abend tun musste. Semir ging ins Badezimmer seines Hauses und sah in den Spiegel. Die müden Augen waren gewichen, ihn blickten wieder die wachen, aufmerksamen und warmen Augen an, die er gewöhnt war. Die Schatten darunter waren auch verschwunden, und er hatte das Gefühl, dass sein Bart nicht mehr ganz so grau war, wie noch vor wenigen Tagen. Das einzige, was ihm an seinem Erscheinungsbild immer noch ein Dorn im Auge war, war der Grund für sein Unwohlsein... das weiße, quadratische Pflaster an seinem Hals.
    Er musste es wechseln, denn es begann wieder zu jucken. Die Entzündung war mit der Besserung seines seelischen Zustandes auch zurück gegangen, und obwohl das Pflaster nur die Narbe verdeckte, wurde es mit der Zeit durchs Waschen unansehnlich. Der Polizist stand vor dem Spiegel und sein Herz schlug laut gegen den Brustkorb. Er hatte es seit gestern konsequent vermieden an diesen Abend zurück zu denken, und es fiel ihm überraschend leicht. Doch jetzt kehrten die Bilder des Messers zurück, das die obere Hautschicht an seinem Hals durchtrennte, als die rot leuchtende Narbe am Hals ihn entgegen strahlte.


    Die Erinnerung an das Schneiden war nicht das Schlimmste, nichts was ihn aus der Bahn befördert hätte... aber mit dieser Erinnerung kamen auch andere Erinnerungen, die er nicht mochte. Er hatte sich das neue Pflaster bereits zurecht gelegt, so dass er nicht lange mit der Narbe konfrontiert wurde. Doch er hielt für einen Moment inne, starrte auf das Gebilde an seinem Hals und strich mit den Fingern darüber. Semir spürte sein Zittern, er spürte seinen Herzschlag, und er spürte wie es ihm heiß wurde, obwohl sich seine Finger auf der Haut eiskalt anfühlten. "Ihr werdet mich nicht besiegen...", murmelte er leise und spürte auf einmal eine Stärke in sich aufsteigen. Ein tiefes Ein- und Ausatmen, ein letzter Blick, und dann verschwand die Narbe wieder unter einem frischen Pflaster.
    Daran dachte der Polizist gerade, als er über den freigeschaufelten Pfad, der vom Parkplatz zum Eingang der Dienststelle führte, schritt und endlich wieder in der vertrauten Umgebung war. Ja, es war ein anderes Gefühl, als aus dem Urlaub zurück zu kehren. Die Kollegen lächelten und freuten sich, Hotte umarmte ihn sogar und Andrea war überrascht. "Kommst du mich besuchen?", fragte sie nach dem Begrüßungskuss. "Nein, ich komme arbeiten.", und Semir konnte es nicht fassen dass dieser Satz mal eine so große Zufriedenheit in ihm auslöste.


    Die Chefin kam ebenfalls, als sie Semir erblickte, schüttelte seine Hand und sagte: "Ich freue mich, dass sie wieder da sind. Wir haben ja soweit alles beschlossen. Herzberger hat sie schon in den Dienstplan mit aufgenommen." Im Dienstplan standen eigentlich ausschließlich die Streifenbeamten der Dienststelle drin. Semir, Ben und Kevin hatten zwar ebenfalls Streifenfahrten zu erledigen, konnten sich diese aber selbst einteilen. Andrea als Sekretärin war sowieso immer im Büro. Aber für Jenny, Hotte und Dieter sowie den Rest der Belegschaft galt der Dienstplan, in dem genau festgelegt war, wer wann welche Streife mit wem zusammenfuhr, wer an einem Tag Bürodienst hatte und wer den Funk koordinierte. Seit über 25 Jahren oblag die Planung und Überwachung des Dienstplanes Horst Herzberger, der dies mit der nötigen harten Hand aber einer Menge Flexibilität und Fairness führte.
    Für Semir war es ein neues Gefühl, denn in gewisser Weise war Hotte nun eine Art Vorgesetzter für ihn, was der auch mit einem väterlichen Schmunzeln sofort kommentierte: "Dann wollen wir mal sehen, dass du bei mir auch in der Spur läufst.", und Semir verstand sofort Herzbergers Witz dahinter. Nicht umsonst arbeiteten die beiden jetzt schon fast 20 Jahre miteinander.


    Hotte hatte Semir für den Funk eingeteilt, der die Koordination unter den Streifenwagen regeln sollte. Gab es über die Notrufnummer eine Unfallmeldung oder ähnliches, gab die Beamtin vom Telefon diese Meldung an Semir weiter, der dann die jeweiligen auf Streife befindlichen Kollegen informierte. In seiner Ausbildung auf der Wache hatte Semir diese Aufgabe selbstverständlich schon übernommen, bei der Autobahnpolizei noch nie, hier kam er sofort als Kommissar her. An einem Monitor konnte Semir die, mit GPS überwachten Dienstwagen erkennen, um gleich zu überblicken welcher Wagen am ehesten an einen Unfallort ist. "Früher mussten sich die Wagen immer im 30-Minuten-Abstand melden, dann wurde an einer Karte mit Stecknadeln die Position bestimmt.", erklärte Hotte und murmelte: "Die gute alte Zeit." "Ich weiß, Hotte... ich war damals auch schon da.", meinte Semir zwinkernd.
    Langweilig wurde ihm nicht, denn er hörte immer sofort, wenn ein Funkspruch einging, so dass er auch mal ins Büro zu Andrea und Bonrath gehen konnte, wenn es ruhig war. Ansonsten dirigierte er seine Kollegen an Unfallstellen, an Baustellen wo es Probleme gab und an eine Schlägerei auf seinem Rastplatz. Nur Ben und Kevin konnte er nicht erreichen, weil sie sich ausserhalb des Funknetzes auf dem Weg nach Holland befanden...

    Semir's Haus - 10:15 Uhr


    Semir hatte sich sehr gefreut, als der Anruf der Chefin kam. Er war gerade dabei, seine für heute selbst gestellten Aufgaben zu erledigen, als sein Handy mit lautem Klingeln auf sich aufmerksam machte. Bei der Suche nach Aufgaben hatte ihm seine Frau Andrea freundlicherweise unter die Arme gegriffen und ihm am Morgen einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen, auf dem stand: "Guten Morgen, mein Schatz. Hier deine Tagesaufgaben: Wäsche waschen, Küche aufräumen, deinen Arbeitskeller aufräumen. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Kuss, Andrea." Der erfahrene Polizist musste ein wenig amüsiert grinsen, ob der Aufgabenstellung. Er kam sich vor wie in einer billigen TV-Sendung, Big Brother oder so, wo er Tagesaufgaben gestellt bekam um diese zu erfüllen.
    Doch er war dankbar dafür. Er hatte etwas zu tun und würde nicht wieder anfangen zu grübeln, über Dinge, die er sowieso nicht ändern könne. Morgen hatte er wieder einen Termin bei der Polizei-Psychologin und er nahm sich fest vor, diesmal von sich aus zu reden. Er wollte von dem Vorfall im Supermarkt erzählen, von der Wut gegenüber diesem Kaufhausdetektiv und seiner Beherrschung, die ihn zurückhielt wieder eine Dummheit zu machen. Und dass er sich danach richtig gut gefühlt hatte.


    Er war gerade dabei den Korb mit der trockenen Wäsche aus dem Trockner ins Wohnzimmer zu tragen, als sein Handy läutete. Er hörte die Stimme der Chefin. "Semir, wie gehts ihnen?" "Danke, mir geht es viel besser als die Tage. Das Gespräch mit der Psychologin hat mir sehr geholfen.", sagte Semir und ließ sich aufs Sofa fallen. "Das freut mich zu hören. Ben hat mir auch schon erzählt, dass sie auf einem guten Weg sind." "Ben?", fragte der Polizist etwas überrascht, hatte Ben doch noch zu ihm gesagt, dass er nicht unbedingt überall rumerzählen sollte, dass er und Kevin in Semirs Therapiesitzung geplatzt waren... weil sie nicht wussten, ob die Chefin darauf positiv oder negativ reagieren würde. "Ja. Er hat mir im dem Zuge auch vorgeschlagen... naja, sie vielleicht doch schon jetzt aus dem Krankenschein zu holen."
    Semir hätte Ben auf Knien danken können. Sein jüngerer Kollege wusste genau wie Semir tickte, wusste genau dass er Aufgaben brauchte und wusste genau, wie sehr der Familienvater seine Arbeit liebte. Abgelenkt sein durch seine Arbeit wäre viel besser für ihn, als abgelenkt sein durch Hausarbeit oder Aufräumen. Doch sofort kam ihm auch der Zwischenfall bei der Verkehrskontrolle in den Sinn... sein Kontrollverlust, die Prügelei, die Androhung der Suspendierung durch die Chefin. Aber direkt danach sprach sofort der Mut zu ihm... er hatte gestern die Kontrolle behalten, dann wird er sie auch jetzt behalten.


    "Chefin, das wäre großartig.", sagte der Polizist ehrlich mit einem breiten Grinsen. "Aber nur unter einer Bediengung.", ermahnte ihn die Chefin sofort, und Semir meinte, er könne ihren gehobenen Zeigefinger durch das Telefon sehen. "Sie machen erst einmal Innendienst. NUR Innendienst. Keinen oder so wenig Kontakt zu unseren Kunden. So etwas wie vor zwei Wochen darf nicht noch einmal vorkommen." Natürlich machte sich auch die Chefin Sorgen darüber, dass Semir noch einmal die Kontrolle verlieren würde. Schließlich war sie für die Dienststelle verantwortlich, und einen weiteren Zwischenfall könnte sie kaum vor den ihrigen Vorgesetzten plausibel erklären... schon gar nicht, wenn es von einem Beamten ausgeht, der eigentlich genau deswegen krank geschrieben wurde.
    "Ich verspreche es. Es geht mir wirklich besser.", sagte Semir voll Überzeugung. Er hätte der Chefin gerne von dem Vorfall im Supermarkt erzählt, quasi als Beweis dafür, dass er sich wieder im Griff hatte, aber er unterließ es. Er wollte, dass Anna Engelhardt ihm auch so vertraute. Er wollte, dass sie von sich aus sagte: "Ja, Semir. Sie schaffen das und ich weiß das." Ihre Worte klangen zwar anders, aber dennoch waren sie für Semir eine Wohltat. "Wenn sie wollen, können sie gleich vorbeikommen." Semir bedankte sich bei seiner langjährigen Vorgesetzten und machte sich sofort auf den Weg.


    Autobahn - 10:25 Uhr


    Es war mucksmäuschenstill... als hätte die Welt kurz angehalten, alle Geräusche wären verstummt. Bei Unfällen lief alles ab wie Zeitlupe, so auch jetzt. Das Abheben, der Überschlag, der Aufschlag auf den Boden und das zerreißen der Airbags war für Ben, als würde er die Wiedergabe-Taste seines Blu-Ray-Brenners drücken und einen Film gucken. Nur, dass es wehtat... es riss am Genick, der Airbag klatschte seitlich gegen seine Schulter und es dauerte gefühlte Minuten, bis der Wagen ruhig auf der Seite liegen blieb. Für einen Moment musste sich der Polizist orientieren... wo war oben und unten, das Lenkrad war noch vor ihm, okay, die Frontscheibe mit Rissen durchsetzt und blind. Rauch vom Airbag und vom Motorraum, dass durch die Kühlschlitze nach innen trat, beunruhigte ihn... Feuer? Gefahr? Als nächstes kontrollierte er seine Gliedmaßen, okay, Arme und Beine konnte er noch bewegen. Der Sicherheitsgurt schnitt ihm gegen den Körper, denn der hielt ihn davon ab vom Sitz nach unten auf seinen Beifahrer zu rutschen, da man auf der Beifahrertür lag.
    "Kevin?", war dann die nächste Reaktion, als er nach unten sah, und versuchte durch Rauch und hängende weiße Airbags seinen Kollegen zu lokalisieren? "Ja... ich bin noch in einem Stück.", kam die monotone Stimme seines Partners von weiter unten herauf, und Ben atmete auf. Immerhin...


    Mit leisem Stöhnen versuchte er, die Fahrertür nach oben zu stemmen, was ihm erst im zweiten Anlauf gelang, denn durch den Überschlag hatte sie sich leicht verformt. "Vorsicht da unten...", meinte er noch und wollt verhindern, mit den Füßen nach Kevin zu treten, als er sich mit einer Hand an der B-Säule festklammerte, mit der anderen Hand den Sicherheitsgurt löste, und sich dann mit aller Kraft in den Oberarmen versuchte, aus dem Wagen zu ziehen. Die Beine fielen, als er sie zwischen Pedale und Sitz aus der Fahrgastzelle gezogen hatte, nach unten in Kevins Richtung, der aber keinen Schuh von Ben abbekam. Er selbst lag mit dem Gesicht und den Oberkörper auf der geborstenen Seitenscheibe, einige Splitter hatten sich in seinen Mantelarm gedrückt und er konnte die feuchte Erde riechen.
    Ben konnte mehrere Menschen erkennen, die die Böschung hinunterliefen um zu helfen. Sie hatten offenbar den Unfall beobachtet und am Seitenstreifen angehalten. Einer hatte bereits ein Handy am Ohr, und schien die Polizei zu benachrichtigen. Der Polizist zog sich aus eigener Kraft aus dem Auto und setzte sich auf die B-Säule um nach unten zu sehen, ob er Kevin helfen müsste. Erst jetzt erkannte er, dass er an der Hand blutete. Sein Partner brauchte seine Hilfe nicht, er hatte sich abgegurtet, die Beine angezogen um sie unter dem Handschuhfach heraus zu ziehen und trat dann einmal, zweimal gegen die zersplitterte Frontscheibe, die leicht aus der Verankerung an den Seiten brach. So konnte Kevin ohne großen Kraftakt sich aus dem umgekippten Auto befreien und sich auf dem nassen Acker aufrichten.


    Ben glitt vom Wagen und kam zu seinem Partner, der sich den Dreck von der Jeans klopfte und einen kleinen Schnitt an der Wange aufwies. "Alles klar?", fragte der Polizist trotzdem nochmal nach und Kevin nickte. "Was war das?" "Keine Ahnung... ich hab nur gemerkt, wie der Reifen geplatzt ist und das Auto auf einmal herumgerissen wurde." Die beiden Polizisten sahen beide gleichzeitig zu dem Reifen, der bei dem, auf der Seite liegenden Wagen, jetzt natürlich oberhalb war. Ben beruhigte währenddessen die Leute, die herankamen, dass alles okay war und bedankte sich, dass einer bereits die Polizei benachrichtigt hatte. Sie waren schon kurz vor der niederländischen Grenze, so dass er sich nicht sicher war, ob die eigene PAST verständigt wurde.
    Die beiden Polizisten hatten den Reifen fast auf Augenhöhe. Er war der Länge nach aufgerissen, etwas verbogen und einige Gummiteile fehlten. "Der Reifen kann ja nicht einfach so platzen... bist du irgendwo drüber gefahren?", fragte Kevin und griff sich an den Hals, weil er einen leichten Schmerz verspürte. "Ne...", war nur die gedankenverlorene Antwort seines Partners, der eine Hand in die aufgerissene Lauffläche steckte und bis zum Innenteil der Felge greifen konnte. Er tastete im Inneren des Reifens, als würde er etwas suchen, und förderte tatsächlich etwas zu Tage... eine anspitzte Gewehrkugel, die genauso oder ähnlich aussah, wie die die sie am Tatort des Mordes an Björn Bachmann gefunden hatten...

    Autobahn - 10:00 Uhr


    Kevin hatte den Beifahrersitz so weit nach hinten geschoben, wie es die Schiebeleiste des Mercedes es zuließ, die Lehne komplett nach hinten gedreht und die Arme vor der Brust verschränkt. Er lag mehr in dem Auto neben Ben als dass er saß, und hatte nun schon seit einer halben Stunde die Augen geschlossen, während sein Partner neben ihm den Dienstwagen sicher durch den nicht weniger werdenden Berufsverkehr in Richtung holländischer Grenze steuerte. "Nicht gut geschlafen, hmm?", fragte er irgendwann herüber, weil er bemerkte dass Kevin sich ständig bewegte, ständig räusperte und scheinbar, trotz bleiernder Müdigkeit nicht mal für zwei Stunden in einen Dämmerschlaf finden wollte.
    Als Antwort kam nur ein verneintes "hmhmm" von Kevin herüber, der auf ausladende Konversation irgendwie nur sehr wenig Lust verspürte. Er drehte den Kopf zum Seitenfenster und öffnete die Augen für eine zeitlang, sah wie schneebehangene kahle Bäume an ihm vorbeihuschten, sah den wabbernden Nebel zwischen den Stämmen, Autobahnschilder, an denen noch Schnee von der Nacht klebte. Die Straße selbst war zwar frei, aber nass und die Sicht war schlecht.


    Ben hätte musste gar nicht nach dem Grund für Kevins Schlaflosigkeit fragen. Natürlich machte er sich Gedanken um Annie, natürlich überlegte er nach Kolumbien zu fliegen, um seine Ex-Freundin zu suchen. Nur, verstehen konnte er es nicht. Er konnte einfach nicht nachvollziehen, dass sein Partner überhaupt Gedanken daran verschwendete. Ja, er stand ihr nahe, das verstand er ja auch... aber näher als Semir? Konnte sie ihm wichtiger sein, als Semir? Er verstand es einfach nicht.
    "Was würdest du denn machen...", begann Ben vorsichtig, und Kevin zog die Stirn in Falten, was Ben natürlich nicht sah, da sein Partner immer noch den Kopf in Richtung Seitenfenster gedreht hatte. "...wenn Annie damals verraten hätte, welchen Weg du und Janine nehmen... und jetzt in Schwierigkeiten wäre?" Er wusste sehr wohl um das Explosionspotential dieser Frage, doch ihm ging das ständige Schweigen seines Partners auf die Nerven. Er musste doch mal klar Stellung beziehen, wie er jetzt zu Annie stand. Seine "Annie-ist-mir-egal" - Haltung nahm der Kommissar seinem Freund nicht ab, egal wie oft er es wiederholte.


    Kevin hörte die Frage und die Frage bewirkte zumindest, dass er seinen Kopf in Richtung Ben drehte. Er schwankte innerlich zwischen einer provokanten oder ausweichenden Antwort. Bens Frage war nicht unverfroren noch wollte er damit provozieren... er schien es einfach nicht zu verstehen, dass Kevin noch Sympathien für jemanden hegte, der mitverantwortlich war für Semirs Zustand. "Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Semir ist am Leben.", meinte er mit seiner monotonen Stimmlage. "Aber nicht, wenn wir nicht rechtzeitig gekommen wären." Der kunge Polizist konnte Ben nicht mal widersprechen. Ja, vermutlich wäre Semir dann drauf gegangen. Und Annie hätte die gleiche Verräterrolle gespielt, wie das damalige Gangmitglied, dass Peter Becker verraten hatte, welchen Weg Kevin und Janine nach Hause nehmen würden.
    "Was willst du denn jetzt von mir hören?", fragte Kevin nun in Richtung Ben. "Kevin, ich finds einfach scheisse dass du darüber nachdenkst, Annie zu helfen. Sie hat dich wie Dreck behandelt, als sie herausgekriegt hat, dass du ein Polizist bist, sie hätte beinahe eine Gruppe gewalttätiger Punks auf dich gehetzt, sie hat sich an die Nazis verraten und sie hat Semir am langen Arm verhungern lassen. Ich finds einfach beschissen, fertig." Ben sagte seine Gefühle gerade heraus, und es fühlte sich irgendwie nicht falsch an, sondern verdammt richtig. Die Tage redete er immer diplomatisch drumherum, diesmal sagte er, was er fühlte. Und er spürte Kevins Blick, auch als er selbst kurz mal herüber zu seinem Partner sah, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.


    "Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich ihr helfe", sagte Kevin nur ruhig, und entschied sich gegen eine Eskalation. "Achja... und deine Schlaflosigkeit und schlechte Laune liegt am Winterwetter, oder was?" Verdammt, Ben konnte einem auf den Sack gehen, wenn er recht hatte. Kevin entschied sich immer anderen gegenüber möglichst verschlossen und unnahbar zu sein. Er konnte anderen perfekt etwas vorspielen, doch seit einem Jahr gab es nun drei Menschen, Semir, Ben und Jenny, für die er wie ein offenes Buch war, weil er sich ihnen geöffnet hatte. Einerseits war das nicht schlecht, weil er endlich das Gefühl hatte, dass sich jemand "um ihn kümmerte", andererseits war ihm ihnen gegenüber dieses "Unnahbare" völlig abhanden gekommen. Natürlich hatte Ben recht... natürlich waren es die Gedanken um Annie, die ihn wie einen Junkie auf Entzug wirken ließen. "Du verstehst es nicht.", meinte er nur ruhig und schüttelte den Kopf. Ben kapierte es nicht, dass es für Kevin ein Gefühl des Versagens war, wenn er Annie im Stich ließ. Ein Gefühl, dass er damals bei Janine ebenfalls hatte, und das durch den Alptraum heute Nacht bestärkt wurde. "Dann erklär es mir doch endlich. Rede mit mir!", verlangte sein Partner, der das Gefühl eines Deja-Vues hatte... der verstockte schweigsame Junge, der nichts und niemanden hinter seine Fassade blicken ließ. Es musste wohl erst wieder etwas Schlimmes passieren, bevor Kevin in dieser Hinsicht vernünftig wurde. Ben überlegte, ob Semir der Schlüssel dazu war... wenn Semir wüsste, dass Kevin Annie helfen wollte, und dann auf Kevin einwirkte. Aber er konnte die Reaktion Semirs überhaupt nicht abschätzen, vor allem nicht in seinem, noch labilen psychischen Zustand. Von einem waisen Semir, der mit Kevin redete, bis zu einem Wüterich war da alles möglich. Das war Ben zu riskant.


    Kevin blieb eine Antwort schuldig... genauer genommen hatte er keine Zeit mehr eine zu geben. Denn das Krachen eines Schusses, das von weit entfernt klang wurde nur Sekundenbruchteile danach von dem Krachen eines platzenden Vorderreifens abgelöst. Kevin zuckte instinktiv ob des Geräusches zusammen und fuhr sofort aus seiner halb liegenden Position in die Höhe, während Ben keinerlei Gelegenheit hatte, zusammen zu zucken. Denn durch das Platzen des Vorderreifens auf der linken Seite wurde das Auto herumgerissen, was sich sofort an einem kräftigen Ruck im Lenkrad, das Ben sofort mit zwei Händen umklammerte, bemerkbar machte.
    Die nasse rutschige Fahrbahn tat ein Übriges dazu, dass Ben den schlingernden Wagen, trotz Bremsen nicht mehr unter Kontrolle bekam. "Scheisse!", konnte der Polizist noch vom Beifahrersitz hören, als der Wagen auf das Ende der Leitplanke zu steuerte, weil Ben es gerade noch schaffte, einem Kleinwagen auszuweichen. Wie von einem Katapult hob der Mercedes über das Plankenende ab, drehte sich um die Längsachse herum und schlug, aufgrund des höheren Gewichtes mit der Vorderachse auf die abschüssige Böschung hinter der Leitplanke wieder auf. Mit einem lauten Knall öffneten sich sämtliche Airbags im Wageninneren, während die ersten Metallteile durch die Gegend flogen, und der Wagen aufgrund der Böschung eine weitere Rolle am Boden drehte, bis er auf dem schneebedeckten Acker unterhalb der Böschung auf der Beifahrerseite liegend zum Stillstand kam...

    Dienststelle - 8:00 Uhr


    Ben war das gesamte Gespräch vorher im Kopf einmal durchgegangen... einmal, zweimal, dreimal. Er fühlte sich, als müsse er in der Schule ein Referat halten oder zu einem Vorstellungsgespräch für einen neuen Job, als er mit den Fingerknöcheln an die Glastür von Anna Engelhardt klopfte, die daraufhin den Polizisten sofort herein bat. Er folgte der Anweisung, wünschte seiner Vorgesetztin einen guten Morgen und setzte sich auf den Stuhl, der Annas Schreibtisch gegenüber stand. "Ben... was kann ich für sie tun?", fragte sie freundlich und sah durch einen leichten Dampfschleier ihrer Tasse Kaffee hindurch zu ihrem Mitarbeiter. "Ähm, Chefin, ich komme mit einem Anliegen.", begann er ein wenig zögerlich und rieb die Handflächen aufeinander.
    Anna Engelhardt kam diese leichte Nervosität etwas verdächtig vor, das war sie von Ben nicht gewohnt. Ihre Mitarbeiter wussten alle, dass sie bei ihr frei von der Seele weg reden konnten, wenn es irgendwelche Anliegen gab, und das erwartete sie jetzt auch von Ben. "Ich habe mich gestern lange mit Semir unterhalten... und war kurz bei ihm in der Therapiestunde." Die Chefin legte die Stirn ein wenig in Falten. "Sie waren bei ihm in der Therapiestunde?", wiederholte sie ein wenig verwirrt und lehnte sich im Stuhl zurück. "Wir mussten ihm ein wenig auf die Sprünge helfen." Ben lachte dabei und in ihm kam erneut ein wenig Stolz auf, dass er diese Idee hatte, die seinem besten Freund geholfen hatte.


    "Jedenfalls finde ich, dass er wieder viel lockerer ist. Dass es ihm besser geht.", fuhr er fort und seine Chefin nickte lächelnd. "Das freut mich. Semir wird sich davon nicht unterkriegen lassen, nur diesmal braucht er eben ein wenig externe Hilfe.", sagte sie und sie wusste, von was sie sprach. Schließlich kannte sie Semir länger als alle anderen auf der Dienststelle, Hotte Herzberger mal ausgenommen. Und sie wusste, was Semir schon alles er- und überlebt hat, ohne große Schwächen zu zeigen. "Ja... genau... aber was er vor allem jetzt braucht, ist seine Arbeit.", kam Ben endlich auf den Punkt und beobachtete genau Frau Engelhardts Gesichtsregungen in diesem Moment. "Ich meine... es würde ihm noch mehr helfen, wenn er wieder was zu tun hätte. Die Psychologin hat gesagt, er müsse sich Aufgaben schaffen."
    Die Chefin wusste von Anfang an, als Ben begann von Semir zu reden, dass es in der Bitte gipfelte, Semirs Krankenstand vorzeitig zu beenden. Normalerweise hatte die Chefin keine Befugniss, Krankenscheine abzubrechen, allerdings hatte sie die Befugniss, Krankenscheine durchzusetzen, wenn sie der Meinung war, dass es dem Schutze ihres Mitarbeiters diene und vor allem, wenn es durch Krankheit eines Beamten zu Gefährdungen kam. Bonrath musste sie mal vor Jahren unter Androhung einer Suspendierung in den Krankenschein schicken, weil dieser eine so starke fiebrige Erkältung hatte, dass er nicht mehr dienstfähig war (was Bonrath damals nicht davon abhielt trotzdem einen Mordfall zu lösen.)


    "Ben, sie wissen doch was in den Wochen nach dieser Sache hier alles los war mit Semir.", sagte die Chefin mit geduldiger Stimme. Der Übergriff auf den pöbelnden Typen, den sie bei einer Verkehrskontrolle festgenommen hatten, seine Laune, seine Aggressivität. All das war nicht mehr zu verantworten gewesen. "Es wäre gut, wenn er noch zwei oder dreimal zur Psychologin geht, damit diese mir zumindest einen kleinen Bericht seiner Verfassung geben kann. Aber so... wie soll ich das vor meinen Vorgesetzten verantworten, wenn etwas mit ihm passiert aufgrund seines Zustandes." Die Argumentation leuchtete auch Ben ein, solange er mit dem Kopf dachte. Doch momentan dachte er mit dem Bauch, dachte er an seinen Freund, der zu Hause rumsaß und nicht wusste, was er tun sollte. Er wäre erst wieder glücklich, wenn er wieder arbeiten durfte.
    "Aber Chefin, ich weiß wie es ihm geht. Und ich behaupte, ich kann es bei Semir besser beurteilen als jede Diplom-Psychologin.", beharrte der Polizist, und die Chefin lachte bei der Vorstellung, dass Semir sich mal bei Ben auf die Psycho-Couch legen sollte. "Sie finden also, er macht einen gefestigteren Eindruck als vorher?", fragte sie vorsichtig und Ben nickte sofort. Dass er dabei ein wenig log, kehrte er unter den Tisch. Die letzten zweimal, als er Semir sah, war einmal bei seiner Beichte, was geschehen war inklusive des Zusammenbruchs, und danach bei der Psychologin. Dort hatte Ben wiederrum einen sehr guten Eindruck. "Lassen sie ihn doch wenigstens Büroarbeit machen. Damit er was zu tun hat. Er muss ja nicht mit raus fahren und Kontakt zur Kundschaft haben." Die Chefin verzog die Lippen ein wenig, als sie nachdachte, schloß kurz die Augen und nickte kurz: "Ich lasse es mir mal durch den Kopf gehen, okay?" Ben lächelte und bedankte sich. Er wusste, dass er sich auf seine Chefin verlassen konnte.


    Während des Gespräches trudelten im Großraumbüro Kevin und Jenny zusammen ein. Ein Lächeln gelang beiden nicht, Kevin war übermüdet denn nach dem Alptraum hatte er nicht mehr in den Schlaf gefunden. Jenny fühlte sich nicht wohl, sie hatte nichts gefrühstückt, wollte aber nicht schon wieder krank machen, nachdem es ihr gestern nachmittag und gestern abend wieder richtig gut ging. Vielleicht würde die Übelkeit später ebenfalls wieder verschwinden, so plötzlich wie sie gekommen war, sie schob dieses Unwohlsein auch ein bisschen auf die aufregende Nacht und die Sorgen, die sie sich um ihren Freund machte. "Wart ihr beide gestern feiern?", fragte Bonrath von seinem Platz aus, nachdem sie die Kollegen begrüßt hatten. Während Kevin die Antwort schuldig blieb, meinte Jenny süffisant lächelnd: "Klar... deshalb musst du mit Hotte auf Streife fahren bei dem netten Wetter.", wobei sie auf das unangenehme eisig kalte neblige Wetter draussen anspielte.
    Kevin sah kurz durch die Glasfront zum Büro der Chefin, wo er Ben im Stuhl sitzen sah und mit der Chefin redend. "Was macht Ben denn bei der Chefin?", fragte er Hotte eher beiläufig, und der sah sich auch kurz um. "Keine Ahnung. Aber er schien ein bisschen nervös zu sein. Vielleicht fragt er nach ner Gehaltserhöhung.", witzelte der dicke Polizist.


    Der junge Polizist kniff die Augen ein wenig zusammen, als er nochmals einen Blick auf die Szene warf. Er wusste nicht, woher sein Misstrauen rührte, aber spontan kam ihm in den Sinn, dass Ben gerade der Chefin davon erzählte, dass Kevin gestern die Handynummer von Annie orten ließ. Dieses Vorgehen war einerseits nicht erlaubt, und andererseits würde es auch sicher nicht der Chefin gefallen, wenn Kevin der Frau helfen würde, die mitverantwortlich dafür war, dass ihr bester Mitarbeiter momentan mental neben der Spur lief. Für den Gedanken an den Verrat hätte er sich einige Minuten später, als er im Büro saß und den ersten Kaffee durch die Maschine jagte, zwar ohrfeigen können, doch ganz verhindern konnte er ihn nicht.
    Wenige Minuten später kam Ben ins Büro, er lächelte und es war ihm nicht anzumerken, dass er gerade Kevin bei der Chefin angeschmiert hatte. Denn selbst wenn Ben so etwas getan hätte, wäre es ihm schwer gefallen, und er würde sich nicht drüber freuen. "Wie kann man am frühen Morgen so gut gelaunt sein?", fragte Kevin von Semirs Platz aus, und es war gleichzeitig eine verbundene Frage, was Ben denn bei der Chefin gemacht hatte. "Ja, wenn ich das Elend morgens im Spiegel betrachten müsste, hätte ich auch miese Laune.", war Bens Antwort darauf. Danach erzählte er kurz, was er mit der Chefin besprochen hatte, und als Kevin merkte, dass es nicht um ihn ging, war er einerseits beruhigt, andererseits fühlte er sich schlecht... er spürte, wie er von Ben weggerückt war innerlich, weil ihm ohne Zutun der Gedanke kam, er könne ihn an der Chefin verraten haben...

    Die Stimme, die er vernahm, war schrill und voller Angst. "Hilf mir, Kevin! Hilf mir!!!" Der junge Polizist lief durchs Dunkel, doch er hatte das Gefühl, dass die Tür, hinter der die Stimme schrie, ewig weit weg war und trotz seines Sprintes nicht näher kam. Er spürte sein Herz gegen den Brustkorb schlagen, er hörte das dumpfe Pochen aus seiner Brust. Der Flur vor ihm kam ihm vor wie ein langer dunkler Schlauch, von dem er nur Umrisse wahrnehmen konnte und er ständig Angst hatte, zu fallen oder an der Tür vorbei zu laufen. Die Schreie nach seinem Namen wurden immer lauter, immer verzweifelter, immer schriller. Es war Annie, die nach ihm rief, und deren Stimme dem Polizisten eine Gänsehaut auf den nackten Armen bescherte.
    Der Schweiß rann ihm aus den abstehenden Haaren, sein Atem rasselte und seine Lungen brannten. Er konnte die Schmerzen deutlich spüren, auch als er stolperte und fiel, nach oben sah und sich wieder stöhnend aufrappelte, um endlich diese verdammte Tür zu erreichen, die sich weit weg von ihm abzeichnete. Sie schien ihn anzuziehen, sie schien zu glühen und er musste sich einfach erreichen um Annie zu helfen, um Annie zu retten. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er nicht verhindern können, in dieses verfluchte Zimmer zu gehen, dass ihn anzog.


    Die Szene vor ihm erschien surreal, und er prallte von ihr zurück. Hilflos, ohne etwas in der Hand zu halten, was wie eine Waffe wirken konnte, stand er in dem möbellosen Raum, ausser Atem und entsetzt. Annie saß zusammengekauert an der Wand, ihre ehemals strahlend roten Haare waren stumpf und beinahe farblos. Ihr Gesicht war vor Angst verzerrt, ihr ganzer Leib zitterte und sie hatte die Beine dicht an den Körper gezogen. Zuerst konnte Kevin überhaupt nicht ausmachen, vor wem oder was die junge Frau solche entsetzliche Angst hatte, weshalb sie sich fürchtete und um Hilfe schrie. Erst als sein Blick nach rechts schweifte, schien der Grund ins Bild zu treten, was ihm den Atem nahm und die Knie weich werden ließ.
    Semir trat neben ihm, mit ausdruckslosem Blick in den Augen, seine Dienstwaffe in der Hand haltend. "Hilf mir, Kevin!!", schrie Annie erneut, als Semir langsam näher an die junge Frau herantrat und Kevin völlig unfähig war sich zu bewegen. Er spürte eine schreckliche Hilflosigkeit in sich aufsteigen, beinahe so als würde er schwer verletzt am Boden liegen, blutend mit zwei Stichwunden im Rücken und wehrlos anschauen musste, was passierte. Wie Semir, an dessen Hals glühend rot seine Swastika-Narbe prangte, die Waffe in Richtung der zusammengekauerten Annie hob und dabei, beinahe zynisch in Kevins Richtung sagte: "Ich muss doch meinen kleinen Bruder beschützen.", anspielend darauf, dass Kevin ihn vor langer Zeit mal als "großen Bruder" bezeichnet hatte, als Semir ihm einmal sehr half.


    "NEEEIN!" Kevins Ruf kam zu spät, und er konnte nichts tun, nicht eingreifen, nur zu sehen wie Semir zweimal, dreimal den Abzug der Waffe drückte, Annies Körper sich mehrmals aufbäumte, die junge Frau aufstöhnte um dann langsam, leblos an der Wand zur Seite zu rutschen. Mit blankem Entsetzen verfolgte Kevin diese Szene, unfähig einen Finger zu rühren. "Kevin!" Die Stimme war weit weg, als in dem Polizisten die Erkenntnis reifte, sich auf seinen Partner zu stürzen... doch es ging nicht. Er war wie gelähmt, vor Panik und Entsetzen als er auf den toten Körper starrte, Annies grüne Augen ihn anstarrten und unter ihr sich eine Blutlache langsam vergrößerte.
    Ohne etwas zu sehen spürte er, wie sich eine weitere Person hinter ihm manifestierte. Sie war ganz dicht an ihm, er konnte sie spüren, ihr ruhiges Atmen hören, ihre kleinen Hände plötzlich um ihn schlingend, ihre Lippen dicht an sein rechtes Ohr haltend. "Mörder...", flüsterte die Stimme und Kevin bekam Atemnot. Es war der Teil eines Traumes, den er schon monatelang nicht mehr geträumt hatte, genauer gesagt nicht mehr, seit er es geschafft hatte, von den Drogen weg zu kommen. Es war die Stimme seiner Schwester Janine, die betörend, drohend und unheilvoll in sein Ohr mahnte. "Mörder..." Er hatte diesen Traum, weil er sich lange Zeit die Schuld an ihrem Tod gab, weil er ihr nicht helfen konnte, weil er versagt hatte. Der Polizist hatte sich immer eingeredet, der wahre Mörder seiner Schwester zu sein, und dass die Träume der Grund dafür waren, dass seine Schwester ebenfalls dieser Meinung war, und ihn deshalb so sehr quälte. Und jetzt münzte er es auf Annie... "Mörder..."


    "Kevin!!" Jennys Stimme war plötzlich klar und durchdringend, und der Polizist riss die Augen auf und fuhr hoch, so dass seine Freundin neben ihm im Bett erschrak. Sein Atem und sein Puls rasten, er spürte wie das Shirt an seinem Oberkörper klebte und wie aufgewühlt seine Decke über ihm lag. "Oh Gott...", sagte Jenny leise, denn durch das schnelle Aufstehen hatte sich auch sie erschrocken, obwohl sie ihren Freund nur wecken wollte, der mit schnellem Atem sich im Bett hin und her warf und beinahe beängstigende Anzeichen eines Alptraums zeigte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter als sie merkte, dass ihr Freund einen Moment brauchte, bis er verstand, was gerade passiert war, denn er saß aufrecht im Bett, sah geradeaus in den dunklen Raum und konnte sich und seinen Atem nur schwer beruhigen.
    "Hey... du hast nur geträumt. Alles ist gut.", sagte sie zärtlich mit leiser Stimme und schlang ihre schlanken Arme um seinen Oberkörper, um ihm, wie einem kleinen Kind oder einem scheuen Kater, Schutz zu bieten und ihn langsam zu beruhigen. Langsam wurde dem Polizisten klar, was er da geträumt hatte, als er langsam die Arme um den Oberkörper seiner Freundin schlang. Er fühlte sich wieder als Mörder... als seelischer Mörder. Diesmal an Annie. Weil er vorhatte, sie im Stich zu lassen. Diesmal allerdings nicht hilflos, sondern wissentlich... absichtlich...


    "Ich... ich muss mal kurz ins Bad...", sagte Kevin mit niedergeschlagener Stimme und befreite sich aus der Umarmung, um mit nackten Füßen ins Bad zu gehen, sich dort über das Waschbecken zu lehnen und sich mehrere Handladungen eiskaltes Wasser ins Gesicht und über den Kopf zu werfen. Sein Atem beruhigte sich langsam, als er, die Hände auf das Waschbecken aufgestützt, langsam in den Spiegel schaute. Seine hellblauen Augen kamen ihm fremd vor, von seinem Kinn tropfte langsam das Wasser und sein Gesicht glitzerte.
    Hinter ihm öffnete sich die Tür und Jenny trat ins Bad, Kevin konnte im Spiegel ihr besorgtes Gesicht sehen. "Du machst mir Angst... was ist mit dir?", fragte sie leise, als sie seinen Ausdruck im Gesicht sah. Sie spürte genau, dass das nicht einfach irgendein x-beliebiger schlechter Traum war. Er hatte ihr von seinen damaligen, schlimmen Alpträumen in seiner Drogenzeit erzählt, und irgendetwas in ihr sagte ihr, dass dieses heftige Aufwachen seinen alten Alpträumen glich. Und jetzt erinnerte sie sich dran, was er davon erzählt hatte, und das machte ihr Angst... vor allem, weil er jetzt auf ihre Frage schwieg und weiter in den Spiegel starrte, als wäre sie nicht da. Noch einmal versuchte sie es, in dem sie etwas ansprach, was sie nur erahnen konnte, und doch war sie sich ganz sicher, dass es so war: "Kevin... wann hört das mit deiner Schwester endlich auf.", fragte sie beinahe flehentlich und umfasste mit einer Hand seinen Unterarm. Ohne eine Miene zu verziehen, ohne den kalten Blick von sich selbst abzuwenden sagte Kevin monoton, beinahe mechanisch: "Niemals. Es wird niemals aufhören."

    Innenstadt - 18:30 Uhr


    Ben schlug den Kragen seiner Lederjacke ein wenig nach oben, als er aus dem warm aufgeheizten Auto ausstieg und mit der eiskalten klaren Luft in Berührung kam. Die Straße war stumpf und trocken im Dunkeln, sollte der angekündigte Schnee heute Nacht wirklich kommen, würde wohl jede einzelne Flocke liegen bleiben, denn der Asphalt war eiskalt und der Boden in den Parks, Gärten und auf den Feldern stockgefroren. Der Polizist blies in seine Handflächen und rieb diese aneinander, eine Angewohnheit aus der Kindheit sich zu aufzuwärmen, was rein gar nichts brachte. Er schaute an der Häuserfront herauf auf einige Fenster im zweiten Stock, die dort hell erleuchtet waren und kämpfte gegen seine eigene Unsicherheit. War das richtig oder falsch, was er hier machte? War es sein Arbeitseifer, war es Mitleid oder war es der Eigennutz? Der Gedanke an letzteres hielt ihn noch zurück.
    Der Name "Bachmann" prangte an allen drei Klingeln des Hauses, vor dem Ben jetzt stand und zögerte. Er fühlte sich unwohl, fühlte sich unentschlossen dessen, was er hier wollte. Er konnte selbst nicht genau das Gefühl definieren, das ihn hierher trieb, dass ihn dazu antrieb jetzt auf die Klingel zu drücken, den Summer abzuwarten und dann in den Flur des Mehrfamilienhauses treten. Er hatte die Hände in den Taschen versunken und stieg die ersten Stufen nach oben, als er die Wohnungstür im zweiten Stock aufgehen hörte.


    "Wer ist da?", hörte er die leise, etwas verschreckt klingende Stimme von Carina Bachmann im Flur. "Hallo... hier ist Ben Jäger, von der Kripo Autobahn.", sagte Ben sofort, um die Frau nicht zu verschrecken. Sie stand am Geländer und sah ins Treppenhaus herab, und schien erleichtert als sie das Gesicht des Mannes erkannte. "Oh... guten Abend. Ich hatte nicht mehr mit Besuch gerechnet.", sagte sie beinahe entschuldigend, denn sie hatte Hausschuhe an und die Haare zu einem einfachen Zopf zurückgebunden. "Ja, entschuldigen sie die späte Störung.", meinte Ben lächelnd und hob kurz die Schultern, als er im zweiten Stock angekommen war. "Aber... ähm... ich wollte... ich wollte mal sehen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist."
    Er hätte sich ohrfeigen können. Was für eine billige und plumpe Rechtfertigung eines unangekündigen Besuchs. Was interessierte es den einen Polizisten, wie es dem Angehörigen eines Mordopfers ging? Wenn er kein persönliches Interesse hätte und alle gleich behandeln würde, müsste er viele Witwen und Witwer besuchen gehen und fragen, wie es ihnen geht. Der Blick von Carina schwankte ebenfalls zwischen leicht überrascht und doch in gewisser Weise dankbar. "Es geht schon. Es wird besser.", sagte sie leise und trat vor der Tür zur Seite. "Wollen sie reinkommen?" Höflicherweise hätte Ben abgelehnt, die junge Frau jetzt zu stören... aber Verflucht, er war ja nicht nur gekommen, um zu fragen wie es ihr geht. Er war gekommen, um Beistand zu leisten, um zu helfen, weil er sich auf sonderbare Art und Weise zu Carina hingezogen fühlte, weil er ein Gefühl hatte, dass er zuletzt bei Jenny hatte, als er sie tröstete... nur noch stärker.


    "Gerne, danke.", nickte er und Carina ließ dem Polizisten den Vortritt. Er schaute ins Wohnzimmer, wo Carinas Mutter auf dem Sofa am Fernsehen saß und scheinbar vollkommen fokussiert und interessiert einer Tiersendung lauschte. "Guten Abend.", sagte Ben höflich und die alte Frau sah kurz auf. "N'abend, junger Mann.", sagte sie und schien an Ben gerade völlig desinteressiert. "Wollen sie etwas trinken? Einen Kaffee, oder Tee?" "Einen... Tee trinke ich gern." Er folgte Carina in die kleine Küche und setzte sich dort an den Küchentisch, wo sie auch schon gestern schon saßen als sie die Todesnachricht ihres Bruders überbrachten. "Sind sie noch im Dienst um diese Zeit?", fragte die junge Frau, während sie den Wasserkocher unter die Spüle hielt. "Ähm... ja, kann man so sagen.", meinte der Polizist und fuhr sich mit den Fingern über den Mund. Der sonst so schlagfertige, um keinen lustigen Spruch verlegene Ben spürte Nervosität, seine Lockerheit, die er normalerweise bei Frauen immer hatte, war wie weggeblasen.
    "Wir... wir waren in der Firma ihres Bruders und haben uns dort umgehört. Die... die haben ihnen Hilfe versprochen, meinte der Chef dort.", erzählte er und hoffte, Carina damit ein wenig die Sorgen vom Gemüt zu nehmen, doch diese Sorgen waren bei der jungen Frau momentan nicht finanzieller Natur. "Das ist nett.", sagte sie nur und klang dabei leicht abweisend, was Ben eher auf die Firma als auf sich selbst bezog. Mit leisem Zischen und Blubbern begann der Wasserkocher seine Arbeit.


    "Sagen sie... hat ihr Bruder mal ein Sportartikelgeschäft in Holland erwähnt? Im Zusammenhang mit seiner Arbeit vielleicht?", fragte Ben vorsichtig nach einigen Minuten, als sich Carina mit der dampfenden Tasse Tee ebenfalls an den Tisch setzte und etwas verwirrt blickte. "Hmm... nein, nicht dass ich wüsste. Er hat generell nicht viel über seine Arbeit erzählt." Sie lächelte etwas. "Ist ja auch nicht besonders interessant... Versicherungen zu verkaufen. In ihrem Beruf hat man sicher mehr zu erzählen." Ben ließ sich von dem Lächeln der Frau, was in seinen Augen unglaublich ermutigend erschien, sofort anstecken. "Ach... tagelang nur die Autobahn rauf und runter zu fahren kann auch manchmal langweilig sein.", meinte er scherzhaft und bedankte sich für den Tee, den er vorsichtig antrunk. "Ich bin übrigens Ben.", bot er der Frau dann das "Du" indirekt an. Ihr Lächeln drückte Zustimmung aus. "Carina."
    Ihr tat es durchaus gut, ein wenig abgelenkt zu sein, ein wenig wieder mit jemandem reden, der in ihrer Sprache sprach. Doch diese kurze Zweisamkeit wurde von der Stimme ihrer Mutter unterbrochen, die aus dem Wohnzimmer sah und auf den Flur hinausrief: "Mama?" Sie tapste langsam den Flur entlang in Richtung des Schlafzimmers, steckte dort den Kopf hinein um den Ruf nach ihrer Mutter zu wiederholen. Carina seufzte kurz und stand vom Tisch auf: "Entschuldige mich kurz.", bevor sie auf den Flur ging und ihre Mutter sanft an die Hand nahm. "Die Mama ist nicht hier...", sagte sie mit ruhiger Stimme und wollte ihre Mutter wieder zurück zum Wohnzimmer bewegen. "Wo ist sie denn? Sie wollte doch nur kurz raus. Wer weiß, was da wieder passiert ist.", sagte Frau Bachmann beharrlich und voller Sorge. Ben hörte die Stimmen in der Küche, konnte sich natürlich vorstellen dass Carinas Oma in Wirklichkeit längst tot war und die Mutter das in diesem Moment vergaß.


    "Na, dann gehen wir ihr einfach entgegen, hmm?", sagte Carina aufmunternd. Solange ihre Mutter halbwegs gut zu Fuß war, auch wenn sie nur langsam ging, ging sie so oft es geht mit ihr an die frische Luft. Und gerade, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte wie jetzt und keine Ruhe gab, war es eine willkommene Abwechslung, um sie wieder von dem Gedanken abzubringen. Hermine nickte zustimmend: "Ja, das machen wir. Ich gehe mich anziehen.", sagte sie entschlossen und ging in Richtung ihres Schlafzimmers, während die junge Frau zur Küche zurückkehrte. "Möchtest du mit uns eine Runde um den Block gehen? Danach hat sie das mit ihrer Mutter meistens vergessen.", fragte sie in Bens Richtung. Der Polizist nickte und Carina setzte sich wieder an den Tisch.
    "Das muss schlimm sein, wenn man nicht mehr genau weiß, ob die eigene Mutter lebt oder nicht.", sagte er nachdenklich und hielt sich an seiner warmen Tasse Tee fest. Carina wog den Kopf hin und her. "Ich bin ja mittlerweile so manches gewohnt. Und es ist für die Angehörigen wie mich oder meinen Bruder..." sie stockte für einen Moment... "also, für mich ist das meist noch schlimmer als für sie. Sie weiß es halt einfach nicht und hat es in einer Viertelstunde wieder vergessen. Sie ist dann irgendwo in einer Zwischenwelt, wo sie nicht herausfindet. Aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran." Ben empfand in diesem Moment die junge Frau, die zierlich, zerbrechlich und schüchtern wirkte, als unglaublich stark...


    Eine Viertelstunde später stand Hermine Bachmann dick eingepackt in der Küche. Carina nahm ihren Wintermantel und die drei Erwachsenen zogen in langsamen Schritten, so schnell die alte Frau gehen konnte, einmal um den Block. Sie redeten überhaupt nicht über den Fall oder die Krankheit der Mutter, sondern darüber, dass es kalt war, dass Weihnachten sehr schön war und Hermine erzählte eine Geschichte, die sich an Weihnachten in den 60er Jahren zugetragen hatte. Sie wusste das Jahr nicht genau, aber sie konnte genau aufzählen, warum ihrer Mutter der Festbraten am 1. Weihnachtstag völlig misslang.
    Später, als sich Ben von Carina verabschiedete, umarmte die junge Frau den Polizisten kurz und schüchtern... und sagte dankbar, dass sie sich sehr freuen würde, wenn sie sich bald wiedersehen würden...

    Lagerhalle - 18:00 Uhr


    Das Wort hatte Kevin mitgenommen. Es klang so unglaublich, so unwirklich als Hartmut es ihm gesagt hatte, dieser Ort, an dem angeblich Annies Handy eingeloggt war. Zweimal hatte er nachgefragt, zweimal hatte Hartmut ihm zu 100% versichert, dass sein Programm sich nicht täuschte, dass er zum Gegenvergleich noch ein weiteres benutzt hatte, und dass er sicher sagen könne, dass sich zumindest das Handy an diesem Ort befindet. Ob Annie das Handy noch besaß konnte das Genie natürlich nicht sagen, aber von alleine würde das Handy auch nicht an diesen Ort gelangen. Und wenn Annie wirklich abgestürzt war, machte der Ort auch irgendwie Sinn... vor allem, bei den Gesprächen die die beiden in ihrer Vergangenheit geführt hatten... von Träumen, von Ausreissern, von Abenteuern.
    Als Kevin den Vorplatz der Lagerhalle jetzt betrat, pfiff ihm der eiskalte Wind um die abstehenden Haare und der Schnee knirschte unter seinen Schuhen bei jedem Schritt. Auf einmal war alles nicht mehr so klar... nicht mehr so klar für ihn, Annie nicht zu helfen. Nicht mehr so klar, einfach alles zu ignorieren und bei seinem Vorsatz zu bleiben. Denn er wusste nun, dass die Punks ihr vermutlich nicht helfen konnten, wenn Annie wirklich da war, wo sich ihr Handy befand. Der Stahlgriff am Tor zur Halle war so kalt, dass Kevins Haut den Eindruck machte, sie würde für einen Moment kleben bleiben, denn weißer Reif klebte am Stahl.


    "Ole? Bist du da?", rief er in das schimmernde Licht der Halle. Es war zugig, es war kalt, aber immer noch wärmer als draussen. Gasöfen brannten, viele Kerzen waren aufgestellt, es war immer eine gewisse Gefahr sich im Winter hier aufzuhalten. Aber darum hatte sich der junge Kevin damals keinerlei Gedanken gemacht, und genauso wenig Gedanken machten sich die Punks heute darüber. Lieber ein wenig Risiko, zu verbrennen als die Sicherheit, im Schlaf zu erfrieren. Anders wäre es in dieser Halle vermutlich nicht auszuhalten. Nachdem das gehallte Echo von Kevins Stimme verklungen war, und er langsam auf das schimmernde Licht zuging und die Wärme immer deutlicher spürte, schälte sich ein Schatten an der Wand hervor, und kam auf Kevin zu.
    "Hey. Was machst du denn hier?", fragte Ole den jungen Polizisten und die beiden Männer gaben sich die Hand. "Ich hab Annies Handy geortet.", war Kevins knappe Antwort, die jedoch noch keine Angabe des Ortes enthielt. Er spürte aber Oles gespannten, beinahe schon hoffnungsvollen Blick, auch wenn den wiederrum der ernste Ausdruck in Kevins blauen Augen verunsicherte. "Und?" "Zumindest das Handy befindet sich in... Kolumbien." Der Punk legte die Stirn in Falten, als hätte er sich gerade verhört. "Wo??" "In Kolumbien. Genauer gesagt, in Bogota." Die Hoffnung wich der Niedergeschlagenheit. "Ach du Scheisse... wie kommt sie dann da hin?"


    Für einen Moment standen sich die beiden Männer gegenüber und schwiegen. Ole sah zu Boden, er hatte sich solche Hoffnung gemacht, dass Annie sich irgendwo in einer deutschen Stadt aufhielt, oder zumindest im nahen Ausland. Holland, Frankreich, vielleicht Dänemark. Aber Kolumbien... das lag für Ole am anderen Ende der Welt. Unmöglich, sie dort auf eigene Faust zu suchen. "Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten habe. Ich hab mich auch gewundert.", meinte Kevin verständnisvoll. Sie hatten damals, als sie auf dem Dach der Lagerhalle saßen, oft darüber fantasiert, wo sie hinfahren würden, wohin sie sich absetzen würden. Süd- und Mittelamerika hatten sich die beiden immer mal zurecht gesponnen, vor allem als Kevin selbst noch abhängig war, war es für ihn reizvoll ins Herkunftsland der meisten Drogen zu reisen. War das auch ein Grund, warum Annie jetzt dort war? Es machte die ganze Situation nicht unbedingt beruhigender.
    "Was denkst du, warum sie dorthin ist?", fragte der Polizist und sah Ole an. Der seufzte nur und schüttelte den Kopf. "Sie hat mich hier nach Drogen gefragt. Ich wollte ihr nichts geben, weil ich wusste, dass sie nie was genommen hat. Am nächsten Tag hatte ich die Nachricht auf dem Handy, dass sie für eine Zeitlang weggeht, weil sie über alles, vor allem über dich, nachdenken muss. Sie ist kein kleines Kind, also haben wir nichts unternommen, bis jetzt, weil sie sich nicht mehr meldet."


    Wieder kurz Stille. "Glaubst du, sie ist wirklich da? Oder nur das Handy?" Kevin zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung. Aber dass ein funktionierendes Handy nach einem Diebstahl zum Beispiel nach Kolumbien verschifft wird, ist unwahrscheinlich." Wieder ein Seufzen von Ole, und ein Blick, der bittend wirkte. Er wirkte wie eine stumme Frage, eine Aufforderung, die auch Kevin sofort verstand, und gegen seine eigentlichen Zweifel sofort ablehnte. "Vergiss es. Ich fliege nicht nach Kolumbien." "Annie hatte ihr Geld noch aus den damaligen kriminellen Zeiten noch.", vermutete der junge Punk und Kevin konnte das bestätigen. Einbrüche, Drogenverkäufe... Annie hing, wie auch der junge Polizist, ganz tief mit drin, auch wenn sie selbst keine Drogen nahm.
    "Sie hat vermutet, dass du das Geld sicher auch noch hast." "Ja und? Das ändert doch nichts daran, dass ich nicht einfach mal so nach Kolumbien fliegen kann. Weißt du, wie groß Bogota ist? Eine einzelne Person dort zu suchen ist wie die Nadel im Heuhaufen.", meinte der Polizist und klang selbst nicht überzeugt. Nicht davon, dass es tatsächlich unglaublich schwierig sein würde, dort nach Annie zu suchen... nein, er war selbst nicht davon überzeugt, es nicht zu versuchen.


    Ole senkte den Kopf, ein kurzes Schütteln, ein kurzes Seufzen. Die Hoffnung, die aufgekeimt war, als Kevin mit der Nachricht kam, das Handy gefunden zu haben, war so greifbar, war so präsent, dass er jetzt einfach unglaublich enttäuscht war. "Du hast recht.", sagte er niedergeschlagen. "Wir können nichts tun." Ole tat Kevin leid, und er klopfte ihm auf die Schulter. "Annie wird wissen, was sie tut. Sie hat sich jahrelang hier auf der Straße durchgeschlagen, und sie wird bestimmt keine Dummheiten machen. Dass mit uns beiden wird sie sicher nicht aus der Bahn werfen, sie hat schon ganz andere Dinge überstanden." Oles Blick richtete sich vom Boden weg wieder auf Kevin, und ein kurzes, sarkastisches Lachen erklang, was in dem Polizisten ein ungutes Gefühl hervorrief. "Glaubst du das im Ernst? Glaubst du wirklich im Ernst, dass es sie nicht aus der Bahn geworfen hat, was passiert ist?"
    Der Polizist spürte, wie sein Herz gegen den Rippenbogen sprang, und immer wieder, mit jedem Versuch, daran abprallte. "Du tauchst wieder auf, und weckst alte Gefühle in ihr. Sie hat mir von dir erzählt... bevor du aufgetaucht bist, und nachdem du wieder aufgetaucht bist. Dass alles so wie früher wird. Dass sie ihren Fehler von damals wieder gutmachen wird. Dann stellt sich heraus, dass du ein Bulle bist, Sammy wird umgebracht und am Ende verzeihst du Annie nicht. Und du glaubst ernsthaft, dass sie das nicht aus der Bahn geworfen hat?"


    Oles Stimme zitterte leicht, und der Polizist fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. "Willst du es mir jetzt zum Vorwurf machen, dass ich ihr nicht verziehen habe, dass sie meinen Partner am langen Arm hätte verrecken lassen aufgrund ihrer Ideologie? Dass ich nicht sofort meinen Job gekündigt habe, oder mit meiner Freundin für sie Schluß gemacht habe?", fragte er provokant, und der Punk schüttelte den Kopf. "Nein, das mache ich dir nicht zum Vorwurf. Aber du kannst nicht einfach behaupten, dass es ihr nichts ausgemacht hat. Sie ist deswegen abgestürzt, es hat sie fertig gemacht. Auch, weil sie selbst dran schuld war." Obwohl Ole vielleicht gar nicht vor hatte, Kevin Schuldgefühle zu machen, hatte er es dennoch geschafft.
    "Danke für deine Hilfe.", meinte Ole noch, bevor er sich von Kevin wegdrehte und zurück in den hinteren Teil der Halle ging, wo die anderen auf ihn warteten, gespannt ob der Neuigkeiten über Annie. Kevin sah ihm noch für einen Augenblick hinterher, und spürte die Kälte in seinem Rücken mehr denn je. "Abgestürzt" war eins der Wörter, an die er immer dachte, wenn er an seine Zeit nach Janines Tod dachte. Alkohol, Drogen, Einsamkeit, Selbstmordgedanken... ein Extrem mündete ins Andere. Er hatte sich damals so sehr jemanden zu sich gewünscht, der ihn rettete, doch es war niemand da...

    Dienststelle - 15:00 Uhr


    Obwohl sich Holländisch oft anhörte, wie eine betrunkene Mischung aus Deutsch, Englisch und Französisch war es für Ben enorm schwer, einen Kollegen ans Telefon zu bekommen, der halbwegs der deutschen Sprache mächtig war. Ausserdem war der Polizist ohnehin genervt... genervt von den eigenen Gedanken, die ihm im Kopf herumspukten. Und immer wieder fiel sein Blick dabei auf seinen Partner, der ihm gegenüber saß und scheinbar den Monitor hypnotisierte, als er auf eine Antwort auf die Anfrage nach dem Standort von Annies Handy wartete. Warum tat er das? Annie hatte Semir am langen Arm verhungern lassen, und war schuld an seinem Zustand. War das nicht Grund genug diese Person links liegen zu lassen, egal wieviel sie einem bedeutete? Semir war doch nicht irgendein Bekannter für Kevin. So dachte Ben, doch im gleichen Moment kam ihm fast der Verdacht, dass er sich mal wieder in Kevin selbst täuschen könnte. Freundschaft, Bekanntschaft... wie nahe lag das wirklich beieinander. Wie eng war die Beziehung zwischen dem schweigsamen Polizisten, und ihm sowie Semir?
    Endlich meldete sich am Hörer seines Telefons eine deutschklingende weibliche Stimme, die ihn nach seinem Anliegen fragte: "Na, Gott sei Dank, sie sind meine Rettung.", stöhnte Ben und raufte sich die Haare. Er erreichte mit diesem Ausruf sogar, dass Kevin seine hellblauen Augen kurz vom Monitor wegbewegte.


    "Ich bräuchte Informationen über Vorkommnisse in Verbindung mit einem Sportartikelhersteller.", erklärte Ben der jungen holländischen Kollegin und umriss kurz die Gründe für die Anfrage. Er nannte die Möglichkeiten des Versicherungsbetrugs in Verbindung mit einem mutmaßlichen Mord oder Todschlags. Die Kollegin notierte sich die Namen, Bens Name und Telefonnummer und versprach zurück zu rufen. Sie war von der Zentrale und musste erst im Präsidium für Finanzermittlungen, sowie der organisierten Kriminalität anfragen. Ben bedankte sich und legte auf, bevor er wieder herüber zu seinem Kollegen sah. "Und?", war seine kurzmöglichste Erkundungsfrage nach dem Stand der Anfrage, ein stummes Kopfschütteln war die minimalistischste aller Antworten, zu der Kevin fähig war.
    Der Polizist mit der Wuschelfrisur strich sich zwei Strähnen von der Stirn und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. So überzeugend Kevin eben auch im Auto war, als er abstritt, Annie suchen zu wollen, so sehr zweifelte Ben an seinen Worten. Der Ausdruck in seinen Augen, diese Verbissenheit... er kannte es. Er kannte Kevin mittlerweile und er wusste, dass sich der junge Polizist in jede Gefahr stürzen würde, um eine Person, die ihm mal nahe stand, zu helfen. Er würde nicht einfach zu den Punks gehen und sagen: "Annie ist da und da, und jetzt lasst mir meine Ruhe.", auch wenn er sich selbst dagegen wehrte.


    "Was würdest du denn tun, wenn das Ding ausspuckt, dass sie noch hier in Köln ist?", fragte Ben unvermittelt und drehte gedankenverloren mit seinem Stuhl ein wenig hin und her. Der Blick seines Partners glitt nur langsam vom Bildschirm herüber zu Ben, er hatte seinen Kopf auf seine Fäuste gestützt, die Ellbogen auf den Schreibtisch. "Nichts." Schmallippig, einsilbig... so wie Ben Kevin vor einem Jahr kennengelernt hatte. Ein verschlossener introvertierter Typ, der sich nicht hinter die Fassade blicken ließ, der sich einen Schutzwall aufbaute durch Arroganz. "Und wenn sie im Ausland ist?" Mit einem Klopfen fielen Kevins Fäuste unter seinem Kinn einfach nach vorne auf den Tisch, und der Polizist sah mit etwas weiter aufgerissenen Augen herüber.
    "Mensch, Ben... was willst du von mir? Willst du von mir hören, dass ich sie suchen gehe? Willst du von mir hören, dass ich damit Semir verrate? Was??", sagte er mit lauter, ungehaltener Stimme und Ben spürte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. "Du weißt doch selbst nicht, was du willst. Du willst und auf der anderen Seite willst du nicht.", sagte der Polizist, als könne er in eine Seele blicken, die Kevin seit zwei Stunden wieder fest verschlossen hatte. Ben hatte zwar gelernt aber noch nicht verstanden, dass er damit bei Kevin nur auf Granit stoßen würde. "Ja, dann ist es halt so. Und jetzt? Ich hab dir gesagt, dass ich nicht nach ihr suche, und wenn dir das nicht passt..."


    Sein Satz wurde von einem Signalton aus seinem Rechner unterbrochen, ein Nachrichtenton für eine Antwort. Kevins Augen wanderten zurück auf den Monitor, zwei Klicks auf der Maus und ein wütender Stoß gegen die Tischkante. "Ach Fuck." Offenbar war die Antwort nicht zufriedenstellend. Ben war nicht unglücklich darum, machte es doch eine Suche Kevins weitaus unwahrscheinlicher, wenn er überhaupt keinen Anhaltspunkt hatte. Doch Kevin gab so schnell nicht auf, seine Hand fuhr zum Telefon und seine Finger wählten in Windeseile Hartmuts Nummer im Kriminallabor. Das rothaarige Genie hob auch sofort ab. "Hartmut, ich brauch deine Hilfe.", sagte Kevin sofort, eigentlich ein Standardsatz, wenn die Autobahnpolizisten ihren Kollegen in der KTU anriefen.
    "Wieder so eine Aktion, für die ich selbst einfahren kann?", raunte Hartmut. "Ja genau, so wie immer. Pass auf, du musst den letzten Standort von einer Handynummer für mich checken." "Ihr habt doch selbst so ein tolles Polizeiprogramm dafür." "Ja, aber das Popel-Programm spuckt mir keine Antwort aus. Bitte, probier du es mal, ich weiß dass auf dem Handy noch vor zwei Wochen Datenverkehr war." Hartmut kratzte sich am Kopf und nahm einen Zettel zur Hand. "Na gut, dann schieß mal los." Der Polizist nannte ihm die Handynummer, und Hartmut versprach, sich gleich wieder zurück zu melden.


    Gerade als Kevin aufgelegt hatte, klingelte Bens Apparat und eine holländische Nummer war eingeblendet. "Jäger, Kripo Autobahn?", meldete sich Ben und hörte nun nicht die liebliche weibliche Stimme am anderen Ende, sondern eine kernige Männerstimme, mit klarem Deutsch und leicht holländischen Akzent. "Herr Jäger, sie hatten angefragt wegen dem Sportartikelgeschäft van Stam? Es geht um Mord?" Ben nickte, was der Gesprächspartner freilich nicht sehen konnte, sagte zum Verständnis aber natürlich noch ein "Ja, das ist richtig." "Huub Bakker ist mein Name, Kriminalhauptkommisar. Ich denke am Telefon würde das alles zu sehr in die Weite führen. Es gibt umfassende Ermittlungen um dieses Geschäft. Was halten sie davon, wenn sie mich morgen ins Präsidium nach Eindhoven besuchen kommen. Dann können wir uns austauschen." Ben verabredete mit Herrn Bakker einen Termin für 11 Uhr, bedankte sich und legte auf.
    "Wir machen morgen einen Ausflug nach Holland.", meinte Ben mit kurzem Blick auf Kevin, bevor er aufstand um mal zur Toilette zu gehen. Als Ben an Kevins Tisch vorbeiging meinte der junge Polizist nur missmutig: "Super, dann kann ich mir endlich mal wieder was zu rauchen kaufen." Ben spürte die Kälte in der Stimme seines Partners und schüttelte nur den Kopf, als er das Büro verließ.
    In diesem Moment klingelte Kevins Telefon, und er hörte sofort Hartmuts Stimme am Apparat. "Hartmut, was hast du rausgefunden?" Er lauschte kurz, lauschte Hartmuts Informationen, dass das Handy nach wie vor aktiv ist. Dann nannte er die Örtlichkeit. Er konnte keine Straße nennen, nur die Stadt, in der es eingeloggt war. Der Name der Stadt klang völlig ungläubig in Kevins Ohren, so dass er nochmal nachfragte: "Wo ist das Handy eingeloggt??"

    Supermarkt - 14:00 Uhr


    Nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen... nicht die Zeit totschlagen. Aufgaben suchen, Aufgaben erfüllen, irgendetwas tun. Das war es, was Semir aus dem ersten wirklich erfolgreichen Therapiegespräch mitgenommen hatte. Eigentlich hätte er auf diese Schlußfolgerung auch selbst kommen können. Wer nur rumsaß, und wartete, dass der Tag vorbeiging, der grübelte. Und wer grübelte, erinnerte sich, immer und immer wieder. Wer grübelte, der hörte Ticken im Raum, wo eigentlich keine Uhr hing, der hörte ein Zischen im Zimmer, wo keine Gasleitung war. Eigentlich alles völlig logisch, und für Semir doch so furchtbar fremd in den letzten Tagen. Keine Motivation, kein Antrieb, immer nur der Gedanke daran, was ihm passiert war. Er konnte nicht weg davon.
    Jetzt ging es. Er hatte zwei Stunden damit verbracht, die Garage aufzuräumen. Etwas, was er schon den ganzen Tag vor sich hergeschoben hatte. Alte Dinge wegwerfen, Platz für Neues schaffen, Ordnung schaffen. Irgendwie kam es ihm wie ein Spiegelbild seiner Seele vor, die er gerade auch versuchte, in Ordnung zu bringen. Ein Chaos zu richten, dass die Neo-Nazis in ihm hinterlassen hatten. Verdammt, das würde er nicht zu lassen. "Wieviele Einsätze sind sie schon gefahren? Wie oft waren sie in Gefahr?", hatte ihn die Psychologin gefragt. Da mussten Semir und Ben gleichzeitig kurz auflachen. Alleine in der Dienstzeit mit Ben würde es zu lange dauern um das alles auf zu zählen. "Glauben sie, sie waren schon mal näher am Tod, als jetzt in dieser Kammer?"


    Die Frage hatte Semir nachdenklich gemacht. Ja, eigentlich war er das. Eigentlich war er in der Kammer überhaupt nicht nahe am Tod, es bestand ja gar keine Gefahr. Warum machte ihn die Situation so fertig? Pure Angst und Verzweiflung, das Unwissende? Der Horror, die Gedanken an die deutsche Geschichte? Plötzlich konnte er sich seine Angst, seine Panik und seine Wut, die er im nachfolgenden Dienstalltag an anderen ausließ, nicht mehr erklären. Er stand so oft vor einer geladenen Waffe... er sprang aus brennenden Häusern, hatte furchtbare Autounfälle. Und trotzdem stieg er in ein Auto, trotzdem würde er, ohne mit der Wimper zu zucken, in ein Haus laufen um Ben, Kevin, seine Kinder, seine Frau oder seine Kollegen zu retten, egal ob eine Bombe in dem Haus tickte, oder nicht.
    Seine nächste Aufgabe des Tages war der Einkauf. Er hatte Andrea auf der Arbeit angerufen und gesagt, dass sie sich keine Gedanken machen bräuchte, die Kinder seien bei ihren Eltern heute abend und sie könnten sich einen ruhigen Abend machen. Sie sollte einfach nach Hause kommen, und sich überraschen lassen. Die Aussicht, seiner Frau eine Freude zu machen, hob seine Laune noch weiter, als er auf den Parkplatz des kleinen Supermarktes einbog, der nur wenige Kilometer seiner Wohnsiedlung lag.


    Es war, um diese Uhrzeit, nur wenig Betrieb. Einige Rentner, einige Halbtagsarbeitende schoben die Wagen durch die Gänge. Semir kaufte einen leckeren Wein, Zutaten für Nudelauflauf mit Waldpilzsauce, eins der wenigen Gerichte, die er selbst unfallfrei zubereiten konnte, und einige Knabbereien für später. Nichts war in ihm zu spüren von der Unruhe der letzten Tage, er fühlte sich nicht beobachtet, er hörte kein Ticken, kein Zischen, keine merkwürdigen Geräusche. Er würde sich nicht unterkriegen lassen, und er würde auch nicht zu irgendwelchen Tabletten greifen. Gerade sein Freund Kevin war ihm ein mahnendes Beispiel, wie man Traumata nicht lösen konnte. Er hatte sich nach dem Tod seiner Schwester in Drogen und Alkohol verloren, und kämpfte mit den Folgen noch heute.
    Plötzlich hörte er doch ein Geräusch, aber es war keine Einbildung, sondern lauter, realer Lärm. "Hey hey hey!", konnte Semir hören, und ein Kauderwelsch aus einer fremden Sprache. "Ganz ruhig, Freundchen. Los, mach die Tasche auf!", war eine zweite Stimme vernehmbar. Semir krallte die Hände in die Stange, an der er den Einkaufswagen schob. "Nicht einmischen, du bist nicht im Dienst." Doch sein Körper hörte nicht auf den Kopf, sondern auf den Bauch, und schon war der Polizist auf dem Weg zum Hauptgang, wo die Stimmen herkamen.


    Eine kleine Menschentraube hat sich gebildet um einen sehr dunkelhäutigen Mann, groß und kräftig, der entschuldigend die Hände hob, und den keifenden Typen, der ihn immer wieder an die Jacke greifen wollte, wegschob. Die zweite Stimme gehörte dem keifenden Typen. "Nun hören sie auf, sonst rufe ich die Polizei! Wir können das auch ganz unproblematisch lösen." "Was ist denn hier los?" "Was hat der Mann denn getan?" "Das sieht man dem doch an, dass er nur zum Klauen hierher kommt." Semir ignorierte das wilde Stimmemwirrwarr der wenigen Leute, die sich für die Szenerie interessierten. "Hey hey hey!", machte der fremdwirkende Mann, vermutlich ein Schwarzafrikaner oder Südamerikaner. Jedenfalls schien er kein Wort des Mannes zu verstehen, der ihn durchsuchen wollte. Semir drängelte sich durch zwei Reihen. "Hallo, was gibt es denn hier für ein Problem, bitte?", sagte er höflich. "Lassen sie mal den Mann in Ruhe, ja?" "Was wollen sie denn?", fragte der keifende Kerl, und sah Semir mit Stielaugen an.
    "Semir Gerkhan, ich bin Polizist.", sagte er sofort und zog aus seiner Tasche eine eingeschweißte Ausweiskopie hervor. Die hatte er sich selbst angefertigt, weil er mal eine Phase hatte, in der er ständig seinen Ausweis verlegt hatte. "Ich bin Kaufhausdetektiv und habe diesen Buschmann beim Klauen erwischt, aber er weigert sich, seine Taschen zu zeigen.", sagte er Mann aggressiv.


    Für einen Moment rutschte Semir das Herz in die Hose. Wie hatte er den Mann gerade genannt? Er betrachtete den Kerl, und stellte sich gerade vor, mit Rocky oder einem anderen der Neonazis zu reden. Oder mit einem seiner engstirnigen Nachbarn, die dachten, sie würden jahrelang neben einem Pseudo-Terroristen leben. Er erinnerte sich an den Kerl, den er in der Dienststelle zusammengeschlagen hatte, weil er ihn "Kanacke" genannt hatte... Jetzt ballte er die Hände zu Fäusten, doch er ließ sich nichts von seiner aufgestauten Wut anmerken. Es tickte leise in seinem Kopf. "Vielleicht versteht er nicht, was sie sagen.", meinte der Polizist katzenfreundlich und hinter ihm war nun wieder Gemurmel zu hören: "Dann muss er halt Deutsch lernen." "Was hat er denn überhaupt hier verloren?"
    Semir drehte sich kurz um, ein kurzes Durchatmen: "Ich darf nun alle bitten, weiter einzukaufen. Hier gibt es nichts umsonst." Phase 1 der Deeskalation hatte er abgeschlossen... in seinem Kopf. Das Ticken wurde leiser. Es war wohl für den Polizisten die wirksamste Therapiestunde, die er haben konnte. "Sprechen sie Englisch?", fragte Semir den Mann nun weitaus freundlicher an, als der Kaufhausdetektiv es getan hatte, und ebenfalls freundlicher, als die Tonlage, mit der er die anderen Kunden gerade verscheucht hatte. Der Afrikaner nickte und sagte in, leicht gebrochenen Englisch: "Ein wenig." "Sagen sie ihm, er soll die Taschen aufmachen.", krächzte der Kaufhausdetektiv hinter Semir, so dass der sich erneut, genervt um drehte. Deeskalationsphase 2... in Semirs Kopf: "Sie behalten jetzt mal bitte die Nerven, ja?" Der Polizist wusste nicht, ob er sich selbst den Rat ebenfalls gerade gegeben hatte.


    "Dieser Herr will gesehen haben, dass sie irgendetwas eingesteckt haben. Stimmt das?" Der Mann schüttelte mit Unschuldsmiene den Kopf. Einige Kunden blieben in ausreichender Entfernung immer noch auf Beobachtungsposition, um ja nichts zu verpassen. "Haben sie hier Überwachungskameras?", fragte Semir. "Überwachungskameras??" war die unverständliche Gegenfrage, und damit auch gleichzeitig die negative Antwort. Der Polizist wendete sich wieder an den dunkelhäutigen Mann. "Darf ich mir ihre Taschen ansehen? Das ist reine Routine." Die vertrauensvolle und ruhige Stimme Semirs verleitete den Mann dazu, den Inhalt seiner Taschen zu leeren. Ein Geldbeutel, ein Smartphone, Autoschlüssel. "Er hats in die Jackeninnentasche gesteckt.", sagte der Detektiv. Doch daraus kam nur eine angebrochene Packung Kaugummi. "Er versteckt es, ich habe mich nicht versehen." Semir seufzte und ihm kam der Gedanke, dass die Beleidigung des Mannes vorhin nicht nur rausgerutscht war. "Darf ich?", fragte er nochmal höflich und der Mann hielt seine Jacke offen. Semir griff in die Innentasche, rechts wie links... Leere.
    "Dann hat er es versteckt. Ich kenne doch diese...", begann der Detektiv und wurde nun energisch von Semir unterbrochen: "Es reicht jetzt. Der Mann hat nichts." "Paah. Kommt hierher mit dickem Smartphone, und klaut sich das Essen zusammen. Der kommt schon mehrere Tage hierher, um...", krächzte der Typ, und die Deeskalationsphase 3 in Semirs Kopf wäre beinahe gescheitert, denn nun machte er einen drohenden Schritt auf den Detektiv zu, als er von dem dunkelhäutigen Mann durch eine Geste gebremst wurde. Der hatte nämlich seinen Geldbeutel geöffnet, in dem beide Männer erkennen konnten, dass er mit braunen und grünen Euro-Scheinen gut gefüllt war. Doch das war nicht der Grund, der Mann nahm seinen Ausweis hervor, um ihn zu zeigen... vermutlich war er das von seinem Land bei Polizeikontrollen gewöhnt. Es war ein kenianischer Pass und das Passbild zeigte ihn im Anzug und Krawatte. "Holiday.", sagte er dabei lächelnd. Semir nickte dankbar, und sagte: "Sie dürfen gehen. Entschuldigen sie das Missverständniss."


    Der Kenianer lächelte, packte seine Sachen und ging in Richtung Ausgang. Verständlicherweise war ihm die Lust am Einkaufen nun vergangen. Das Einkaufszentrum lag verkehrstechnisch günstig in der Nähe der teuersten Hotels der Stadt Köln, aber auch dicht an Semirs Wohngebiet. "Glauben sie wirklich, ich vergreife mich ohne Grund an so einem..." "So einem... was?", fragte Semir überdeutlich in die Frage des Detektives, der die mentale Standfestigkeit Semirs offenbar bis aufs Äusserste testen wollte. Doch auch diesen Test gewann der Polizist. "An ihrer Stelle wäre ich jetzt vorsichtig. Ich könnte das als Beleidigung auffassen, gegenüber dem Mann, und SIE stattdessen mit aufs Revier nehmen. Ausserdem wird ihr Chef von ihrem Fehler und ihrem Verhalten gegenüber dem Mann erfahren, davon können sie ausgehen.", zischte er, bevor auch er den Supermarkt verließ. Stolz, mit pochendem Herzen und ohne Ticken im Kopf...

    Dienstauto - 13:00 Uhr


    Ben ließ Kevin zumindest noch die Zeit, wieder ins Auto einzusteigen, bevor er ihn mit seinen Blicken löcherte. "Also, was war das jetzt?", fragte er ihn nochmal mit Nachdruck. Natürlich ging es Ben eigentlich nichts an, was Kevin mit den Punks und mit Annie zu schaffen hatte... eigentlich. Und eigentlich eben doch. Erstmal waren private Nachforschungen natürlich strengstens verboten, aber wann hatten sich die Polizisten jemals an irgendwelche Spielregeln gehalten. Nein, darauf wollte Ben nicht hinaus. Sein Magenweh war eher in Richtung Semir gemünzt, als er ahnte, dass Kevin Annie in irgendeiner, ihm noch nicht bekannten Form, helfen möchte. Denn Annie ist mitverantwortlich für Semirs jetzigen, psychischen Zustand.
    Kevin seufzte, und sah zu seinem Nebenmann, der keinerlei Anstalten machte, das Fahrzeug zu starten, sondern den Arm aufs Lenkrad gelegt hatte und stur in Richtung Kevin herüberblickte. Der dachte noch einen Moment daran, in seiner typischen Manier abzuwiegeln. Nichts großes, geht dich doch gar nichts an, Mann fahr jetzt, wir haben zu arbeiten. So hätte er sich wahrscheinlich noch vor einem halben Jahr verhalten. Doch Kevin hatte aus der Erfahrung gelehrt, dass es letztendlich immer besser gewesen wäre, mit Semir und Ben über solche Sachen zu reden, als zu schweigen. Und so entschied er sich diesmal gegen seine Angewohnheit, wenn auch seine Stimme und seine Stimmlage recht genervt und widerwillig erschienen.


    "Ach herrje... Annie ist verschwunden, taucht nicht mehr auf und Ole wollte wissen, ob ich sie suchen könnte." Dabei hob er gestikulierend kurz die Hände, ließ sie aber im Anschluss an den gesagten Satz wieder auf die Knie fallen. "Verschwunden? Wie verschwunden?", fragte Ben etwas verwirrt und hob eine Augenbraue, während sein Freund kurz den Kopf schüttelte. "Ich hab keine Ahnung. Scheinbar hat sie das Ganze nicht so gut verkraftet..." "SIE hat das Ganze nicht gut verkraftet?", fiel ihm Ben erregt ins Wort, und musste sich für einen Moment zurückhalten, keinen Wutanfall zu bekommen. Sie hatte es nicht verkraftet, dass Kevin sich nicht Hals über Kopf aus seinem neuen Leben verabschiedet hatte, sie hatte es nicht gut verkraftet, dass der damalige wilde Punk nun ein Bulle war, während sein Partner nun bei einer Polizeipsychologin von grausamer Psychofolter erzählen musste.
    "Hey, ganz ruhig.", meinte Kevin, denn er konnte Bens Erregung durchaus verstehen und nachvollziehen. "Ich sag doch nur, wie es ist. Sie ist weg, und hatte sich bei Ole aber jeden zweiten Tag gemeldet. Seit zwei Wochen ist Funkstille, und jetzt machen die Jungs sich Sorgen." "Und du willst ihnen helfen?" Bens Frage klang beinahe schnippisch und Kevin fühlte sich angegriffen. "Nein!", rechtfertigte er sich sofort, denn er hatte jetzt zweimal Ole's Bitte um Hilfe ganz klar abgelehnt. Im Kopf wollte er ja selbst nicht helfen, er war wütend auf Annie wie sie ihn behandelt hatte, und vor allem, wie sie ihn im Stich gelassen hatte, als er sie brauchte. Nur sein Herz rebellierte gegen die Vernunft des Kopfes.


    "Wie nein? Und was ist das dann?", fragte Ben und deutete auf den Zettel in Kevins Hand, auf dem Annies Nummer stand. "Ich soll nur nachschauen, wo ungefähr sie sich aufhält und mehr nicht. Ich werd ganz bestimmt dann nicht hinfahren und sie in Handschellen wieder zu ihrer Clique bringen, also entspann dich mal. Ich hab mit Annie nichts mehr zu schaffen." Für einen Moment blieb es still im Auto, und die beiden Männer blickten sich an. Bens Blick war misstrauisch, er kannte Kevin mittlerweile. Er wusste, in welcher Rolle sich der junge Polizist oftmals sah... als Fels in der Brandung, als Typ, der alles schaffen konnte und an dem sich die anderen festhalten konnten. Wenn jemand seine Hilfe brauchen würde, wäre er da. Seit er seiner Schwester nicht helfen konnte, war diese Rolle noch ausgeprägter, und wenn er es nicht schaffte, wurde er von Selbstzweifel erdrückt. Ben konnte sich nicht vorstellen, dass er Annie einfach so ihrem Schicksal überlassen würde, wenn sie wirklich in Gefahr war.
    Kevin spürte den Blick von Ben, er spürte sein Misstrauen, was er ihm nicht mal übel nehmen konnte... er traute seinem Kopf ja selbst nicht. "Was ist? Glaubst du mir nicht? Du hast doch auch gehört, dass ich gesagt hab, dass er sich verziehen soll. Er war schon bei uns vor der Wohnung, und auch da hab ich ihn weggeschickt.", versuchte er sich zu rechtfertigen.


    "Ich kann dir eins sagen...", sagte Ben mit ruhiger Stimme, und er versuchte nicht drohend oder im Unterton böswillig zu wirken. "Aber wenn du Annie hilfst, dann hast du es dir bei Semir versaut. Semir würde dir helfen, er würde alles für dich und mich tun. Wenn du aber der Person hilfst, die mitverantwortlich ist für seinen jetzigen, absolut schlimmsten Zustand, den er psychisch und mental, jemals hatte... das würde er dir nicht verzeihen." Bens Worte waren eindrucksvoll, sie knallten durch Kevins Kopf wie Kugeln aus einer Pistole, während sich die beiden Männer nach wie vor fest ansahen. Kevin wusste, dass sein alter erfahrener Partner es wohl nicht akzeptieren würde, wenn er Annie half... und er hatte es auch nicht vor.
    "Mach dir keine Sorgen.", meinte Kevin und sah aus der Frontscheibe, als er sich wiederholte: "Ich habe mit Annie nichts mehr zu schaffen. Sie hat mich doch selbst enttäuscht mit ihrem eigenen Extremismus. Ich werde abprüfen, wo ihr Handy zuletzt eingebucht war, und das wars." Wieder Stille für einen Moment, bis Kevin den Kopf wieder zu Ben drehte, der ihn immer noch ansah. "Willst du es schriftlich haben? Oder können wir fahren?" "Ich hoffe, du meinst es ernst, Kevin. Es würde alles kaputtmachen...", sagte Ben mit belegter Stimme und startete endlich den Dienstwagen.

    Versicherungsgebäude - 12:30 Uhr


    Jeder Mitarbeiter wurde von Ben und Kevin befragt. Die beiden Polizisten teilten sich auf und streiften durch die verschiedenen Büroräume. Ben klopfte an einer Tür an und trat ins Büro, wo sich eine ältere Frau und ein jüngerer Mann gegenüber saßen. Der Beamte wies sich aus und begann seine Fragen zu stellen. "Kannten sie Herr Bachmann näher?" Der junge Mann wog den Kopf hin und her und stoppte seine Tipperei für einen Moment. "Nicht so sehr... wir haben uns einige Male unterhalten. Er hat mir einiges beigebracht, war immer ein Ansprechpartner gerade für die jüngeren Kollegen." "Hat er mal etwas von Schwierigkeiten erwähnt? Gab es hier mal Streit?", hakte Ben genauer nach und steckte beide Hände in die Gesäßtasche, während er mitten im Raum stand, doch der junge Mann schüttelte nach kurzem Nachdenken nur den Kopf. "Nicht, dass ich wüsste."
    Die etwas ältere Frau war kurz geschockt von der Todesnachricht des Kollegen, und dass es sich um Mord handelte. "Um Gottes Willen... wer tut denn sowas?" "Das versuchen wir ja raus zu finden. Können sie mir vielleicht mehr über Herrn Bachmann sagen?" "Das war ein sehr netter Mann. Björn hatte immer ein offenes Ohr in der Gruppe, und konnte am besten irgendetwas für die Mitarbeiter bei unserem Chef durchsetzen. Er konnte andere Leute gut von sich überzeugen, er war der geborene Verkäufer.", sagte sie.


    Ihre Aussage unterschied sich nicht Besonderes von der ihres Vorgesetzten. "Wissen sie vielleicht etwas, über Schwierigkeiten, die er hatte... hat er mal was erwähnt?" Auch die Frau dachte nach und hatte auch eine Antwort: "Ach, er hatte manchmal etwas Kummer zu Hause. Er lebt mit seiner Schwester zusammen, und ihre Mutter ist schwer demenzkrank. Das hat ihn, und vor allem seine Schwester sehr mitgenommen, weil es nicht einfach ist.", sagte sie voller Mitleid, und Ben erinnerte sich an die Begegnung mit Carina und ihrer kranken Mutter. Sofort regte sich wieder ein Gefühl in ihm, eine Art Mitleid, eine Art Beschützerinstinkt, den er in sich trug. Sollte er sie vielleicht mal besuchen... einfach so? Seine Hilfe anbieten?
    "Zu wem hatte er hier in der Abteilung den engsten Kontakt?", fragte Ben dann, als er wieder aus seiner Gedankenwelt zurückgekehrt war. "Vielleicht mit seinem Zimmerkollegen. Aber Rainer Zoller hat momentan Urlaub.", antwortete die Frau, doch so ganz sicher klang ihre Antwort nicht. Ben kam es so vor, dass das Klima in dieser Abteilung vielleicht doch nicht so eng und kollegial war, wie es ihnen der Abteilungsleiter Hambert ihnen eben vorspielen wollte. Doch warum sollte er lügen? Er musste seine Abteilung vor der Polizei ja nicht besser darstehen lassen, als es in Wirklichkeit war.


    Nachdem Ben sich bedankte und auf den Flur trat, um das Gebäude zu verlassen, wurde er von Herrn Hambert aufgehalten. Kevin war bereits nach unten gegangen um vor dem Gebäude noch eine Zigarette zu rauchen. "Herr Jäger! Ich habe mir das mit diesem Sportgeschäft mal angesehen.", sagte er und hielt ein Blatt Papier in der Hand, eine Art Auflistung, wie Ben sofort feststellte. "Dieses Geschäft hatten wir tatsächlich mal unter Versicherungsschutz. Gebäude- und Brandschutzversicherung. Als es dort aber innerhalb von 4 Monaten dreimal gebrannt hatte, und wir dreimal bezahlen mussten, bekamen wir Zweifel, dass dort etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Wir haben dort eine Überprüfung angekündigt, danach wurde die Versicherung seitens der Betreiber aufgekündigt.", erklärte er die Auflistung.
    "Wie lange ist das her?", fragte Ben interessiert. "Das müsste jetzt....hmm... so ungefähr vier Monate her sein. Anfang Herbst, ja." Er schaute auf das Blatt und tippe auf ein Datum im September. Warum sollte Björn Bachmann jetzt noch mit dem Geschäft telefonieren, wenn die Versicherung seit Monaten nichts mehr mit ihnen zu tun hatte. "Danke für die Info.", sagte der Polizist und nahm den Ausdruck, bevor er sich auf den Weg machte. Vor dem Aufzug blieb er kurz stehen, dachte nach. Sollte er... sollte er nicht? Alleine der Gedanke an den beengenden Fahrstuhl ließ seine Hände feucht werden. Unauffällig rieb er sie am Hosenbein ab, bevor er sich über die Treppen nach unten machte.


    Kevin stand in dieser Zeit an der eiskalten Luft und zog an seinem Glimmstengel. Er dachte an letzte Nacht, als er im Schnee auf der Bank saß, und über Annie nachdachte, gerade als auf der gegenüberliegenden Straßenseite Ole auftauchte. Er erblickte den Polizisten, der sofort genervt zur Seite sah. "Läufst du mir hinterher?", fragte Kevin, als Ole mit seinem Punkfreund die Straße überquerte, bis er bei Kevin stand. "Hast du es dir überlegt?", fragte der junge Punk sofort und bekam prompt Antwort: "Da gibt es nichts zu überlegen." Ole schüttelte den Kopf. "Die kann Annie nicht so egal sein, dass du dir keine Gedanken über sie machst." Er sagte es, als würde er Kevin seit Jahren kennen und genau wissen, was in seinem Kopf vorgeht. Und obwohl Ersteres nicht der Fall war, hatte er doch recht. "Du weißt einen Scheißdreck über meine Gedanken.", sagte der Polizist gereizt.
    "Komm, der Bulle macht eh nichts.", meinte der Typ neben Ole, der mit bläulich gefärbten Haaren sogar unter einer Gruppe Punks auffallen würde. Doch Ole schüttelte die Hand an seiner Jacke ab und nahm aus seiner Tasche einen Zettel mit einer Handynummer. "Wir wollen sie selbst suchen, wissen aber nicht, wo wir anfangen sollen. Wir haben Angst, dass sie mit Drogen in Verbindung gekommen ist, so verzweifelt wie sie war." Kevin schüttelte den Kopf: "Annie hatte nie Drogen genommen, und das würde sie auch nicht tun."


    "Wir wissen es nicht. Aber wir wollen wissen, wo sie ist und warum sie sich nicht mehr meldet.", sagte er mit Überzeugung. "Dann wünsch ich euch viel Glück.", meinte der Polizist halb sarkastisch, halb ernsthaft, als Ben hinter Kevin in einiger Entfernung auftauchte. "Ich bitte dich nur um eins: Du kannst doch rausfinden, wo Annies Handy eingebucht ist. Wir wollen nur wissen, wo wir suchen müssen. Danach werde ich dich um nichts mehr bitten." Kevin blickte mit seinen eisblauen Augen abwechselnd zu Ole, und auf den Zettel mit den 8 Ziffern. Ben kam näher und konnte die Stimmen leise im Lärm der Hauptstraße vernehmen, und sehen wie Ole Kevin einen Zettel hinhielt. Er hörte den Namen "Annie", er hörte das Wort "bitten".
    Erst als er näher kam, wurde er von Ole bemerkt. "Was ist denn hier los?", fragte Ben und der junge Punk ignorierte den Polizisten, in dem er in Kevins Richtung nochmal ein vestärktes "BITTE!", hinterher schob und den Zettel näher an Kevin heranbrachte. Um eine Diskussion zu verhindern, oder zu verhindern, dass Ben einfach nach dem Zettel greifen würde, nahm Kevin die Nummer mit verkniffenen Gesichtsausdruck. Es war eine stumme Zustimmung. "Und jetzt verpisst euch.", raunte er mit seiner prägnanten Stimme. Ole nickte, halb dankbar, halb verständisvoll und die beiden Punks gingen ihres Weges. Kevin steckte die Nummer in seine Lederjacke und schnippte die Zigarette zu Boden, bevor er sich umdrehte und direkt zu Ben sah. In seinen Augen konnte er die stumme Aufforderung ablesen, sofort zu erklären, was das zu bedeuten habe.

    Versicherungsgebäude - 11:30 Uhr


    Ben war stolz auf sich selbst. Die Idee, einfach in Semirs Therapiesitzung zu marschieren und sich an seiner Therapie zu beteiligen, war voll aufgegangen. Semir war nun offener, er hatte von seinem Problemen geredet, er bekam Hilfe von der Therapeutin. Dass er sich einen klaren Plan über den Tag machen sollte, dass er bei Ärger nicht an den Vorfall denken solle. Sie zeigte Entspannungsübungen, weil er im Dienst nach dem Vorfall immer wieder auffällig geworden ist und vor allem deshalb erst mal aus dem Verkehr gezogen wurde. Kevin musste sich erst mühsam überzeugen lassen von der Idee, aber wenn es Semir half, wollte er über seinen Schatten springen. Und auch auf ihn war Ben sehr stolz, dafür dass er seinen inneren Schweinehund überwunden hatte.
    Semir versprach den beiden, auch die nächste Therapiesitzung zu besuchen, und war seinen beiden Freunden unendlich dankbar für ihre Hilfe. Im Gegenzug versprach Ben, heute nachmittag mal mit Anna Engelhardt zu reden, und sie zu überzeugen, dass Arbeit momentan das Beste für ihren besten Mitarbeiter wäre. Zur Not auch nur im Büro, ohne Kontakt zu Verdächtigen oder Verhören, damit es nicht wieder zu Auseinandersetzungen kam, zumindest vorläufig, bis er dieses Trauma, das er aus dem Keller der Germania mitgenommen hatte, verarbeitet hat.


    Jetzt hielt Ben den Dienstwagen auf dem Besucherparkplatz der großen Versicherung an einem Hochhausgebäude. Einzelne Flocken tanzten im eiskalten Wind, und Kevin schlug den Kragen seines dunklen Mantels nach oben, als sie ausstiegen. Nachdem sie ihrem Partner geholfen hatten, mussten sie sich jetzt wieder um ihren Fall, den Mordfall Björn Bachmann, kümmern. Die Empfangshalle glich beinahe einem Hotel, es gab eine Informationsstelle, viele Grünpflanzen und ein aufwendig gestalteter Springbrunnen, der auch auf einer Kunstausstellung hätte stehen können. "Hier ist es Geld noch zu Hause.", meinte Kevin ob der gezeigten Protzigkeit, dass das Versicherungsgeschäft offenbar gut laufen musste, wenn man sich in der Empfangshalle einen solchen Luxus leistete.
    Die beiden Polizisten gingen zur jungen Dame hinter dem Tresen der Information, zeigten ihre Dienstausweise und fragten nach dem direkten Vorgesetzten von Björn Bachmann. "Ist etwas mit Herrn Bachmann?", fragte die höflich lächelnde Dame, was aber wohl mehr Fassade als Wirklichkeit war. Doch die Frau hatte ausschließlich Kundenkontakt, und konnte trotz schlechtester Laune ein Zahnpasta-Lächeln anknipsen, dass sich sofort jeder Kunde wohl fühlte. Ben wiegelte ab, die Todesnachricht sollte der Chef selbst überbringen. "Das dürfen wir ihnen nicht sagen.", meinte er kurz angebunden und ließ sich von der Frau den Weg zum Abteilungsleiter erklären.


    Als die beiden Beamten in Richtung des Treppenhauses und der Aufzüge gingen, um in den 4. Stock zu gelangen, begann Ben gleichermaßen nervös zu werden und Kevin zu lächeln. "Willst du mit der Konfrontationstherapie gleich hier und jetzt beginnen?", fragte er und sah seinen Freund herausfordernd an. Als wäre es ein giftiges Reptil blickte Ben zu den silber-glänzenden metallenen Aufzugstüren, und setzte eine skeptische Miene auf. "Ich weiß nicht... muss das unbedingt heute und Jetzt sein?" Kevin zuckte nur mit den Schultern: "Pff, ich bin nicht dein Therapeut." Nein, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, entschied der Polizist und nahm den Weg in Richtung Treppenhaus. Ein wenig grinste Kevin hinter Ben und dachte für sich, dass da noch ein wenig freundliche Neckerei von Nöten ist, um ihn zur Konfrontation zu bewegen.
    Der 4. Stock war für die beiden sportlichen Polizisten schnell erreicht, und sie klopften an der Bürotür von Herrn Hambrecht an, der bereits von der Empfangsdame über den Besuch informiert war. Er bat die beiden Polizisten herein, bot ihnen Platz und Kaffee an, wobei beide das Letztere dankend ablehnten. Bernd Hambrecht war ein älterer Mann mit kugelrunder Plauze unter seinem straffen Hemd, die Hemdsärmel trotz der Kälte aufgekrempelt, und nur einen Haarkranz um den Kopf, der bereits weiß gefärbt war. Er sprach mit einer sonoren Stimme perfektes Hochdeutsch, und die beiden Polizisten waren sich sicher, dass dieser Mann jedem eine Versicherung andrehen konnte, wenn er nur genug redete.


    Als die beiden Polizisten die Todesnachricht seines Mitarbeiters überbrachten war er allerdings einen Moment still. Er drehte sich auf dem Bürostuhl zum Fenster und sah für einen Moment hinaus auf die Hauptstraße von Köln. "Meine Güte...", murmelte er und biss auf die Lippen. "Weiß seine Schwester schon Bescheid?" "Selbstverständlich, sie haben wir als Erstes informiert.", antwortete Ben und sah, wie der Abteilungsleiter samt Stuhl wieder zurück zum Schreibtisch rollte. "Ich werde sofort veranlassen, dass ihr jede Unterstützung zukommt. Ich weiß über die Familienverhältnisse von Herrn Bachmann Bescheid." Offenbar spielte er auf die kranke Mutter an, und der Tatsache dass Carina Bachmann ihren Job für die Pflege ihrer Mutter aufgegeben hat.
    "Herr Hambert, wie lange hat Herr Bachmann für sie gearbeitet?", fragte Ben und lehnte sich im Stuhl zurück. Der dickliche Leiter strich sich über die Krawatte. "Das dürften jetzt schon 16 oder 17 Jahre sein. Einer meiner besten Mitarbeiter, sehr loyal auch in schlechten Zeiten. Ausgezeichneter Sachbearbeiter und angenehmer Mensch." "Kannten sie sich näher?" "Was heißt näher? Ich pflege ein gutes Verhältnis zu meinen 10...", er verstummte kurz... "9 Mitarbeiter. Wir veranstalten zwei Gemeinschaftstage im Jahr, wir essen meistens zusammen zu Mittag. Jeder soll sich hier wohlfühlen. Deswegen habe ich immer mal mitbekommen, was im Hause Bachmann passiert, wie es um die Familie stand. Aber ich war niemand, der dort Ein- und ausging."


    Ben nickte ob der Ausführungen und machte sich Notizen. "Wissen sie, ob Herr Bachmann Feinde hatte? Neider, unzufriedene Geschäftskunden?", fragte Kevin interessiert. "Junger Mann, wir verkaufen hier Versicherungen und keine Kriegswaffen. Natürlich gibt es hin und wieder unzufriedene Kunden, aber das beläuft sich dann auf wütende Telefonate und Androhung von Gerichtsverfahren. Aber mir ist nichts von konkreten Drohungen bekannt." Ben und Kevin sahen sich einen Moment lang gegenseitig an, und als ob der Abteilungsleiter befürchtete, sich selbst ins schlechte Licht zu rücken, setzte er schnell hinzu: "Ausserdem war Herr Bachmann ein guter Verkäufer. Immer höflich und kundenfreundlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da jemand nicht zufrieden war."
    "Ich nehme an, sie handeln keine Bargeschäfte mit Kunden?", fragte der junge Polizist mit seiner monoton wirkenden Stimme, und Bernd Hambrecht schüttelte den Kopf: "Wieso fragen sie?" "Weil wir 1200 Euro in bar am Tatort gefunden haben... und nicht genau wissen, woher sie stammen." Hambrecht schien diese Frage ebenfalls nicht beantworten zu können. "Nein, wir machen keine Bargeschäfte. Dazu kann ich ihnen leider nichts sagen." Kevin lehnte sich im Stuhl zurück, während Ben sich nach vorne lehnte, um seinem Gegenüber einen Zettel auf den Tisch zu legen. "Kennen sie dieses Sportgeschäft? Oder den Besitzer?" Auf dem Zettel stand sowohl Namen des Geschäftes, als auch der niederländische Besitzer. "Ein Kunde, vielleicht?" Bernd Hambrecht wog den Kopf hin und her. "Wir haben viele ausländische Kunden. Ich müsste das prüfen lassen, und gebe ihnen Bescheid." Beide nickten dankend. "Wir werden in der Zwischenzeit noch einige Kollegen befragen.", meinte Ben und beide standen von ihren Stühlen auf.

    Hallo Campio,

    auch ich hab mich bei dir verlaufen und bin stehen geblieben und ich hab nicht viel zu sagen, außer auch ein WOW. Deine Schreibweise ist der Wahnsinn. Ich fühl mich, als wäre ich mittendrin im Geschehenen. Was hab ich da gelesen? Ayda lag in Koma???? Um Himmels Willen, was war ihr denn zugestoßen???? Ja, ich merke, ich war schon lange hier nicht mehr gewesen und muss ja einiges beim Lesen nachholen.
    Und dein erstes Kapitel bezüglich den ganzen Drogen - sprichst du da aus Selbsterfahrung? Meine Güte war das beschrieben und dann fand ich das auch so toll beschrieben mit der tickenden Uhr. Alle Achtung. Der arme Semir, was der durch die Hölle hat gehen müssen. Find ich auch ein "schöner" Moment, wie die Psychologin davon nicht abgeneigt war, zumal sie die Verbindung zwischen denen gesehen hat :)
    Freue mich auf die Fortsetzung


    Hallo Kathrin, schön dass du mitliest :) Meine Storys bauen aufeinander auf. Um Aydas Geschichte um ihre Komaerfahrung lege ich dir "Komakinder" ans Herz, und um ungefähr zu wissen, was Semir so aus der Bahn geworfen hat, wäre eine Lektüre von "Swastika" empfehlenswert ;)

    Aber wenn du willst, kann ich dir auch eine kleine Kurzzusammenfassung aller drei Hauptcharas per PN schreiben, sag mir einfach Bescheid. :thumbup:

    Büro Polizei-Psychologin - 9:00 Uhr


    Die Uhr tickte wieder - diesmal wirklich. Sie machte ein Geräusch im Takt des Sekundenzeigers, das Semir beinahe wahnsinnig machte. Er hatte die Polizei-Psychologin, Frau Schneider, früh morgens bereits angerufen und um schnellstmögliche Vorverlegung seines nächsten Termins gebeten. Er wollte es hinter sich bringen, ermutigt von seinem Partner Ben, bevor ihn bis morgen nachmittag wieder die Angst und die Sturheit einholte. Frau Schneider sagte zu, ein Patient von ihr sei kurzfristig erkrankt und sie hätte den Termin frei. Semir wurde heute morgen noch von Ben bestärkt und gelobt, nachdem er ihm geschrieben hatte, dass er heute nochmal hingeht. Sie freue sich, dass sich der eigenwillige Polizist nun doch bereit erklärt hat, über seine Probleme zu sprechen, obwohl sie, als sie sich nun gegenüber saßen, wieder Zweifel verspürte.
    Semir war nervös, er rieb die Hände aufeinander, leckte sich immer wieder mit der Zunge über die Lippen weil er das Gefühl hatte, sein Mund wäre ausgedörrt. Ein Blick auf die Uhr, ein Schluck aus dem Glas Wasser, das vor ihm stand und er hoffte, dass wie früher so oft, sein Diensthandy klingelte, er abheben konnte und sich entschuldigen müsse. Am liebsten wäre er jetzt einfach ganz woanders... auf der Autobahn, in seinem Wohnzimmer, in seinem Bett. Irgendwo, nur nicht hier.


    "Sie müssen nicht nervös sein, Herr Gerkhan. Erzählen sie mir doch einfach mal, warum sie heute Nacht schlecht geschlafen haben.", sagte die Psychologin. "Und ich höre ihnen einfach zu." Dabei legte sie demonstrativ Block und Stift auf den Tisch, um Semir das Gefühl eines "Verhörs" ein wenig zu vertreiben. Er solle einfach erzählen, als wäre Frau Schneider eine gute Freundin, doch das war sie nicht. Sie war Psychologin, dieses Gefühl konnte Semir nicht ausblenden. Bei Ben zu sitzen, bei Kevin zu sitzen, das war etwas komplett anderes, und einfach zu erzählen. Ben wusste genau, wie Semir tickte, wusste genau wie er bestimmte Sätze zu nehmen und zu interpretieren hatte. Vor Ben und Kevin musste Semir keine Stärke zeigen, konnte alle Fassaden fallen lassen. Aber vor einer fremden Person, ausgebildete Psychologin hin oder her... es fiel so schwer. Er wirkte so gehemmt, als wäre sein Mund mit Heftpflaster zu geklebt.
    "Ich... ich habe nachgedacht.", war die zögerliche Antwort des Polizisten. "Und über was haben sie nachgedacht?" Die Psychologin machte ihre Sache gut. Sie fragte einfühlsam, mit der nötigen Empathie. Aber manche Personen wollten oder konnten vor Fremden einfach nicht frei reden, und der erfahrene Beamte gehörte wohl zu dieser Spezies. "Ich... weiß nicht recht. Über heute... über diese Sitzung.", meinte er und schaute vom Boden kurz auf. Ach, wenn nur...


    Es klopfte. Semir war dankbar darum, ganz egal was das Klopfen zu bedeuten hatte. Frau Schneider eher nicht, sie hasste es in einer Sitzung gestört zu werden. Nicht auszudenken, wenn ein Patient sich gerade erst dazu durchgerungen hatte, zu erzählen und sich zu öffnen, und würde dann von irgendjemandem dadurch unterbrochen. Die Psychologin stand missmutig auf um die Tür zu öffnen, und ihr Patient konnte von seinem Sitzplatz aus nicht sehen, wer vor der Tür stand. "Wie kommen sie darauf, mitten in eine Sitzung zu platzen.", sagte sie vorwurfsvoll, und die antwortgebende Stimme ließ Semir aufhorchen. "Ich habe um 9 Uhr einen Termin mit ihnen." "Das kann gar nicht sein... ich habe bereits eine Sitzung.", sagte die Psychologin ungeduldig. "Ich weiß".
    "Lassen sie ihn herein.", sagte Semir nun hastig, denn sie hatte Angst, dass die Psychologin seinen Partner Ben abwimmeln würde. Natürlich hatte Ben keinen Termin mit Frau Schneider... natürlich kam er nur hierher, um Semir beizustehen, damit es ihm leichter fiel, zu reden. Ein wenig spitzbübisch war sein Grinsen, als er seine Winterjacke an den Haken hing und sich einen zweiten Sessel beistellen ließ, um sich direkt neben Semir zu sitzen. Beide lächelten und der ältere Polizist fühlte sich sofort wohler.


    Gerade wollte Frau Schneider beginnen, sie wollte Ben fragen, mit welchen psychischen Problemen er denn zu ihr kommen würde, als es erneut an der Tür klopfte. Durchdringend sah sie die beiden Polizisten an, die einerseits Ben eine gespielte Unschuldsmiene aufsetzen, andererseits Semir auch wirklich unwissend war. Obwohl er sich denken konnte, wer nun an der Tür klopfte. Als Frau Schneider nochmal aufstand um zur Tür zu gehen, kopfschüttelnd ob dieses Schauspiels, lächelten sich Ben und Semir gegenseitig an, und der Kommissar ergriff kurz die Hand seines Partners. "Haben sie auch einen Termin mit mir um diese Uhrzeit?", fragte die Psychologin sofort nach dem Öffnen der Tür den jungen Mann mit Stachelfrisur, der dort stand und nickte.
    Seufzend ließ die junge Frau Kevin den Vortritt in das Büro, und nahm einen weiteren Stuhl, während Kevin mit einem gespielten: "Was macht ihr denn hier?", in Richtung Ben und Semir zu den beiden trat. "Ihr seid echt verrückt...", murmelte Semir und war voll Dankbarkeit und Stolz über seine Freunde. Sie ließen ihn nicht im Stich und selbst der manchmal etwas unterkühlte Kevin ließ sich auf dieses Spielchen ein. Doch es sollte nicht nur ein Spiel sein, sondern es wurde sogar für seine beiden Freunde auch zu einer Art Therapie.


    Als wollten sie Semir zeigen, wie es geht, offenbarten sie sich vor der Psychologin zuerst. Ben erzählte von seiner enormen Platzangst seit der Begegnung mit einem Sarg, etwas was Semir noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Und er erzählte, was er Kevin erzählt hatte... seine Angst, das Glück in seinem Leben bereits komplett ausgenutzt zu haben, seit der Schiesserei in dem alten Krankenhaus, bei der er schwer verletzt wurde. Er erzählte, wie sehr es ihn belastete, dass er Angst vor Einsätzen gehabt hatte, und vor allem durch die Unterstützung Kevins bei dem Einsatz in der Kneipe, als man Semir befreite, ein bisschen von dieser Angst wieder ablegen konnte. Die Psychologin hörte genau zu und empfahl eine Konfrontations-Therapie bezüglich seiner Platzangst. Genauso, wie die Konfrontation mit seiner Angst ihm auch bei der Unsicherheit seines Berufs geholfen hatte.
    Kevin fiel es schwerer zu reden... was Ben nicht wunderte. Er hatte sich auch vor einer halben Stunde noch gegen Bens Idee, sich zu Semir in die Therapiestunde zu setzen, selbst über Probleme reden um Semir so zu helfen, gewehrt. Er wollte keinen Seelen-Striptease vor einem Fremden abhalten, etwas was ihm schon vor Freunden und Vertrauten mehr als schwer fiel. So war es, dass Kevin nur von einem Trauma erzählte aus seiner Jugend, einem Tod einer nahestehenden Person, den er miterlebt hatte. Er nannte keine Einzelheiten, er erwähnte nichts von seiner Sucht, den Drogen, dem Alkohol. Er erzählte nur, wie sehr er unter dem Verlust litt.


    Danach hatte Semir es viel leichter, als er an der Reihe war, zu erzählen. Während Ben den Schrecken ja schon kannte (und trotzdem wieder von einer Gänsehaut befallen wurde) hörte Kevin die Gräueltaten der Neo-Nazis zum ersten Mal. Sein alter Hass auf die Rechtsradikalen, der ihn damals schon befallen hatte, flammte erneut auf. Und irgendetwas bestärkte ihn in seiner Verbundenheit zur alten Clique... und damit fatalerweise auch zu Annie...

    Dienststelle - 08:00 Uhr


    Nein, sie sahen wirklich nicht gut aus. Bens Augen waren mit leichten Schatten belegt, und er gähnte immer wieder, während er der Kaffeemaschine dabei zusah, wie sie aus Pulver und Wasser eine bitter schmeckende Flüssigkeit machte, die wieder zu Leben verhelfen soll. Kevins Frisur sah an diesem Morgen, als er mit einem kurzen "Morgen" ins Büro kam irgendwie "geplättet" aus, weniger durcheinander als sonst, als hätte er an diesem Morgen das Styling einfach weggelassen. Auch seine Augen sahen müde aus. Beide mussten sich bereits Sprüche von Hotte und Dieter anhören, bevor die beiden zu einem Unfall auf der Autobahn gerufen wurden. Die Straßen waren an diesem Morgen weiß, der Streudienst kam nicht hinterher, und es würde wohl für alle Beamten an diesem Tag viel zu tun geben.
    "Ich glaube, wir hatten heute nacht den gleichen Alptraum, was?", meinte Ben sarkastisch, als er Kevins Zustand bemerkte. "Um zu träumen hätte ich erst einmal schlafen müssen.", war dessen Antwort, als er sich auf den Drehstuhl fallen ließ und ebenfalls gähnte. Nächte mit wenig Schlaf war Kevin seit Jahren gewohnt, weswegen sie ihn nicht so sehr mitnahmen wie andere, doch heute war es extrem und ein Kaffee bitter nötig, um aus der müden Lethargie zu entfliehen. Ben bemerkte das, sah das genauso und kochte für seinen Partner gleich eine Tasse mit.


    "Ich habe mir schon mal die Antworten von der BNetzA bezüglich der Handynummern angesehen, die du gestern abgefragt hast.", sagte der Polizist mit der Wuschelfrisur und stellte die dampfende Tasse auf Kevins Schreibtisch, der sich dafür bedankte und mit möglichst aufmerksamen Blick zu Ben herauf sah. "Also, die meisten der holländischen Nummern sind Wegwerf-Karten von irgendwelchen Supermarkt-Providern. Deswegen haben wir da keinen Namen dahinter." Ben hatte sich halb auf Kevins Schreibtisch gesetzt und mehrere Zettel in der Hand, die er nun hin und her tauschte, während sein Freund vorsichtig in den Kaffee blies und einen Schluck davon nahm. "Eine dagegen ist eine Festnetznummer, und gehört zu einem Sportartikelgeschäft in Maastrich." Dabei legte er seinem Partner ein Blatt Papier hin, auf dem er die Website eines kleinen lokalen Sportartikelgeschäftes abgedruckt hatte.
    Kevin nahm das Blatt Papier in die Hand und meinte nachdenklich: "Hier gibts doch auch Sportartikel. Sind die in Holland günstiger?" Dann sah er nach oben, und bevor Ben eine Antwort geben konnte, meinte er: "Ach, ich vergass... Sport ist für dich ja ein Fremdwort." Dann grinste er und Ben musste auch grinsen. "Bei den deutschen Nummern handelt es sich um Privathaushalte, die ich hier aufgelistet habe. Ich befürchte, die müssen wir alle abklappern." "Als Mitarbeiter einer Versicherung wird er wohl Kontakt zu Privatpersonen gehabt haben.", meinte der junge Polizist und sah Ben nach, wie der zurück an seinen Platz ging. "Ich weiß. Überprüfen müssen wir es trotzdem.", sagte der fast wie ein spießiger Beamter, übertrieb seine Tonlage jedoch wissentlich, und Kevin ließ den Kopf in den Nacken fallen.


    "Guten Morgen, meine Herren.", begrüßte Anna Engelhardt ihre beiden Beamten lächelnd und meinte etwas bissig: "Ich hoffe, ich muss ihnen keine Kaffeemaschine in den Dienstwagen einbauen lassen, wenn sie heute auf Streife fahren." Dabei spielte sie auf die dunklen Ränder unter den Augen ihrer beiden Mitarbeiter an. "Wir sollten uns heute nur mit Sonnenbrille fortbewegen.", meinte Ben, obwohl es draussen grau-weiß war, und es immer mal wieder zu schneien anfing. "Besser nicht, Herr Jäger. Bei diesem Wetter könnte das leicht arrogant herüber kommen.", witzelte die Chefin und erfragte dann den aktuellen Status der Ermittlungen, die Ben dann mit kurzen knackigen Sätzen vortrug... es war ja noch nicht besonders viel.
    "Und wie geht es Semir?", fragte sie nach dem dienstlichen Teil. Ben wollte natürlich nicht soviel verraten, schon gar nicht den vertraulichen Teil des gestrigen Abends. "Ähm... ja, also er machte auf mich eigentlich einen recht okayen Eindruck. Er will es jetzt auch nochmal mit dem Psychologen versuchen.", meinte Ben ein wenig ausweichend. "Das will ich hoffen. Solange der ihn nicht halbwegs gesund bescheinigt, oder zumindest den Willen auf Therapie, kann Semir nicht im Polizeidienst arbeiten. Und dass der Polizeipräsident einen, ich sage mal, leicht sturen Beamten...", wobei sie bei diesem Wort lächelte "... monatelang im Krankenschein lassen kann, dürfte ihnen auch klar sein. Also wirken sie vielleicht auf ihn ein, falls er den Mut wieder verliert." Ben nickte und zeigte den Daumen nach oben. "Alles klar, Chefin."


    "Was ist eigentlich mit Frau Dorn?", fragte sie noch, als sie sich bereits zum Gehen gewandt hatte. Jenny saß nicht auf ihrem Arbeitsplatz, und Kevin "erwachte" quasi wieder, nachdem sein Blick sich auf dem Zettel des Sportgeschäftes verloren hatte, und er im Begriff war, einzudösen. "Die hat sich wohl gestern abend den Magen verdorben und ist heute krank.", meinte er und blickte zur Chefin. "Sagen sie ihr gute Besserung von mir.", meinte Anna Engelhardt und verließ endgültig das Büro. Jenny hatte sich heute morgen, kurz nach dem Aufwachen, übergeben müssen und war vorsorglich zu Hause geblieben. Kevin schon es auf den Joghurt gestern abend, das Einzige vom dem nur Jenny gegessen hat und er nicht.
    "So, da du ja so toll vorgearbeitet hast, hast du doch sicher schon einen Termin bei der Versicherungsgesellschaft unseres Toten gemacht, oder?", sagte der junge Polizist und sah herüber zu seinem Partner Ben, doch der schüttelte den Kopf, sah auf die Uhr und stand von seinem Platz aus. "Nein, wir haben jetzt noch einen anderen Termin." Kevin blickte ein wenig verwirrt, als Ben seine Jacke überzog. "Anderer Termin?", fragte er und ging im Kopf alle möglichen Termine durch, die er sonst vergaß... Schießtraining, Autoinspektion... es fiel ihm nichts ein. "Erklär ich dir am Auto... los los!", kicherte Ben und klatschte in die Hände, um seinen Partner anzutreiben.

    Schlafzimmer - 02:00 Uhr


    Andrea's Atem war ganz leise und flach zu hören. Es war ein angenehmes Geräusch, es war Vertrautheit, ein Geräusch das er jede Nacht gerne bei sich hörte. Es zeigte an, dass alles in Ordnung war. Kein Zischen, kein Klopfen, kein Ticken, als Semir in dieser Nacht wach lag und nicht in den Schlaf fand. Stattdessen hing er seinen Gedanken nach, er dachte an den gestrigen Abend, als Ben und seine Frau bei ihm auf der Couch saßen, ihm halfen und ihn stützten. Wie Ben selbstsicher und aufmerksam seinen Schilderungen aus der Horror-Nacht berichtete, seine Hand auf Semirs Schulter und er dachte daran, wie gut ihm die bloße Anwesenheit seines Freundes tat. Er hatte ihn ermutigt wieder zur Therapie zu gehen, mit der Psychologin zu reden, auch wenn es schwer war, alleine mit einer fremdem Person darüber zu sprechen, wie Semir zugab.
    Jetzt im warmen Bett fühlte er sich wohl. Es war so still, wie er es schon lange nicht mehr vernommen hatte. Er dachte an sich, an sein Leben, an Gott. Er hat sich früher oft gefragt, ob es einen Gott gibt. Er hatte sich mit der Religion aus seinem Haus beschäftigt, er hatte sich mit der katholischen Religion beschäftigt, als er und Andrea geheiratet haben, auch wenn sie entschlossen hatten, nicht kirchlich sondern nur standesamtlich mit einem großen Fest zu heiraten. Und doch fragte er sich manchmal, ob es Gott gab, ein Schicksal, das alles bestimmte.


    Semir war ein rational denkender Mensch. Für alles gab es eine Erklärung, Zufälle waren selten, Glück und Pech gibt es nicht. Und doch gab es Momente in seinem Leben, in denen er diese Gedanken schon mal hatte. Hatte er ein gutes, oder ein schlechtes Leben? Er verfluchte Gott, als er André (scheinbar) verloren hatte, als er seinen Freund Tom und seinen Partner Chris verloren hatte. Er dankte Gott, als er Andrea kennenlernte und sie heiratete. Er dankte Gott für seine beiden Kinder, die gesund waren, vor allem dass Ayda sich wieder vollkommen erholt hatte. Er dankte Gott für seinen besten Freund, so wie gestern abend und er verfluchte Gott für diese Horror-Nacht und all das, was danach kam. Ihm stieß im Wechsel soviel Gutes und soviel Schlechtes zu, dass er daran zweifelte, ob es wirklich einen Gott gab. Und wenn, dann musste er Semir gegenüber eine ziemlich sadistische Ader haben.
    Der erfahrene Polizist drehte sich auf die linke Körperseite und zog die Decke bis ans Kinn. Er musste diese schlimme Nacht aus dem Kopf kriegen. Es ging ihm doch gut, es gab doch keinen Grund in Selbstmitleid zu versinken. Andere Menschen erlebten Traumata, und waren allein, wobei ihm sofort Kevin einfiel. Der musste hilflos mitansehen, wie seine kleine Schwester getötet wurde. Und Kevin hatte keine Frau, die ihn liebte, keinen Freund, der ihn stützte, keinen Halt im Leben. All das holte er jetzt nach, mit der Hilfe von Ben und Semir, und das machte den erfahrenen Beamten stolz.


    Auch Ben lag wach und dachte an den gestrigen Abend zurück. Semirs Horror-Erzählungen gingen dem Polizisten nicht mehr aus dem Kopf, und versuchte sich bildlich vorzustellen, was passiert sei... doch er bekam es nicht zusammen, er sah in sich nur verschwommene Bilder und schreckte einmal aus dem Kissen hoch, als sich Vorstellung mit einem leichten Schlaf zu einem Traum vermengt hatten. Er schlug die Decke weg und stand in Shorts und Shirt aus dem Bett auf, um irgendwie auf andere Gedanken zu kommen. Dabei ging er zum Fenster, schob die Gardinen ein wenig zur Seite und sah hinaus. Im Schein des orangenen Lichtes der Laternen tanzten dicke Schneeflocken und die Straße hatte bereits einen dünne weiße Schicht. Keinerlei Autospuren waren auf der Straße zu sehen, nur auf dem Fußgängerweg waren Fußspuren von einem Nachtschwärmer.
    Es fröstelte ihn und der Polizist schlüpfte zurück unter seine warme Decke. Er hatte eine Idee, wie er Semir helfen könnte um seine Rückkehr in den Polizeidienst zu beschleunigen. Er nickte für sich selbst... ja, die Idee war gut. Kevin müsste mitmachen, ihn zu überreden wäre wohl der schwierigste Teil. Es würde Semir auf jeden Fall helfen zu reden. Er dachte wieder an seine Schilderungen, wieder an die Narbe auf seinem Hals und den hilflosen Blick in Semirs, sonst so selbstsicheren Augen. Ausserdem würde er morgen zum Staatsschutz fahren um sich zu vergewissern, dass der Neo-Nazi, der Semir das angetan hatte, sicher hinter Gitter war und auf jeden Fall nach dem bestehenden Strafrecht auch verurteilt würde.


    Doch noch ein Gesicht kreuzte Bens Gedanken, als er wach im Bett lag... Carina Bachmann. Er konnte es sich nicht erklären, was ihn an dieser Frau so faszinierte, denn in ihrer Natürlichkeit war sie eigentlich weniger Bens Typ. Auch wirkte sie in ihrer gestrigen Gefühlslage, erst gestresst und dann voll Trauer, sicher nicht anziehend oder attraktiv auf einen Mann. War es nur Mitleid? Oder Bewunderung darüber, dass Carina ihren Job aufgab um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern? Ben konnte es nicht sagen, doch die tiefgrünen Augen, die Carina definitiv von ihrer Mutter geerbt hatte, hatten ihn in ihren Bann gezogen, was vermutlich nicht mal Absicht der jungen Frau war in diesem Moment.
    Wie schwer musste es einem Kind fallen, den geistigen Verfall der eigenen Mutter zu zu schauen, ohne etwas tun zu können. Zu betrachten, wie es der Mutter immer schwerer fiel, alltägliche Aufgaben zu erledigen. Ben konnte sich das nur vorstellen, und selbst das fiel ihm schwer. Sein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Mann der immer alles im Griff hatte, geschäftstüchtig, im Einzelfall auch mal eiskalt und knallhart, was Ben immer schon zuwider war. Trotzdem konnte er sich nur sehr schwer vorstellen wie es war, dass sein Vater am Tisch saß, nicht wusste wie er ein Kreuzworträtsel lösen sollte oder längere Zeit darüber nachdenken musste, was er eigentlich vor 10 Minuten erzählt hatte. Nein, es war schwer vorstellbar... und wenn Ben es schaffte, sich diesen Zustand seines Vaters vorzustellen, auch nur für eine paar Sekunden, dann wurde er unfassbar traurig darüber.


    Ein leises Atmen hatte auch Kevin vernommen, als er leise seine Jeans und Schuhe anzog, einen Pullover über den nackten Oberkörper zog und die Lederjacke von der Stuhllehne nahm. Jenny schlief seelenruhig wie ein schnurrendes Kätzchen in ihrem Bett, neben ihr ein Zettel mit Kevins Handschrift: "Kann nicht schlafen, bin mal draussen." Der junge Polizist wurde wahnsinnig, wenn er im Bett lag und nicht schlafen konnte. Er konnte zwar stundenlang irgendwo still sitzen und warten, hatte die Geduld eines Chamaeleons aber im warmen Bett, in liegender Position, das wurde für ihn zur Qual. Und die Gedanken, die er sich in dieser Nacht um Annie machten, hinderten ihn einfach am Einschlafen, so dass er beschloss, an die frische Luft zu gehen.
    Der Schnee knirschte angenehm unter seinen Schuhen, als er auf die Straße hinaus ging. Bis in die ersten Zeilen der Innenstadt waren es nur wenige Minuten, die Flocken blieben in seinen stacheligen Haaren hängen. An einer Tankstelle, die rund um die Uhr offen hatte, kaufte er sich zwei Dosen Bier, mit denen setzte er sich auf die Rückenlehne einer Parkbank... fast wie früher, wenn er mit der Gruppe unterwegs war. Dann wurde gelacht, geraucht und getrunken. Heute trank und rauchte Kevin nur, während er die Flocken im Schein der Laterne beobachtete, wie sie von leichten Brisen immer wieder aus der Bahn getrieben wurden.


    Was war falsch, und was war richtig? War es richtig, Annie und seine alte Gruppe mit Desinteresse zu strafen? Wäre es falsch, ihr zu helfen, wenn sie wirklich in Schwierigkeiten steckte, was ja überhaupt nicht bewiesen war? Wem gegenüber war es falsch? Dem eigenen Stolz gegenüber, weil Annie Kevin nicht geholfen hatte, weil Annie in ihrem ideologischen Wahn den Mann, den sie eigentlich im Herzen liebte, der Meute beinahe zum Fraß vorgeworfen hätte und an die Nazis verraten hatte? Oder Semir gegenüber, weil die junge Punkerin geschwiegen hatte über den Aufenthaltsort der Sturmfront und man somit Zeit verplemperte, was Semirs Horror-Nacht länger werden ließ. Kevin blies den kalten Rauch aus und nahm den letzten Schluck der ersten Bierdose.
    Wenn Annie sofort geredet hätte, vielleicht wäre die Sache mit Semir vielleicht gar nicht so schlimm gewesen. Kevin wusste ja noch nicht, was sie seinem Partner angetan hatten, aber zeitlich wären sie eine Stunde sicher früher da gewesen... eine Stunde weniger Zeit für die Nazis, ihn zu quälen. Und es war Annies Schuld... sie hatte es in der Hand. Ein Wort von ihr hätte gereicht... Nein. Sie hatte geschwiegen in ihrem Starrsinn, und jetzt würde Kevin schweigen. Die zerknautschte Dose flog in den nächsten Mülleimer, und die zweite wurde geöffnet. "Soll sie doch zur Hölle fahren.", murmelte Kevin leise mit kaltem Gesichtsausdruck und spürte zeitgleich wieder den Schmerz...

    Semir's Haus - 17:30 Uhr


    Als Andrea das Wohnzimmer betrat, bot sich ihr eine bizarre Szene. Auf dem Tisch die Einzelteile ihrer Wanduhr, die nie kaputt war und auch jetzt ohne Probleme funktionierte... Semir hatte sie schlicht aus dem Grund auseinander gebaut, damit sie aufhörte zu ticken. Auf dem Sofa saß ihr Mann, leicht nach links zu dessen besten Freund Ben gedreht und seine Schultern zitterten, sein Gesicht war hinter Bens Kopf auf dessen Schultern vergraben und der junge Polizist hielt seinen Partner fest... ohne etwas zu sagen, seine Hand nur sanft über dessen Rücken streichend. Semir weinte, alle Anspannung der letzten Tage, Wochen, fielen von ihm ab. Die Anspannung seine Frau nicht spüren zu lassen, dass es etwas nicht mit ihm stimmt. Die Anspannung, zuhause zu sitzen, nichts zu tun, die Geräusche, der Druck in seinem Kopf.
    Ben ließ Semir Zeit, er ließ ihn weinen, er hielt ihn einfach nur fest. Sein Kopf drehte sich langsam zur Tür, wo Andrea stand, die Finger um ihre Tasche geklammert, die jetzt langsam zu Boden sank. Auch Andreas Lippen zitterten, als sie die Szene sah, ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte. Langsam, als würden sich ihre Beine wie Pudding anfühlen, ging sie auf das Sofa zu, setzte sich auf die andere Seite von Semir und schlang ihre Arme ebenfalls um ihn, nur von hinten und legte ihren Kopf an Semirs Rücken.


    Semirs Schluchzen verebbte langsam, er drehte sich zu seiner Frau und umarmte auch sie. Und Andrea flüsterte ihm hörbar ins Ohr: "Erzähl ihm, was dir passiert ist." Sie wusste genau, dass es ihm dann besser gehen würde, wenn noch jemand seine derzeitige Situation einschätzen konnte, wenn jemand wusste, was ihm passiert war. Ben wusste nichts, er merkte wie schlecht es Semir ging und er wusste, was der erfahrene Polizist alles schon erlebt, und weggesteckt hatte, ohne psychisch aus der Bahn zu fliegen. Er blickte seinen Partner an und nickte aufmunternd, signalisierend, dass er ganz Ohr für Semirs Erzählungen sei.
    Der Polizist musste durchatmen. Er löste sich von Andreas Umarmung und stemmte die Ellboden wieder auf seine Knie, nachdem er sich die letzten Tränen vom Gesicht gewischt hatte. Langsam, stockend begann er zu erzählen. "Nachdem... sie mich entführt hatten... musste ich mit ansehen, wie sie den jungen Punk getötet haben.", sagte er stockend mit einer fremden Stimme. Sie klang weit weg, sie klang wie hypnotisiert, als würde Semir alles nochmal durchleben. Doch das Erzählen war besser als jede Therapiestunde bei der Polizei-Psychologin, das spürte er direkt. "Der Anführer hat den Jungen gezwungen in den Bordstein zu beißen... und dann, dann hat er ihm einfach... den Kopf zertreten." Er schüttelte vor Grausen mit dem Kopf und Ben bekam eine Gänsehaut... es sollte nicht die Letzte sein. "So etwas habe ich noch nie erlebt. Wir haben schon Unfallopfer gesehen, Ben, die schlimmer aussahen. Aber dieses Geräusch, in dem Moment wo der Kerl zugetreten hat..." Er schluckte und verharrte kurz.


    Ben ließ ihm Zeit, er fragte nichts, er hatte nur seine Hand auf Semirs Schulter ruhen. Halt, Sicherheit, Berührung, wie bei einem Menschen, dem er erste Hilfe leistete. "Später... haben sie mich in einen Raum geführt. Er sah aus wie... wie ein Duschraum. Weiß gekachelt, Rohre, aber keine Armaturen." Die Stimme des Polizisten zitterte genauso wie seine Schultern, das spürte Ben und sein Griff wurde etwas fester, um seinen Freund zu beruhigen. "Ich wusste zuerst nicht, was passiert, als sie die Tür zugesperrt haben. Bis ich gemerkt hatte... das ist eine Gaskammer." Bens Herz setzte einen Moment aus, ihn überfiel eine zweite Gänsehaut vor Grauen und Abscheu. "Ich kann dir... gar nicht beschreiben, wie ich mich gefühlt habe. Man hat soviel über den zweiten Weltkrieg gelesen und konnte sich die Gräueltaten niemals vorstellen, wie man sich gefühlt haben muss, wenn man in diese Kammern geführt wurde. Man hat nichts gefühlt... gar nichts.", flüsterte er.
    Für einen Moment war es mucksmäuschenstill im Raum, nur im Obergeschoss konnte man die Kinder toben hören. Und Semirs Atem war zu vernehmen, der lauter war als sonst. "Ich hatte Todesangst, als es plötzlich überall gezischt hat, und etwas aus den Löchern der Rohre herausgekommen ist. Ich bekam Atemnot, obwohl es kein Gas war, sondern nur Wasserdampf." "Das war ja Psychoterror...", sagte Ben leise und entsetzt, während sein Partner stumm nickte. "Danach haben sie mich rausgeholt, und wollten mich genauso töten, wie den jungen Punk... bis ihr gekommen seid."


    Auch der junge Beamte musste für einen Moment durchatmen und blickte zu Andrea, die stumm ihren Mann betrachtete und seinen Oberschenkel tätschelte. Semir erfuhr in diesem Moment soviel Liebe und Zuneigung, die ihm half, zu reden. Und das Reden verhalf ihm zum Verarbeiten, das spürte er sofort. Er war dankbar, beide bei sich zu haben, beide Menschen in seinem Leben zu haben. Und er war sicher, dass seine Kinder ihn jetzt ebenfalls umarmen würden, wenn sie hier unten waren, und das Kevin in seiner, zwar distanzierten aber trotzdem durch eigene schlimme Erfahrungen verständnisvollen Art jetzt hier neben ihnen stehen würde, und stumm zuhören würde, und versuchen würde, den Kummer der anderen auf seine eigenen Schultern zu laden. Semir spürte, dass er ganz und gar nicht alleine war.
    "Was... was ist mit deinem Hals?", fragte Ben mit vorsichtiger Stimme, denn Semir hatte das Pflaster bisher nicht abgenommen, wenn jemand dabei war. Andrea hatte er es am Morgen, als er heimgekehrt war, gezeigt, seitdem hatte er das Pflaster immer nur gewechselt, wenn er alleine war. Jedes Mal danach war ihm übel. "Der Kerl hat mich mit einem Messer... verletzt.", wich Semir erst noch aus, aber Ben spürte, dass das nicht einfach eine Verletzung war, und der erfahrene Polizist spürte den Blick seines jungen Partners.


    Langsam, beinahe wie in Zeitlupe drehte Semir sich so zu Ben, dass er das Pflaster genau sehen konnte, und mit einem Finger knibbelte er eine Ecke das Pflasters von seiner rötlich entzündeten Haut, um es langsam abzuziehen. Die Striemen, die zuerst noch dunkelrot waren, waren mittlerweile verblasst zu einer schlecht verheilten Narbe, die in ihrer Anordnung eine Swastika zeigten. "Gott...", flüsterte Ben entsetzt, angewidert und erschrocken. Angewidert von der Grausamkeit dessen, was die Männer damit einem Mann antaten, der als Ausländer nach Deutschland kam und sich hier perfekt integriert hatte. Ihn mit einem rechtsradikalen, längst verbotenen Symbol zu brandmarken, das war an Grausamkeit schwer zu überbieten.
    Mehr konnte er dazu nicht sagen, er nickte stumm und Semir klebte das Pflaster wieder über die Stelle. Es hielt nicht mehr richtig, und er würde es nachher wechseln müssen. Die drei schwiegen für einige Minuten, denn Ben fielen nicht die richtigen Worte ein, wie er seinem Partner helfen könnte, und das brachte er auch zum Ausdruck. "Du brauchst nichts zu sagen, Ben... ich fühle mich schon besser, jetzt wo du alles weißt." Diese Worte taten dem jungen Beamten gut, und er war froh, Semir auf diese Art und Weise zu helfen.


    "Aber ich brauche wieder meine Arbeit. Ich werde hier zu Hause wahnsinnig. Ich weiß, dass ich überreagiert habe direkt danach... aber so geht es nicht weiter. Die Chefin will mich nicht arbeiten lassen, bevor ich in der Therapie keine Fortschritte erziele.", sagte der Polizist hilfesuchend. "Und wenn du dich in der Therapie einfach so öffnest wie hier. Erzähl der Psychologin, was sie wissen will, damit sie es als Fortschritt verbucht, und dann kommst du zurück. Und ich passe dann schon auf dich auf... das konnte ich bisher nicht, weil ich nicht wusste was los ist.", sagte Ben ermutigend. Er wünschte sich so sehr, dass sie wieder zu dritt ermitteln würden, gerade jetzt in diesem kompliziert wirkenden Mordfall. Semir nickte nachdenklich: "Ich glaube, es ist die einzige Möglichkeit..."

    Semir's Haus - 17:00 Uhr


    Es war bereits dunkel, als Bens Dienstwagen vor dem Haus seines besten Freundes hielt. Ben hatte den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen, als er aus dem warmen Auto an die klirrende Kälte trat, und sein Atem hinterließ Kondensrauch. Es war verflucht kalt, sicher war die Temperatur wieder unter den Gefrierpunkt gefallen, nachdem sie über den Tag es nur mühsam darüber geschafft hatte. Semirs BMW stand in der Garageneinfahrt, und in der Küche konnte der Polizist ein schwaches Licht erkennen, das wohl vom dahinterliegenden Wohnzimmer her kam. Ben wollte seinen Freund besuchen, wollte sehen wie es ihm geht, mit ihm reden um ihm vielleicht doch mal ein paar Details zu entlocken, was vor einigen Wochen im Keller der Kneipe "Germania" passiert ist.
    Der Metallknopf der Klingel war so kalt, dass Ben das Gefühl hatte, sein Finger würde festfrieren, wenn er auch nur eine Sekunde zu lange drücken würde. Innen drin tat sich zuerst nichts, dann hörte der Polizist Schritte und sah durch das milchige Glas der Haustür, wie das Licht im Flur angeschaltet wurde, und ein dunkler Schatten immer größer wurde. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, scheinbar hatte Andrea heute morgen abgesperrt, und Semir das Haus noch nicht verlassen seitdem.


    Die Tür schwang auf, und ein freudiges, aber seltsam gequältes Lächeln zauberte sich auf Semirs Gesicht. "Ben!", sagte er überrascht und die beiden Freunde nahmen sich in den Arm. "Ich wollte mal sehen, was du so machst.", sagte er den Grund seines Besuches, und Semir zögerte für einen Moment, bevor er ihm den Vortritt ließ. "Ja... ähm... komm doch rein." Der junge Polizist mit dem Wuschelkopf gehörte quasi zur Familie, und als Ayda und Lilly in ihren Kinderzimmern Bens Stimme hörten, wuselten sie sofort die Treppe herunter und fielen ihrem "Onkel Ben" sofort um den Hals. Meistens brachte er irgendwelche Kleinigkeiten mit, doch da der Besuch heute spontan war, hatte er nichts dabei. Ayda war alt genug höflich zu sagen, dass das nicht schlimm sei, als er es bedauerte, nur Lilly verbarg ihre missmutige Schnute nicht, so dass Ben ihr liebevoll durchs Haar streichelte.
    Nach der Begrüßung verschwanden die beiden Mädchen bald wieder auf ihr Zimmer, um weiter zu spielen, während die beiden Männer ins Wohnzimmer gingen. Ben fröstelte es etwas, der Ofen brannte nicht wie sonst, trotz der Kälte. Auf dem Wohnzimmertisch lagen die Einzelteile einer Wanduhr und Batterien verstreut.


    "Bist du am Basteln?", fragte Ben halb interessiert, halb belustigt. "Was? Och, ja... ähm, die ging nicht mehr richtig. Hab versucht, sie wieder in Gang zu bringen, aber...", meinte Semir und zuckte beim Ende des Satzes mit den Schultern. Die beiden Männer setzten sich aufs Sofa. "Wie gehts dir so?", fragte Ben und schlug die Beine übereinander. Er behielt seine Jacke an, denn es war kalt im Haus und er wunderte sich, dass Semir nur in einem dünnen Oberteil da saß. "Mir gehts gut.", war dessen kurze, wenig überzeugende Antwort. Er lächelte zwar, aber die Falten wirkten wie Furchen in seinem Gesicht, sein Bart schien grauer als sonst und seine sonst blitzenden braunen Augen stumpf.
    "Ja, das sieht man. Also, wie gehts dir wirklich?" Semir seufzte... sein Blick senkte sich, und er spürte sofort, wie leicht er für seine Freunde durchschaubar war. Er hatte jetzt wochenlang jegliche Nachfrage abgeblockt, Ben sogar angeblafft und sich hinterher geschämt. Und trotzdem versuchte es sein Freund immer und immer wieder, einfach weil... weil er sein Freund war. Weil er sich Sorgen machte um Semir, der so anders war, als viele Jahre zuvor. Und der immer noch ein Pflaster auf dem Hals trug, obwohl die Wunde gar nicht so tief sein konnte, dass es so lange nötig gewesen wäre.


    Ben sah seinen Partner mit festem Blick an. Er ging bewusst das Risiko, wieder angefahren zu werden, aber er war geschockt über Semirs Zustand, über die Kälte in der Wohnung, und der Unordnung auf dem Tisch. Semir mochte es IMMER behaglich warm, er war der Erste der im Oktober den Ofen anfeuerte, wenn das Thermometer unter 10 Grad fiel, und der letzte, der im Frühling damit aufhörte, wenn man ohne Jacke nach draussen gehen konnte. Er schwärmte Ben immer wieder vor von der behaglichen Wärme des Kaminfeuers. Und das Zweite war, dass Semir kein Technik-Typ war, und es völlig untypisch war, dass er eine billige Wanduhr aufschrauben würde, nur weil sie nicht mehr funktionierte. Er würde sie wegwerfen, und sich eine neue kaufen... und wenn sie ihm wichtig wäre, würde er sie zu Hartmut bringen, aber niemals hätte sich der Semir, den Ben kannte, einen Schraubenzieher genommen und die Uhr zerlegt.
    Also stimmte etwas nicht... und das spürte Ben mehr denn je, weshalb er sich vornahm, jetzt standhaft und zur Not auch penetrant nervend zu sein. Und scheinbar hatte er Erfolg, denn Semir reagierte nicht abweisend, nicht aufbrausend, sondern er schien in sich zusammen zu sinken, als würde er einen inneren Widerstand aufgeben, sich nach aussen zu kehren.


    "Semir, wie lange kennen wir uns jetzt? 7, 8, 9 Jahre?", sagte Ben leise, während Semir neben ihm saß, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf den Knien und die Hände gefaltet. Er sah Ben nicht an, Ben konnte auch im Halbdunkeln Semirs Augen nicht sehen. "Wir haben so vieles durchgestanden und wir stehen uns gegenseitig unglaublich nahe. Und so oft hast du mir von Problemen erzählt, ich hab dir von Problemen erzählt. Du hast mir geholfen, ich habe dir geholfen." Semir antwortete nicht. Er sah in eine andere Richtung, und seine Hände zitterten. "Wir haben es sogar geschafft, einen Menschen der kurz vor dem Suizid stand, wieder ins Leben zurück zu holen. Wir beide! Zusammen!"
    Er blickte seitlich von etwas weiter hinten auf seinen Partner, der weiter stumm blieb, und Ben war sich nicht mal zu 100 % sicher, ob er ihm überhaupt zuhörte. "Und ich weiß, dass wir uns jedes Mal gegenseitig überreden müssen, endlich den Mund auf zu machen, wenn uns was betrügt. Aber Semir... glaubst du wirklich, es gibt auf dieser Welt noch irgendetwas, das so grausam, so schlimm, so traumatisch oder auch so peinlich ist, dass wir es uns gegenseitig verschweigen? Das uns quält, weil wir es verschweigen, obwohl der Andere neben einem sitzt?" Ben legte freundschaftlich den Arm um die Schulter seines Partners, und er spürte, wie diese bebten. Er hätte es ahnen können, er wusste es, bevor Semir das Gesicht zu ihm drehte. Die Tränen liefen ihm aus den Augen über die Wangen, und er wurde von seinem Partner, seinem besten Freund, in den Arm genommen. Sekunden, Minuten vergingen, und keiner der Männer merkte, dass Andrea das Wohnzimmer betreten hatte, und ebenfalls mit feuchten Augen die Szene beobachtete.