Bogota Flughafen - 20:00 Uhr
Nach 12 Stunden Flug in einer, nicht unbedingt bequemen Business-Class, lernt man erst die Komfortabilität eines Autos zu schätzen. Es war einer von vielen Gedanken, die Kevin durch den Kopf ging, als er mehrere Kilometer über dem Boden in Richtung Kolumbien schwebte. Ausserdem waren da einige Gesichter in seinem Kopf, die ihm immer abwechselnd mal mehr, mal weniger den versuchten Schlaf raubten, um die Flugzeit gedanklich zu verkürzen. Annie, für die er sich die schlimmsten Horrorszenarien ausmalte, Ben und Semir von dem jungen Polizisten bitter enttäuscht und wütend, die ihn an der Tür zur Autobahndienststelle abwiesen und am schlimmsten waren die Gedanken an Jenny. In Kevins Gedanken hatte Jenny seine Drohung wahr gemacht, und der Polizist fand die gemeinsame Wohnung bei seiner Rückkehr leer vor. Nur ein kahler Zettel lag am Fußboden, auf dem stand: "Du hast alles kaputt gemacht."
Es versetzte ihm Stiche in die Brust, und er hatte in den 12 Stunden mehrmals den Entschluss gefasst, am Flughafen Jenny anzurufen, sich zu entschuldigen und mit der nächsten Maschine heimzufliegen. Doch es dauerte nur Minuten, und Annie meldete sich mit dem nächsten Schreckensszenario, sein alter Dämon schubste ihn auch nochmal an und erinnerte ihn an sein Versagen bei seiner Schwester Janine. Eine Option war es noch, die Tür des Fliegers aufzureißen, nochmal zu winken und herunter zu springen.
Als der Flieger recht sanft auf der Landebahn aufsetzte und der Polizist aus dem kleinen Fenster blickte, fühlte er sich in eine andere Welt versetzt. Die Luft über der nahen Großstadt schien zu stehen, es war diesig und der dunkelblaue Himmel war fast nicht zu sehen, geschweige denn erste Sterne. Auf Urlauber machte der recht alt wirkende Flughafen auch nicht unbedingt den willkommensten Eindruck, doch Kevin achtete darauf nicht. Sofort traf ihn, etwas unerwartet wenn man schon drei Monate Kälte gewöhnt war, die warme Luft und er hatte sich seine Jacke unter die Arme geklemmt. Im Terminal war es recht ruhig, kein Vergleich mit Ferienorten wie Mallorca oder der Türkei, wo es wie auf dem Rummel zuging. Nur wenige Leute warteten am klappernden Laufband auf Gepäck und der Polizist nahm seine drei Taschen in Empfang. Eine Sporttasche mit Kleidung, und zwei kleinere Taschen, in denen er jeweils 25 000 Euro verpackt hatte.
Er hoffte, hier am Flughafen Schließfächer zu finden, und wurde fündig. Sie waren zwar nicht modern wie in Frankfurt, aber sie würden ihren Zweck tun... hoffte Kevin zumindest, als er eine der beiden Taschen dort einschloß, und den Schlüssel in die Gesäßtasche seiner Jeans schob.
Aus der kühlen, immerhin klimatisierten Halle trat er in Shirt und offenen kurzärmeligen Hemd an die warme, aber stickig wirkende Luft. Er war müde, war er doch jetzt durch den Jetlag schon 17 Stunden auf den Beinen, und es war erst 20 Uhr hier in Kolumbien. Rechts von ihm war ein Taxistand, und die Großzahl an Autos, die hier fuhren, stammten noch aus den 80ern und 90ern. Einige Anzugträger, mit dicken Brillis und noch dickeren Zigarren stiegen allerdings auch in moderne Mercedes und BMW.
Der Polizist ließ den Blick herumreichen, bis ihm ein Mann auffiel, der gezielt auf ihn zusteuerte. Er hatte einen südamerikanischen Hautteint, pechschwarze schulterlange Haare zum Zopf gebunden und sein muskulöser Oberkörper steckte in einem dunkelgrünen Tanktop. Es war für Juan wohl nicht schwer, den deutschen Polizisten aus den gut 25 Mann, die gerade mit dem Flieger aus Deutschland ankamen, herauszufinden... denn er war der einzige, der nicht wie ein typischer Tourist sofort die wenigen Reisebusse ansteuerte, die in die Urlaubsregionen fuhren, und er ging nicht wie ein Geschäftsmann sofort Richtung Taxistand oder zur Autovermietung. Er kam aus dem Flughafengebäude, sah sich um und steckte sich erst mal eine Zigarette an.
"Kevin? Kevin Peters?", fragte er mit unüberhörbaren spanischen Akzent, aber ansonsten perfekten Deutsch. Kevin nickte, nahm die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger und die beiden Männer schüttelten sich kurz die Hände. "Nenn mich Juan. Dann wollen wir mal, ab gehts." Es schien zuerst so, als sei sein kolumbianischer Reiseführer auch kein Freund vieler Worte. Doch sie waren noch nicht an dessen Auto angekommen, da zeigte der Mann mit dem Pferdeschwanz, dass er sich auch vielfältig auf Deutsch erklären konnte. "Du glaubst nicht, was mich diese Scheisse von meiner eigentlich Arbeit abhält. Pass auf, das ganze läuft hier genauso ab, wie ich es dir sage, alles klar? Ich weiß ja nicht, in welchen Kreisen du in Deutschland verkehrst... ich kann dir nur sagen: Hier ist es anders."
Er steuerte auf einen ziemlich alten, verdreckten Jeep zu, in den Kevin mit seinen zwei Taschen auf der Beifahrerseite einstieg. Als Juan sich auch hinter das Steuer geklemmt hatte, legte er den linken Arm über das dünne Lenkrad und sah zu Kevin herüber. "Wo ist das Geld?" Kevin grinste: "Bist du so misstrauisch Freunden von Zack gegenüber?" "Weil ich ein Freund von Zack bin, weiß ich auch dass er so mit der größte Bescheisser östlich des Atlantiks ist. Also?" Mit einer Bewegung reichte der Polizist seinem Reiseführer die Tasche, und Juan machte in aller Ruhe den Reissverschluss auf, und sah hinein. Nachdem er ein paar Bündel auf Seite gelegt hatte, schien er sofort zu merken, dass es keine 50.000 waren. "Was soll das? Ich sagte, Zahlung im Voraus." "Auch wenn du hier in Kolumbien den Durchblick hast, heißt das nicht, dass ich ein Vollidiot bin. Ich geb dir das Geld, und du haust damit ab? Sobald wir Annie gefunden haben, kriegst du den Rest." Nun war es Juan, der grinste. Er mochte es, dass der Mann neben ihm scheinbar keine Angst hatte, und so versuchte er ihm, die Sorglosigkeit etwas zu nehmen: "Hör mal, mein Freund. Wenn du hier an den Falschen gerätst, schneidet der dir auch für ein Zehntel der Tasche die Brust auf, verlass dich drauf." Dann lehnte er sich wieder zurück und sah in Kevins unbeeindrucktes Gesicht. Er griff zum Zündschlüssel und meinte lächelnd: "Aber ich bin einverstanden."
Die Straßen waren schlecht gepflastert, und die Gegend ein wenig trostlos. Die Häuser alt, verkommen, nur wenig Menschen waren auf der Straße unterwegs. "Falls du dich aufs Sightseeing gefreut hast, muss ich dich enttäuschen. Wir fahren in ein Vorviertel, einige Kilometer ausserhalb der Stadt. Deren Silhouette kannst du sehen, früh morgens, wenns einigermaßen klar ist.", erklärte Juan. "Welche Anhaltspunkte hast du für den Aufenthaltsort deiner Freundin?" Fast wie im Reflex wollte Kevin gegen den Ausdruck "Freundin" protestieren, doch Juan war nur eine Hilfe, und er überhörte es. "Ich weiß nur, dass ihr Handy im Bereich von Bogota eingeloggt war vor einigen Tagen. Und dass sie eventuell wegen Drogen hier ist." "Verdammte Scheisse...", fluchte Juan lachend auf Spanisch. "Das ist keine Nadel im Heuhafen, das ist ne beschissene Nadel in ganz Kolumbien..."
Hinter dem Auto staubte es, und die Nacht brach herein. Viele Autos fuhren ohne Licht, und die Fahrt war nicht ungefährlich. Er hielt vor einem Haus, an dem ein Schild "Pension" angebracht war, um Kevin dort rauszulassen. "Hier hab ich dir ein Zimmer besorgt. Die Straße neben dem Haus weiter gibt es ein paar einheimische Kneipen. Ich hol dich morgen früh um 9 Uhr ab, dann zeig ich dir alle Orte, an denen du suchen kannst." "Alles klar.", meinte Kevin, nahm seine Tasche und zog sie mit aus dem Wagen, als er mit den Schuhen im Staub aufkam. "Und tu mir einen Gefallen...", sagte Juan noch, lehnte sich wieder herüber und schaffte es, dass Kevin sich nochmal umdrehte. "Geh heute abend nicht noch alleine in die Slums hier. Wir fahren morgen zusammen, okay?" Kevin hasste Bevormundung, aber er schluckte alles herunter. Er brauchte Juan, er brauchte ihn um Annie zu finden... und das war sein vorrangiges Ziel.