Dienststelle - 12:00 Uhr
Es war die totale Vollkatastrophe, die sich anbahnte. Es war genau das, was Kevin eigentlich durch seine Notlüge verhindern wollte. Er konnte sich vorstellen, wie Semir reagieren würde, wenn er hört, dass Kevin nach Annie sucht... dass er ihr helfen möchte. Der Frau, die mitverantwortlich dafür war, dass Semir so lange bei den Neo-Nazis im Keller ausharren musste. Der Grund, warum die beiden Polizisten nicht eine oder zwei Stunden früher in der Kneipe waren, um Semir zu befreien, der in dieser Zeit die Hölle erlebt hatte. Kevin hatte kein Verständnis von Semir erwartet, der sonst fast immer relativ gelassen und ruhig blieb, die Nerven behielt und irgendwo immer Verständnis oder Erklärungen für jemanden aufbringen konnte... und wenn er das mal nicht konnte, dann zumindest sachlich reagieren würde.
Diesmal nicht, und das wollte Kevin vermeiden. Der erfahrene Kommissar blickte Ben und Kevin fassungslos an, er wiederholte seine Frage, auf die weder Ben noch sein Partner eine Antwort gab, weil die Antwort so eindeutig wie glasklar war... ja, er tat das wirklich. Dann drehte sich Semir auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten ins Großraumbüro, als wolle er fliehen, als wolle er vor der Wahrheit, vor der Konfrontation fliehen. "Na super...", spuckte Ben die Worte in Richtung Kevin, bevor er Semir folgte, was einige Sekunden später auch Kevin tat.
In Semir drehte sich alles. Er fühlte sich schrecklich verraten, denn es fühlte sich so an, als würde sich Kevin mit einem Feind zusammen tun und sich gegen Semir verbünden. Dabei wusste er gar nicht um was es geht, aber es war ein subjektives Gefühl. Ben hatte ihm kurz nach dem Erlebnis erzählt, was sich abgespielt hatte, während er gefangen war. Dass sie ihn suchten, dass sie bei Annie waren, die beharrlich geschwiegen hatte, weil sie den "Bullen", nicht mal Kevin, helfen wollte. Semir hatte die junge Frau, obwohl er sie nicht kannte, verflucht. Natürlich wusste er auch ein wenig, wie Kevin zu ihr stand, doch dieses Wissen blendete er jetzt unabsichtlich aus... denn dafür hätte er rational denken müssen, und das schaffte er in diesem Moment keinesfalls.
Auf Höhe von Andrea's Schreibtisch hielt Ben Semir am Arm fest. "Warte jetzt! Lass uns das klären.", sagte Ben, denn er spürte ebenfalls, dass die Sache hier komplett aus dem Ruder lief. Er wollte keinen Streit zwischen Semir und Kevin, er wollte nicht, dass das Dreiergespann, das sich endlich zusammengefunden hatte, endlich gefestigt wirkte, wieder zerbrach. Auch wenn er selbst natürlich sauer auf Kevin war, und nur sehr wenig Verständnis der geplanten Rettungsaktion aufbringen konnte, aber er dachte für einen Moment daran, was er ihm eben gesagt hatte... "... ich kann nicht anders. Ich muss sie suchen."
Semir drehte sich ruckartig um und zeigte mit dem Finger auf Kevin. "Was gibts da zu klären? Mein Kollege, der Typ den ich als meinen Freund bezeichnet habe, will die Frau suchen, die dafür verantwortlich ist, dass ich fast umgebracht wurde?", sagte er laut und erregt, so dass sofort alle Anwesenden in dem Großraumbüro etwas überrascht und geschockt aufsahen. Bonrath unterbrach das Tippen eines Unfallberichtes, Jenny, die hinter ihm stand, drehte sich um, Hotte stoppte kurz sein Mittagessen und auch Andrea blickte von ihrem Monitor auf, was sie schon getan hatte, als Semir mit schnellen Schritten durch das Büro gelaufen kam. Die Chefin war zu diesem Zeitpunkt zum Glück nicht in ihrem Büro, sie war kurz zuvor in die Mittagspause gegangen, ansonsten hätte sie längst auch etwas von der Situaton mitbekommen.
"Und dann will er es noch für sich behalten? Was bist du nur für ein Partner?", warf Semir Kevin vor die Füße, der hinter Ben mit einem resignierten Gesichtsausdruck stand, sich von Semirs Worten an die Wand genagelt fühlte... vor allem von Semirs letztem Satz. "Ich wollte genau diese Situation verhindern.", brachte er dann mit ruhiger, beinahe sachlicher Stimme hervor, doch man konnte ihm anmerken, dass auch er in seinen Emotionen erregt war, kämpfen musste, seine Erregung im Zaum zu halten um die Sache nicht komplett eskalieren zu lassen.
"Und das verhinderst du, in dem du mich belügst??", schrie Semir voll Wut und ging einen Schritt auf Kevin zu, wobei er Ben zur Seite schob. Andrea war von der Situation so geschockt, vor allem als sie hörte, was Kevin vor hatte, dass sie stocksteif auf ihrem Stuhl saß. "Warum willst du sie überhaupt suchen?" Kevin atmete tief durch, Semir war nur noch einen halben Meter von ihm entfernt und Ben, dessen Herz mittlerweile mit voller Kraft gegen seinen Brustkorb klopfte, legte Semir eine Hand auf die Schulter. Er wendete keine Kraft auf, um seinen Partner zurück zu ziehen... es war nur zur Beruhigung gedacht. Doch diese Geste verpuffte, als würde er Wasser auf glühend heißen Stahl giessen, es blieb nichts als durchsichtiger Rauch zurück...
Was sollte Kevin sagen? Es war eh alles zu spät, er brauchte keine Geschichte mehr zu erfinden, auch wenn er fürchtete, dass die Wahrheit Semir nicht unbedingt beruhigen würde. "Ihre Freunde haben mich darauf angesprochen. Sie ist verschwunden und meldet sich nicht mehr, und sie befürchten, dass ihr etwas zugestoßen ist." Semirs Gesichtsausdruck war ein Ausdruck der Fassungslosigkeit... als schien er sich nicht entscheiden zu können, welche Reaktion seiner Wut entsprechend angemessen war. Andrea kam ihm jedoch zuvor indem sie vom Stuhl aufsprang und Kevin anschrie: "Dass ihr etwas zugestoßen ist? Für das, was sie Semir durch ihre Tatenlosigkeit angetan hat, sollte ihr alles Mögliche zustoßen!!"
Kevin hatte das Gefühl, dass jeder Blick um ihn herum, feindseelig war. So hatte er Andrea noch nie erlebt, er spürte auch ihre Wut jetzt auf sich. Und sich zu Jenny umzudrehen, getraute er sich gar nicht, sie stand schräg hinter ihm und auch ihr Gesicht drückte Fassungslosigkeit aus... jetzt wusste sie, was ihn in den letzten Tagen so beschäftigt hatte, und sie konnte es nicht glauben, dass er sich ernsthaft darüber Gedanken machte... und sich dann scheinbar sogar dafür entschieden hatte. Jedenfalls fühlte sich der junge Polizist erbärmlich in die Ecke gedrängt, und hätte sich ein beschwichtigendes Wort von jemandem gewünscht... von Ben, der den meisten Einfluss auf Semir hatte, oder von Hotte, der in solchen Momenten mit Bierruhe und väterlichem Instinkt die Situation entschärfen könnte, weil er Verständnis für beide Seiten aufbringen würde... doch niemand sagte ein Wort.
Semir packte an sein Pflaster am Hals, und Andrea hielt den Atem an. Er hatte es bisher nur seiner Frau und Ben gezeigt, was sich dahinter verbarg, doch Semir war in einer emotionalen Ausnahmesituation und dachte nicht mehr groß nach, was er tat. Er riss es sich von der Haut und die rotglühende Narbe kam am Hals zum Vorschein, so dass seine uniformierten Kollegen die Luft anhielten. "DAFÜR ist deine Annie verantwortlich! DAS hätte sie allein verhindern können! Und dafür willst du ihr jetzt helfen??", rief Semir und seine Stimme überschlug sich fast vor Wut.
Kevin wollte nicht, dass es eskaliert. Er wollte nicht, dass es soweit kommt. Doch in diesem Moment fühlte er sich so in die Ecke gedrängt, so allein gelassen von allen um sich herum, dass er den einzigen Ausweg in einer Antwort fand. "Nein, Semir. Dafür sind alleine die Typen von der Sturmfront verantwortlich. Sie haben dir das angetan, nicht Annie." Beinahe erschrak er sich über sich selbst, dass er Annie nun sogar in Schutz nahm, und Ben, der gerade noch wollte, dass Semir sich beruhigte, entglitt nun auch der Gesichtszug. Er konnte nicht fassen, was Kevin gerade gesagt hatte.
Semirs Gehirn funktionierte in diesem Moment nicht. Er hörte nur Kevins Worte, und sein Körper tat nicht, was der vernünftige Bereich seines Kopfes gerade vor hatte... sein Körper reagierte einzig, auf den Bauch. Kevin sah den Schlag nicht kommen. Als Kickboxer in einer Kampfsituation hätte er sich sicher wehren können... wegducken, die Hände nach oben reißen, doch mit so einer Reaktion hatte der Polizist nicht gerechnet. Semirs Faust traf ihn auf die Lippe, ein brennender Schmerz zuckte durch seinen Kopf und ließ den einen Kopf größeren Mann sofort zu Boden gehen. Die Anwesenden hielten die Luft an, als Semir Kevin niederschlug und schon in dem Moment, wo Kevin am Boden ankam, nur kurz nach unten sah, mit in Wut verzerrtem Blick und scheinbar kurz nachdachte, ob er nochmal zuschlagen sollte, sich dann aber dagegen entschied, und mit schnellen Schritten den Weg aus der Dienststelle suchte. Ben und Andrea, die beide völlig geschockt waren von dem, was gerade passiert war, folgten Semir... Andrea nicht, ohne Kevin ein "Verschwinde von hier!" entgegen zu schleudern.
Hotte und Dieter sahen sich für einen Moment an... von dem, was sie an Hintergründen wussten, konnten sie sich nicht alles zusammenreimen, aber Semirs Worte waren eindeutig. Und so zögerten sie kurz, Kevin zu Hilfe zu kommen, doch der hatte sich selbst stöhnend wieder aufgerappelt. Blut tropfte von der aufgeplatzten Lippe, und als er sich umsah, merkte er, dass er von mehreren Augenpaaren angestarrt wurde. Das, das ihn am durchdringendsten, beinahe hilflos ansah, war Jenny... und es schien ihm das Herz zu brechen. Auch ihr hatte er veschwiegen, was ihn beschäftigt und hatte seine Entscheidung ohne sie gefällt... und auch sie bewegte sich keinen Millimeter zu ihm hin... nein, es hatte was von einem "Abwenden" von ihm, als sie den Blick senkte und sich umdrehte...