Beiträge von Campino

    Ich mochte auch Ben, Tom Kranich, André Fux, Jan Richter und zwar weniger, aber immerhin Chris Ritter. Aber ich hänge nicht in der Vergangenheit und trauere einem Charakter nach. Da bin ich halt anders. Und nach so wenigen Teilen schon zu sagen, nee ist nix....ist jedem selbst überlassen. Keiner wird gezwungen meine Geschichte zu lesen oder zu mögen. Ich mag ja auch einige Dinge nicht

    harukaflower hat doch gar nicht kritisiert, dass du nicht an Charaktern hängst, sondern wie du den Ausstieg von Alex umgesetzt hast...

    Und warum immer dieser Beißreflex "du brauchst es ja nicht lesen" wenn jemand Kritik übt?

    Jenny's Wohnung - 10:00 Uhr


    Obwohl Kevin auf eine positive Antwort hoffte, war er niedergeschlagen, als sie wirklich eintraf. Ja, es gab noch Tickets nach Bogota, die Maschine startete um kurz nach zwei und Kevin müsse sich jetzt auf den Weg machen, da er zwei Stunden vor Abflug einchecken sollte, zwei Stunden musste er noch bis Frankfurt fahren. Innerlich fühlte sich Kevin schlecht, aber er war entschlossen, Annie zu helfen. Zu sehr spukte sie in seinem Kopf, zu sehr brannte der Dämon in ihm, der ihn Horrorbilder vorgaukelte. Annie in einer Gasse, alleine, auf einem Trip, in irgendwelchen dunklen schmuddeligen Kneipen, wie Kevin sie selbst aus seiner Jugend kannte. Und immer wieder kam dieses Gefühl des Versagens in ihm hoch.
    Ihr reservierte sich ein Ticket telefonisch auf seinen Namen am Schalter, und wählte danach Jennys Handynummer. Er wusste selbst nicht, was er ihr sagen wollte... auf Wiedersehen? Du, ich mach es wirklich? Sich nochmal entschuldigen und erklären, was ihn antrieb? Nein, er wusste es tatsächlich nicht. Wahrscheinlich würde er schweigen wie ein verliebter Teenager, der seine Klassenkameradin anrief und aus Scham und Aufregung kein Wort herausbrachte. Würde eine Erklärung überhaupt noch was ändern? Retten? Jenny nahm ihm die Entscheidung ab, in dem sie nicht ranging und Kevin wertete es als Zeichen der Ignoranz.


    Er seufzte, packte die Tasche und zog die leichte Jacke an, in Bogota würde er seine warmen Jacken nicht brauchen. Bevor er die Tür hinter sich zu zog, warf er nochmal einen Blick ins Wohnzimmer, wie versteinert wanderten die Augen durch den Raum. Ein komisches Gefühl, wenn man nicht wusste, ob man diesen Raum jemals wieder als Bewohner, und nicht als Besucher betreten würde. Wenn Jenny konsequent war und auf ihren Standpunkt beharrte, und sich von Kevin trennen würde, hatte er jetzt gerade seine Beziehung weggeworfen... eine Beziehung, in die er soviel Hoffnung hereingesteckt hatte, soviel Hoffnung selbst hatte, dass sie ernsthaft sei, auch für seine Zukunft und die ihm so gut getan hatte. Die ihn vor allem vor sich und seiner Selbstzerstörung gerettet hatte, nachdem ein Mädchen bei einem Feuer verbrannt war, das er nicht retten konnte.
    Kevin erschien sich selbst paradox. Er hatte manchmal das Gefühl, alles Gute in seinem Leben würde zerstört werden, so dass er sich vor seinem eigenen Glück fürchtete, weil es wieder zerbrechen könnte. Als er in sein Auto einstieg, den Motor startete und aufbrach spürte er, dass er es vor allem selbst war, der sein Glück zerstörte. Als er selbst damals bei der Autobahnpolizei über seine Jugend-Straftaten berichtete hatte er es zerstört, als er Jennys Vergewaltiger brutal zusammengeschlagen hatte, hatte er es zerstört. Er hat es versucht, bei seinem Drogenrückfall, und jetzt tat er es wieder. Es schien, als würde Kevin aus Angst davor, dass ihm das Glück jemand stehlen könnte, das Glück selbst nehmen zu wollen, und es weg zu werfen.


    Die Autobahn kam ihm vor wie ein langer Schlauch, die fallenden Schneeflocken wie die Störung eines Fernsehbildes... man sah sie, man nahm sie wahr, aber sie störten nicht und trübten nur ein wenig das Bild. Das gleichmäßige Summen des Motors trat in den Hintergrund, das Zischen des Wassers unter den Reifen war kein Störfaktor Kevins Gedanken, die ihm durch den Kopf zogen. Sein innerer Film wurde nur unterbrochen, als er hin und wieder versuchte Jennys Nummer zu wählen, doch immer wieder meldete sich nach einigen vergeblichen Anrufversuchen die Mailbox... und auf die wollte er nun wirklich nicht sprechen. Es kam ihm zu billig, zu feige vor, sich der Antwort zu entziehen. Dann könnte er auch eine SMS schreiben...
    Frankfurt rückte mit jedem Autobahnschild näher, die Kilometerzahl auf den blauen Blechhinweisen nahm immer weiter ab, bis er die Scheinwerfer der Start und Landebahn erkennen konnte, das durch den nebligen Schneeschleier schnitt. Das große Gebäude rechts und links neben der Autobahn tauchte langsam aus dem Gestöber auf und Kevin nahm die nächste Abfahrt ins Parkhaus. Bevor er ausstieg um den nächsten entscheidenden Schritt zu gehen, atmete er nochmal durch und blieb im Auto sitzen. "...ich werde hier nicht auf dich warten...", hallte in seinem Kopf nach, und es klang so real, als würde Jenny hinter ihm sitzen. "Es ist vorbei, Annie. Es ist vorbei, bevor es noch einmal hätte beginnen können. Tut mir leid.", hörte er eine andere Stimme, die sich verdammt unglaubwürdig anhörte... es war seine eigene. Und Janine flüsterte ihm leise "Mörder" ins Ohr, so dass sich seine Fingernägel ins Leder des Lenkrades bohrten...


    Das laute, nachhallende Knallen der Autotür riss ihn wieder hinaus aus seinem Tagtraum, als er aus dem Auto stieg. Er spürte seinen Herzschlag, er spürte seinen trockenen Mund. Die Anzeichen, dass es wieder soweit war, verdichteten sich, und trieben seinen Puls nach oben. Das künstliche Licht des Flughafengebäude brannte ihm in den Augen, als er von dem dunklen Parkhaus die Rolltreppe nach unten fuhr. Der Schalter des Reisebanbieters, bei dem er sich erkundigt hatte, fiel ihm sofort in den Blick, die Tasche über die rechte Schulter gepackt nahm er Kurs auf die lächelnd junge Dame, die lachenden Urlaubern und schlecht gelaunten Geschäftsmännern Tickets verkaufte, über Flüge beriet oder Informationen weitergab.
    "Ich hatte angerufen. Flugticket nach Bogota, Peters.", sagte Kevin und zeigte seinen Personalausweis. Die junge Frau hatte seine Reservierung gespeichert, druckte das Ticket aus und rechnete über seine Kreditkarte ab. "Da haben sie sich aber kurzfristig für so eine weite Reise entschieden.", meinte die Frau lachend und händigte dem merkwürdig blickenden Mann mit den hellblauen Augen das Ticket aus. "Brauchen sie kein Rückflugticket?" Der Polizist schüttelte den Kopf: "Ich weiß noch nicht, wann ich zurück komme." Innerlich erschrak er, als er das "wann" mit einem "ob" tauschte...


    Die Abgabe des Gepäcks, der Gang durch die Sicherheitsschleuse ließ der junge Mann schweigsam über sich ergehen. Anderthalb Stunden warten wurden zur Hölle werden, wenn einen der Dämon mit Namen "Sucht" einholte, an ihm bohrte und fraß, und ihn zum Wahnsinn treiben wollte. Äusserlich wirkte der Polizist ganz ruhig und geduldig, als er auf einem der unbequemen Stuhlreihen saß, und scheinbar durch die großen Fensterfronten auf die Rollfelder sah, wo er aber allenfalls Lichterscheine erkennen konnte, wenn er aufmerksam schauen würde, denn das Schneegestöber war mittlerweile sehr dicht, der Himmel bleigrau und diesig. Doch es hätte auch ein Flugzeug auf die Landebahn stürzen können, der junge Kommissar hätte es wohl in diesem Moment nicht wahrgenommen.
    Bis zum Aufruf seines Fluges schien Engelchen und Teufelchen, Kopf und Bauch, Hirn und Herz in ihm einen Kampf auszufechten. Es war nicht nur unerträglich, dass keiner der beiden jeweils gewann und Kevin mit seiner Entscheidung, die er traf, als er ins Flugzeug stieg, leben konnte... noch schlimmer war, dass die Kämpfenden immer wieder die Seiten wechselten, und selbst sein Herz ständig zwischen Jenny und Annie wechselte. Als er ins Flugzeug stieg war das Ergebnis lediglich, dass er sich unglaublich müde fühlte, nachdem er nochmals, letztmals versucht hatte, Jenny anzurufen. Doch Jennys Handy lag im Streifenwagen auf der Autobahn, während sie nach einem Unfall draussen den Verkehr regelte, und die von Kevin vermutete Ignoranz war in Wirklichkeit nur ein grausamer Zufall...

    Und wieder ein Brand mit Brandbeschleuniger. Scheint ja mit den anderen Fällen zusammen zu hängen, oder?
    Semir und Paul fahren aber erst mal zur Firma um einen möglichen Sicherheitsbetrug auszuschließen. An die Fälle von denen Semir zuvor erzählt hat wird aber nicht mehr gedacht. Bin mal gespannt ob es wirklich nen Zusammenhang gab oder der erneute Brand nur Zufall war.


    Zu dem ganzen Schreiben was man will, aber doch erst wenn die Charas bekannt sind nur kurz:
    ich hab auch schon zwei FFs angefangen und irgendwo in meinem Zimmer rum fliegen in denen Paul vorkommt.
    Einfach, weil ich finde wenn man sich Gedanken macht wie der Charakter sein könnte - und das hab ich recht viel um für mich einzuschätzen was ich erwarten könnte, was ich akzeptieren könnte und was ich gar nicht sehen will - hat man irgendwo schon nen Bild von dem Charakter.
    Und das schreibe ich gerne auf - wie bereits erwähnt, ich schreib den Chara ja auch in RPGs.

    Ich finde es ist gerade das interessante dabei zu sehen in wie weit man dann wirklich richtig lag wenn der Charakter dann mit seinen Ecken und kannten veröffentlicht wird. Sicher ist da auch Enttäuschung mit bei, aber man kann sich auch freuen wenn man (halbwegs) richtig war.

    Und ich versteh auch all die Beschwerden nicht wirklich, wenn Elvira auch mit Ben schon FFs vor seinem ersten Auftritt geschrieben hat.. gab es damals auch so nen Aufstand um "Das ist keine FF" etc? Und wenn nicht, warum dann ausgerechnet jetzt bei Paul?

    Wer genau hat sich denn "beschwert"?

    Und hätte ich damals hier schon FF geschrieben, hätte ich bzgl Ben die gleiche Anmerkung angemerkt.

    Nun, dann sind ja die anderen Storys auch keine FFs. Sorry aber lies dich mal durch die Geschichten, wo die Charakter der Serie noch nahe kommen. Da gibt es nicht mehr viele.

    Naja, da bin ich anderer Meinung. Ich finde dass generelle Züge durchaus gut getroffen werden, und wenn es auch nur beim Versuch bleibt. Bei Paul kannst dues aber nicht versuchen, weil man es nicht weiss, ausser, wie susan sagt, du hast schon die ein oder andere Folge gesehen.

    Aber wie susan sagt, jeder soll natürlich schreiben was er mag. Ich fands nur ungewöhnlich, einen Haupt-Charakter zu benutzen ohne seine Eigenschaften zu kennen. Ich persönlich würde sowas nicht machen.

    @susan

    Rein definitionstechnisch hast du sicher recht. Für mich persönlich ist es aber keine echte FF wenn nur die Namen stimmen, und der Rest nicht. Semir wäre ein überängstliches Weichei, Alex plötzlich ein plappernder Spassvogel und Kim Krüger eine Nymphomanin... Das hat, ausser den Namen nichts mit Cobra 11 zu tun ;)

    Aber das macht doch gerade die Fanfiction aus. Der Charakter muss nicht mit der Serie übereinstimmen. Ich habe auch mit Ben Geschichten geschrieben bevor ich wusste, was für einer in der Serie war.

    Meiner Meinung nach macht eine FF aus, den Charakter der wahren Serie so gut es geht zu treffen und diesen Serien-Charakter die eigenen ausgedachten Storys zu erleben.

    Wenn die Charaktere nur noch die Namen der Serien-Charaktere haben, aber inhaltlich nichts mit ihnen zu tun haben, dann ist es eben keine FF mehr ;)

    ... und mir ein Bild über den Charakter und die Eigenschaften der Figur „Paul Renner“ gemacht habe.


    Finde ich sehr schwer und auch "ungewöhnlich" einen Serien-Charakter in eine Story einzubauen, von der man nicht im Entferntesten weiß, welche Art von "Typ" sie in der Serie verkörpert...

    Mit "Der Lehrer" ist RTL seit langer langer Zeit (nachdem man in den 90zigern in der Disziplin uneinholbar war mit "Rita", "Nikola", "die Camper", "das Amt" oder "Alles Atze") mal wieder eine richtig gute lustige Sitcom gelungen, die beim jungen Publikum aufgrund der Assoziation des Schulalltags richtig Anklang findet.

    ICh habe auch sehr gelacht, auch wenn ich die Sprüche aus den vorherigen Staffeln (guter Vergleich dank der Wiederholung vorher) noch etwas besser und schlagfertiger fand.

    Man könnte mal nen Schüleraustausch-Folge mit Mbarek machen :D, aber einer der Schüler müsste da ne Doppelrolle spielen.

    Dienststelle - 8:30 Uhr


    Irgendwann werden sie wohl hier umräumen müssen, um in dem kleineren Büro zu dritt Platz zu haben. In den letzten Wochen, seit Kevin fester Bestandteil des Teams war, war es immer so dass einer der beiden Kommissare ausgefallen war, und deshalb man immer zu zweit da saß. So auch jetzt. Semir saß am Schreibtisch und war damit beschäftigt, Anzeigen und Strafzettel in das IT-System einzutragen, sein Dienst für heute. Ben saß gegenüber und warf einen, etwas besorgten Blick auf Jenny, die mit besorgter Miene zusammen mit Andrea gerade ins Großraumbüro kam. Scheinbar nahm sie die Sache mit Kevin ziemlich mit und es war wohl wirklich so, dass sie gestern auch eher zufällig von seiner geplanten Reise nach Kolumbien erfahren hatte.
    Anna Engelhardt, die Chefin der Dienststelle, kam gerade mit schnellen Schritten aus ihrem eigenen Büro und warf einen Blick auf Hotte und Jenny. "Bonrath liegt mit Grippe im Bett. Jenny, sie fahren bitte mit Herzberger Streife heute." Andrea bekam den Satz mit und spürte sofort den etwas hilflosen Blick von Jenny. Sie wollte sich gern später eine Stunde absetzen, um zum Arzt zu fahren, was aber nicht ging, wenn sie auf Streife musste. "Was ist denn mit Semir? Kann der nicht auf... Streife?", fragte Andrea vorsichtig, denn eigentlich mischte sie sich nicht in den Dienstplan der Kollegen ein. Aber die Chefin hatte es zu eilig um in das Büro ihrer besten Männer zu kommen, so dass sie sich über die Anfrage ihrer Sekretärin keine Gedanken machte. "Den brauche ich für etwas anderes.", war nur ihre kurze Antwort.


    Was das war erfuhr Semir nur wenige Sekunden später, als die Chefin ins Büro der beiden Autobahnpolizisten ohne Anklopfen hereinschneite... was im wahrsten Sinne des Wortes war, wenn man einen Blick nach draussen warf und überlegen musste, ob man sich wirklich in Köln, oder vielleicht doch in Österreich befand. Sie schloß die Tür hinter sich. "Guten Morgen, meine Herren.", begrüßte sie die beiden Beamten, die ebenfalls einen guten Morgen wünschten. "Da Herr Peters jetzt zwei Wochen vermutlich ausfällt...", begann sie und konnte den kurzen Blick, den sich Semir und Ben bei dem Wort "ausfällt" zu warfen nicht so recht deuten "... und Ben nicht alleine in dem Mordfall ermitteln soll... und ausserdem Bonrath jetzt noch ausfällt..." die Chefin unterbrach kurz und sah Semir mit bereits kritischem Blick an, der diesen Blick erwiederte. "Ja?"
    "Semir, sie bringen mich in Teufels Küche. Kann ich ihnen vertrauen? Wirklich, mit allem was sie haben?", sagte die Chefin beinahe flehentlich, und faltete sogar die Hände. "Keine Ausraster, keine Alleingänge, nicht mal ein verschrotteter Dienstwagen. Wir bekommen Druck vom Polizeipräsidenten, weil sich in dem Mordfall nichts tut, ausser einem Anschlag auf meine Beamten." Semir grinste und auch Bens Laune besserte sich sofort. Die Ansprache war klar, Semir sollte mit Ben ermitteln und nicht mehr im Büro versauern. "Ich verspreche es ihnen, Chefin. Es geht mir wirklich viel besser als vor einigen Wochen." "Ich passe auf den Kleinen auf.", meinte Ben noch wagemutig und auch die Chefin musste lachen. "Wenn sie es versauen, dann beschleunigen sie meinen Ruhestand. Darüber wäre ich nicht sehr froh."


    Nachdem die Chefin das Büro verlassen hatte, warf Ben seinem Partner einen, noch spärlich gefühllten Aktenordner zu, damit er sich informieren konnte. Berichte zur Leiche, Berichte zum Tatort, erste Zeugenbefragung bei Carina Bachmann und den Kollegen des Toten waren darin aufgezeichnet. Der erfahrene Ermittler brauchte nur eine halbe Stunde um alles durch zu lesen und zu verinnerlichen, sich ein paar Zusammenhänge zu bilden und er fühlte sich endlich wieder komplett in seinem Element. Vergessen waren die Neo-Nazis, vergessen war das Pflaster an seinem Hals und der morgige Termin bei einer Art "Schönheitsklinik", wo er sich erkundigen wollte, was man gegen diese unschöne Narbe tun konnte. Vergessen war auch Kevin, sein Verrat und Semirs Groll auf ihn. Sollte er doch machen, was er wollte.
    Ben dagegen war mit seinen Gedanken, während er mit einem Tennisball auf einen kleinen Basketballkorb, der an der seitlichen Wand hing, warf bei Carina Bachmann. Er hatte sich gestern abend noch im Internet ein wenig schlau gemacht, Erfahrungen gelesen von Menschen, die demenzkranke Verwandte zu Hause pflegten. Wie musste man da reagieren, welche Dinge beachten, wie konnte man als Aussenstehender helfen, und wie kann man Betroffene unterstützen. Er hatte auch oft gelesen, dass sich die Leute Hilfe ins Haus geholt haben... private Pfleger, die stundenweise den Betroffenen unter die Arme griffen, so dass die auch mal in Ruhe shoppen gehen konnten, abends ausgehen konnten und sich einfach mal für ein paar Stunden aus der Verpflichtung lösen könnten. Ben wollte Carina das vorschlagen, doch er hatte Bedenken. Würde sie ihre Mutter einem Fremden anvertrauen? Würde Carina das vielleicht in den falschen Hals bekommen, dass Ben die Frau für sich vereinnahmen wollte, dass dies sein primäres Ziel war, statt der Mutter zu helfen? Weder noch, dachte der Polizist. Er wollte vor allem Carina helfen...


    "Wer wusste denn alles, dass ihr das Treffen mit dem niederländischen Kollegen habt?", fragte Semir irgendwann, nachdem er die Lektüre beendet hatte. Ben hatte sich bis jetzt darüber und auf den Anschlag bezogen noch keinen Kopf gemacht. "Ich meine, der Attentäter läuft ja nicht den ganzen Tag auf der Brücke rum, und wartete bis ihr zufällig vorbeifahrt." "Und wenn es einfach ein Verrückter war, der auf Autos geballert hat?", meinte Ben und drehte den Tennisball artistisch in der Handfläche. "Ausgerechnet an dem Tag, an dem ihr in dem Fall ermittelt? Das wäre des Zufalls zuviel, glaub ich.", meinte sein Partner und Ben spürte beinahe ein nostalgisches Gefühl in sich aufsteigen. Es erschien ihm Jahre her, dass er mit Semir zusammen einfach nur seiner Arbeit nachgegangen war.
    "Eigentlich wusste das, ausser Kevin und mir, und eben dem Kollegen... ähm...", Ben blätterte in seinen Notizzetteln nach dem Namen "... Huub Bakker. Wem der es noch erzählt hat, weiß ich natürlich nicht." Semir strich sich mit dem Finger über die Lippen. "Was auch immer in diesem Sportgeschäft und der Versicherung da läuft... oder gelaufen ist. Vielleicht hängen da auch niederländische Kollegen mit drin.", überlegte er laut. Die undichte Stelle auf dem Kommunikationsweg war für Semir ein erster Anhaltspunkt.


    Ben sah auf einmal etwas starr an Semir vorbei. Plötzlich arbeitete sein Gehirn, plötzlich lief es ihm heiß und kalt den Rücken herunter. Hatte er vorgestern nicht Carina etwas erzählt? Nein.... doch? Er hatte sie nach dem Sportgeschäft in Holland gefragt, das wusste er noch. Hatte er gesagt, dass sie dort hinfuhren? Vielleicht später, als sie spazieren gingen? Er schüttelte den Kopf. Nein, das war zu absurd. Was sollte Carina mit dem Mord zu tun haben? An ihrem eigenen Bruder? Dafür war auch ihre Reaktion auf die Todesnachricht zu authentisch... oder perfekt geschauspielert. "Ist alles klar?", fragte Semir, denn er bemerkte Bens Gestik. "Ich hatte gerade nur etwas überlegt." "Lass mich teilhaben."
    Der Polizist mit der Wuschelfrisur blickte auf, und hatte sofort einen alternativen Gedanken zur Hand: "Vielleicht auch Bakker selbst. Vielleicht hat er uns deshalb zum Gespräch gelockt. Er wusste dann auch, wann wir wo ungefähr waren." Semir nickte: "Auch möglich. Vielleicht wäre es gut, wenn wir Herr Bakker einfach hierher einladen." Ben griff zum Telefon und wählte die holländische Vorwahl, während draussen Hotte und Jenny zu einem Unfall gerufen wurden.

    Dienststelle - 8:00 Uhr


    Jenny hatte sich am Abend davor in den Schlaf geweint, als er ihr klar wurde, dass alles zu zerbrechen drohte. Sie hatte in Kevin einen Halt gefunden, einen Mann den sie liebte, der sie faszinierte und an dem sie sich in der Krise festhalten konnte. Doch jetzt verursachte er diese Krise, in der sie sich befand. Damals, nach der Vergewaltigung, war er für sie da, bis er ins Gefängnis musste. Danach war sie für ihn da, als er wieder zu den Drogen griff. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich gegenseitig brauchten, gegenseitig stützten auch wenn ihr klar war, dass eine Beziehung mit dem schweigsamen Polizisten viel Geduld, auch viel Kraft brauchen würde. Doch sie hatte sich darauf eingelassen, hörte auf ihr Gefühl und ihren Bauch, und den ersten Sturm hatten sie auch mit Bravour überstanden.
    Doch jetzt spürte sie, dass es zu zerbrechen drohte. Das kleine Glück, dass sie sich mit Geduld mühsam aufgebaut hatte, den Straßenkater den sie mit viel Liebe zu zähmen versucht hatte. Scheinbar war sie gescheitert. Die gepackte Tasche war das letzte Indiz für sie, dass er sich endgültig entschieden hatte, und das schlimmste für sie: Er hatte nicht mit ihr geredet. Er hätte sie vor vollendete Tatsachen gestellt, wahrscheinlich zwei Stunden vor dem Flug. Denn dass er wortlos, nur mit einer Notiz auf dem Küchentisch, abgereist wäre, das traute sie Kevin doch nicht zu. Aber es war ein großer Vertrauensbruch, nicht zu vergleichen mit Jennys Neugier, als sie in Kevins privaten Karton rumgeschnüffelt hatte.


    Als ihr Handy sie mit einem Alarmsignal weckte, fühlte sie sich schlecht. Ihr war übel, als sie langsam aus dem Bett kroch und den schlafenden Kevin aus dem Augenwinkel sah. Scheinbar war er nachts doch nach Hause gekommen, sie hatte davon nichts gemerkt und wusste jetzt nicht, wie sie reagieren sollte. Ihn aufwecken, nochmal versuchen mit ihm zu reden? Ihn schlafen lassen und, wie es Normalität ist, ihm einen sanften Kuss auf die Stirn zu geben, bevor sie das Haus verließ? Sie wurde traurig, wenn sie sich nur vorstellte, dass er demnächst nicht mehr da liegen würde. Nicht nur für die Zeit, in der er sich in Kolumbien befand, sondern auch danach, denn Jenny hatte ihm quasi angedroht, dass die Beziehung zerbrechen würde, wenn er die Reise wirklich unternahm. Obwohl sie nicht wusste, wie es weitergehen würde, wenn sie ihm nicht mehr vertraute, bereute sie ihre Aussage von gestern.
    Das Wasser im Gesicht half nur geringfügig, das Frühstück ließ sie ausfallen und verließ das Haus in Richtung Dienststelle. Weder die eine Möglichkeit der Konversation, noch die andere Möglichkeit des stillen Abschieds hatte sie letztendlich wahrgenommen, als sie in ihrem Kleinwagen auf die Autobahn fuhr und pünktlich in der Dienststelle ankam. Unterwegs nahm ihre Übelkeit immer weiter zu, das sie zu Beginn der Fahrt noch auf Hunger und fehlendes Frühstück schob, am Ende der Fahrt dann aber bereits aus handfester Brechreiz war.


    Noch bevor sie ins Großraumbüro kam, bog Jenny zur Damentoilette ab um sich dort in einer Kabine zu übergeben. Seit wenigen Tagen hatte sie immer wieder morgens Übelkeit, manchmal mit Erbrechen. Sie war zu Hause geblieben, doch ihr ging es bereits am Mittag wieder gut, dass sie etwas essen konnte und nichts mehr spürte. Deswegen versuchte sie die Übelkeit am Morgen zu überstehen und erst ab 11:00 Uhr auf Streife zu fahren und bis dahin wurde sie von Hotte zum Bürodienst eingeteilt. Heute aber konnte sie es nicht bei sich behalten und lehnte, eine Hand an die Wand gestützt, über der Toilettenschüssel und trank danach, um den ekligen Geschmack aus dem Mund zu bekommen, ein wenig Wasser aus dem Wasserhahn.
    Andrea kam zur Tür herein und sah Jenny am Waschbecken etwas gestützt stehen, das Gesicht blass aus dem Wasserhahn trinkend. "Guten Morgen, Jenny... alles okay bei dir?", fragte sie besorgt. Andrea hatte sich sehr um Jenny nach ihrer Vergewaltigung im Sommer gekümmert, mit ihr zum Arzt gefahren und hatte seitdem ein viel engeres Verhältnis zu der jungen Frau, die jetzt nur wenig überzeugend nickte. "Mir ist in letzter Zeit morgens immer etwas schlecht.", wiegelte sie ab.


    Andrea lächelte etwas und legte ihre Hand auf Jennys Schulter. "Vielleicht bist du schwanger." Eigentlich sollte der Satz scherzhaft klingen, denn auch wenn Andrea wusste, dass Jenny und Kevin zusammen waren, wusste sie genauso, dass beide nicht geplant hatten, ein Kind zu bekommen. Doch Jennys erstarrter Gesichtsausdruck bemerkte die zweifache Mutter sofort, und ihr Lächeln verschwand auch. "Das sollte eigentlich ein Scherz sein... wie lange hast du die Beschwerden denn schon?" "Ein... paar Tage jetzt...", sagte die junge Frau ein wenig unsicher. An die Möglichkeit einer Schwangerschaft hatte sie überhaupt nicht gedacht, zu groß war in den letzten Tagen der Streß und sie schon die ständige Übelkeit auf die Ereignisse der letzten Tage.
    "Nimmst du die Pille?" Jenny nickte, doch die Pille erachtete sie nicht als 100prozentigen Schutz. "Und... verhütet ihr... sonst irgendwie?" Andrea wusste, dass das eine sehr persönliche Frage war, aber die beiden Frauen waren sich in den letzten Monaten so sehr näher gekommen, freundschaftlich, dass sie auch schon mal über solche Dinge gesprochen hatten. "Ja... also... meistens.", stotterte Jenny etwas unsicher und schüttelte danach sofort den Kopf. "Eigentlich ja. Wir haben immer aufgepasst dass nichts passiert." Andrea lächelte nun wieder etwas verständnisvoller, beinahe mütterlich. Sie hielt Jenny natürlich nicht für einen unreifen Teenie, der vom Thema Verhütung keinen Plan hatte und denken würde "Wird schon nichts passieren." Nein, so war Jenny nicht, aber es konnte eben auch etwas passieren, mit Pille und mit Vorsicht.


    "Naja, jetzt mach dir mal nicht soviele Gedanken. Geh doch einfach heute mittag bei deinen Arzt, und dann weißt du Bescheid.", meinte Semirs Ehefrau, die beinahe etwas froh war über die Ablenkung, die Möglichkeit eine starke Freundin an Jennys Seite zu sein. "Es gibt doch diese Tester.", meinte Jenny, aber Andrea schüttelte den Kopf. "Ja, aber ich halte von denen nichts. Bei Lilly hatten die mir ein falsches Ergebnis angezeigt. Der Arzt sagt dir zu hundert Prozent, was Sache ist." Die junge Frau fasste sich mit der Hand an die Stirn. "Oh Gott..." "Wäre es denn so schlimm? Okay, ihr seid jetzt noch nicht so lange zusammen, aber..." Jenny unterbrach ihre Freundin: "Es wäre eine Katastrophe..."
    Die Polizistin seufzte und sah ihre Kollegin an: "Ich hab Kevin gestern gesagt, dass wenn er nach Kolumbien fliegen würde, dass ich dann... vielleicht nicht auf ihn warten werde." Andrea verstand diese Formulierung sofort und biss sich auf die Lippe. "Wie hat er darauf reagiert?" "Gar nicht...", sagte Jenny traurig, denn danach war sie ins Badezimmer gegangen. "Ausserdem weiß ich nicht... ob ich für ein Kind schon soweit bin. Und bei Kevin kann ich es mir gar nicht vorstellen." Sie war der Meinung, dass Kevin gar nicht der Typ für ein Kind war... zumindest nicht, so lange er noch so anfällig für psychische Schwankungen war, und da musste Andrea ihr dann doch zustimmen. "Vielleicht würde die Nachricht, dass er Vater wird, umstimmen, was die Reise angeht.", meinte Andrea vorsichtig und Jenny sah wieder in den Spiegel. Auf einmal bildete sie sich ein, dicker zu wirken. "Ich weiß nicht..."


    Später saß Jenny nachdenklich an ihrem Schreibtisch und starrte in den Monitor. Ein Kind... es würde alles durcheinander werfen. Alles... ihr Leben, die Beziehung zu Kevin, die es vielleicht nicht mehr lange gab. War sie bereit für ein Kind? Sie als Mutter... Kevin als Vater? Sie konnte sich den schweigsamen Mann einfach nicht vorstellen, wie er mit einem Kind im Arm lachend da stand, wie er am Tisch saß und mit einem kleinen Jungen Hausaufgaben machte... das war völlig utopisch für sie. In Gedanken verloren strich sie sich mit beiden Händen über ihren Bauch, als würde sie das Kind streicheln, das darin lag und sah herab, bis Hottes Stimme sie aus den Gedanken riss: "Hast du Hunger?", fragte der dicke Polizist lachend, denn es sah tatsächlich so aus, als streiche Jenny sich vor Hunger über den Bauch. Sie lächelte etwas gezwungen zu Hotte, und verneinte seine Frage, nahm dabei wieder beide Hände auf den Tisch...

    Köln - 23:45 Uhr


    Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch hatte Kevin sich von Zack verabschiedet. Den Griff der Sporttasche fest in der Hand, die er mitgenommen hatte, schmerzte schon nach wenigen Metern, sie brannte sich quasi in seine Haut der Innenhand, bis er sie im Kofferraum seines Dienstwagens schließlich losliess. Inhalt der Tasche waren 50 000 Euro, die er sich von Zack gerade geliehen hatte... zu "absolut freundschaftlichen Zinsen.", wie der Nachtclubbesitzer, der zwar zweimal durchatmen musste, als Kevin ihm die Bitte stellte, aber dann dennoch zum Tresor ging und die Tasche vollmachte, versicherte. Kevin war klar, dass er dieses Geld am ehesten mit Informationen über bevorstehende Razzien in dieser Gegend abbezahlen würde, statt mit Euro-Scheinen.
    Weil er um Jennys Neugier mittlerweile wusste, fuhr er zum Kölner Hauptbahnhof und schloß die Tasche dort in eines der Schließfächer ein, während ihm kalter unbarmherziger Wind um die Ohren fegte. Hier war um diese Zeit wenig Betrieb, ein Penner fror auf einer Bank am Bahngleis und zwei junge Männer gingen rauchend aus dem Hauptgebäude heraus. Der Polizist steckte den Schlüssel ein und würde das Geld morgens, an dem Tag an dem er wegflog, noch holen gehen. Vermutlich kam dieser Tag schon morgen, wenn die Maschine nach Kolumbien noch einen Platz frei hatte.


    Als er aus dem Gebäude des Bahnhofes wieder an sein Auto trat, hinterließ die Zigarette im Mund durch die Eiseskälte mehr Dampf als normal. Mit zitternden Fingern nahm er den Glimmstengel, der bis kurz vor den Lippen abgebrannt war und schnippte ihn in den Schnee, bevor er einstieg. Die Hände aufs Lenkrad gelegt und den Kopf gegen die Nackenstütze angelehnt, wusste er für einen Moment nicht, was er jetzt tun sollte. Wie ein Schiff auf offener See, verloren und ohne Kompass fühlte er sich. Er wollte sich einfach treiben lassen und schauen, wo er rauskam, ob es ihn nun zu irgendeiner Pension trieb, zur alten Lagerhalle bei die Punks um dort zu übernachten, oder doch nach Hause zu Jenny ins Bett, die ihm offen das Ende ihrer Beziehung angedroht hatte, und wo er gerade gar nicht das Gefühl hatte, "nach Hause" zu kommen. Leider war er nicht auf dem Meer, er saß in einem Auto und ohne sein aktives Zutun würde er nirgends ankommen.
    Die Aussicht auf eine ruhige Nacht trieb ihn letztendlich doch in Jennys Wohnung. Es war bereits nach Mitternacht, als er seine Kleidung auszog und Jennys leises Atmen vom Bett her hörte. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis, um schnell einzuschlafen, an den "verbotenen" Schrank zu gehen. In diesem Schrank stand ein einziges Döschen seiner Pillen. Es war, nachdem Jenny von seinem Drogenproblem, das nach dem Tod eines jungen Mädchen vor einem halben Jahr nochmal akut wurde, erfahren hatte ein stilles Abkommen zwischen den beiden. Kevin bekam Panik, wenn er wusste, dass er in einem Anfall von Turkey, einer Entzugserscheinung, nichts im Haus hatte. Er war überzeugt davon, dass er diesen Zustand eher kontrollieren konnte, mit dem Wissen, dass etwas da war. Jedoch hatte er Jenny versprochen, die Drogen nicht anzurühren, ausser er wäre in einer Extremsituation. In dieser war er jetzt nicht... er hatte nur Angst, nicht schlafen zu können.


    Er verwarf den Gedanken wieder, als er die Decke über sich zog. Der Schnee hatte aufgehört vom Himmel zu fallen und die Wolkendecke ließ den Mond durchs Fenster ins Zimmer hineinsehen. Er tauchte den Raum in ein dunkelblaues Licht mit unheimlich wirkenden Schemen und hellen Flecken. Ein solcher Fleck fiel auf Jennys Körper, ihre rechte Schulter, die ein wenig aus der Decke herausschaute, ihre Wange und ihre Haare. Sie lag mit dem Rücken zu Kevin, der nun dicht an sie herangerückt war, den Kopf auf die Hand, den Ellbogen aufs Kissen gestützt und dabei Jenny betrachtete. Mit einem Finger strich er sanft, so dass es Jenny im Schlaf nicht merkte, über ihren Oberarm von der Decke aus, über die Schulter zum Hals und ihre Wange. Er meinte sogar, getrocknete Tränenspuren dort zu erkennen. Jenny hatte geweint nachdem sie bemerkte, dass ihr Freund an diesem Abend nicht nach Hause kam, nach der Diskussion vorher.
    In diesem Moment hätte Kevin am liebsten alles vergessen. Mal wieder. Er hätte Juan angerufen und sich für seine Hilfe bedankt, aber das wird wohl doch nichts. Zack häte er sofort die 50 000 Euro zurückgebracht, danach Ole geschrieben, dass er ihm den Buckel runterrutschen könne. Bei Jenny hätte er sich am nächsten Morgen beim Frühstück entschuldigt, bei Semir spätestens auf der Dienststelle. Aber er tat es nicht. Morgen würde in seinem Innersten wieder Annie nach ihm rufen, und Janine würde ihn einen Mörder nennen. Morgen wäre der Dämon wieder da...


    Semirs Haus - 03:00 Uhr


    Andrea erwachte, weil sie durstig war. Sie griff neben ihr Bett, wo sie immer eine Flasche Mineralwasser stehen hatte, doch sie griff ins Leere. Verdammt... gestern Morgen war sie leer, und sie hatte keine Neue mit nach oben genommen. Sie überlegte für einen Moment und fühlte sich so schläfrig, dass sie wohl auch ohne Wasser wieder einschlafen würde. Gerade wollte sie sich zu Semir drehen und eine Hand nach ihm ausstrecken, als sie bemerkte, dass das Bett neben ihr leer war. Die Müdigkeit, die Schläftigkeit war wie weggeblasen, und sie fuhr aus ihrem Bett auf. Auch wenn ihr Mann in den letzten Tagen wieder sehr gefestigt erschien, und wieder gearbeitet hatte, gingen ihr sofort schlimme Gedanken durch den Kopf. Vor allem nach den heutigen Vorkommnissen mit Kevin.
    Sie knipste die Nachttischlampe an, und nun wurde das Fühlen zur Gewissheit. Semirs Seite des Bettes war leer. Andrea schlug die eigene Decke weg und tapste barfuß bis zur Tür zum Flur. Schon im Flur konnte sie vom Treppenaufgang her Licht schimmern sehen, das bei offener Tür aus dem Wohnzimmer schien. Andrea wusste nicht, ob das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen war, und ihr Atem wurde schneller. Treppenstufe für Treppenstufe ging die Frau herunter und ihr kam die Treppe heute höher und länger vor als sonst. Sie dachte nicht an etwas Gefährliches, sah keine Veranlassung, ihr Pfefferspray aus der Schublade mitzunehmen, das Semir ihr mal besorgt hatte... sie machte sich plötzlich unglaubliche Sorgen um Semir.


    Mit pochenden Herzen sah sie nun, dass wirklich das Licht im Wohnzimmer brannte, und der Stein, der ihr vom Herzen fiel, hätte Panzerglas sprengen können. Ihr Blick ins Wohnzimmer erfasste sofort Semir, der im Schlafanzug am der Couch saß, ein halb volles Glas Wasser vor sich auf dem Wohnzimmertisch stehen und den Fernseher laufen, in niedrigster Lautstärke, so dass sie es vom Flur aus nicht hören konnte. Es lief irgendeine Nacht-Dokumentation auf einem Info-Kanal, und Andrea war sich ob des Gesichtsausdruckes nicht sicher, ob Semir wirklich aufmerksam zuhörte, oder ob er ganz woanders war. Stumm, ohne ein Wort, setzte sie sich zu ihrem Mann aufs Sofa und legte den Kopf an seine Schulter. Semir hatte Andrea natürlich längst bemerkt und legte seinerseits, ebenfalls stumm, den rechten Arm um ihren Oberkörper.
    "Konntest du nicht schlafen?", fragte sie dann nach einigen Minuten des gegenseitigen Schweigens und ihr Mann schüttelte nur den Kopf. "Kevin?", fragte sie eher rhetorisch nach dem Grund seiner Schlaflosigkeit, und Semir brauchte eigentlich gar nicht bejahen. "Ich habe noch nie einen Menschen gekannt, der so... so undurchschaubar war.", sagte Semir ohne den Blick von der Dokumentation über Erdmännchen zu nehmen. "Ich hatte immer gedacht, dass ich Menschen wegen meines Berufes gut einschätzen kann. Vor allem, wenn ich sie eine Zeitlang kenne. Kevin kenne ich jetzt schon über ein Jahr, und trotzdem tut er, wenn ich von etwas ausgehe, das er tut, genau das Gegenteil." Er seufzte, es schien ihn fertig zu machen, denn er mochte Kevin. Er mochte ihn sehr, denn er wusste, dass Kevin ein gutes Herz hatte, aber gerade jetzt hatte der junge Polizist sich entschieden, sein gutes Herz für Annie, und damit gegen Semir zu verwenden.


    Andrea hatte für Kevins Entscheidung kein Verständnis gezeigt, aber sie fühlte, dass es jetzt keinen Sinn machte, ihre Entrüstung nochmal zu zeigen. Sie spürte ganz genau wie sehr es Semir mitnahm, nicht mehr unbedingt ärgerte sondern traurig machte, wie der junge Polizist handelte. "Ich glaube ja zu wissen, was in ihm vorgeht. Warum er handelt, wie er handelt. Aber ich kann es nicht verstehen. Ich kann einfach nicht verstehen, wie er sich dazu getrieben fühlt einem Menschen zu helfen, die ihn wegen allem, für was er steht und kämpft, verstoßen hat. Fallen gelassen hat. Und warum er die Menschen, Ben, mich und auch dich, vor den Kopf stößt, die ihn eben nicht verstoßen und fallen gelassen haben. Die ihn aufgerichtet haben, als er im Dreck lag und die ihn festgehalten haben, als er gerade wieder zu fallen drohte." Semirs Stimme wurde immer deutlicher und etwas lauter, je mehr er redete. "Und vor allem Jenny...", fügte Andrea noch hinzu. "Ja...", sagte ihr Mann wieder etwas leiser. "Jenny natürlich auch. Gott..." Über die junge Kollegin hatte sich der erfahrene Polizist bisher am wenigsten Gedanken gemacht. Wie musste sie sich fühlen, denn wenn er es richtig mitbekommen hatte, hatte sie von Kevins Plan überhaupt nichts gewusst.
    Semir seufzte und sah jetzt seine Frau erst das erste Mal an, seit sie ins Wohnzimmer gekommen war. "Ich mag Kevin wirklich. Aber ich weiß nicht, ob ich jemals nochmal mit ihm arbeiten kann." Andrea hielt die Luft an und erwiderte nichts darauf. Sie wusste nur, dass sich Semir bisher mit jedem noch so widerspenstigen Kollegen arrangiert hatte. Dass er sowas sagte musste bedeuten, dass ihm Kevins Verhalten emotional wirklich sehr tief in der Seele steckte...


    Es sei denn, du würdest irgendwann einen eigenen Roman nur mit Kevin schreiben ... nur dann darf er in diesem alternativen Universum das zeitliche segnen! :whistling:


    Ich hatte mir tatsächlich überlegt, die weitere Handlung in Bogota nun quasi auszulassen, während die Story "Zwischenwelten" ganz normal weitergeht mit dem Mordfall, und die Handlung in Bogota in einer Extrastory, quasi dann nur mit Kevin zu schreiben. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass das für die Cobra11-Leser dann ausschließlich mit Kevin zu langweilig ist, weswegen die Storyfäden weiter paralell laufen werden.

    Club - 22:30 Uhr


    Die düstere Atmosphäre des Clubs war immer noch die gleiche wie vor einigen Monaten - so lange war Kevin nicht mehr hier gewesen, so lange hatte er keinen Stoff mehr gebraucht. Früher, nach Janines Tod, war er hier Stammgast, sowohl an der Bar, als auch in den Hinterzimmern des Clubs, wo die Verkäufe stattfanden. Zuckowski, von allen hier nur "Zack" genannt, war damals sein Stammdealer, besorgte ihm auch später noch was, meist vergünstigt für gewisse Gegenleistungen, die Kevin damals als Polizist "erbringen" konnte. Um diese Uhrzeit war der Nachtclub noch sehr überschaubar gefüllt, auch wenn einige spärlich bekleidete Damen bereits aktiv waren, sowohl als Bedienung der Gäste, als auch auf den Tanzflächen.
    Kevin nahm den direkten Weg zur Theke wo er einen Whisky-Cola und "Brezeln" bestellte. Jeder normale Gast hier wusste, dass es in so einem Schuppen keine Brezeln gab. Wer trotzdem welche bestellte wusste das Codewort um Drogen zu kaufen. Der Barkeeper nickte, mixte Kevins alkoholisches Getränk und nahm, nachdem er den Polizisten bediente, kurz den Hörer in die Hand. "Kundschaft... ja, ich schick ihn rein." Der kahle, kantig gebaute Barkeeper, der auch in Personalunion den Türsteher geben könnte, nickte Kevin zu und zeigte mit den Fingern auf eine Tür neben der Bar, die der Polizist sowieso kannte.


    Würde Kevin der Drogenfahndung um Kommissar Bienert hier nur einen kleinen Tipp verraten, man würde hier auf einen Schlag mehrere Jahre Gefängniss einkassieren. Doch damit würde Kevin sich selbst die Quelle abschneiden, bei der er nicht sicher war, ob er sie jemals nochmal brauchte. Heute abend brauchte er sie, jedoch nicht um Drogen zu kaufen. Hinter der Tür wurde er erstmal durchsucht, um Schwierigkeiten zu vermeiden hatte er seinen Dienstausweis daheim aus dem Geldbeutel genommen, für den Fall dass Zack nicht da war. Doch als der aus einer der Türen in dem dämmrigen Flur sah, lachte er schon und winkte: "Spars dir, mein Freund. Der Kerl hat sicher nichts dabei.", lachte er und kam auf Kevin zu, der sofort in Ruhe gelassen wurde.
    Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. "Kevin, mein Junge. Lange nicht gesehen." Zack war Mitte 50, ein Nachtclub-Besitzer vom alten Schlag. Er gab nichts auf Partys und Glitzer, er war zufrieden mit einer Havanna-Zigarre, gutem schottischen Whisky und seinem 76er Ford Mustang, der im Hinterhof parkte, und den er sich aus Drogengeschäften und seinem Nachtclub erwirtschaftet hat. Für ihn war ein Wort ein Wort, und ein Handschlag ein Handschlag. Bei allen Kriminellen mit denen Kevin zu tun hatte, war Zack neben Jerry der eheste, auf den er sich verlassen würde, wenn es hart auf hart kommen würde. "Stell die Plörre da weg...", sagte er mit einem Blick auf das Glas des Polizisten, denn dem Whisky-Liebhaber war Cola im Whisky ein Graus. "Ich hab hier drin was Feines."


    Zack schloß die Tür hinter sich und Kevin setzte sich auf die Sitzgruppe in der Ecke. Er beobachtete seinen kriminellen Freund dabei, wie er aus einer dunklen Flasche zwei Gläser Whisky pur ausschenkte und zum Tisch brachte. "Talisker, 35 Jahre. Den musst du probieren, mein Freund. Slanté" Mit schottischem Gruß stießen sie mit dem bitter-rauchig schmeckenden Getränk an. "Was führt dich zu mir?", fragte Zack obwohl er fest annahm, dass Kevin zu ihm kam, um Stoff zu kaufen, auch wenn er schon Monate nicht mehr hier war. "Ich möchte dich um einen Gefallen bitten." Zack grinste und seine weißen Zähne kamen zum Vorschein. Auch wenn er natürlich immer für seine Freunde da war, in erster Linie war Zack ein Geschäftsmann, und er half immer zuerst dort, wo für ihn Profit rausspringen konnte. Das wusste auch Kevin, weshalb er sofort anschließ: "Unentgeltlich."
    Das Grinsen verschwand: "Du gefällst mir. Unentgeltlich. Unentgeltlich höre ich dir zu, und umsonst bekommst du nen 700 Euro teuren Whisky. Die Antwort überlege ich mir dann." "Hast du noch deinen Kontakt nach Kolumbien?" Der Nachtclub-Besitzer zog die Stirn ein wenig in Falten. "Wieso fragst du? Brauchst du Insider-Tipps? Oder willst du selbst ins Geschäft einsteigen?" "Quatsch...", sagte Kevin und nahm einen Schluck aus dem Glas. "Ich brauch einen Reiseführer." Zacks Blick driftete noch ein wenig mehr ab in die absolute Verwirrtheit. "Einen Reiseführer?", wiederholte er. "Ich machs kurz: Eine Freundin von mir ist in Bogota verschollen, und ich will sie finden. Vielleicht hat sie etwas mit Drogen zu tun, und ich brauche jemand, der sich da hinten auskennt und mir hilft." Der Polizist vernahm ein Lachen, das ein wenig verächtlich klang. "Ich glaube, Juan hat Besseres zu tun, als für dich Kindermädchen zu spielen." "Hat er auch Besseres zu tun, als in ein paar Tagen ne Menge Geld zu verdienen?" Das Lachen verstummte wieder.


    "Na gut... ich versuch mein Glück." Er blickte auf die Uhr, in Bogota war es gerade 17 Uhr, später Nachmittag. "Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.", sagte der Polizist ernst und Zack nickte, während er auf seinem Handy eine Nummer wählte. "Juan, mi amigo. Que tal? Muy bien! Hör mal...", begann Zack erst auf Spanisch, dann auf Deutsch. Juan war als Kind von Kolumbien nach Deutschland gekommen, hier in Köln aufgewachsen und ist dann kriminell geworden. Er landete bei Zack, interessierte sich für Drogen und war nun schon 10 Jahre wieder in Bogota. "Ich hab hier nen guten Freund von mir sitzen, der nen... ich sag mal, etwas ausgefallenen Vorschlag hat. Er sucht nach einer Frau, die in Bogota sein soll, eventuell etwas mit Drogen, und er braucht dort Unterstützung." Ein schallendes Gelächter war die Antwort: "Was? Wie alt ist der Kerl? Weiß er, dass Bogota nicht Köln-Kalk ist, weiß er, was hier so abgeht?" Zack blickte mit einem Auge auf Kevin. "Das sagst du ihm vielleicht besser selbst." Dann reichte der Mann Kevin das Handy.
    "Hallo Juan, ich bin Kevin. Ich brauche deine Hilfe.", begann der Polizist und wurde sofort von der etwas schrill wirkenden Stimme, die sehr schnell aber ohne Akzent sprach, unterbrochen: "Hör mal, Kumpel. Hier ist kein Badeörtchen, wo du in Bermuda-Shorts an den Strand flanierst und nebenbei irgendwelche Mädels suchst. Hier will niemand freiwillig hin, ausser er arbeitet mit Drogen." "Genau deshalb brauche ich jemanden, der sich dort auskennt.", sagte Kevin bestimmt.


    "Was hast du vor?" "Ich suche eine Frau. Sie ist von hier abgehauen, und ich vermute, dass sie sich nach Bogota in Drogen geflüchtet ist. Ich will sie zurückholen." "Gib mir ne Beschreibung von ihr, und ich höre mich um. Das wars aber auch schon, hier selbst rumzuschnüffeln ist viel zu heikel. Vor allem für jemand, der sich hier nicht auskennt." Kevin schüttelte den Kopf, was der gebürtige Kolumbianer natürlich nicht sehen konnte: "Vergiss es. Aber okay, es gibt bestimmt genügend andere Jungs bei dir, die sich in ein paar Tagen 50 000 Euro verdienen wollen, und ein bisschen Spanisch werde ich auch noch hinkriegen. Adios." Der Polizist machte keine Anstalten aufzulegen, er wartete auf Protest, der auch sofort kam. "Warte warte, tranquillo." Die Summe schien Juans Neugier geweckt zu haben. Was ging es ihn an, wenn sie einem deutschen Touristen den Kopf abschnitten. Er würde ihm zeigen, was er suchte, und das wars. "Du weißt nicht, auf was du dich einlässt. Hier tobt gerade ein gottverdammter Krieg im Drogen- und Prostituiertengeschäft. Da kommt es nicht gut, wenn ein unbekannter, deutscher Typ herumschnüffelt." "Warum Prostituiertengeschäft?" Juan lachte kurz auf. "Du bist lustig, Kumpel. Das läuft hier genauso wie in Deutschland. Was meinst du, was die Dealer hier mit Frauen machen?" Kevin schluckte, als Juan fortfuhr. "Entweder, sie verdienen an ihnen, in dem sie ihnen Drogen verkaufen, so lange sie Geld haben. Oder sie verdienen anders an ihnen." So sehr Juan versuchte Kevin am Kragen von der Reise nach Kolumbien fernzuhalten, so sehr hatte er ihn mit dieser Aussage wieder zur Reise geschubst.


    "Der Unterschied zu Deutschland ist: Wenn du dich hier einmischst und deine Nase in Angelegenheiten steckst, die dich nichts angehen, wird dir nicht die Nase gebrochen, sondern du wirst an einer Tankstelle aufgehängt. Überleg es dir gut." Zacks Blick ruhte auf Kevin, dessen Herz gegen den Brustkorb schlug. Es war keine Angst, die er spürte, und wenn dann war es Angst, die er um Annie hatte. Vor seinem inneren Auge tauchte plötzlich Jenny auf, wie sie schlief in ihrem gemeinsamen Bett, und wie Kevin ihr eine Strähne aus dem Gesicht wischte um seine Freundin zärtlich zu küssen. Natürlich wusste er, dass ein Trip in die Drogenhölle von Kolumbien nicht ungefährlich sei, doch Juan zeigte ihm gerade schonungslos auf, dass die Befürchtung nicht nur eine Befürchtung sondern harte Realität sei. "Für 50 000 zeig ich dir die wichtigsten Ecken und bringe dich mit Leuten in Verbindung, denen ich vertraue. Aber ich kann dir nicht garantieren, dass dir das hilft. Und ich kann dir keinen Schutz garantieren... wenn etwas passiert, bist du auf dich allein gestellt? Comprende?", holte Juans Stimme den Polizisten in die Wirklichkeit zurück. Zack konnte Juans schnelle Stimme am Telefon mithören und schüttelte fast schon bedrohlich den Kopf, als wolle er Kevin vor einer großen Dummheit bewahren und der Polizist sah dem Nachtclub-Besitzer in die Augen. Für einen Moment dachte der, Kevin würde einen Rückzieher machen, als der kurz am Telefon verharrte, dann aber zu Juan sagte: "Ich komme morgen mit der Maschine aus Frankfurt. Müsste so gegen 8 Uhr abends sein." Scheinbar hatte auch Juan gehofft, der Typ am anderen Ende der Leitung würde letztlich verneinen. Er hatte zwar nichts gegen 50 000 Euro, jedoch hatte er weniger Lust den Reiseführer zu spielen. Doch der Geschäftssinn siegte: "Okay. Bezahlung im Voraus. Es nützt mir nichts, die Arbeit zu machen, und wenn du nachher tot bist, habe ich kein Geld. Adios." Der Kolumbianer unterbrach die Leitung und Kevin nahm einen weiteren Schluck Whisky...

    Innenstadt - 18:00 Uhr


    Der Tag war anstrengend, mit all seinen Vorkommnissen. Der Anschlag auf der Autobahn, der Unfall, der Schlag von Semir gegen Kevin... all das spukte Ben noch im Kopf, als er mit seinem Dienstwagen in die Innenstadt fuhr. Kevins Abgang kurz vor Feierabend tat sein Übriges, dessen Blick aus den kaltblauen Augen ließ ihn einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagen. Die Fahrt jetzt in die Innenstadt, in Richtung der Wohnung von Carina Bachmann kam ihm deshalb fast wie eine Erleichterung vor, einerseits. Andererseits war ihm das Treffen mit der jungen hübschen Frau zwar sehr angenehm, doch die Präsenz ihrer kranken Mutter machte es schwer, völlig unbeschwert und fröhlich in so einen Abend zu gehen.
    Ben hätte Carina sehr gerne mal eingeladen... zum Essen, zum Tanzen, einfach mal um etwas anderes als die eigene Wohnung zu sehen, unter Leute zu kommen. Doch er wusste selbst, dass das für die junge Frau momentan beinahe unmöglich war, weil sie die Mutter keineswegs alleine lassen wollte. So steckte er diese eigenen Wünsche zurück und wollte das tun, wofür ihm Carina zuletzt so dankbar war... Anwesenheit. Ein Ohr leihen, dass Carina mal wieder Gespräche mit anderen Menschen führen konnte.


    Als Ben heute klingelte, dauerte etwas länger bis der Summer ertönte und die Haustür des Mehrfamilienhauses nachgab. Bereits im Erdgeschoss meinte der Polizist Stimmen zu vernehmen die immer lauter wurden, je weiter er nach oben zur Wohnung die Treppen hinaufstieg. Er klopfte an der Wohnungstür und konnte nun die Stimmen, die sich eher als Geschrei herausstellten, genau wahrnehmen. "Jetzt halt endlich still!" "Du dreckige Schlampe hast mir gar nichts zu sagen! Mich hier einsperren und ausnehmen wollen." Bens Herz klopfte bis zum Hals, und für einen Moment lang dachte er nach, was er tun sollte. Auf dem Absatz kehrtmachen und lieber nach Hause gehen, dieser unangenehmen Situation aus dem Weg gehen? Nein, das wäre nicht er...
    Als er ein lautes Klirren hörte, und dann Stille, wagte er es nicht nochmal anzuklopfen. Er drückte die Klinke der Tür nach unten, und wunderte sich darüber, dass diese nicht abgeschlossen war. Er dachte, bei einer Alzheimer-Patientinn wäre es gefährlich die Tür offen zu lassen, da er schon öfters, nicht nur im Beruf, gehört hatte, dass diese gern ausbüchsen auf dem Weg nach Hause, auf der Suche nach ihrem längst verstorbenen Mann oder aus irgendwelchen anderen wahnwitzigen Gründen das Weite suchte.


    Der Polizist betrat die Wohnung und sofort schlug ihm ein penetranter, abstoßender Geruch entgegen. Licht aus dem Badezimmer schien durch die offene Tür auf den Flur, in dem Carina weinend am Boden saß, die Hände vors Gesicht geschlagen, zitternd. Ben war mit einigen schnellen Schritten sofort bei ihr. "Hey... was ist denn los?", fragte er fürsorglich und fasste die junge Frau an der Schulter zart an. Er konnte das Zittern ihres Körpers spüren, und je näher er der Badezimmertür kam, desto stechender wurde der Geruch. "Ich... halte das ... nicht mehr durch...", schluchzte die junge Frau stockend und hatte sich vollends in einem Weinkrampf verfangen, aus dem sie erst mal keinen Ausweg mehr fand.
    Ein Blick ins Badezimmer verriet Ben dann auch das ganze Ausmaß der Situation. Auf dem Rand der Badewanne saß Carina Mutter Hermine, mit heruntergelassener Hose und Toilette so wie der Boden und der Rand der Wanne waren braun verschmiert. "Sie... lässt sich einfach nicht... nicht...", schluchzte die junge Frau und Ben biss sich auf die Lippen. Mit Situationen dieser Art hatte er überhaupt keine Erfahrung, zumindest was die Mutter anging. Mit weinenden Frauen konnte er da schon eher umgehen.


    "Hey... komm ganz ruhig. Sie hat es sicher nicht so gemeint, was sie gesagt hat, hmm?", sagte er leise zu Carina, deren Heulkrampf langsam abebbte. Nach einigen Minuten stand Hermine dann auf, zog sich die Hose hoch und ging einige Schritte bis auf den Flur. "Kind, was weinst du denn?", fragte sie dann mit ruhiger, fast schon verständlicher Stimme. Es schien, als hätte sie den Ausraster vorhin völlig vergessen, und Ben wunderte sich. Nicht über den plötzlichen Stimmungsumschwung bei Frau Bachmann sondern über Carinas Zusammenbruch. Sie musste solche Situationen doch gewöhnt sein, und wissen, wie man damit umgeht. "Komm schon, Carina. Ich helfe dir, das Bad sauber zu machen, und du hilfst deiner Mutter."
    Schweigsam und immer noch leise schluchzend stand Carina vom Boden auf, gab Ben Gummihandschuhe, Eimer und Putzzeug und der Polizist überwand seinen Ekel und begann die Spuren im Bad zu beseitigen. Carina tat das ebenso bei ihrer Mutter, die jetzt ruhig war und sich jegliche Säuberung gefallen ließ. Ben machte zusätzlich das kleine Fenster im Bad auf, damit etwas frische Luft einströmen konnte. Er war sich schon nach dem letzten Treffen klar geworden, dass er nun häufiger mit dem Schicksal der jungen Frau konfrontiert wurde, doch sofort mit so einer Extremsituation erschlagen zu werden, das hatte er nicht für möglich gehalten. Doch im Nachhinein war er etwas stolz auf sich.


    Eine Stunde später war der Spuk vergessen. Ben hatte für die beiden Frauen, und natürlich sich selbst, Pizza bestellt und eingeladen. Carina wollte es erst nicht annehmen, sie meinte, sie sei eigentlich zu Dank verpflichtet, doch Ben ließ nicht mit sich reden. Die Mutter war während des Essens sehr schweigsam, aß nur ein Viertel der Pizza und legte sich früh schlafen, was den beiden etwas Zeit alleine ermöglichte. "Mir ist das etwas peinlich, dass du das alles mit erleben musstest.", sagte die junge Frau, als sie das Geschirr abräumte und Ben die Pizzakartons handlich machte um sie ihm Papierkorb unter zu bringen. "Ach, das muss dir doch nicht peinlich sein. Ich weiß doch, dass deine Mutter dafür nichts kann." Nach einer kurzen Pause setzte er noch hinzu, was er eben auf dem Herzen hatte: "Es hatte mich nur gewundert... weil... also, ist das zum ersten Mal so extrem gewesen? Weil du so... aufgelöst warst?"
    Carina kam zurück zum Tisch und schüttelte den Kopf. "Nein, das kommt öfters vor. Aber manchmal... da habe ich nicht die Kraft und Energie, geduldig zu bleiben. Wenn es immer und immer wieder vorkommt. Du erklärst ihr ständig, dass sie einfach nichts tun soll, wenn es passiert... aber sie hört nicht, wird aggressiv, beschimpft mich. Manchmal macht mir das nichts aus, aber manchmal..." Ihre Stimme wurde leiser und Ben streichelte sanft ihren Arm. "Früher hat mir mein Bruder vieles abgenommen, wenn er zu Hause war...", sagte sie noch und ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Es tut mir so leid...", war die ehrlich gemeinte Antwort von Ben.


    Ben wollte Carina noch nicht alleine lassen, und die junge Frau dankte es ihm. Die Frau, die er gestern noch als unheimlich stark empfand, wie sie ihren Alltag mit der kranken Mutter bewältigte, lernte er heute von einer anderen Seite kennen... einer schwachen, zerbrechlichen, doch nicht unerschütterbaren Frau. Eine Frau, die auch Schutz benötigte und einen Fels, zum Festhalten. Der Fels war mit dem Tod ihres Bruders weggebrochen, und Ben war sich nicht sicher, ob er selbst momentan stark genug war, Ersatz für Björn Bachmann zu sein. Als Carina ihren Kopf an seine Schulter lehnte, als sie beide auf der Couch saßen und langsam einschlief, hätte Ben diese Unsicherheit sofort verneint...

    Und ja, ich finde es auch noch immer schade, das man in wenigen Geschichten mit der Zeit geht und sich einfach nur noch seine eigene Wunschgeschichte erfüllt.


    Ist das nicht der Sinn einer FF? Sich seine eigene Geschichte auszudenken, die eben in den Bahnen verläuft, die man sich selbst wünscht, die man selbst spannend findet?

    Wenn meine FFs keine eigenen Wunschgeschichten wären, was wären sie dann? Auftragsarbeiten? Jemand wünscht sich von Campino eine Story mit Protagonisten A, B und C, und der genauen Handlung XY? Das mag ja dem ein oder anderen gefallen, das wäre dann aber ein Storyschreiben nach den Wünschen der Leser... das kann, meiner Meinung nach, irgendwie nicht das Ziel sein.

    Jenny's Wohnung - 17:30 Uhr


    Kevin hatte jegliches Gefühl für die Zeit an diesem Tag verloren, nach dem Vorfall auf der Dienststelle. Dass es langsam dem Abend zuging konnte er nur daran ausmachen, dass es dunkler wurde, als er gegen 16 Uhr das Krankenhaus verließ, und wieder an die Kälte trat. Zuvor hatte er sich aus der Dienststelle geschlichen... ja genau, so fühlte er sich nach dem Vorfall mit Semir. Als müsste er sich verstecken und wegschleichen, verstecken vor den Blicken der Kollegen. Natürlich wusste jeder Bescheid, auf der Dienststelle der Autobahnpolizei kannte jeder jeden, es wurde natürlich geredet. Semir war ein beliebter Kollege, als zweitältestes Mitglied der Autobahnpolizei. Kevin dagegen war ein Neuling auf der Dienststelle, und nicht unbedingt jeder Kollege war ihm und seiner Vergangenheit so unvoreingenommen, wie es Hotte oder Dieter waren.
    So waren die Sympathien eindeutig verteilt, doch der junge Polizist hatte sich noch nie was draus gemacht, was andere, die er kaum kannte, von ihm dachten. Doch wenn Menschen schlecht über ihn dachten, die ihm etwas bedeuteten, das machte ihn fertig. Und vor allem Jennys Blick, ihr wortloses Wegdrehen zu ihrem PC, wie sie weiter mit Hotte redete, als wäre überhaupt nichts geschehen, das verfolgte ihn den ganzen Tag, es verfolgte ihn ins Wartezimmer des Arztes und es verfolgte ihn wieder zurück in die Dienststelle.


    Jenny und Hotte waren auf Streife, Semir und Ben saßen in ihrem Büro als wäre es ein ganz normaler Tag, als er nochmal in die Dienststelle kam, um seinen Krankenschein abzugeben. Die Chefin hatte von Ben schon von dem Unfall, dem Anschlag berichtet bekommen und sah etwas sorgenvoll drein. "Ich hoffe, sie sind bald wieder gesund.", sagte sie und nahm den Zettel, der Kevin zwei Wochen Ruhe bescheinigte, entgegen. Der Polizist schwieg, er wollte keine Entschuldigung oder Bedauern äussern, Ben jetzt gerade alleine zu lassen. Dass er seine Nackenschmerzen nutzte um einen Krankenschein zu provozieren war schon nicht seine Art, jedes weitere Wort wäre Lüge und Heuchelei gewesen. Die leichte Blessur an der Lippe ordnete die Chefin dem Unfall zu... und hätte sie es nicht getan, hätte Kevin es getan. Für ihn stand ausser Frage, dass er der Chefin nichts zu Semirs Schlag sagte... das war eine Sache zwischen ihm und seinem Partner.
    Ben hatte eine kurze Geste mit den Augenbrauen und ein kurzes "Ssst" in Richtung Semir abgegeben, der daraufhin aufblickte und den Kopf drehte, um aus der Glasscheibe gucken zu können. Er sah gerade noch, wie Kevin ohne ein weiteres Wort mit den beiden zu wechseln die Dienststelle verließ. Semir war über diesen Umstand erleichtert, was ihm allerdings Herzklopfen bereitete, war dass die Chefin mit ernstem Gesichtsausdruck auf dem Weg in das Büro der Beamten war. Hatte Kevin doch geplaudert? Hatte er etwas gesagt über Semirs Aussetzer. Anna Engelhardt öffnete die Tür und blickte ins Büro: "Herr Peters fällt die nächsten zwei Wochen aus. Wir unterhalten uns morgen über das weitere Vorgehen im Fall Bachmann. Schönen Feierabend, meine Herren." Die beiden Polizisten nickten, und atmeten beide auf, als die Chefin das Büro wieder verließ.


    Kevin wollte nicht viel Zeit verlieren. Übers Internet hatte er sich erkundigt, dass jeden Nachmittag eine Maschine vom Frankfurter Flughafen nach Bogota flog, und die Maschinen nur selten voll besetzt waren. Er konnte also recht kurzfristig aufbrechen, weswegen er nun in der gemeinsamen Wohnung seine abgenutzte Sporttasche mit Kleidung packte. Doch er musste sich noch um einen Reiseführer kümmern, der sich dort unten auskennte. Dafür hatte er eine besondere Idee, um die er sich heute Abend noch kümmern musste. Doch vorher stand eine emotionale Hürde im Weg, die er erst überwinden musste, und diese Hürde drehte gerade den Schlüssel im Schloß der Wohnungstür und trat ein.
    Ihr Weg führte zunächst durchs Wohnzimmer, wo Winterjacke über dem Stuhl und der Schlüssel auf der Küchenablage landeten. Jenny sah durch die halb geöffneten Schlafzimmertür Licht schimmern und schritt zu der Öffnung hin. Sie hatte diesen Zeitpunkt des Tages schon in den Stunden zuvor gefürchtet, wie sie jede unangenehme Konfrontation mit Kevin fürchtete. Jetzt blieb sie im Türrahmen stehen und beobachtete, wie Kevin ein Shirt in die Tasche legte, und dabei zu seiner Lebensgefährtin aufsah. Sie schwieg dabei... sie blickte ihn nur an. Es machte Kevin wahnsinnig, eine Strategie des Stillseins, die erst sonst anwandte. Sein Herz pochte gegen den Brustkorb, bis er es nicht mehr aushielt und mit einem fragenden "Was?" die Stille unterbrach.


    "Das frage ich dich.", sagte Jenny und kam mit langsamen Schritten ins Schlafzimmer. "Wann wolltest du mir eigentlich sagen, dass du nach Kolumbien fliegst um nach deiner Ex-Freundin zu suchen? Kurz vorm Abflug? Oder vielleicht mit einem Brief auf dem Kopfkissen?", fragte sie beinahe provokant, auch wenn ihr zur gezielten Provokation die mentale Kraft fehlte, zu traurig fühlte sie sich in diesem Moment. Kevin jedoch trafen die Worte bis ins Mark und er blickte zu Boden. Natürlich war es falsch, Jenny nichts zu sagen. Es war genauso falsch, wie Semir alles zu verheimlichen und Ben nur einzuweihen, weil er eine Unterhaltung zwischen Kevin und Ole mitbekommen hatte. Ansonsten hätte er es wohl niemandem erzählt.
    "Ich hätte es dir schon noch gesagt.", sagte er etwas kleinlaut, doch es klang wie Hohn in Jennys Stimme. Ihr Freund saß da und packte Koffer für eine Reise, von der sie heute nachmittag zufällig erfuhr. Für eine Reise, mit der er sein, gerade erst mühsam aufgebautes stabiles Umfeld, komplett gegen sich aufbrachte. In der jungen Frau herrschte Wut und Traurigkeit über Kevin, über seine Heimlichtuerei, sein Misstrauen. Und sie konnte sich gegen die aufkommende Eifersucht gegenüber Annie nicht verwehren, die Angst dass Kevin noch Gefühle für seine Ex-Freundin hatte. Deswegen war sie so erleichtert, dass ihr Freund so klar mit Annie gebrochen hatte nach dem Fall mit der Sturmfront.


    Sie lachte etwas sarkastisch und schüttelte den Kopf. "Kevin... wenn du mir nicht vertraust... wem vertraust du überhaupt?", sagte sie und ihr kurzes Lachen stand grotesk zu ihrer traurigen, und beinahe tonlosen Stimmlage. Sie kam ganz nah zu Kevin heran, sie standen sich gegenüber und beide wünschten sich nichts sehnlicheres, als dass sie sich umarmten, küssten und alles wieder in Ordnung war. Doch beide hielt es zurück ob ihrer Gefühle, ihres Gefühlschaoses. "Wenn ich dir nicht vertrauen würde, hätte ich dir nicht soviel über mich erzählt...", sagte Kevin leise und blickte mit seinen kalt wirkenden hellblauen Augen zu Jenny, die ein wenig zu dem körperlich größeren Mann aufblicken musste, wenn sie so nah vor ihm stand. "Ich war mir doch selbst nicht sicher, ob ich es tun sollte. Gerade weil ich wusste, was sie getan hat. Aber ich kann einfach nicht anders... alles, wirklich alles holt mich ein. Ich träume Dinge, die ich nicht mehr geträumt habe seit Peter Becker tot ist. Wenn Annie jetzt was passieren würde, und ich hätte ihr nicht geholfen..." Kevin unterbrach kurz. Er blickte Jenny an und schüttelte kurz den Kopf. "Das könnt ihr alle nicht verstehen." Er meinte damit seine Gefühle, seine Angst und sein Trauma, das durch den Tod und seine Hilflosigkeit gegenüber seiner Schwester ausgelöst wurde. Und was ihn jetzt zwang, nach Annie zu suchen. "Nein Kevin... das können wir alle nicht verstehen...", schien Jenny ihn zunächst zu bestätigen, aber nur um anzufügen: "... aber nur, weil du uns alle im Dunkeln lässt, was dich und deine Gefühle angeht." Kevin schluckte und ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm auf.


    Das Geräusch des Reissverschlusses schnitt durch den Raum, als Kevin die Tasche zu zog. Er spürte die Hilflosigkeit, die von Jenny ausging, die eigene Hilflosigkeit und das Schweigen war schrecklich. Zu gern hätte er etwas gesagt, was Jenny beruhigte, was Jenny besänftigte... doch nichts fiel ihm ein, alles schien unpassend zu sein für diesen Moment. Auch Jenny fand nicht die Worte, die sie sich vorstellte oder die sie als hilfreich erachtete, denn in ihr hatte sich ein Chaos gebildet, aus dem es nur einen Ausweg gab. Doch dieser Ausweg schmerzte sie so sehr, dass sie sich am liebsten krümmend auf den Boden fallen lassen würde. Und so ließ sie ihren Worten freien Lauf und sagte, was sie dachte: "Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll."
    Es drückte genau das Gefühl aus, was die beiden gerade befiel. Doch der nächste Satz traf Kevin unvorbereitet, wie Semirs Schlag. "Ich weiß nicht, ob ich das so will." "Was meinst du damit?", fragte der Polizist. "Vor einem halben Jahr hatte ich gedacht, dass es schlimmer nicht geht... als ich deine Waffe in der Dusche gefunden habe und du mir von den Drogen erzählt hast. Ich hab gespürt dass du mir vertraust, dass du mir alles anvertraust und deswegen habe ich gewusst, dass wir das gemeinsam mit unserer Liebe überwinden können... alles überwinden können. Und dazu war ich bereit." Kevin spürte, wie sein Herzschlag beschleunigte. Er fühlte sich wie im freien Fall, und wartete nur auf den Aufschlag... und der Aufschlag waren Jennys Worte. "Aber ich spüre dieses Vertrauen nicht mehr."


    Es war nicht mehr weit bis zum Boden. Er kam ungebremst und ohne Sicherheitsseil oder weicher Unterlage. "Ich liebe dich, Kevin. Aber ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn ich ständig Angst haben muss, dass in deinem Kopf Dinge vorgehen, von denen ich nichts weiß oder ich immer Angst haben muss dass du in ein schwarzes Loch fällst, ohne es mir zu sagen." Damit spielte sie darauf an, dass es ihr wohl aufgefallen war, dass es ihm schlecht ging die letzten Tage, aber er immer wieder abwiegelte. Nicht die Gefahr des Absturzes Kevin ließ sie nun verzweifeln, sondern die Gefahr, davon nichts zu wissen, dass er keine Hilfe Jennys zuließ. Das machte die junge Frau fertig und sie fühlte, wie sie am Ende ihrer Kräfte war.
    Kevin war beinahe unfähig, sich zu bewegen als Jenny sich umdrehte und langsam das Schlafzimmer verließ. Am Türrahmen drehte sie sich nochmal um und sagte leise und mit schimmernden Augen: "Wenn du diese Reise tun musst, dann tu sie. Aber ich werde hier nicht auf dich warten..." Mit diesen Worten ließ sie den jungen Polizisten alleine und verschwand im Badezimmer, wo sie leise in Tränen ausbrach.


    Stunden später schrieb sie in ihr Tagebuch folgende Sätze mit ihrer Kater-Metapher: "Der Straßenkater, den ich aufgenommen hatte und versucht habe, zu pflegen und zu lieben, hat wohl heute beschlossen, wieder zum Straßenkater zu werden. Vorher aber hat er seinen Kratzbaum verwüstet, seine Spielkameraden verprügelt und mir einen Tatzenhieb ins Herz versetzt... ich bin unendlich traurig."

    Vor der Dienststelle - 12:15 Uhr


    "Semir! Semir!!" Semir konnte die Stimme seines Partners und besten Freundes nur dumpf, wie unter einer großen Glasglocke, vernehmen als er vor sich nur noch die Tür an die frische Luft sah. Draußen empfing in sofort die stechend kalte Kälte, die durch sein dünnes Hemd stach und Besitz von ihm ergriff obwohl er das gar nicht wahr nahm... eigentlich nahm Semir in diesem Moment nichts wahr. Nicht den Boden unter seinen Füßen, nicht den Schnee, der langsam auf ihn herab rieselte und auch nicht die Hand seines Partners an seinem Arm. Doch, den nahm er wahr und schüttelte ihn sofort ab. "Lass mich!", zischte er obwohl er erst gar nicht merkte, wer ihn da festhielt. Ben wich etwas erschrocken zurück. "Semir... ich steh doch auf deiner Seite!"
    Semirs wütender Gesichtsausdruck, mit dem er Ben für einen Moment ansah, schwand langsam. Er schwand und verwandelte sich zu einem Ausdruck der Traurigkeit, der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit, den sein Blick senkte sich zum weißen Boden. "Ich kann es nicht glauben...", murmelte er matt und müde, als hätte er gerade einen 10 KM-Lauf hinter sich. Dabei schüttelte er den Kopf und wurde sofort von seiner Frau, die jetzt die Dienststelle verließ, in den Arm genommen. Sie wollte ihn stützen, denn sie hatte unglaubliche Angst, dass dieser Vorfall all die Fortschritte, die Semir in den letzten 24 Stunden gemacht hatte, wieder vernichten würde.


    "Ich muss hier weg... ich... ich kann jetzt nicht hier bleiben solange er da ist.", sagte Semir über Andrea's Schulter. "Komm, lass uns kurz wegfahren. Ich schätze, Kevin wird gleich verschwinden.", sagte Ben und nickte in Richtung Semirs BMW. Sein Partner nickte dankbar, gab Andrea einen Kuss, die sich überwand wieder die Dienststelle zu betreten. Sie konnten jetzt nicht alle abhauen, wenn die Chefin gleich wiederkommen würde, würde es unangenehme Fragen geben. Semir ließ sich in den tiefen Sitz gleiten, schloß die Tür und seine Augen, als er sich gegen die Kopfstütze lehnte. Ben stieg auf der Fahrerseite ein, startete den Motor und manövrierte den Dienstwagen rückwärts aus der Parklücke heraus.
    Die Autobahn war notdürftig vom Schnee geräumt, nur in der Mitte der beiden Spuren hatte sich nasser Schneematsch gesammelt. Aber die Landschaft links und rechts von der Autobahn war winterlich weiß, die Felder bedeckt, die Bäume eingeschneit und an dem gefrorenen Metall der Autobahnschilder krallte sich der Schnee ebenfalls fest. Wasser spritzte gegen das Auto und Ben musste gegen das klebrige Spritzwasser auf der Frontscheibe mehrmals die Wasseranlage und die Scheibenwischer benutzen. Für Autoliebhaber war dieses Wetter der absolute Horror.


    "Ich hab ihn versucht ab zu halten. Zuerst, dass er das überhaupt tut, dann hab ich ihm gesagt, dass es nicht okay ist, es vor dir zu verheimlichen.", sagte Ben irgendwann. Ihm war es wichtig, dass Semir wusste, auf wessen Seite er stand, auch wenn es ihm mehr als weh tat, sich gegen Kevin zu stellen. Er konnte Kevin wirklich gut leiden, sie hatten einiges gemeinsam durchgemacht und es verband sie auch etwas... aber es gab eben auch solche Dinge, die Ben bei seinem Partner übel aufstießen. Semir sah ohne Regung aus der Frontscheibe heraus, er war etwas zusammengesunken in seinem Sitz. "Ich versteh es nicht...", murmelte er wie abwesend. "Warum tut er das? Nach dem, was du und er mir damals erzählt hat, hat ihn das Mädchen abgewiesen. Beinahe totschlagen lassen in der Halle. Sie hat ihn verraten und mich den Nazis zum Fraß vorgeworfen. Wie kann er sie verteidigen, wie kann er dich im Stich lassen und mir so in den Rücken fallen...", sprudelten nun die Fragen aus Semir heraus.
    Ben umklammerte das Lederlenkrad des BMW und wog den Kopf hin und her. "Ich will ihn nicht in Schutz nehmen...", begann er vorsichtig und vermied damit sofort Missverständnisse "... aber ich hab irgendwie das Gefühl... dass ihn die Situation an seine Schwester erinnert." Semir wandte nun den Blick zu seinem besten Freund und er schien auch nach zu denken. "Er wirft sich doch immer noch vor, sie damals nicht geschützt zu haben. Dieses Trauma wird er nie mehr los werden und immer, wenn eine Person die ihm mal wichtig war oder wichtig ist, in Gefahr ist, handeln."


    Für einen Moment war es still im Auto. Nur das Spritzen des Wasser der Fahrbahn unter dem Auto, sowie das dezente Dröhnen des Motors selbst war zu hören. "Die Frau ist schuld, dass ich fast alles verloren hab. Oder zumindest... mitschuldig.", sagte Semir leise. "In solchen Momenten muss ich mich einfach entscheiden. Oder verlange ich da zuviel?" Ben zuckte mit den Schultern, in diesem Moment war er grundehrlich. "Ich weiß nicht. Ich war noch nie in seiner Situation, dass ein Mensch der mir nahe steht, dich verrät oder schuld an einem schlechten Zustand deinerseits ist... und ich dann vor der Wahl stehe, diesem Mensch zu helfen oder nicht." Nein, darüber konnte er beim besten Willen keine Aussage treffen, aber er fügte sofort an: "Aber ich verstehe natürlich wie du dich jetzt fühlst."
    Er fühlte sich beschissen... hintergangen, betrogen, als hätte Kevin höchstpersönlich ihm einen Dolch zwischen den Schulterblättern in den Rücken getrieben. Nein, das konnte er einfach nicht so verzeihen, es fühlte sich zu falsch an. Und Semir entschied für sich selbst... er verlangte nicht zuviel, wenn er von Kevin verlangte sich für eine Seite zu entscheiden. Und wenn er sich für Annie entschied, entschied er sich automatisch gegen Semir. Er spürte, bei diesem Gedanken, einen Stich in seinem Herzen.


    "Kevin versteht einfach nicht, dass wir ihm nichts Böses wollen. Warum redet er nicht ehrlich mit uns? Wir haben doch alles für ihn getan, wir haben doch immer versucht ihm zu helfen. Wir sind doch das, was er in seinem früheren Leben niemals hatte...", sagte Ben irgendwann, nachdem die beiden wieder für einige Minuten geschwiegen hatten. "Auch wenn er mit mir darüber geredet hätte, hätte ich es schlimm gefunden, wenn er Annie helfen würde.", sagte sein Partner leise, setzte dann aber hinzu: "Aber zumindest hätte er mir dann vertraut... was er so nicht hat." "Ich hab ihm gesagt, dass er alles kaputt macht, wenn er das durchzieht." Doch Ben hoffte mittlerweile, dass Kevin es durchzog. Würde er jetzt die Reise nach Kolumbien nicht antreten, wäre das Tischtusch trotzdem zerschnitten und die nächsten Tage würden sehr schwierig werden. So hatte Semir Zeit, Abstand zu gewinnen, Kevin ein paar Tage nicht zu sehen und es würde langsam Gras über die Sache wachsen, und in einigen Wochen könnte man vielleicht nochmal drüber reden.
    Ben spürte, dass für Semir die Sache unverzeihbar schien. "Wenn Kevin jetzt der Chefin sagt, was passiert ist... dann sitz ich morgen wieder im Wohnzimmer und hör der Uhr beim Ticken zu.", meinte er missmutig und bereute den Schlag... jedoch nur wegen seinen eigenen Konsequenzen. Er fand immer noch, dass Kevin es verdient hatte, was er bekam auch wenn es normalerweise nicht Semirs Art und Weise war, Konflikte zu lösen. "Bei all der Scheisse, die Kevin baut... ich glaube nicht, dass er dich bei der Chefin anschwärzt wegen dem Schlag. Er weiß doch, was für dich auf dem Spiel steht." Doch Ben erwischte sich dabei, wie er seinen eigenen Worten nicht glaubte. Er hatte das Gefühl, diesen Mann, den jungen Polizisten, gar nicht zu kennen...

    Dienststelle - 12:00 Uhr


    Es war die totale Vollkatastrophe, die sich anbahnte. Es war genau das, was Kevin eigentlich durch seine Notlüge verhindern wollte. Er konnte sich vorstellen, wie Semir reagieren würde, wenn er hört, dass Kevin nach Annie sucht... dass er ihr helfen möchte. Der Frau, die mitverantwortlich dafür war, dass Semir so lange bei den Neo-Nazis im Keller ausharren musste. Der Grund, warum die beiden Polizisten nicht eine oder zwei Stunden früher in der Kneipe waren, um Semir zu befreien, der in dieser Zeit die Hölle erlebt hatte. Kevin hatte kein Verständnis von Semir erwartet, der sonst fast immer relativ gelassen und ruhig blieb, die Nerven behielt und irgendwo immer Verständnis oder Erklärungen für jemanden aufbringen konnte... und wenn er das mal nicht konnte, dann zumindest sachlich reagieren würde.
    Diesmal nicht, und das wollte Kevin vermeiden. Der erfahrene Kommissar blickte Ben und Kevin fassungslos an, er wiederholte seine Frage, auf die weder Ben noch sein Partner eine Antwort gab, weil die Antwort so eindeutig wie glasklar war... ja, er tat das wirklich. Dann drehte sich Semir auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten ins Großraumbüro, als wolle er fliehen, als wolle er vor der Wahrheit, vor der Konfrontation fliehen. "Na super...", spuckte Ben die Worte in Richtung Kevin, bevor er Semir folgte, was einige Sekunden später auch Kevin tat.


    In Semir drehte sich alles. Er fühlte sich schrecklich verraten, denn es fühlte sich so an, als würde sich Kevin mit einem Feind zusammen tun und sich gegen Semir verbünden. Dabei wusste er gar nicht um was es geht, aber es war ein subjektives Gefühl. Ben hatte ihm kurz nach dem Erlebnis erzählt, was sich abgespielt hatte, während er gefangen war. Dass sie ihn suchten, dass sie bei Annie waren, die beharrlich geschwiegen hatte, weil sie den "Bullen", nicht mal Kevin, helfen wollte. Semir hatte die junge Frau, obwohl er sie nicht kannte, verflucht. Natürlich wusste er auch ein wenig, wie Kevin zu ihr stand, doch dieses Wissen blendete er jetzt unabsichtlich aus... denn dafür hätte er rational denken müssen, und das schaffte er in diesem Moment keinesfalls.
    Auf Höhe von Andrea's Schreibtisch hielt Ben Semir am Arm fest. "Warte jetzt! Lass uns das klären.", sagte Ben, denn er spürte ebenfalls, dass die Sache hier komplett aus dem Ruder lief. Er wollte keinen Streit zwischen Semir und Kevin, er wollte nicht, dass das Dreiergespann, das sich endlich zusammengefunden hatte, endlich gefestigt wirkte, wieder zerbrach. Auch wenn er selbst natürlich sauer auf Kevin war, und nur sehr wenig Verständnis der geplanten Rettungsaktion aufbringen konnte, aber er dachte für einen Moment daran, was er ihm eben gesagt hatte... "... ich kann nicht anders. Ich muss sie suchen."


    Semir drehte sich ruckartig um und zeigte mit dem Finger auf Kevin. "Was gibts da zu klären? Mein Kollege, der Typ den ich als meinen Freund bezeichnet habe, will die Frau suchen, die dafür verantwortlich ist, dass ich fast umgebracht wurde?", sagte er laut und erregt, so dass sofort alle Anwesenden in dem Großraumbüro etwas überrascht und geschockt aufsahen. Bonrath unterbrach das Tippen eines Unfallberichtes, Jenny, die hinter ihm stand, drehte sich um, Hotte stoppte kurz sein Mittagessen und auch Andrea blickte von ihrem Monitor auf, was sie schon getan hatte, als Semir mit schnellen Schritten durch das Büro gelaufen kam. Die Chefin war zu diesem Zeitpunkt zum Glück nicht in ihrem Büro, sie war kurz zuvor in die Mittagspause gegangen, ansonsten hätte sie längst auch etwas von der Situaton mitbekommen.
    "Und dann will er es noch für sich behalten? Was bist du nur für ein Partner?", warf Semir Kevin vor die Füße, der hinter Ben mit einem resignierten Gesichtsausdruck stand, sich von Semirs Worten an die Wand genagelt fühlte... vor allem von Semirs letztem Satz. "Ich wollte genau diese Situation verhindern.", brachte er dann mit ruhiger, beinahe sachlicher Stimme hervor, doch man konnte ihm anmerken, dass auch er in seinen Emotionen erregt war, kämpfen musste, seine Erregung im Zaum zu halten um die Sache nicht komplett eskalieren zu lassen.


    "Und das verhinderst du, in dem du mich belügst??", schrie Semir voll Wut und ging einen Schritt auf Kevin zu, wobei er Ben zur Seite schob. Andrea war von der Situation so geschockt, vor allem als sie hörte, was Kevin vor hatte, dass sie stocksteif auf ihrem Stuhl saß. "Warum willst du sie überhaupt suchen?" Kevin atmete tief durch, Semir war nur noch einen halben Meter von ihm entfernt und Ben, dessen Herz mittlerweile mit voller Kraft gegen seinen Brustkorb klopfte, legte Semir eine Hand auf die Schulter. Er wendete keine Kraft auf, um seinen Partner zurück zu ziehen... es war nur zur Beruhigung gedacht. Doch diese Geste verpuffte, als würde er Wasser auf glühend heißen Stahl giessen, es blieb nichts als durchsichtiger Rauch zurück...
    Was sollte Kevin sagen? Es war eh alles zu spät, er brauchte keine Geschichte mehr zu erfinden, auch wenn er fürchtete, dass die Wahrheit Semir nicht unbedingt beruhigen würde. "Ihre Freunde haben mich darauf angesprochen. Sie ist verschwunden und meldet sich nicht mehr, und sie befürchten, dass ihr etwas zugestoßen ist." Semirs Gesichtsausdruck war ein Ausdruck der Fassungslosigkeit... als schien er sich nicht entscheiden zu können, welche Reaktion seiner Wut entsprechend angemessen war. Andrea kam ihm jedoch zuvor indem sie vom Stuhl aufsprang und Kevin anschrie: "Dass ihr etwas zugestoßen ist? Für das, was sie Semir durch ihre Tatenlosigkeit angetan hat, sollte ihr alles Mögliche zustoßen!!"


    Kevin hatte das Gefühl, dass jeder Blick um ihn herum, feindseelig war. So hatte er Andrea noch nie erlebt, er spürte auch ihre Wut jetzt auf sich. Und sich zu Jenny umzudrehen, getraute er sich gar nicht, sie stand schräg hinter ihm und auch ihr Gesicht drückte Fassungslosigkeit aus... jetzt wusste sie, was ihn in den letzten Tagen so beschäftigt hatte, und sie konnte es nicht glauben, dass er sich ernsthaft darüber Gedanken machte... und sich dann scheinbar sogar dafür entschieden hatte. Jedenfalls fühlte sich der junge Polizist erbärmlich in die Ecke gedrängt, und hätte sich ein beschwichtigendes Wort von jemandem gewünscht... von Ben, der den meisten Einfluss auf Semir hatte, oder von Hotte, der in solchen Momenten mit Bierruhe und väterlichem Instinkt die Situation entschärfen könnte, weil er Verständnis für beide Seiten aufbringen würde... doch niemand sagte ein Wort.
    Semir packte an sein Pflaster am Hals, und Andrea hielt den Atem an. Er hatte es bisher nur seiner Frau und Ben gezeigt, was sich dahinter verbarg, doch Semir war in einer emotionalen Ausnahmesituation und dachte nicht mehr groß nach, was er tat. Er riss es sich von der Haut und die rotglühende Narbe kam am Hals zum Vorschein, so dass seine uniformierten Kollegen die Luft anhielten. "DAFÜR ist deine Annie verantwortlich! DAS hätte sie allein verhindern können! Und dafür willst du ihr jetzt helfen??", rief Semir und seine Stimme überschlug sich fast vor Wut.


    Kevin wollte nicht, dass es eskaliert. Er wollte nicht, dass es soweit kommt. Doch in diesem Moment fühlte er sich so in die Ecke gedrängt, so allein gelassen von allen um sich herum, dass er den einzigen Ausweg in einer Antwort fand. "Nein, Semir. Dafür sind alleine die Typen von der Sturmfront verantwortlich. Sie haben dir das angetan, nicht Annie." Beinahe erschrak er sich über sich selbst, dass er Annie nun sogar in Schutz nahm, und Ben, der gerade noch wollte, dass Semir sich beruhigte, entglitt nun auch der Gesichtszug. Er konnte nicht fassen, was Kevin gerade gesagt hatte.
    Semirs Gehirn funktionierte in diesem Moment nicht. Er hörte nur Kevins Worte, und sein Körper tat nicht, was der vernünftige Bereich seines Kopfes gerade vor hatte... sein Körper reagierte einzig, auf den Bauch. Kevin sah den Schlag nicht kommen. Als Kickboxer in einer Kampfsituation hätte er sich sicher wehren können... wegducken, die Hände nach oben reißen, doch mit so einer Reaktion hatte der Polizist nicht gerechnet. Semirs Faust traf ihn auf die Lippe, ein brennender Schmerz zuckte durch seinen Kopf und ließ den einen Kopf größeren Mann sofort zu Boden gehen. Die Anwesenden hielten die Luft an, als Semir Kevin niederschlug und schon in dem Moment, wo Kevin am Boden ankam, nur kurz nach unten sah, mit in Wut verzerrtem Blick und scheinbar kurz nachdachte, ob er nochmal zuschlagen sollte, sich dann aber dagegen entschied, und mit schnellen Schritten den Weg aus der Dienststelle suchte. Ben und Andrea, die beide völlig geschockt waren von dem, was gerade passiert war, folgten Semir... Andrea nicht, ohne Kevin ein "Verschwinde von hier!" entgegen zu schleudern.


    Hotte und Dieter sahen sich für einen Moment an... von dem, was sie an Hintergründen wussten, konnten sie sich nicht alles zusammenreimen, aber Semirs Worte waren eindeutig. Und so zögerten sie kurz, Kevin zu Hilfe zu kommen, doch der hatte sich selbst stöhnend wieder aufgerappelt. Blut tropfte von der aufgeplatzten Lippe, und als er sich umsah, merkte er, dass er von mehreren Augenpaaren angestarrt wurde. Das, das ihn am durchdringendsten, beinahe hilflos ansah, war Jenny... und es schien ihm das Herz zu brechen. Auch ihr hatte er veschwiegen, was ihn beschäftigt und hatte seine Entscheidung ohne sie gefällt... und auch sie bewegte sich keinen Millimeter zu ihm hin... nein, es hatte was von einem "Abwenden" von ihm, als sie den Blick senkte und sich umdrehte...