Beiträge von Campino

    Innenstadt - 18:00 Uhr


    Semir hätte die Treppe am liebsten verflucht, denn sie knarrte leise bei jeder Stufe, die die beiden Polizisten nahmen. Würde in den Wohnungen geredet werden oder der Fernseher laufen, würde man nichts hören wenn jemand die Stockwerke runter oder hoch poltern würde. Aber jetzt, wo Carina in ihrer Wohnung den Atem anhielt, und der Eindringling dort oben vermutlich ebenso leise arbeitete, konnte jedes laute Geräusch verräterisch sein. Auch das leise Geräusch, als die beiden Polizisten ihre Dienstwaffen aus dem Holster nahmen und das metallische Klicken beim entsichern, schien durch den ganzen Flur zu hören zu sein. Draussen war es bereits stockfinster und Ben leuchtete mit seinem Smartphone zur Tür. Beide Männer konnten sofort das gesplitterte Schloß und die nur angelehnte Tür erkennen.
    Mit stummen Blicken verständigten sich die beiden Freunde, Ben lehnte sich mit dem Rücken an den Türrahmen und blieb aufrechtstehen, während der kleinere Semir in die Hocke ging und die Tür Stück für Stück ohne Knarren aufdrückte. Sofort fiel Licht aus dem Inneren der Wohnung in den Flur und der große Kommissare spürte, wie ihm die Hände um den Griff der Waffe feucht wurde. Erinnerungen kamen zurück an den Einsatz im Krankenhaus, als er angeschossen und schwer verletzt wurde, weswegen er zuletzt in Einsätzen manchmal mit Angstzuständen zu kämpfen hatte. Doch solange Semir bei ihm war, spürte er Vertrauen, atmete tief durch und umgriff den Griff der Waffe noch fester.


    Leise Geräusche drangen aus dem Inneren der Wohnung, es klang nach Rascheln und Kramen. Die Tür, die zum Büro führte, war ebenfalls nur angelehnt und darin brannte Licht, der Einbrecher ging doch lauter vor, als man es von draussen hätte vermuten können. Die Waffe nach vorne gerichtet mit leisen Schritten ging Semir langsam in Richtung der Tür, Ben folgte ihm. Mit einem Blick ins Wohnzimmer sahen sie, dass eine Bodenvase zerbrochen und verstreut herum lag, offenbar war der Einbrecher im Dunkeln dagegen gestoßen, was das Poltern ausgelöst hat. Das Herz des erfahrenen Polizisten pumpte gegen den Brustkorb, obwohl er solche Situationen schon tausende von Male erlebt hatte, war er doch immer noch aufgeregt, weil man bei solchen Typen mit allem rechnen konnte.
    Die beiden Polizisten hörten von drinnen ein wütendes Schnauben: "Wo ist der Krempel bloß?" Semir zeigte Ben mit den Fingern an, wann sie zuschlagen wollten, und der Polizist mit dem Wuschelkopf nickte. Mit einem lauten Krachen flog die Tür auf, als Semir sich dagegen stemmte und die beiden Polizisten richteten die Waffe auf den maskierten Mann, der am Schreibtisch stand und in mehreren Ordnern blätterte. Trotz der Überraschung und der Verdutztheit des Mannes reagierte der erstaunlich schnell und griff seine Waffe, die auf dem Schreibtisch lag. Die beiden Polizisten mussten sich entscheiden zwischen in Deckung gehen und selbst abdrücken.


    Man entschied sich für Zweiteres, was wohl die bessere Entscheidung gewesen war, denn der Einbrecher zögerte keine Sekunde und betätigte den Abzug. Holz des Rahmens splitterte, in die eine Kugel einschlug, in der Wand des Flures hinterließ eine weitere Kugel ein Loch. "Polizei, werfen sie die Waffe weg!", schrie Ben aus der Deckung heraus, die beiden waren links und rechts vom Türrahmen verschwunden. Sie konnten sich anblicken und warteten einen Moment, bevor sie wieder ins Büro lugten, vorsichtig um auf alles vorbereitet zu sein. Sie konnten gerade noch sehen, wie der Typ das Fenster öffnete, und sich auf den kleinen Fensterbrettvorsprung stellte, der durchgängig am kompletten Haus entlanglief.
    "Oh ne, das auch noch.", stöhnte Ben als die beiden zum Fenster liefen und hinausblickten. Die schwarze Gestalt hielt sich an der Dachrinne fest, in der anderen Hand noch die Waffe, mit der er Richtung Fenster feuerte wo Semir den Kopf zurück zog. "Los komm! Oder hast du neben Platzangst auch noch Höhenangst?", rief der erfahrene Kommissar und zog Ben hinter sich her. Beide Polizisten stiegen ebenfalls auf den kurzen Vorsprung, hielten sich mit einer Hand am Dachvorsprung fest und folgten dem Mann, der jetzt seine Waffe weggesteckt hatte und nach unten sah. "Hiergeblieben!!", schrie Semir noch, als er vielleicht einen Meter entfernt entsetzt sah, wie der Mann sich fallen ließ.


    Unten konnte er schwach erkennen, dass ein Kleintransporter mit offener Ladefläche stand, in den der Mann sich fallen ließ. Semir und Ben konnten nicht genau erkennen, was er geladen hatte, es schien aber etwas Weiches zu sein, in dem der Mann landete, denn er bewegte sich sofort wieder. "Schnell, komm! Sonst ist er weg.", sagte Semir, ging den Meter weiter und sprang gezielt ebenso herunter, als er sicher war, dass der Mann so schnell nicht in den Wagen springen konnte, denn er war gerade erst von der Ladefläche geklettert. Semir kam der freie Fall nur kurz vor, so hoch war das dreistöckige Haus auch nicht und der Untergrund, der sich als einige aufgestapelte Matratzen entpuppte dämpfte den Aufprall hervorragend. Der Einbrecher war offenbar gut vorbereitet.
    Semir kletterte vom Transporter, als der Einbrecher gerade einstieg, und rief noch ein lautes "Schnell!!", nach oben. Denn je länger Ben wartete, desto größer wurde die Gefahr, dass der Mann den Wagen anließ und Ben somit daneben sprang. Aber der Typ hatte gerade die Tür aufgerissen, als Ben sich vom Vorsprung wegdrückte, nachdem ihm schnell noch ein kurzes "Oh Fuck...", entfuhr. Er krachte gerade auf die Matratzen, als der Einbrecher den Wagen anließ und Semir den Türgriff ergreifen wollte.


    Mit einem Ruck setzte sich der kleine Transporter in Bewegung und Semir entglitt die Klinke, so dass er beinahe stolperte. Ben hatte keine Zeit mehr zum Absteigen und krallte sich an den Matratzen fest, als der Wagen anfuhr und aus der Gasse, in der er stand, steuerte. "BEEEN!!", rief Semir nochmal beim Hinterherrennen in Richtung Hauptstraße. Der Transporter bog links ab, Semir rechts in Richtung des BMWs, in den er sich schwang und sofort den Motor startete. Weil er in die verkehrte Richtung stand, haute er den Rückwärtsgang rein, ließ die Hinterreifen durchdrehen und zog dann bei einer gewissen Geschwindigkeit die Handbremse des Wagens, um ihn um 180 Grad herumschleudern zu lassen. Diese Kunststückcken wurden mit den modernen elektronischen Handbremsen immer schwieriger, aber Semir überlistete die Gesetze der Phsyik und nahm die Verfolgung des Transporters auf.
    Ben spürte jede Unebenheit und jede Kurve, die der Transporter nahm. Immer wenn der im Abendverkehr einem Wagen ausweichen musste, rutschten die Matratzen von links nach rechts, da sie nicht so breit waren wie die Ladefläche. Gehalten wurden sie nur von einigen Schnellspannern, die am Führerhaus befestigt waren und unter dem Druck ätzten, die Matratzen auf der Ladefläche zu halten, denn die hintere Ladeklappe stand offen. Stück für Stück zog sich Ben ans Führerhaus heran, bis er endlich den Metallrahmen der Ladefläche zum Führerhaus hin ergreifen konnte und durch das kleine Heckfenster des Führerhauses direkt in den Rückspiegel sah, wo sich die Blicke Bens und des Einbrechers trafen...

    Dienststelle - 17:00 Uhr


    Je später es wurde, desto nervöser wurde Ben. Je häufiger er auf die Uhr sah, und je mehr es dunkelte, desto unwohler fühlte er sich in seiner Haut. Semir hatte ihm vor zwei Stunden klipp und klar erklärt, dass man Carina unbedingt nochmal verhören musste, polizeilich und nicht freundschaftlich. Sie war der zentrale Anhaltspunkt, der Schlüssel um im Mordfall ihres Bruders endlich weiter zu kommen. "Bitte, lass mich alleine heute abend zu ihr gehen. Mir wird sie vielleicht mehr erzählen, wenn wir dort nicht als Polizisten auftauchen.", bat er seinen erfahrenen Partner und faltete die Hände dabei, als würde er flehen. Es fehlte nur noch, dass er vor Semir auf die Knie fiel, doch nicht mal das hätte etwas genutzt. "Nein Ben! Wir fahren dort zusammen hin.", beharrte der. Er war bereits von seinem Alleingang am Nachmittag nicht begeistert, und nochmal würde er das nicht zulassen.
    Ben seufzte... er mochte Carina, er wollte sie nicht so unter Druck setzen. Auf der anderen Seite brannte er darauf zu erfahren, was sie mit Drager zu tun hatte, und natürlich fühlte er sich ebenfalls ein wenig hintergangen, schließlich hatte Carina ihm ins Gesicht gelogen. Aber das schaffte er gerade zu verdrängen. "Traust du meiner Objektivität als Polizist nicht?", fragte er etwas gereizt und Semir lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Das gleiche könnte ich dich fragen, Ben.", sagte der seelenruhig, und hatte schon wieder seine souveräne Art und Weise von früher zurück. "Denkst du im Ernst, ich habe jetzt ein Interesse daran, Carina in die Pfanne zu hauen, nur weil du sie magst? Ich will den Mordfall lösen, Menschenskind." Dann stand er auf um zu Ben zu gehen, schenkte seinem Freund, der beinahe etwas beleidigt in seinem Stuhl saß, ein Lächeln und hielt ihm die Hand hin. "Also lass uns das jetzt wie Partner erledigen! Reiß dich zusammen." Mit leicht verkniffenem Gesicht sah der jüngere Polizist zu seinem Kollegen nach oben, dann schlug er ein und ließ sich von ihm aus dem Stuhl ziehen.


    Das Vertrauen in Semir war riesengroß. Er vertraute ihm, dass er sich Carina gegenüber neutral verhalten würde, er vertraute ihm dass er sie nicht mehr unter Druck setzen würde, als jeden anderen Verdächtigen auch wenn sie weiterhin abstritt, etwas mit Drager zu tun zu haben. Es dunkelte draussen bereits, und die Straßenlaternen in der Innenstadt wurden angeschaltet. Ihr Atem dampfte, als die beiden Männer vor Carinas Wohnung ausstiegen, denn es war immer noch knackig kalt und der Himmel sternenklar. Zumindest würde es heute keinen Schnee geben, denn davon lag noch genug aufgehäuft auf Gehwegen, an Straßenecken und Verkehrsinseln. Der automatische Summer, wenn Carina in der Wohnung den Türöffner drückte, kannte Ben mittlerweile.
    "Oh... hallo...", sagte Carina etwas überrascht, als sie erblickte dass Ben wieder Semir dabei hatte, und es klang ein wenig enttäuscht. "Hey Carina. Meinen Partner kennst du ja bereits." Semir schüttelte ihr die Hand während Ben und Carina sich mit einem Küsschen auf die Wange begrüßten, dann bat Carina die beiden Männer in die warme Wohnung. Sie sah müde aus, dachte Ben noch als die Tür hinter ihnen wieder ins Schloß fiel. Sie wollten ins Wohnzimmer grüßen, aber Carinas Mutter sah stumm und stur geradeaus auf den Fernseher und schien die beiden Männer gar nicht zu bemerken. "Sie ist heute nicht gut drauf.", meinte die junge Frau und bot den Polizisten Platz und etwas zu trinken an.


    Ben rieb sich die Hände, vor Nervosität. Sein Unwohlsein, ein drückendes Gefühl im Magen, nahm langsam seinen Höhepunkt, je dichter die Frage rückte, die sie jetzt zu stellen hatten. "Was kann ich denn für euch tun?" Ein wenig hilflos sah der Polizist mit der Wuschelfrisur zu seinem Partner und war auf einmal heilfroh, dass er darauf bestanden hat, mit zu kommen. "Du hast... ähm, du hast gestern gesagt, du würdest den Mann, der bei dir war, nicht kennen." Carina nickte, und log damit erneut: "Ja, das hatten wir doch schon geklärt." Ein kurzer Blick von Ben auf die Tischplatte, ein weiterer zu Semir, dann blickte er wieder Carina direkt ins Gesicht, doch sie hielt dem Blick nicht lange stand. "Und was wollte er dann heute morgen von dir?"
    Sofort schnellten Carinas Augen wieder nach oben und fixierten Ben. Als hätte er gerade etwas Abartiges oder zutiefst Beleidigendes gesagt. "Was sagst du da?" "Ich habe euch beide gesehen, wie ihr euch vor der Tür recht angeregt unterhalten habt." "Spionierst du mir etwa nach??", fragte sie mit erregter Stimme und der Polizist spürte, wie sich sein Unbehagen langsam in einen Brechreiz verwandelten. "Ich mache meine Arbeit, Carina. Ich will den Mörder deines Bruders fassen."


    Semir beobachtete den Disput, und sah sich erst genötigt, nach Carinas nächstem Satz einzugreifen. "Ach, deshalb warst du abends immer bei mir, um zu hoffen, mich aushorchen zu können." Es war ein unfairer Vorwurf an Ben, der Carina in einer schwierigen Situation zur Seite stand, aber er hörte auch eine große Portion an Hilflosigkeit in ihrer Stimme. Offenbar wusste sie sich, mit dem Rücken zur Wand, nicht anders zu verteidigen, vielleicht auch um von Drager abzulenken. "Nun aber mal langsam.", sagte der erfahrenere Beamte und hob beschwichtigend die Hände. "Frau Bachmann, wir haben sicherlich andere gesetzliche Methoden um von ihnen die Informationen zu bekommen. Dazu muss Ben sich sicherlich nicht ihre Freundschaft erschleichen.", verteidigte er seinen Partner, der etwas geknickt auf den Tisch blickte. Das Gespräch war, fast wie befürchtet, aus dem Ruder gelaufen.
    "Darüber hinaus halte ich es für sehr schäbig, dass sie gestern die Krankheit ihrer Mutter ausgenutzt haben, um zu verheimlichen dass sie eine Diskussion mit Herr Drager hatte." Nun erntete auch Semir einen giftigen Blick, der aber sofort von der Erkenntnis getrübt wurde, dass er Recht hatte. Carina hatte direkt danach bereits ein schlechtes Gewissen, aber der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel. "Wir wissen also, dass sie Drager kennen und gestern sowie heute morgen Unterredungen mit ihm hatten. Um was ging es dabei, und woher kennen sie ihn?"


    Carina seufzte, sie hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und streckte sie nun etwas aus, um kurzzeitig mehr Bedenkzeit zu haben. "Das war privat. Es hatte nichts mit Björn zu tun.", beharrte sie und sah weder Ben noch Semir an, sondern stur geradeaus. "Carina, bitte hör auf.", sagte Ben nun mit stärkerer und sicherer Stimme. "Ich habe Drager verfolgt. Er hat sich mit einem Holländer getroffen und über dich und Björn gesprochen. Danach hat er mich in eine Falle gelockt, um meinen Wagen aufzubrechen und zu durchsuchen." Carinas Lippen begannen zu zittern, ihr Wesen wurde unruhig, das spürten beide Polizisten. Semir fuhr fort: "Wir vermuten stark, dass Drager sowohl der Schütze eines Anschlags auf Ben und einen weiteren Polizisten ist, sowie auch als Mörder ihres Bruders in Frage kommt." Nun nahmen sie Carina doch in die psychologische Zange, sie wankte aber sie fiel noch nicht. "Der Typ ist gefährlich! Ich weiß nicht, was du mit ihm zu tun hast, aber wenn er deinen Bruder tötet und auf Polizisten schießt, dann bist du in höchster Gefahr! Bitte, erzähl uns was du weißt!", sagte nun wieder Semirs Partner und wollte Carinas Hände ergreifen, doch sie zog sie reflexartig zurück. "Bitte, lasst mich einfach in Ruhe!", sagte Carina nun mit kleinlauter Stimme, als es über ihnen plötzlich polterte...


    Beide Polizisten sahen gleichzeitig nach oben an die Decke, in Richtung der Wohnung des Bruders, wo sie gestern bereits waren. "Ist jemand oben? Putzfrau oder so?", fragte Semir sofort und bemerkte sofort, dass auch Carina etwas geschockt dreinsah, konnte aber nicht sagen ob das noch von dem Gespräch oder dem polternden Geräusch herrührte. "N... nein. Eigentlich ist niemand oben." Die zwei Freunde blickten sich an und Semir nickte. Sie verständigten sich ohne Worte und standen vom Tisch auf, ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, dass auch die Mutter von Carina noch da war, und sich nicht vielleicht heimlich nach oben geschlichen hatte. Doch die alte Frau saß nach wie vor im Sessel und schaute scheinbar konzentriert Fernsehn. "Du bleibst hier unten, egal was passiert.", sagte Ben noch und folgte dann seinem Kollegen, der mit flüsterleisen Schritten die Treppe nach oben schritt...

    Bogota - 10:45 Uhr


    Kevin war nicht nervös oder ängstlich, doch trotzdem fuhr sein Kopf immer mal wieder herum. Nach der Attacke der vier Schlägertypen, von denen er weder wusste, zu wem sie gehörten, noch warum sie ihn angriffen, war er wachsam. Er wollte vorbereitet sein, falls im unbemerkten Moment sich wieder drei oder vier Kleiderschränke auf ihn stürzen wollten. Zeitweise dachte er auch an die Worte Juans, den er auf den Plätzen nicht mehr ausfindig machen konnte, auch wenn ihm hin und wieder einer seiner Männer begegnete. Dass dieser Typ, dieser Santos, über fremde Leute nicht besonders begeistert war, weil er sie vielleicht für Schnüffler hielt. Gehörten die Typen vielleicht zu ihm? Wollte er damit Kevin ultimativ klarmachen, dass er hier nichts verloren hatte?
    In dem jungen Polizisten stieg das Unbehagen und langsam wurde ihm tatsächlich klar, dass es in Kolumbien doch anders lief, als in Deutschland. Als wären die Menschen es gewohnt, schauten sie neugierig der Schlägerei zu. Niemand kam Kevin zur Hilfe, niemand versuchte die Polizei zu rufen. Er war überzeugt davon, dass die vier Männer ihn auch hätten töten können, ohne dass man sie daran gehindert hätte. Die Leiche hätte man weggeschafft, und die Polizei schaute weg. Das Slum war ein rechtsfreier Raum, das spürte der Polizist schon, als er merkte, dass niemand auch nur versuchte zu verheimlichen, dass gerade vom LKW Drogen abgeladen wurde.


    Kevin hielt sich nun an einem anderen Platz ein wenig im Schatten einiger Palmen und Palisaden an den Geschäften, die ebenfalls frisches Obst, Gewürze und Zeitschriften auf Spanisch verkauften. Seine hellblauen Augen überblickte das Gewusel auf den Plätzen, die mit zunehmender Zeit immer voller wurde. Doch nirgends blitzte ein roter Schopf auf, nirgends leuchteten Annies grüne Augen aus der Menge hinaus. Und je länger Kevin die Umgebung beobachtete, immer mal wieder den Platz durch die kleinen Gassen wechselte, so merkte er, dass sich die Menschen, die er sah, wiederholten. Immer und immer wieder sah er Frauen, Männern und Kindern ins Gesicht, die er schon mal dort gesehen hatte. Ein wenig verzweifelt streichte er sich mit der Hand durch die abstehenden Haare.
    Irgendwann hörte er eine Stimme neben sich. Er schaute hoffnungsvoll, denn er hatte die Stimme zwar gehört, aber nicht was sie sagte und war beinahe enttäuscht, dass nicht Annie neben ihm stand, sondern ein junges Mädchen mit leicht zotteligen schwarzen Haaren. Es hatte sich seitlich von Kevin genähert, trug einen kurzen Rock und ein Shirt mit langen Armen, das sie sich wohl selbst knapp unter der Brust abgeschnitten hatte, um möglichst viel von ihrem schlanken braun gebrannten Bauch zu zeigen. "Hola, mi dulce...", sagte sie mit zuckersüßen Lächeln und legte eine Hand an Kevins Hüfte, um sich dicht mit Körperkontakt vor ihm zu stellen, wobei der Polizist das Mädchen um mindestens einen Kopf überragte.


    "Sprichst du Englisch?", fragte er sofort, den mit Spanisch konnte er nicht viel anfangen. Das Lächeln des Mädchens brach nicht ab, und sie nickte, ein vom Akzent sehr verzerrtes "Ja.", kam ihr auf Englisch über die Lippen und sie verstand, dass der fremde Mann kein Spanisch konnte. "Darf ich dich ein wenig verwöhnen?", fragte sie dann und Kevin musste sich konzentrieren, das bruchstückhafte Englisch zu verstehen, wobei sie ihre Frage mit Gesten verdeutlichte, in dem sie mit ihrem Zeigefinger von Kevins Brust herab über seinen Bauch, seinen Gürtel bis zu seinem Schritt strich, bis Kevin ihr Handgelenk griff, um sie zu stoppen. Dabei zog er misstrauisch die Augenbrauen hoch. "Wie alt bist du denn?", worauf das Mädchen etwas verwirrt guckte. "Wie alt?", fragte er in noch einfacheren Englisch. "18 natürlich.", sagte sie.
    Der Vater des jungen Polizisten, Erik Peters, besaß seit einigen Jahren ein Bordell. Kevin kannte sich in diesem Milieu dank seiner Familie, auch seiner Bezugsperson Kalle etwas aus, und so konnte er auch zumeist das Alter ganz gut einschätzen. Selbst wenn man sagen würde, dass das Mädchen jünger aussah, als es war... 18 war sie nie im Leben. 14, vielleicht 15 würde der Polizist schätzen, als er ihr Handgelenk wieder losließ. "Für 50 000 Pesos hast du mich eine Stunde lang für dich allein.", flötete sie und schmiegte sich nochmal dicht an Kevin heran, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellte. 50 000 Pesos waren noch keine 15 Euro...


    Kevin sah sich um, doch scheinbar war es hier normal, dass es sowohl am hellichten Tag Prostitution gab, als auch dass die Mädchen extrem jung waren. Wobei man, trotz der aufreizenden Kleidung, auch vermuten konnte dass die beiden sich einfach kannten und miteinander rumalberten. Er sah zu dem Mädchen nach unten, das Strahlen ihres Lächelns passte nicht zu ihren stumpfen braunen Augen, die bereits jeglichen Glanz verloren hatten. "Okay.", willigte er ein und nickte, das Mädchen griff sofort seine Hand. Gemeinsam steuerten sie auf ein Haus zu, dass recht unscheinbar war, kein Laden befand sich darin, nur eine Holztür und ein Fenster, das aber von einem Vorhang geschützt war waren von aussen zu erkennen.
    Sie drückte die Tür auf, und Kevin folgte dem Mädchen in einen stickigen Flur, von dem aus eine knarrende Holztreppe nach oben führte. Er achtete auf jeden Schritt des jungen Mädchens, achtete auf jeden seiner Schritte, und sollte er ein drittes Knarren oder Knarzen hören, wäre er aufmerksam, denn er "roch" beinahe eine Falle. Doch warum er mit dem Mädchen mitging war nicht, um heraus zu finden, ob sie ihn in eine Falle locken wollte. Die Treppe ging zu Ende, Staub lag in der Luft und das Atmen fiel schwer. Mit einem Schlüssel schloß sie eine der Türen, die sich an der Flurwand aufreihten auf und ging vor ihm hinein. Sie nötigte ihn, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sich auf einen Stuhl zu setzen, und begann dann, sich zwischen Bett und Stuhl, aufreizend zu bewegen und zog sich langsam das eh kaum vorhandene Shirt aus.


    "Hey, hey... warte.", sagte Kevin sofort und stoppte das Treiben mit einer Handbewegung, bevor das Mädchen das Top komplett über den Kopf ziehen konnte. Langsam, wie in Zeitlupe ließ sie es wieder fallen und schaute verständnislos. "Warum?", fragte sie mit piepsiger Stimme, und Kevin zeigte auf das Bett. "Setz dich.", sagte er mit einfachem Englisch und griff in die Innentasche seines Hemdes, das er offen über seinem Shirt trug. Plötzlich hob das Mädchen mit einem kurzen Schrei abwehrend die Hände nach oben, ging einen Schritt zurück und plumpste dabei auf das Bett. "NEIN! NEEIN!!", schrie sie kurz auf und der junge Polizist erschrak, wobei er innehielt. "Hey... ganz ruhig! Keine Angst.", sagte er mit ruhiger Stimme und zog langsam das Bild, nach dem er gegriffen hatte, aus der Tasche. "Ich tu dir nichts, okay?" Das Mädchen hatte die Augen weit aufgerissen und schien eine Waffe zu befürchten, die Kevin ziehen wollte, doch er reichte ihr das Foto von Annie. "Hast du diese Frau gesehen?", fragte er in leicht verständlichem Englisch.
    Das junge Mädchen schien völlig verstört, als sie auf das Bild sah, das Kevin und Annie zusammen zeigte. Schließlich hatte sie auch da schon rote Haare, und eventuell wusste das Mädchen etwas. Allerdings musste er die Frage nochmal langsam wiederholen, bis das Mädchen langsam den Kopf schüttelte. "Nein. Ich weiß es nicht.", sagte sie leise und gab Kevin das Bild zurück. Der seufzte niedergeschlagen, als er das Bild wieder entgegennahm und in der Tasche verstaute. Verdammt... suchte er am richtigen Ort? War sie überhaupt noch hier?


    "Möchtest du... jetzt trotzdem?", fragte das junge Mädchen und öffnete im Sitzen auf dem Bett langsam ihre schlanken Schenkel für den Mann, der ihr gegenüber saß, wobei sie wieder ein wenig lächelte. Doch er griff ihr sanft an ihre nackten Knie und drückte die Beine wieder zusammen. "Nein... du bist viel zu jung. Warum machst du das hier? Brauchst du das Geld für Drogen?" Er versuchte in möglichst einfachen Englisch zu reden und langsam, damit das Mädchen ihn verstand. Sie schüttelte den Kopf und machte eine Bewegung mit der Hand zum Mund und sagte: "Zum Essen." Kevin nahm ihr Handgelenk und zog ihren rechten Arm etwas zu ihm heran, wobei sie wieder aufschreckte, aber nicht wehrte. Mit einer schnellen Bewegung hatte er den Ärmel des Shirts nach oben gezogen, wobei sie kurz schmerzhaft aufstöhnte.
    "Scheisse...", sagte der Polizist entsetzt, denn genau das hatte er befürchtet. Auf der Innenseite des Ellbogens, wo man die Adern auf der Haut mit bloßem Augen gut erkennen konnte, waren die letzten Einstiche noch frisch, ausserdem umrandet von großen bläulich-violetten Flecken. Im besten Falle nur ein Bluterguss unter der Haut wegen einer schlecht gesetzten Injektion, im schlechtesten Falle eine Entzündung von verunreinigten Spritzen. In der Gang gab es viele Heroinabhängige, und Kevin sah diese Art der Folgen nicht zum ersten Mal. Jetzt entriss das Mädchen sich dem Griff und krempelte den Ärmel schnell wieder runter. "Ich habe Hunger!", beharrte sie und schaute etwas traurig, weil sie realisierte, dass dieser Mann nicht ihr Kunde sein würde. Der wiederrum presste die Lippen zusammen... würde er sie jetzt einfach wegschicken, hätte sie weiter Hunger... gäbe sie ihm Geld, bestand die Gefahr, dass sie sich den nächsten Trip in die Adern drückte. Doch wenigstens konnte er verhindern, dass ein weiteres perverses Schwein sich an dem Kind verging. Er nahm aus seiner Gesäßtasche einige Bündel Geld, insgesamt 150 000 Pesos, was ungefähr 40 Euro entsprach. Die Augen des Mädchens wurden groß, als er ihr das Geld hinhielt, und als sie zugriff, zog er es zurück. "Zum Essen!", sagte er deutlich, und das Mädchen nickte. Dann ließ Kevin ihr das Geld da, und verließ mit einer unglaublich bedrückten Stimmung das Zimmer...

    Dienststelle - 14:30 Uhr


    Ben hatte Semir die Ehre überlassen, nach Holland zu telefonieren um weitere Infos einzuholen. Der rollte sehr begeistert mit den Augen, fügte sich aber der Bitte seines Partners. Er wählte direkt die Handynummer des holländischen Polizisten Huub Bakker und wurde sogleich auf niederländisch begrüßt. "Hallo Herr Gerkhan. Ich hoffe, sie bringen mir gute Neuigkeiten.", sagte er mit einem leisen Seufzer in der Stimme. Semir wog den Kopf am Telefon hin und her. "Gute Neuigkeiten kann ich nicht versprechen." "Ich auch nicht... stellen sie sich vor. Mein Telefon wurde tatsächlich abgehört. Mehrere Apparate der Sonderkommission waren verwanzt. Deswegen wusste das Kartell, dass sie auf dem Weg zu mir waren wegen dem Anschlag. Wir haben natürlich sofort alle Handys überprüft, also es kann jetzt nichts passieren." Semir blieb die Sprache weg. "Also gibt es tatsächlich einen Maulwurf bei ihnen?" "Ich kann... nein, ich WILL es mir nicht vorstellen. Jetzt müssen wir, statt weiter zu ermitteln, erst alle Kollegen der Sonderkommission prüfen. Ich brauche ihnen wohl nicht zu sagen, was das für unseren Zeitplan heißt." Der erfahrene Polizist runzelte die Stirn, denn er wusste wie lange sich interne Verfahren hinziehen konnten. Und so lange dürften wohl viele der Kollegen nicht weiter in dem Fall ermitteln. Doch nicht nur das: "Wenn es überhaupt jemand der SK-Kollegen war. Vielleicht war es irgendjemand, der einfach Zugang zu den Büros hat. Irgendein Kollege, die Putzfrau...", gab er zu bedenken. "Das ist das Schlimmste was uns jetzt passieren konnte.", stöhnte Huub Bakker.


    "Aber sie riefen mich sicher mit einem Anliegen an, Herr Gerkhan. Was kann ich für sie tun?", kam er nun auf den eigentlich Grund des Telefonats zu sprechen. Semir schilderte mit knappen Worten die Vorkommnisse bezüglich der Schwester des Mordopfers, und des Verdächtigen Dragers. Ebenso gab er eine detaillierte Beschreibung des holländischen Gesprächpartners heraus. Bakkers Miene schien genauso aufzuhellen, wie seine Stimme: "Herr Gerkhan, das ist fantastisch. Die Beschreibung passt definitiv auf einen holländischen Kontakt nach Deutschland und Belgien. Warten sie einen Moment." Er schien sich durch einen Blätterwald zu wühlen, denn Semir konnte lautes Rascheln hören. "Die sind scheinbar im Zeitalter der Computer noch nicht angekommen.", dachte er lautlos für sich, bis er wieder Bakkers Stimme hörte.
    "Van Dyke, Jos van Dyke. Ich faxe ihnen sofort seine Akte. Und den Namen Drager haben wir in einzelnen Telefongesprächen mitgeschnitten, konnten ihn aber weder in den Akten finden, noch einen Aufenthaltsort. Er war ein wenig wie ein Phantom für uns. Und Anfragen nach Deutschland werden leider nur sehr langsam bearbeitet." Langsam fügte sich in Semirs Kopf ein Puzzleteil ans andere. "Scheinbar vertraut man dem Medium Telefon dort nicht so sehr, wenn man es vorzieht, sich zu treffen um Informationen auszutauschen." "Wundert sie das? Handys zu überwachen und abzuhören ist heute kein Akt mehr. Aber finden sie mal die Männer für eine dauerhafte Observation." sagte Bakker und in seiner Stimme schwang nun Missmut mit. Offenbar litt auch die holländische Polizei über Personalmangel.


    "Wir faxen ihnen die Akte Dragers natürlich umgehend ebenfalls zu. Der Mann ist bei uns kein Unbekannter. Es könnte Hinweise darauf geben, dass er der gesuchte Mörder ist, sowie dass er eventuell sogar den Anschlag auf meine Kollegen verursacht hat." "Vielen Dank, Herr Gerkhan. Bitte halten sie mich auf dem Laufenden, auch im Falle einer Festnahme. Vielleicht rechnet er sich Besserung seiner Chancen im Mordfall aus, wenn er ein wenig über das Kartell singt. Das wäre unsere Chance." Semir nickte am Apparat erneut: "Guter Gedanke." "Was haben sie jetzt vor?" Der Polizist dachte kurz nach. Ein Verhör von Drager würde jeder Anwalt bei der jetzigen Beweislast sofort kippen. Zuhause freundlich nachfragen wäre wohl eine Wand des Schweigens. Er blickte sich um und sah durch die Scheibe ins Großraumbüro und betrachtete einen Moment seinen besten Freund Ben, der bei Jenny saß und ihr sein Handy vor die Augen hielt. Ein wenig bedrückt kniff er die Lippen zusammen. "Wir werden es wohl nochmal bei der Schwester des Mordopfers versuchen müssen. Sie muss uns sagen, was Drager von ihr wollte."
    Bakker schien zufrieden. Nach dem Schock der Abhöraktion schien Semir ihm den Tag gerettet zu haben. "Herr Gerkhan, ich danke ihnen. Sie haben hervorragende Männer an ihrer Seite und sind ein guter Polizist. Ich würde mich wirklich freuen, öfters mit ihnen zusammen zu arbeiten." Der Kommissar hatte in 20 Jahren Autobahnpolizei schon oft Lob gehört, trotzdem wehrte er es immer wieder bescheiden ab. "Warten wir erst mal ab, dass wir den Fall gelöst bekommen. Auf Wiedersehen, Herr Bakker."


    Ben hatte sich zu Beginn des Telefonats ein wenig aus dem Büro geschlichen. Semir würde ihm sicher nachher erzählen, was er rausbekommen hatte, und ein wenig hatte er Magengrummeln aufgrund von Semirs Reaktion auf Kevins SMS. Natürlich konnte er verstehen, dass sein bester Freund noch mehr als sauer auf ihren dritten Kollegen war, aber sollte es ihn wirklich gar nicht interessieren, was er gerade tat? Dass es ihm zumindest gut ging? Es war, als könne Ben ein Unheil spüren über dem belasteten Verhältnis zwischen Semir und Kevin.
    Aber natürlich dachte er sofort an Jenny. Hatte er sich auch bei ihr gemeldet, oder war sie komplett im Unwissen darüber, dass Kevin abgereist war? Ben wusste ja nicht, was sich zwischen den beiden zugetragen hatte, ausser dass die junge Frau natürlich alles andere als begeistert darüber war, erst rein zufällig durch die hässliche Szene auf der Dienststelle von seinem geplanten Kolumbien-Trip erfahren zu haben. Als er sich leicht schräg versetzt von hinten an die Streifenbeamtin näherte und ihren Namen sagte, drehte sie ruckartig den Kopf herum. Auf dem Monitor war die Eingabemaske der Kennzeichenabfrage geöffnet, jedoch war in keins der Felder etwas eingetragen. "Na, ist alles klar bei dir?", fragte er mit einem Lächeln und setzte sich mit einer Pohälfte auf ihren Tisch.


    Jenny wollte ihm ersten Moment schützend die Hände auf ihren Bauch legen, als ob sie ihre Schwangerschaft verdecken wollte, was natürlich gar nicht nötig war. Erstens weil die Polizeihemden gar nicht besonders eng anlagen, schon gar nicht im Sitzen und zweitens, weil man ihr die Schwangerschaft noch in keinster Weise an ihrem schlanken Körper ansah. Sie versuchte ein Lächeln, was aber sehr gequält ausfiel. "Es geht so...", sagte sie. "Wann... wann ist er denn gefahren?", fragte Ben vorsichtig. "Scheinbar gestern mittag irgendwann. Ich konnte ihn nicht anrufen, weil ich im Einsatz war, und er hatte mich nicht erreicht. Vielleicht... wollte er sich verabschieden. Vielleicht wollte er mir aber auch nur sagen, dass es vorbei ist.", sagte sie mit leiser trauriger Stimme und Ben zog die Augenbrauen nach oben. "Vorbei? Wieso das denn?" Jenny seufzte und blickte für einen Moment auf die weiße Tischplatte. "Ich... ich hab ihn... im Streit vor die Wahl gestellt. Dass ich nicht auf ihn warte... wenn er fährt." Jennys Worte trafen Ben wie Donnerschläge. "Und er ist trotzdem gefahren?", fragte er etwas leiser, auch wenn gerade wenig Leute im Büro waren und Jenny nickte. Wie konnte Kevin das nur tun... wegen Annie seine Beziehung aufs Spiel setzen? "Es war nicht richtig, was ich getan habe..." Der Polizist konnte nicht direkt sagen, ob Jenny eine Aussage machte, oder eine Frage stellte. "Aber ich... ich wusste einfach nicht mehr weiter. Manchmal ist er so voll von Vertrauen zu mir. Er hat mir Sachen erzählt, das hätte ich nie von ihm erwartet. Und dann gibt es Tage, da ist er so verschlossen, und ich weiß überhaupt nicht was ihn beschäftigt. Das will ich nicht, Ben. Ich will wissen, was in meinem Freund vorgeht, verstehst du." Ben nickte und ergriff Jennys leicht zitternde Hand. "Ja, ich weiß was du meinst. Zu uns ist er ja nicht anders... uns hätte er gar nichts erzählt, wenn ich ihn nicht darauf angesprochen hätte. Semir wollte er es verheimlichen." Und dann sagte Jenny einen Satz, der ihr wehtat, der Ben wehtat, doch in gewissen Teilen war er richtig: "Ich denke manchmal: Ich kenne ihn überhaupt nicht. Ich weiß zwar was er getan hat und was er erlebt hat... aber manchmal ist er mir vollkommen fremd." Dann senkte sie die Lider, denn es drückte sich nun doch ein Tränchen aus ihrem Auge.


    Ben nahm sein Handy und öffnete Kevins Nachricht, um sie Jenny zu zeigen. Sie blickte auf und rieb sich mit dem Handballen einmal übers Auge, geschickt, ohne das wie immer dezente Make-Up zu verwischen. Sie las die Nachricht, was sie einerseits beruhigte, andererseits den Kummer aber nicht nahm. "Mir hat er nichts geschrieben." "Vermutlich denkt er, du wärst gestern absichtlich nicht ans Telefon gegangen, weil du deine Drohung wahrgemacht hast.", vermutete der Polizist und Jenny nickte. "Ich hab solche Angst, dass er nicht zurückkommt. Wenn er denkt, es wäre wirklich vorbei... dass er dann... mit Annie..." Sie verstummte und biss sich auf die Lippen. "Oder, dass ihm dort irgendetwas passiert."
    Der Polizist, der vor einem halben Jahr noch mit Jenny im Bett landete, schüttelte den Kopf und strich ihr dabei mit einem Daumen über ihren Handrücken. Die Berührung tat gut, im Sinne des Trostes. "Ach was... das weiß ich von ihm, dass er auf sich aufpassen kann. Und was Annie angeht... das wird er nicht tun. Er hilft ihr, weil er immer noch das Trauma um Janine hat, weil er ihr nicht helfen konnte. Aber er hat ihr das mit Semir noch nicht vergessen, dafür hat er sich zu sehr gesträubt zu Beginn, ihr überhaupt zu helfen, glaub mir.", versuchte Ben Jenny zu beruhigen. "Meinst du?" "Ganz sicher..." Jenny stand auf und umarmte Ben für die tröstenden Worte, obwohl dieser sich mit seinem "Ganz sicher" gar nicht so sicher war. Wenn Kevin wirklich in seinem Kopf hatte, dass die Beziehung zu Jenny gescheitert, das Verhältnis zu Semir gebrochen und die Freundschaft zu ihm selbst zumindest deswegen ebenfalls wackelte... was würde ihn dann noch nach Deutschland zurückziehen, falls die Liebe zu Annie doch nochmal aufflammte...

    Ich hab mir heute mal das Kapitel der Meldung an Kim Krüger bzgl des Unfalls durchgelesen.

    Vom reinen Schreiben her fand ich das schon etwas besser, vor allem was die Abwechslung anging. :thumbup: Aber rein inhaltlich hab ich da die ein oder andere Frage nach der Logik mir gestellt...

    Erstmal nehme ich an dass bei Hausnummer 38 das Haus nicht alleine dort steht. Es sind bereits aus der Ferne dichte schwarze Rauchwolken zu sehen, und niemand hat diese in der Nachbarschaft bemerkt und die Feuerwehr alarmiert? Bis der Brand sich soweit ausbreitet, auch mit Benzin, das ein massives Haus letztlich einstürzt, muss es eine zeitlang brennen, und das vor allem auch äusserlich sichtbar sein, was du ja auch beschreibst. Dass das Haus letztlich dann so schnell kollarbiert ist natürlich dramaturgisch bedingt, da lässt man den Realismus ja auch bei Cobra öfters mal aussen vor :D

    Was mir ein wenig gefehlt hat war die Beschreibung der Stimmung von Kim Krüger. Du beschreibst zwar, was sie genau tut und man kann anhand des Schreiens, Rennens und ihrer Hektik natürlich erkennen, dass sie es eilig hat, aber wie fühlt sie sich. Was geht ihr durch den Kopf, als sie von dem Unfall hört, was als sie die Rauchschwaden sieht? Sie wusste ja vorher nicht, dass es brennt. Letztlich wird nur beschrieben, was sie genau tut, und mit einem Wort ("schrie sie verzweifelt") eine Stimmung beschrieben. Das hat mir ein wenig gefehlt, denn gerade bei Geschichten die man liest, braucht man Gefühle, Gedanken um sich das Kopfkino letztendlich besser vorstellen zu können, anders als beim Film wo man durch Stimmfarbe und genaue Bewegungen die Gefühle erlesen kann.

    Auch dass sie sich sofort vom Einsatzleiter nach dem Einsturz abwimmeln lässt, fand ich irgendwie im Bezug auf eine aufgelöste Kim Krüger nicht Krüger-like. Natürlich war die Antwort des Einsatzleiters realistisch und wahr, aber Kim Krüger hätte ich da zugetraut, dass sie weiter energisch dran bleibt, zur Eile mahnt und an Stellen, wo bereits gelöscht wurde, schon Hand anlegt.

    Dass du sie nicht mit Atemschutzgerät ins Haus hast rennen lassen fand ich wiederrum wieder sehr gut, da realistisch und nachvollziehbar. Wäre in der Serie vielleicht anders gewesen :D

    Bogota - 9:00 Uhr


    In Carlos Salazar Santos' Kopf arbeitete es, nachdem Juan und der, für ihn unbekannte Mann den Marktplatz verlassen hatte. Der Kartellführer war ein sehr aufmerksamer Mensch, ein Beobachter, ein Stratege. Seinem Blick entging nichts, was für sein Geschäft wichtig, nützlich oder bedrohend war, und so groß war auch sein Misstrauen und seine Vorsicht. Nicht umsonst hatte er innerhalb von Jahren das Kartell seines Vaters übernommen, und ausgeweitet. Über den Drogenhandel und Prostitution bis hin zu Kontakten von Guerilla-Kämpfern, die gegen den korrupten Staat kämpften. Salazar half mit, die Kämpfer zu finanzieren und stellte somit sicher, dass die Widerstandskämpfer zwar weiterhin den Staat durch Anschläge unter Druck setzten, verhinderte aber auch gleichzeitig einen Putsch. Den eine korrupte Regierung half auch den Drogenkartellen.
    Ein unbekannter Mann bei Juan, dem Boss eines Kartells, das Carlos mehr als Konkurrenz als als Freunde sah, erschien ihm aber verdächtig. "Zico!", sagte er ohne, den Mann, der half den LKW abzuladen, anzusehen. Der kräftig gebaute langhaarige Kolumbianer wandte sich an seinen Boss. "Nimm dir mal ein paar Männer, und find heraus wer der Typ bei Juan ist.", sagte er in perfektem Spanisch. "Aber wartet, bis er alleine ist. Ich will keine Probleme mit Juan, alles klar?" Zico nickte, und setzte seine Arbeit am LKW fort für einen Moment fort um, trug eine weitere Kiste ins Haus um dann mit 4 Männern wieder heraus zu kommen. Das Kartell hatte ihre eigene Art und Weise heraus zu finden, ob unbekannte Leute arglose Touristen waren, oder doch vielleicht Leute, die ihnen gefährlich werden konnten. Arglose Touristen wehren sich nämlich für gewöhnlich nicht...


    Die Sonne stieg höher am wolkenlosen Himmel langsam höher und überstrahlte irgendwann auch die Häuser. Die Temperatur kletterte über den Punkt, dass man im Shirt keine Gänsehaut mehr bekam, denn im Winter war es auch in Kolumbien nachts nicht mal 10 Grad, über den Tag konnte es bis zu 25 Grad warm werden. Setzte man sich dann direkt in die Sonne, konnte einem schon mal recht heiß werden. Juan und Kevin gingen zusammen über die verschiedenen Plätze, wo sich allerlei Leute herumtrieben. Bettler an Straßenecken, Verkäufer die auf Holztischen allerlei Plunder anboten, denn scheinbar schienen sich hier doch hin und wieder auch mal Touristen aus Bogota zu verirren. Aber auch jede Menge Frauen, die ihre "Dienste" auch am frühen Morgen noch anboten, während die Nachtschicht schlief.
    Hin und wieder sprach Juan mit Männern, die ihm begegneten, ein paar Worte auf Spanisch was Kevin natürlich nicht verstehen konnte. Dabei zeigte er hin und wieder ein Bild, das der Polizist mitgebracht hatte, das ihn und Annie zeigte, auch wenn es schon fast 10 Jahre alt war. Aber Annie hatte sich nicht soviel verändert, sogar die Haarfarbe stimmte noch. Offenbar beauftragte Juan seine Männer, die Augen offen zu halten, denn nach einem Kopfschütteln und weiteren Worten kam meist ein gehorsames Nicken. Doch die Hoffnung schwand mit jedem Schritt den sie gingen. Eine Frau mit knallrot gefärbten Haaren musste doch hier auffallen, und niemand will sie gesehen haben? "Es gibt, wie gesagt, noch einige größere Häuser, wo die Frauen leben, die für die Zuhälter arbeiten. Aber da kommen wir nicht rein. Du musst also warten, falls sie dort ist, bis sie das Haus verlässt, entweder um zu arbeiten oder Drogen zu kaufen.", erklärte Juan.


    Sie kamen zum Marktplatz zurück, der LKW von Santos war nicht mehr zu sehen, und die Tür des Hauses, in das sie Kisten getragen haben, war verschlossen. "Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Annie ihren Körper verkauft.", sagte Kevin und machte sich Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch irgendwo anders aufhielt, als hier. Der kolumbianische Dealer drehte sich zu dem, in seinen Augen immer noch unwissenden Deutschen um. "Wenn deine Freundin wirklich hier ist, um Drogen zu kaufen und zu konsumieren, dann wird sie früher oder später hier landen. In Bogotas Innenstadt gibt es sowas nicht, in den touristischen Zentren auch nicht. Und selbst wenn sie dort fragt, und dort an Kontaktleute gerät, die auf Kundenfang im Inland sind, wird sie hierher kommen müssen." Der Kolumbianer fuhr sich einmal durch die langen Haare. "Und wenn sie nicht gerade nur mal was probieren will, sondern das exzessiv ausleben möchte, dann kommen sie nur schwer wieder von hier weg. Weil ihnen das Geld ausgeht, und sie trotzdem den nächsten Schuss haben müssen. Und du glaubst nicht, was man alles für den nächsten Schuss oder den nächsten Trip tun würde, wenn man auf Turkey ist." Damit deutete er an, dass man in so einer Situation auch leicht seine eigene Moral über Bord werfen würde, und seinen Körper verkaufen würde. Und da musste Kevin ihm recht geben, er hat das selbst getan... die Moral über Bord geworfen, zwar nicht seinen Körper, aber Internas verkauft, um sich damit die nächsten Pillen zu finanzieren. "Also Amigo, die Führung ist vorbei. Meine Männer wissen Bescheid, und kommen auf dich zu, falls du hier bist, wenn sie etwas wissen. Du kannst nichts tun, ausser beobachten und abzuwarten. Wenn du mich brauchst, rufst du mich an, aber ich hab jetzt auch noch etwas zu tun." Kevin nickte und bekam von Juan noch einen, beinahe freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.


    Seine Hoffnung war etwas gesunken, als der Polizist gedankenverloren über den Marktplatz ging. Seine Augen glitten immer wieder über den Platz, und er hoffte so sehr irgendwo einen leuchtend roten Schopf zu erblicken, doch seine Hoffnung blieb unerfüllt. Gerade als er dicht an einem Gemüsestand vorbeischritt, wurde er angerempelt, ohne dass er den Aggressor kommen sah. Dieser war genauso groß wie Kevin, etwas breiter und hatte einen Schlagring übergestreift. Seine Absicht war, trotz des für Kevin unverständlichen Spanisch, was er dem Polizisten entgegen schleuderte, glasklar. Und er reagierte blitzschnell und wartete den ersten Schlag des Mannes gar nicht erst ab sondern schubste ihn mit einem kräftigen Stoß aus beiden Armen von sich weg.
    Der Angreifer aber verzichtete dann auf weitere Konversation. Nur das Wort "Hijo de Puta" konnte Kevin noch verstehen, bevor die Faust mit dem Schlagring auf ihn zu flog, den gewandten Kampfsportler aber verfehlte. Kevin zog als Reaktion darauf das Knie nach oben und traf den unbekannten Mann in der Magengrube, so dass dieser sich nach vorne überbeugte und danach durch Kevins Griff am Hinterkopf Bekanntschaft mit dem Gemüsestand machte, der daraufhin etwas wackelte, dem Angreifer aber die Lichter ausknipste.


    Kevin drehte sich um, denn ein Gefühl verriet ihm, dass der Kerl sicher nicht der Einzige war. Sein Gefühl sollte recht behalten, den zwei weitere, ebenfalls kräftig gebaute Männer liefen auf ihn zu. Einer hatte einen Knüppel dabei, und die unbeteiligten Leute, die solche Szenen in diesem Viertel offenbar kannte, gingen aus dem Weg oder machten um den Ort des Geschehens einen Bogen. Der Polizist griff auf den Marktstand und packte zwei Kokosnüsse. Die mit dem linken Arm geworfene Nuss verfehlte er Ziel, die beiden Männer waren aber im Laufen zu perplex auf die zweite Kokosnuss zu achten. Die kam, durch das Werfen mit dem rechten stärkeren Arm, mit mehr Wucht und deutlich gezielter, und schaltete durch einen Treffer am Kopf des Mannes einen der Angreifer ebenfalls aus. Hätten die drei Männer auch nur den Ansatz von Kampfgeschick gezeigt, wäre Kevin trotz seines Könnens hoffnungslos verloren gewesen, doch in ihnen regierte nur grobe Gewalt. Kevin kletterte auf den, ungefähr 1 Meter hohen Gemüsestand zwischen Obst und Gemüse, hörte das Geschrei des Verkäufers doch konzentrierte sich zur auf den Angreifer, der mit dem Knüppel auf Kevins Knie zielte, und mit einem Treffer ohne Probleme die Kniescheibe hätte zertrümmern können. Doch der Polizist vollführte rechtzeitig einen Hocksprung und zog dabei die Beine an den Körper, der Knüppel pfiff ins Leere, und er nutzte den Moment, um wie beim Fussball zu zu treten. Der Mann spuckte Blut auf den sandigen Boden, als er zurücktaumelte und bekam Kevins Schuh, bei dessen Karatesprung vom Gemüsestand herunter nochmals ins Gesicht.


    Der dritte Mann war noch bei Bewusstsein, krümmte sich aber stöhnend am Boden, während Zico, der die Szene eigentlich beobachten wollte, nun ebenfalls dazu kam. Kevin sah den Mann mit den längeren schwarzen Haaren nicht kommen und wurde von ihm nun wieder zum Gemüsestand gestoßen, so dass Kevin mit dem Rücken zur Verkaufsfläche stand. Zico legte seine Hände um Kevins Hals und drückte den Polizisten nach unten auf den Stand, wobei er ihm dazu ein Knie auf den Oberschenkel drückte. Kevin bekam keine Luft, er spürte den harten Griff um seinen Hals und versuchte, mit den Händen an den Schultern des Mannes, ihn von sich zu drücken. Doch nach bereits mehreren Sprüngen und Schlägen ging dem Kampfsportler die Kraft aus.
    Er griff nach rechts und links, tastete und versuchte mit den Fingern etwas möglichst Hartes zu ertasten. Als er es griff, wusste er für den Moment nicht, was es war, er wusste nur dass es, als er es Zico mit aller Wucht gegen die Schläfe schlug, hart genug war dass er von Kevin herunter taumelte und weich genug, dass es in viele Stücke zerbarst. Der Polizist zog wieder Luft durch den Mund und drückte sich vom Gemüsestand weg, gerade als Zico wieder klar sah und bemerkte, dass sein Gegner ihm direkt gegenüberstand. Die kurzen, schnellen und scharfen Schläge des Polizisten trafen erst den Unterleib, und dann nochmal das Gesicht, was auch Ziko zu Boden gehen ließ. Kevin atmete tief durch und zog es vor, den Platz so schnell es geht zu verlassen, bevor die Typen wieder auf die Beine kamen. Einige Leute gingen seinen schnellen Schritten aus dem Weg, denn sie kannten Santos Männer und hatten es selten erlebt, dass sich jemand, der von ihnen angegriffen wurde, so zur Wehr setzte.

    Irgendwie bin ich sehr froh, dass Jenny anscheinend wirklich keinen Gedanken an Abtreibung hegt-das hätte ich dir auch schwer übel genommen, Campino, wenn du das Baby gekillt hättest. X(

    Puuh, dann muss ich ja aufpassen bzgl meines Plots :D

    Aber ich wehre mich zu sagen, dass ICH das Baby kille :( wenn, dann tut das die Story selbst oder der jeweilige Protagonist. ;)

    Dienststelle - 13:30 Uhr


    Jenny war später auf die Arbeit gekommen. Sie hatte heute morgen das Gefühl, dass es ihrem Magen noch schlechter ging, als die Tage zuvor. Doch je länger sie durch Wohnzimmer und Küche tigerte, desto besser wurde ihr, und so beschloss sie letztendlich doch zur Arbeit zu fahren. Anna Engelhardt betrachtete sie ein wenig besorgt, denn mittlerweile fiel es auch der Chefin ein wenig auf, dass mit Jenny etwas nicht stimmte. Sie war blasser als sonst, sie war stiller als sonst, und es war in den letzten Tagen nun wiederholt, dass sie anrief und sich später ankündigte oder krank machte, weil es ihr nicht gut ging. Vorsichtig fragte sie, als Jenny auf der Dienststelle auftauchte, ob alles in Ordnung sei, doch Jenny bejahte. "Sie wissen, dass meine Tür für sie immer offen steht, falls es Probleme gibt.", machte Anna Engelhardt klar, und die junge Beamtin nickte dankbar. Es sei aber alles okay, in letzter Zeit hätte sie nur etwas Probleme mit dem Magen.
    Natürlich konnte sich eine Frau wie Anna ebenfalls ausrechnen, was Übelkeit am Morgen zu bedeuten haben könnte, doch sie hasste nichts mehr als Gerüchte und Spekulationen und so hütete sie sich davor, selbst welche anzustellen. Sie nahm Jenny beim Wort und bohrte nicht weiter nach.


    Von halb elf bis halb eins war Jenny mit Dieter auf Streife und bemühte sich, so normal wie möglich zu wirken. Ein paar Verkehrskontrollen, ein überladener Brummifahrer und eine kurze Pannenhilfe, was Bonrath fachmännisch übernahm, waren in den zwei Stunden zu tun. Zurück in der Dienststelle heizen sich die beiden erstmal wieder auf, Bonrath mit einem heißen Kaffee, Jenny mit Tee. Sie saß auf ihrem Stuhl am PC, und schien konzentriert auf den Bildschirm zu blicken, neben ihr die dampfende Tasse. Doch sie war mit ihren Gedanken weit weg... irgendwo in Bogota, irgendwo in einem fremden Land, von dem sie nichts wusste, auf der Suche nach Kevin, dem Vater ihres Kindes, das in ihrem Bauch heranwuchs. "Jenny?", hörte sie auf einmal eine wohlbekannte Stimme neben sich und schreckte zusammen. "Oh, entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.", lachte Hotte Herzberger kurz auf. "Dieter und ich gehen in die Raststätte was essen. Willst du mitkommen, oder sollen wir dir was mitbringen?" Jennys Herz schlug bis zum Hals, weil Hotte sie mitten aus Tagträumen gerissen hatte, und sie schüttelte verlegen den Kopf. "Nein danke, Hotte. Ich... ich hab ein bisschen Joghurt im Kühlschrank, das reicht mir heute.", sagte sie lächelnd und versuchte sich erneut, nichts anmerken zu lassen. "Alles klar, Mahlzeit.", sagte Hotte und die beiden Beamten zogen sich die dicken Lederjacken über die Pullover, denn immer noch war es knackig kalt.


    Semir blickte auf die Wanduhr in seinem Büro. Es war nun schon fast halb zwei, und Ben war immer noch nicht zurück. "Hmpf... ich müsste ein Kindermädchen anstellen, um auf den aufzupassen.", grummelte er. Länger als eine halbe Stunde würde er nicht mehr warten, dann müsse er wohl anrufen oder sogar per GPS-Signal Bens Auto orten und nach ihm suchen. Seine Finger strichen über den Hörer des Telefons, die Sorge wollte ihn dazu treiben, Bens Nummer zu fällen und die Vernunft hielt ihn davon ab und warnte ihn vor Bens Meckerei, dass Semir ihn nicht immer wie einen kleinen Jungen behandeln sollte. Also beließ der Polizist es beim Streicheln und stand von seinem Stuhl auf um in das Großraumbüro zu seiner Frau zu gehen.
    "Mein Schatz, hast du die Antwort der französischen, belgischen und luxembourgischen Kollegen schon bezüglich Björn Bachmann?", fragte er mit zuckersüßer Stimme in Richtung seiner Frau. "Ähm, Jenny hat die Anfrage die Tage gestellt. Musst du sie fragen." Semir hob den Kopf um zu Jennys Schreibtisch zu blicken, die mit dem Rücken zu ihm saß und auf den Monitor starrte. "Jenny?" Keine Reaktion auf seinen Ruf, und der Polizist legte ein wenig die Stirn in Falten. Mit zwei Schritten war er bei der jungen Kollegin und legte ihr die Hand auf die Schulter, wobei ein kurzes Zucken durch den schlanken Rücken ging. "Huch... hast du mit offenen Augen geschlafen?" Wieder war sie erschrocken, weil sie sich in ihrer Gedankenwelt kurzzeitig verloren hatte. "Nein... ich.. ich hab da grade was gelesen.", wobei sie schnell mit der Maus das X anklickte und das Fenster schloß... denn in Wahrheit hatte sie ein leeres Word-Dokument offen, in dem es nichts zu lesen gab.


    "Ich wollte wissen...", begann er seine Frage erneut zu stellen, als gerade sein Partner Ben ins Büro gestiefelt kam. "Ach, mein hochgeschätzter Kollege ist auch wieder da.", sagte Semir laut und beugte sich an Jennys Ohr: "Da hat das Auslegen des Schoko-Crossaints im Büro als Köder ja doch funktioniert." Jenny rang sich beinahe zu einem Lächeln auf Semirs Witzelei durch, während Andrea einerseits tatsächlich lächeln musste, weil sie sah, wie gut es Semir mittlerweile wieder ging, aber auch gleichzeitig bemerkte, wie Jenny sich selbst quälte. "Schön, dass du dich amüsierst. Aber ich hab echt heiße Neuigkeiten für den Fall.", begann Ben und stockte für eine Sekunde. "Du hast Schoko-Crossaints?", fragte er dann total aus dem Zusammenhang und nahm sofort Kurs auf das kleine Büro.
    Semir folgte seinem Partner und schloß die Tür hinter sich. "Du weißt doch, wie sehr ich diese Alleingänge hasse... warum kannst du nicht vorher sagen, was du vor hast?", meckerte Semir, während Ben aufmerksam über den Schreibtisch linste, um irgendwo eine Bäckertüte zu erspähen, doch schnell reifte die Erkenntnis, dass Semir doch nur Spaß gemacht hatte. "Es hat sich aber... gelohnt, glaub ich.", meinte der junge Polizist, und sein bester Freund ließ sich in seinen Stuhl fallen und legte gemütlich die Füße auf den Tisch. "Ich bin ganz Ohr."


    Ben begann zu erzählen... und dabei begann er in der Erzählung mit der Verfolgung bis zum Rasthof, das Gespräch, das er nur in Bruchstücken verstehen konnte, die weitere Verfolgung sowie den Aufbruch seines Autos. Semir nickte hin und wieder, schüttelte dann ob Bens Leichtsinn, obwohl Semir selbst kein Kind von Traurigkeit war in dieser Hinsicht, den Kopf. Sein Partner ließ nichts aus, den Namen Drager, die Beschreibung des Holländers an der Raststätte sowie die Beschreibung Vesoskis, dem Autoknacker. Dass Drager wusste, dass Ben ein Bulle war, weil er in dessen Geldbörse herumschnüffeln konnte. "Mein Gott, Ben...", stöhnte Semir und schlug die Hände überm Kopf zusammen. "Wäre vielleicht ganz gut, wenn wir das der Chefin bei der nächsten Lagebesprechung NICHT auf die Nase binden.", meinte der dann etwas kleinlaut und Semir nickte: "Ja... wäre ganz gut."
    Der jüngere Polizist der beiden ließ sich nun auch, nachdem er seine Jacke ausgezogen hatte, auf den Drehstuhl fallen. "Wie bist du eigentlich darauf gekommen... und wo hast du dem Typen aufgelauert?", fragte Semir dann plötzlich. Das hatte Ben nämlich nicht erwähnt... und er hoffte, Semir würde nicht fragen. Doch jetzt musste er es wohl kleinlaut zugeben. "Bei Carina vorm Haus. Er hat dort auf sie gewartet, sie haben sich kurz unterhalten." Für einen Moment war es mucksmäuschenstill im Büro, bis Semir mit katzenfreundlicher, und deshalb gefährlicher Stimme fragte: "Hättest du mir das auch erzählt, wenn ich nicht gefragt hätte?" "Ich... hätte es vielleicht... vergessen." Semir nagelte seinen Freund mit seinen Blicken an die Wand. "Na gut, ich hätte es vielleicht absichtlich vergessen.", gab der nun kleinlaut zu. "Ich... ich hab die Befürchtung, dass du Carina vielleicht verdächtigst, da mit drin zu hängen." Der erfahrene Polizist seufzte: "Ben... das tust du doch selbst schon. Du willst es nur nicht wahrhaben." Da musste Ben ihm nun wirklich recht geben.


    Er zog sein Handy aus der Hosentasche und blickte drauf... eine Nachricht poppte auf, die er vorhin gar nicht bemerkt hatte... von Kevin. Er las sie und konnte sich im ersten Moment zwischen Ärger und etwas Beruhigung nicht entscheiden. Trotzdem entschied er sich zurück zu schreiben, was mit einem "Alles klar, pass auf dich auf", aber sehr kurz ausfiel. Natürlich herrschte in Ben noch ein wenig Groll, aber trotzdem wünschte er sich, dass sein Freund schnell und gesund wieder zurückkehrte. Dann blickte er zu seinem Partner auf. "Kevin hat mir geschrieben.", sagte er beinahe beiläufig und Semirs Gesichtsausdruck verfinsterte sich sofort. "Schön für ihn.", sagte er und er sagte es mit so einer Kälte und Härte, dass es Ben einen Stich ins Herz versetzte...

    Motel - 7:00 Uhr


    Gut geschlafen hatte er wahrlich nicht... die Nacht kam ihm zu kurz vor, die Matratze viel zu hart und ständig knatterten Motorroller oder klapprige LKWs über die Straße direkt vor Kevins Motel. Mehr war diese Einrichtung wirklich nicht, er hatte aber auch kein Luxushotel erwartet. Im Erdgeschoss war so etwas wie ein Empfang, wo ein dicker Mann hinterm Tresen saß, neben ihm ein kleiner Fernseher, wo auf grieligem Bild irgendwelche Fussballspiele der kolumbianischen Liga liefen. Man konnte hier stundenweise "übernachten", oder mehrere Tage bleiben, und es kostete vermutlich soviel, wie man in einem anständigen Hotel für ein Glas Wasser bezahlen musste. Das Zimmer hatte auch nichts, bis auf ein Bett und einen, halb zusammengefallenen Schrank. Toiletten und Duschen waren Gemeinschaftsräume auf dem Flur. Doch für jemand wie Kevin, der auf der Straße aufwuchs und bereits mehrere Tage im Knast verbringen musste, konnte sowas nicht schocken.
    Als er aufgewacht war, hatte er sein Handy genommen. Er hatte das Bedürfnis, jemandem zu schreiben... mitzuteilen, dass er angekommen war, dass er im Gegensatz zu seinen Freunden, nicht böse mit ihnen auseinander gegangen ist. Auch auf die Gefahr hin, dass derjenige, der die Nachricht bekam, wohl genervt die Augen verdrehte und das Handy weglegte. Semir kam als Empfänger nicht in Frage, und bei Jenny hatte Kevin Bauchweh... immer noch hatten sich ihre Worte, dass sie nicht auf ihn warten würde, fest ins Gedächtnis gebrannt. Also schrieb er Ben kurz: "Hey. Bin angekommen. Schreibe hin und wieder, dass ihr wisst, dass alles okay ist. Grüße." Wirklich besser fühlte er sich nach Absenden der Nachricht nicht.


    Juan hatte sich früh angekündigt und hielt mit seinem alten Jeep, als es gerade vollständig hell war. Die Sonne lachte vom Himmel, und es war, wie sein kolumbianischer Guide gestern gesagt hatte, absolut klar. Doch schon gegen Mittag würde der Smog aufziehen, den Himmel diesig machen, vor allem wenn die Hitze anstieg. Der Mann begrüßte seinen "neuen Freund", als der in den Jeep stieg und krachend die Tür ins Schloß fiel. "Und, gut geschlafen?", fragte Juan, der eine recht große Sonnenbrille auf der Nase sitzen hatte. "Naja, geht so. Ist nicht grade ein Luxushotel, was du mit gebucht hast." "Du bist auch nicht hier um Urlaub zu machen, Amigo.", grinste der Fahrer und legte den ersten Gang ein. Das Auto holperte über die schlecht asphaltierte Straße und fuhr nun in Richtung eines Vorortes.
    Bereits von weitem konnte Kevin die eigenartige Bauweise der Häuser... oder eher Hütten, sehen. Aus Wellblechdächern und roten Backsteinen, dicht aneinander gedrängt, baute sich ein riesiges Slum vor den etwas größer und stabiler wirkenden Altbauten auf. Vereinzelt standen recht krumme Holzpfosten an denen Stromkabeln hingen und zu einigen der Häusschen führten. Die Wege zwischen den Häusern waren nicht asphaltiert, sondern krumm und sandig, so dass Juan den Jeep am Beginn des Slums anhielt. Vor den Hütten saßen Kinder, Frauen und ganz wenige Männer, die um diese Uhrzeit meistens arbeiteten... irgendwo im Vorort, im Industriegebiet in Fabriken, als Arbeiter.


    Kevin hatte sowas noch nie gesehen. Klar kannte er die Straße von Köln, die dunklen Ecken, aber da war nichts, was man als "Slum" bezeichnen konnte... oder "Ghetto." Das war hier eine ganz andere Nummer, und er blickte mit Respekt in die Häuserschluchten, die herrlich unangeordnet kreuz und quer standen, und Trampfelpfade einfach entlang der Häuser mit der Zeit entstanden sind. Einige der Häusschen stachen sogar mit bunt angemalten Fassaden heraus. "Wenn du in Kolumbien ganz unten bist, endest du hier. Oder, wenn du weißt, wo du Drogen kaufen willst, dann kommst du hierher. Wenn du den Nervenkitzel suchst, ob du als Tourist wieder heil hier rauskommst, gehst du hier spazieren.", erklärte Juan, als sie einen der Wege zwischen den Hütten nahmen. "Willkommen im Vorort zur Hölle, Amigo."
    Fauliger stechender Geruch stieg Kevin in die Nase, denn das Slum hatte keine funktionierende Kanalisation. Die Menschen, die hier lebten, schienen diesen Geruch längst vergessen zu haben. Viele Leute, die ihnen auf dem Weg begegneten, waren normal gekleidet, mit Jeans, Shirts und einfachen Turnschuhen. Auch sah Kevin keine halb verhungerten, oder in Lumpen herumlaufende Kinder, wie er es aus Horrorbildern der Armenländern in Afrika kannte. "Der Staat hat einiges bewegt für die Bewohner hier. Kleidersammlungen, es gibt direkt im Vorort einen Markt, wo der Staat die größten Landwirte quasi verdonnert hat, einen Teil ihrer Waren unterpreisig abzugeben. Viele der Bauern sind deswegen auf die Barrikaden gegangen, aber der Staat braucht das Ghetto." "Und wieso?", fragte Kevin knapp, und Juan grinste: "Weil der kolumbianische Verwaltungsapparat einer der korruptesten Lateinamerikas ist. Und auch vom Drogenhandel, der hier, wie im Vorort quasi seinen Hauptsitz hat, profitiert."


    Hin und wieder fielen Kevin auf dem Weg durchs Ghetto auch junge Frauen und Mädchen auf, die anders gekleidet waren. Mit kurzen Röcken und eher knappen Tops, müden Gesichtern und Ränder unter den Augen. Bei jeder Frau, die eine etwas auffälligere Frisur hatte, blickte der Polizist sofort auf. Doch die knallig roten Haare Annies würden hier sofort auffallen, denn naturgemäß waren viele der kolumbianischen Frauen dunkelhaarig. "Und du glaubst, Annie ist hier irgendwo?" "Wenn sie wirklich den Drogen in die Hände gefallen ist, hält sie sich im Vorort auf. Marktplatz, Plaza de Liberte, wo viele Drogensüchtigen den Tag verbringen, und es gibt noch ein paar... Treffpunkte. Ein paar Hütten, wo die Zuhälter ihre Arbeiterinnen leben lassen." "Gehört das auch zum Geschäft?", fragte Kevin, doch Juan winkte sofort ab: "Nicht zu meinem. Ich kümmere mich mit meinen Männern allein um Stoff, hauptsächlich für den deutschen und französischen Markt. Aber die Konkurrenz fährt oft mehrgleisig, wenn du verstehst."
    Juan vermutete in Kevin, als Freund von Zack, wohl ebenfalls einen Typ, der eher in zwielichtigen Geschäften unterwegs ist. Er hatte keinerlei Bedenken, dass Zack ihm einen Spitzel unterschieben würde... was sollte ein deutscher Beamter schon in Kolumbien ermitteln? Und dann auch noch allein? Und wenn doch, würde er hier früher oder später eh auf Nimmerwiedersehen verschwinden.


    Die beiden Männer gingen durch eine Art Tor, das das Slum von einem größeren Platz abgrenzte. Hier war der Marktplatz, auf dem einige Händler Holzstände aufgebaut hatten und gerade dabei waren, die Ware vorzubereiten. Ein großer und betagter Stromverteilungskasten schwitzte unter der Belastung einiger Kühltruhen von Fleischhändler und surrte. Auch gab es hier in einigen der, nun größeren Häusern auch Einrichtungen wie eine Kneipe, ein einheimisches Restaurant und Geschäfte, sowie eingesessene Straßenverkäufer. Engere Gassen zwischen den Häusern führten von dem Platz weg. "In diese Richtung liegen zwei Plätze, und hier durch die Gasse kommst du noch zu einigen zentralen Plätzen. Die werde ich dir jetzt zeigen, und dann kannst du den ganzen Tag damit verbringen zwischen diesen Punkten hin und her zu wandern und nach deinem Schnuckel Ausschau halten. Du redest nur mit Leuten, die ich dir zeige, klar?", sagte Juan und konnte es fast nicht verhindern, reflexartig den Zeigefinger zu heben.
    Am anderen Ende des Platzes fiel Kevin ein Mann auf. Er stand an einer Hausfassade und blickte eine Zeitlang auf eine Gruppe von Männern, die von einem LKW Kisten in ein Haus trugen. Kevin konnte nicht sagen, warum der Mann ihm auffiel, aber er strahlte eine sonderbare Art der Autorität aus. Er hatte eine Glatze, allerdings rund um den Kopf noch kurze, grau-schwarze Haare. Sein halbes Gesicht war von einem, ihn ähnlicher Farbe, grau-melierten Bart verdeckt, der zwar dicht, aber ebenfalls kurz und gepflegt war. Die muskulösen Arme hatte er vor der Brust verschränkt, und der Polizist schätzte ihn auf Mitte oder Ende 40. Nachdem er die Männer eine Zeitlang beobachtet hatte, blickte er nun zu Juan und Kevin, wobei er kurz nickte.


    Juan erwiederte den Gruß. "Mit dem redest du zum Beispiel nicht.", sagte der kolumbianische Drogenhändler sofort zu Kevin, und die beiden gingen weiter, allerdings nicht auf den Mann zu, sondern leicht versetzt in gebührenden Abstand an ihm vorbei. "Und warum nicht?", fragte Kevin keck. "Weil ich es sage, Amigo." "Vielleicht kann er uns helfen." "Nein, das kann er nicht." Als die beiden aus dem Sichtfeld des Mannes verschwunden waren, hielt Kevin Juan am Hemdsärmel fest. "Also, wenn ich eins nicht leiden kann, dann sind es Andeutungen. Wer ist das, und warum sollte ich mich nicht mit ihm unterhalten?", fragte er mit ruhiger, aber bestimmender Stimme. Juan blickte sein gegenüber fest an, die beiden Männer begegneten sich von der Größe auf Augenhöhe. "Ich bezahle dich, damit wir Annie finden, also für Informationen."
    Der Mann nickte. "Na schön. Carlos Salazar Santos ist der Anführer der mehrgleisigen Konkurrenz. Drogen, Prostitution, Entführung... die ganze Palette. Man sagt ihm sogar nach, dass er Kontakte zu einigen Splittergruppen der Rebellen haben soll, die gegen die Regierung kämpft. Das ist niemand, den man zum Feind haben möchte." "Und warum kann er uns nicht helfen? Er sollte doch dann auch eine ganze Menge Leute kennen." "Weil er keine Schnüffler mag.", antwortete Juan schnell. "Ich dachte, er sei noch nicht hier, sonst hätte ich einen anderen Weg genommen." Ein kurzes, beinahe schelmisches Grinsen huschte über Kevins Gesicht: "Du hast Schiss vor ihm." Juan lachte kurz sarkastisch auf und schüttelte mit dem Kopf: "Du hast überhaupt keine Ahnung von dem, wie die Dinge hier laufen. Ich und meine Männer sorgen für die Stoffversorgung von zwei Ländern in Europa. Carlos für die Stoffversorgung der USA und Mexiko. Jedes Kartell neben dem von Carlos ist geduldet." Dabei wurde die sonst immer etwas flapsig und fröhlich klingende Stimme von Juan plötzlich todernst, und auch Kevins Lächeln verschwand. "Ich habe keine Angst, aber ich weiß wo mein Platz ist. Halt dich von ihm und seinen Männern fern!" Dann drehte sich Juan von Kevin weg, und setzte sich wieder in Bewegung, bis er nach einigen Schritten nochmal stehen blieb. "Ausserdem...", meinte er und drehte sich nochmal um: "Habe ich auch weniger Angst um mich... sondern eher darum, dass ich den Schlüssel für meine restlichen 25 000 in den Klamotten einer Leiche suchen muss..."

    Hey Elvira,

    Bitte, keine Ursache. Dass er abgelenkt war, war deutlich ;) daran keine Kritik. Ich übertrage das immer etwas ins echte Leben. Auch ich klimper manchmal beim Fahren am Handy oder Radio rum und bin für einen Moment abgelenkt. Trotzdem sollte mich ein Hupen nicht derart erschrecken, das Lenkrad zu verreißen. Wahrscheinlich wäre da eher, wie vorgeschlagen, ein plötzliches Ausscheren des Vordermanns auf meine Spur, was mich zum Verreißen bringen sollte.

    Aber wie gesagt, nur eine Anmerkung ;) Mach weiter so.

    Das ging ja für Ben nochmal glimpflich ab. Hatte ihn schon in den Fängen von Drager gesehen. Aber der begnügt sich damit in Bens Sachen rumzuschnüffeln. Jetzt weiß er, wer ihn verfolgt hat. Aber er scheint gar nicht neugierig zu sein, warum er von einem Autobahnpolizisten verfolgt wird. Ob er aufgeflogen ist, ob die Polizei über ihn Bescheid weiß oder nicht. Aber vielleicht ist ihm das egal.


    Vielleicht ist ihm das egal, weil er das Problem in naher Zukunft beseitigen will...

    :D

    Ich hab mir jetzt mal, eher wegen den Feeds hier, interessiert die letzten drei Action-Kapitel durchgelesen. Und die Kritik ist wirklich nicht böse gemeint, einfach Sachen die mir auffallen.

    Tatsächlich ist da einiges los, das Kidnapping von Semir, das teilweise Befreien und dann das Legen des Feuers. Allerdings geht mir persönlich da vieles zu schnell. Du beschreibst die Situation zwar recht gut, aber mir fehlen da viele Details. Wie hat Semir die Hände jetzt letztendlich nach vorne bekommen? Warum lässt sich der Irre so sehr verunsichern ob der irren Idee, Semir hätte sich absichtlich gefangen nehmen lassen, um seine Kollegen her zu locken? Da steig ich nicht ganz hinter den Sinn. Auch wurde nicht erwähnt, dass Israel die Tür wieder abgeschlossen hat. Er schließt auf, verharrt und verschüttet das Benzin, geht dabei wieder nach oben. Semir hört sogar, dass die Stimme leiser wird. Warum öffnet er nicht die Tür und nimmt reissaus?

    Auch Pauls Unfall ist mir persönlich irgendwie nicht dramatisch genug beschrieben. Erst mal wundert es mich, dass er sich durch ein Hupen (wenn ich es richtig verstanden habe) so aus dem Konzept bringen lässt, dass er das Auto in die Leitplanke schmeißt. Normalerweise sollte das nicht mal einen normalen Autofahrer passieren, geschweige dem einem Polizisten, der Fahrsicherheitstrainings absolviert hat. Das hätte man vielleicht besser lösen können, mit einem unvorsichtigen Ausscheren eines Vordermanns beispielsweise. Das Erkennen der Verletzung dagegen ist dramatisch und gut gelungen.

    Vom Schreiberischen her (Oh Gott, was fürn Satz :D) würde ich dir empfehlen, vielleicht mal mit ein paar Nebensätzen zu arbeiten. Viele Sätze sind recht, wie soll ich sagen, einfach gehalten. (Er zuckte zusammen, als der Wagen neben ihn wild hupte. Er sah erschrocken hoch und verriss das Lenkrad. Dadurch geriet der BMW ins Schleudern und flog regelrecht gegen die Leitplanke.) Das ist knapp eine Zeile für 3 Sätze. Das wirkt beim Lesen etwas abgehackt und stört ein wenig den Lesefluss, der vor allem für den Aufbau der Spannung sehr entscheidend ist. Natürlich braucht man keine Schachtelsätze über 10 Zeilen, aber mit ein bisschen mehr Nebensatz kann man auch direkt wieder 2-3 Details mehr aus der Szene einfließen lassen, regt das Kopfkino der Leser noch mehr an, und es liest sich besser.

    Bens Dienstwagen - 12:00 Uhr


    Ben trügte sein subjektives Gefühl nicht. Wo Drager vorher gemütlich 120 auf der Autobahn fuhr, hatte er es jetzt deutlich eiliger. Doch von einer Flucht war sein Fahrstil noch weit entfernt. Er drängelte nicht, er überholte nicht rechts und er versuchte auch kein wildes Hakenschlagen um Ben abzuhängen. Der hielt weiter geübt Abstand, und wenn Drager nicht bereits vorher Verdacht geschöpft hatte, würde er es jetzt auch nicht tun, denn der Autobahnpolizist hielt sich vornehm im Hintergrund, scherte immer wieder auf die rechte Spur nach einem Überholmanöver, ließ sich zurückfallen und holte, den PS seines Mercedes sei Dank, wieder mühelos auf. Einmal überholte er sogar zum Schein, als er wusste dass mehrere Kilometer keine Ausfahrt kam, und ließ sich einige Minuten später wieder zurückfallen.
    Kurz hinter der City von Köln fuhr Drager wieder raus in Richtung eines Industriegebietes. Ben folgte immer noch auf Abstand, hatte wieder einige Autos zwischen sich und den Audi kommen lassen. Doch Drager bog nun in eine weniger befahrende Straße ab, so dass Ben noch zwei Umdrehungen im Kreisel mehr fuhr, um Abstand zu gewinnen. Er konnte gerade noch erkennen, wie der Audi abbog, allerdings nicht in eine Seitenstraße, sondern auf eine Art Hof einer Industriehalle. Der Polizist rollte die Straße entlang und dachte nach. Seine Hand fuhr schon zur Taste für die Freisprecheinrichtung, um Semir anzurufen, doch er entschied sich dagegen.


    Als der Mercedes zur Einmündung fuhr, konnte er den Audi dort parken sehen. Ausserdem eine große Halle, eine Eingangstür mit Briefkasten, und ein verschlossenes Tor. Mit leicht schwitzigen Händen bog Ben ab und parkte nur unweit von dem Audi, als er sich durch einen Blick versicherte, dass Drager nicht mehr drinnen saß. Sein Herz klopfte. War das eine Falle? Sollte er nicht doch lieber Semir anrufen, oder die Observation hier beenden? Nein, erstmal umschauen, beschloß Ben. Er konnte immer noch sagen, dass er sich verlaufen hätte, wenn er erwischt werden würde.
    Die Eiseskälte begrüßte ihn mit einem Schlag, als er aus dem gut gewärmten Fahrzeug ausstieg und langsam in Richtung der Eingangstür ging. Kein Name am Briefkasten, kein Klingelschild, keinerlei Firmenname, der irgendwo an der Halle angebracht war. Er konnte durch die Glasscheibe in den Innenraum des Büros sehen, doch dort gähnte ihn Leere an. Nur ein Schreibtisch und ein Stuhl standen dort, keinerlei IT, keine Dokumente, kein Aktenschrank. Was war das hier? Eine verlassene Industriehalle? Was wollte Drager dort? Er trat einen Schritt von der Scheibe zurück, sein ungutes Gefühl verstärkte sich und die Kälte kroch ihm durch die dicke Lederjacke bis an die Haut, und ließ eine Gänsehaut entstehen. Irgendwas musste er hier doch wollen...


    Ben beschloß, um die Halle zu gehen... eine Feuertür, oder eine Feuerleiter, ein zweiter Ausgang musste es hier doch geben. Doch auch seitlich und hinter der Halle wurde er nicht enttäuscht. Dort war eine Feuerfluchttür nach hinten heraus, und die ließ sich öffnen, doch hier verließ Ben der Mut. Er würde mit Semir hierher kommen, und dann könnte man schauen, was hier verborgen lag. Er hatte gerade mal 10 Minuten hinter der Halle verbracht, doch das hatte anscheinend ausgereicht... und in dem Polizisten reifte die Erkenntnis, doch in eine Falle getappt zu sein, als er wieder in Richtung des Vorplatzes ging, und er plötzlich Stimmen hörte. Er ging langsamer, geräuschloser und wagte es nur, einmal kurz um die Ecke der Halle zu lugen. Die Fahrertür des Mercedes stand offen, Drager saß auf dem Fahrersitz und ein, Ben unbekannter Mann, stand daneben.
    "Was weiß ich, wie lange der schon hinter mir her fährt? Mir ist er erst auf dem Rastplatz aufgefallen.", knurrte Drager und schien in Bens Geldbörse zu blättern, die der Polizist immer auf der Mittelkonsole liegen hatte, weil sie ihn in der Gesäßtasche immer störte. "Na klasse... was will der von dir?", fragte der unbekannte Mann, von weitem waren nur seine kaltblauen Augen und seine makellos rasierte Glatze zu erkennen. Drager schien kurz zu ihm aufzublicken. "Das geht dich nichts an, Vesoski. Ich hab dich nur gebeten, das Auto zu knacken, nicht um Fragen zu stellen."


    Ben hätte sich in den Hintern beißen können... mein Gott, wie konnte man nur so dämlich sein wie er, und in diese, simple und gerade zu offensichtliche Falle tappen. Vermutlich hatte Drager selbst die hintere Tür geöffnet, und hoffte nun, Ben würde richtig viel Zeit in der Halle mit Suchen verbringen... und vermutlich nichts finden. In der Zeit konnte Drager sich hervorragend erkundigen, wer ihm da mindestens seit dem Rastplatz bereits auf den Fersen war. Er wollte gerade zur Hose greifen, um sein Handy zu zücken, als ihm heiß und kalt wurde... auch das lag im Wagen, angeklemmt ans Ladegerät. Verfluchte Tat, das konnte doch nicht wahr sein. Das würde einen schönen Einlauf von Semir geben, wenn er ihm das erzählte.
    Genau eben jenes gesuchte Handy hatte Drager jetzt in der Hand. Er drückte daran herum, ließ es aber wieder auf die Mittelkonsole sinken. Ein Zahlencode verhinderte, dass er es entsperren konnte, und Ben atmete ein wenig auf. Trotzdem hatte Drager natürlich Bens Ausweis, sowohl Personal- als auch Dienstausweis gefunden. "Unser Schnüffler heißt also Ben Jäger. Kripo Autobahn. Hmm...", sagte Drager, und Ben konnte nur die lautesten Worte deutlich verstehen. "Bist du zu schnell gefahren?", witzelte der Kahlköpfige von draussen. "Sehr witzig, Vesoski.", knurrte der Mann auf dem Fahrersitz und steckte den Ausweis zurück in den Geldbeutel, sah sich im Auto nochmal um, und stieg dann wieder aus. Leise, damit Ben es innerhalb der Halle nicht hören würde können, wo Drager vermutete, Ben würde sich aufhalten, schloß er die Fahrertür wieder. Der Polizis würde merken, dass nicht abgeschlossen war, und würde es vermutlich auf seine eigene Schusseligkeit schieben.


    "Was jetzt? Soll ich die Jungs rufen, und wir holen den Bullen aus der Halle raus? Wäre nicht der erste Kellenhalter, dem wir klarmachen, dass ihm seine Zähne und seine Familie wichtiger sein sollten, als seine Vaterlandspflichten.", fragte Vesoski und knackte mit zwei Fingergelenken. Drager sah auf die Halle, und Ben rückte nochmal einen Schritt zurück in seine Deckung. Einem Reflex nach wollte er sich verstecken, doch wo sollte er hin? In der Halle würde man ihn eh früher oder später finden, und hinsichtlich einer Übermacht mehrerer Leute, rutschte ihm das Herz kurz, trotz seiner Fähigkeit im waffenlosen Kampf und seiner Dienstwaffe, kurz in die Hose. Aber dann legte der Verbrecher einen Finger auf die Lippen und schüttelte entschlossen den Kopf. "Nein, mein Freund. Keine Lust die Bullen noch mehr aufzuscheuchen. Ich weiß jetzt, was ich wissen muss.", sagte er. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern und wirkte beinahe enttäuscht. Der 500 Euroschein, dem Drager ihm in die Hände drückte für seinen kurzen Bruch schien ihn zumindest etwas zu trösten.
    Der Autoknacker trollte sich alsbald und Drager ging in Richtung seines Audis. Ben lugte wieder um die Ecke und beobachtete den Mann, der vor dem Mercedes des Polizisten einen Moment stehenblieb, und in Richtung der Frontscheibe blickte. Er grinste kalt, und formte seine Hände nach oben, als würde er ein Gewehr halten und durch ein Zielfernrohr blicken. Er bewegte sich mit einem leisen Ton zweimal, als würde er abdrücken, und sein Grinsen wurde breiter, als er die Hände wieder öffnete, in seinen Wagen stieg und von dem Vorplatz fuhr. Ben beobachtete den Mann dabei mit angehaltenem Atem...

    Bens Dienstwagen - 10:30 Uhr


    Für einen geübten Fahrer wie Ben war es nicht schwer, Drager durch den Stadtverkehr zu folgen. Nur an Ampelanlagen war es manchmal ein Glücksspiel, wenn sein Zielobjekt knapp vor Rot durchbrauste, und die Autos, die Ben zur Abschirmung benutzte, stehen blieben. Dann musste Ben über mehrere Autos hinweg bis zur nächsten Ampel blicken und hin und wieder auf der Abbiegespur einige Autos überholen, um Drager nicht aus den Augen zu verlieren. Doch der hatte es zum Glück nicht eilig, blieb lieber mal schon bei Gelb stehen, statt noch darüber zu huschen und so war es für den Autobahnpolizisten eine leichte Übung, dem Mann zu folgen. Vor allem, als dieser dann die Innenstadt verließ und auf die Autobahn in Richtung Westen fuhr.
    Ben hatte das Lenkrad fest in der Hand und den Wagen vor ihm fest im Blick. Sein Handy in der Jeans schien zu glühen, so kam es ihm jedenfalls vor, und es schien ihn anzuschreien: "Ruf endlich Semir an und berichte ihm von deinen Beobachtungen." Der Polizist ignorierte das Rufen, er ignorierte sein Gewissen. Würde er Semir jetzt einweihen, würde der wahrscheinlich den normalen Dienstweg nehmen und Carina erstmal in die Mangel nehmen, denn Semir war Polizist durch und durch und würde versuchen, jeder erdenklichen Spur nach zu gehen. Ben war jetzt gerade persönlich involviert, denn auch wenn er sich über die Gefühle gegenüber Carina noch nicht ganz im Klaren war, so fühlte er sich jetzt doch eher mit ihr verbunden...


    Die Fahrt verlief nun eindeutig in Richtung holländische Grenze. Ben wurde mulmig im Bauch, denn im Ausland hatte er keinerlei Befugnis mehr, in irgendeiner Form einzugreifen, wenn es nötig war. Allerdings hatte Drager seinen Verfolger noch nicht bemerkt, er fuhr konstant gemütlich 130 und machte keine Anstalten, Ben abzuhängen. Die Kilometer bis zur Grenze zum Nachbarland wurde nach jedem Hinweisschild weniger, das Nummernschild, ein Deutsches, hatte sich Ben längst mit dem Handy notiert für später. 6km vor der Grenze fuhr der Audi ab auf einen größeren Rasthof mit Tankstelle, Restaurant und Übernachtungsmöglichkeit. Drager fuhr dort auf den Parkplatz und der Kommissar hielt gebührenden Abstand, bevor er auch auf einen der Parkplätze vor der Gaststätte fuhr.
    Nur wenige Minuten, nachdem Drager das Gebäude betreten hatte, schritt auch Ben an Pappaufstellern vorbei, die überteuerte Schnitzel mit einer unrealistischen Actionserie aus dem TV bewarben, und betrat den Gästeraum. Ein kurzes Umsehen, und er nahm an einem Zweiertisch Platz, ganz in der Nähe von Drager, der ebenfalls an einem Doppeltisch saß, und sich scheinbar bei der Selbstbedienung einen Kaffee genommen hatte, der dampfend vor ihm stand. Erst jetzt fiel Ben auf, dass es wohl auffällig war, wenn er da saß und nichts zu trinken oder essen hatte, also stand er nochmal auf und bewaffnete sich ebenfalls mit Kaffee und Schoko-Crossaints.


    Nur wenige Minuten später betrat ein Mann die Gaststätte und ließ sich an Dragers Tisch nieder. Die beiden Männer begrüßten sich mit Handschlag und begannen sich zu unterhalten... auf Holländisch. Ben konnte teilweise mithören, aber die Gesprächsfetzen die er mitbekam, ergaben für ihn keinen Sinn, auch wenn man sich Holländisch auch ohne Fremdsprachenkenntnisse manchmal auf Deutsch übersetzen, besser zusammenreimen konnte. Nur bei einem war er sich sicher... der Name "Carina" und "Björn" fielen hin und wieder, und somit war Ben sicher, auf der richtigen Spur zu sein. Er kaute langsam, trank langsam, damit er genügend Beschäftigung hatte, da er nicht wusste, wie lange das Gespräch dauerte.
    Der Tisch, an dem Drager und der fremde Mann saßen stand schräg von Ben entfernt. Scheinbar zufällig lehnte sich der Polizist leicht schräg an die Fensterfront, an der sein Tisch stand, zückte das Smartphone und begann, im Internet zu surfen... so sah es zumindest für jemanden aus, der Ben beobachtete und ihm keine bösen Absichten unterstellte. In Wahrheit schaltete der Kommissar den Signalton aus, damit er keine verdächtigen Geräusche von sich gab, wenn er die Kamera-App öffnete und mehrere Bilder vom Gesicht von Dragers Gesprächspartner machte. Er sah sich bereits im Büro wieder, und die nächsten Fahndungs- und Vorstrafenbilder durchklicken, während Semir immer noch verständnislos ihm gegenüber saß, und nicht wusste, was sein bester Freund da trieb.


    So langsam er auch aß und trank, die beiden Männer unterhielten sich länger als Ben Zeit herausschinden konnte. Als er noch 10 Minuten vor seiner leeren Tasse und dem nur noch verkrümelten Stück Serviette saß, beschloss er, die Gaststätte zu verlassen. Den kurzen Blick von Drager spürte er nicht, als er an dem Tisch vorbei nach draussen ging, und dort in seinen Dienstwagen einstieg. Sein Handy machte auf sich aufmerksam, und auf dem Display prangte groß: "Semir Büro". Ben seufzte und nahm ab. "Ja?" "Hier ist dein Partner. Sag mal, schreibt man Jäger eigentlich mit e oder ä? Ich brauch den Namen für aus Ausfüllen der Vermisstenanzeige.", witzelte sein Partner und ließ den ernsten Hintergrund seiner Frage trotzdem deutlich erkennen.
    "Ich bin hier grad an ner heißen Sache dran.", wiegelte Ben ab und behielt den Ausgang der Gaststätte im Auge. Der Anruf kam ihm irgendwie gerade doch recht, denn sollte Drager herauskommen, wäre es nicht so auffällig, wenn Ben im Auto saß und telefonierte, statt einfach da zu sitzen und den Eingang zu beobachten. Deshalb nahm er auch das Handy extra ans Ohr, statt die Freisprecheinrichtung zu bemühen.


    "Heiße Sache, aha... nunja, dann will ich dich nicht weiter stören, Partner. Meldest dich dann, wenn du wieder soweit bist, mit mir in diesem langweiligen Mordfall zu ermitteln, ja? Ich sprühe da gerade vor heißen Spuren.", krakelte der erfahrene Kommissar durchs Telefon. Er hätte auch sagen können: "Nun lass hören, wo du grade bist, und was du grade machst.", aber Semir sagte es durch die Blume des Sarkasmuses. "Gut, mach ich. Bis dann.", meinte Ben todernst und hörte sofort seinen Partner schnappatmen. "HEY! Jetzt rück raus mit der Sprache. Was geht ab??" Der Polizist im Auto grinste, weil ihm der Scherz gelungen war, und rückte nun, wie immer zu spät, mit der Sprache raus. "Ich observiere den Typ, der bei Carina war." "Hä? Ich dachte, der hat nichts mit der Sache zu tun und hat sich nur im Haus geirrt..." "Ich weiß nicht... hatte da so ne Ahnung. Ich erklärs dir, wenn ich wieder zurück bin, okay?" Semir seufzte, diese Vertröstungen kannte er. "Aber meld dich bitte, wenns Schwierigkeiten gibt, ja?", setzte er noch hinterher. "Ja, Papa!" Mit diesen Worten beendeten die beiden das Gespräch.
    Gerade rechtzeitig, denn Drager und sein Freund kamen aus der Gaststätte heraus. Sie verabschiedeten sich per Handschlag und stiegen beide in ihre Autos. In Windeseile notierte Ben auch das zweite Nummernschild, startete den Mercedes vor Drager und rollte auf die Autobahn. Es war weniger auffällig, sich auf der Autobahn dann überholen zu lassen, als zu warten, bis Drager losfährt und sich wieder dahinter zu setzen.


    Es dauerte nur wenige Kilometer, bis Drager auf der Überholspur an Ben vorbeifuhr. Gemächlich, mit wenig Überschuss dauerte der Vorgang einige Meter... Zeit genug für Ben, herüber zu schauen und zu bemerken, wie Dragers grüne Augen ihn fixierten... und scheinbar erkannten. Der Typ, der mit ihm an der Raststätte ankam, in seiner Nähe saß und nun zum gleichen Zeitpunkt wieder wegfuhr. Für normale Menschen eigentlich nichts aussergewöhnliches, dass Leute für ihr Frühstück an einer Autobahnraststätte die gleiche Zeit brauchen, wie man selbst. Doch Dragar war ein Verbrecher und deswegen misstrauisch. Er beschleunigte seinen Audi mehr, als er die ganze Zeit vorher fuhr...

    Ich hab für Actionheld 2.0 jetzt mal ne kleine Zusammenfassung meiner bisherigen Storys geschrieben.

    Wenn irgendjemand, entweder einer der Stammleser oder jemand, der erst später zu meinen Storys gestoßen ist, da die alle aufeinander aufbauen, mal haben möchte um über einige Hintergrundinfos informiert zu sein, so möge er sich melden ;)

    Dienststelle - 9:00 Uhr


    Ben hatte es keine Ruhe gelassen. Das Gespräch mit Semir hatte sich tief in ihn gebrannt, die Frage danach, wie seine Gefühle um Carina wirklich standen. Das Aufbürden der Verantwortung, wenn er ihr wirklich mit ihrer Mutter half, er konnte wirklich sehr schlecht dann einfach sagen "Tschüss, auf Wiedersehen.", wenn es nicht zu einer Beziehung mit Carina kam, aus welchen Gründen auch immer. Und da sie immer noch in dem Mordfall ermittelten, war es sowieso nicht ratsam, jetzt eine Beziehung einzugehen. Semir hatte mit seinen Worten mal wieder ganze Arbeit geleistet, und Bens Kopfeinrichtung ordentlich umgestellt, und gestern ließ er sich bei Carina wegen Unwohlsein entschuldigen um abends mit einem schlechten Gewissen zu Hause zu sitzen.
    Morgens waren die Gedanken nicht weg, sie wurden nur verdrängt von anderen Gedanken... nämlich von dem des Fremden, der Ben in Carinas Haus entgegen gekommen ist. Der Gedanken kam heute morgen, als Ben mal wieder mindestens viermal sein Handywecker nach dem Klingeln um 5 Minuten nach hinten gestellt hatte, um sich im warmen Bett nochmal umzudrehen. Wer war er, was hatte er bei Carina zu suchen? Die Erklärung der Mutter, es kam Carina gerade recht... sie war beinahe erleichtert, als er und Semir das Fernsehprogramm und die Verwirrtheit der Mutter richtig definierten. Und Ben selbst war auch ganz froh darüber, denn zumindest hegte damit Semir keinen Verdacht gegen Carina, und nun schwoll der Verdacht ausgerechnet bei Ben?


    Der Gedanke ließ ihm keinerlei Ruhe, und so nutzte er die Zeit im Büro und seine IT-Hilfsmittel, um sich ein wenig seiner Gedanken zu entledigen. Dazu rief er die größte Datenbank von vorbestraften Bundesbürgern auf, die er im Polizeintranet finden konnte, kochte sich die zweite Tasse Kaffee und begann zu klicken. Zuerst hatte er die Rubrik auf "Alle" stehen, und wusste beim Blick auf die Zahl unter den Bildern, dass er das heute nicht mehr schaffen würde. Also setzte er den Filter auf "Organisierte Kriminalität", und die Arbeit verringerte sich von Tagen zu Stunden. Die rechte Hand auf der Maus, die linke unterm Kinn und den Ellbogen aufgestützt, die Augen konzentriert und fokussiert auf den Monitor gerichtet.
    "Ach, ist das schön wenn man einen eifrigen Kollegen hat, der einem hilft den Papierkram zu erledigen, damit man schneller fertig ist.", flötete Semir vom Tisch gegenüber in Bens Richtung und klang dabei höchst ironisch. Es half ihm nämlich gerade niemand und sein bester Freund schien mit anderen Dingen beschäftigt zu sein, zumindest konnte Semir beobachten, wie er höchst konzentriert auf den Monitor starrte. "Guckst du nen Porno?", fragte er grinsend und bekam zur Antwort nur ein "Hmm", das weder bejahend klang, noch verneinend.


    Spätestens da merkte Semir, dass Ben ihm nicht zuhörte. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis aufzustehen, und mal zu sehen, was Ben da trieb. Natürlich sah er sich keinen Porno an, aber irgendwas schien ihn völlig seiner Konzentration zu benötigen. Aber der erfahrene Polizist widerstand dem Drang und der Neugier, er seufzte nur, und erledigte weiter den Papierkram, der sich in den letzten Wochen aufgetürmt hatte, als er im Krankenstand war. Das einzige Geräusch, das ihm Büro der beiden zu dieser Zeit zu hören war, war das Ticken ihrer Wanduhr und das regelmäßige Klicken von Bens Maus, bis er schließlich bei einem Foto stehen blieb, das sein Herz kurz in die Hose rutschen ließ.
    Die Gesichtszüge des Mannes kamen ihm sofort bekannt vor, als würde sich eine Schablone in seinem Kopf in Sekundenschnelle über das Gesicht legen, das er gerade anstarrte und die Formen passten sofort. Der Blick, die grünen Augen, sogar den Ohrring am linken Ohr hatte er auf dem Foto an. In Verdacht stehend, Mitglied einer straforganisierten Bande zu sein, die in der organisierten Kriminalität zu Hause war... spezialisiert auf Erpressung und Betrug. Seine Name war Konstantin Drager. Ben spürte, wie sein Mund trocken wurde... und er wusste sofort, dass dieser Kerl nicht das Haus verwechselt hatte, und Carinas Mutter doch nicht die Realität mit dem Fernseher verwechselte. Aber Carina kam diese Verwechslung gerade recht.


    Der Polizist schloß das Suchfenster an seinem PC und stand auf, mit einer Hand die Jacke vom Stuhl ziehend. "Was ist denn jetzt los?", fragte Semir, der von der überraschenden körperlichen Bewegung seines Partners kurz erstaunt aufblickte. "Ich muss kurz in die Stadt, was privates erledigen. Ich bin in ner Stunde wieder da.", sagte Ben kurz angebunden und war bereits auf dem Weg nach draussen, Semir mit erstauntem Gesichtsausdruck zurücklassend. Der seufzte kurz und ließ die, zuerst erstaunt in die Höhe gereckten Arme langsam wieder auf die Tastatur sinken. "Da hat Kevin in der kurzen Zeit ja ganz schön abgefärbt mit seinen Alleingängen...", murmelte der erfahrene Polizist. Aber er vertraute Ben genug, um ihn ziehen zu lassen und nicht wie ein Aufpasser hinterher zu rennen.
    Ben war dafür sehr dankbar... er wollte alleine mit Carina sprechen. Sie konfrontieren damit, dass sie ausgerechnet den Besuch eines, im organisierten Kriminalitäts-Milieu vorbestraften Mannes leugnete während die Spur von Björns Mörder in die selbe Richtung führte. Das war nun wirklich des Zufalls zuviel. Die Ausrede der Mutter kam ihr gerade recht, die sie auch dankend annahm, und somit die Krankheit der Mutter ausnutzte. Der junge Polizist konnte nicht glauben, dass Carina so eiskalt war und vermutete eher eine Art von Druck. Nur wirklich zusammensetzen ließ sich dieses Puzzle nicht.


    Sein Magen krampfte sich zusammen, als er in Carinas Straße einbog und den Mercedes langsam über den Asphalt rollen ließ auf der Suche nach einer freien Lücke am Straßenrand. Gerade als er eine entdeckt hatte, sah er ihn vor Carinas Haustür stehen. Offenbar klingelte er vergeblich, den die Tür öffnete sich nicht. Seine Schirmmütze hatte er diesmal nicht auf, den der Himmel war heute herrlich klar und es war bitterkalt, seine Haarsträhne konnte Ben aber trotzdem gut erkennen. Ohne merkbar zu verlangsamen oder beschleunigen fuhr er an der Adresse vorbei und drehte den Dienstwagen in einer Seitenstraße, um in der Fahrzeugkolonne dahinter zu parken. Unsichtbar für den Mann vor Carinas Haustür und trotzdem fähig, ihn zu beobachten.
    Nur wenige Momente später kam Carina, den Rollstuhl ihrer Mutter vor sich herschiebend, die darin saß und dick verpackt war, gegen die Kälte. Zum Glück kam sie von der anderen Seite, und ging so nicht an Bens geparktem Auto vorbei. Sie redeten, sie unterhielten sich und Ben versuchte über die Körpersprache zu lesen, denn verstehen konnte er die beiden nicht... zu weit weg war er, zu laut war der Autolärm. Drager nahm die Hände nicht aus den Manteltaschen, seine Miene war ernst, manchmal lächelte er überlegen, aber unsympathisch. Carinas Gesichtsausdruck dagegen war nicht verängstigt oder eingeschüchtert, aber ablehnend. Sie unterhielten sich nicht laut, aber angeregt, und offenbar schienen dem Mann Carinas Worte nicht zu passen, denn sein Gesichtsausdruck wurde immer ärgerlicher und die Überlegenheit fiel. Als er einen Schritt drohend auf Carina zuging, hatte Ben bereits den Hand am inneren Türgriff, doch es blieb bei einem Schritt, vor dem die junge Frau nicht zurückwich. Ben zückte sein Smartphone und schaffte es, zwar leicht verwackelte aber nah herangezoomte Bilder zu schießen.


    Die Unterredung blieb kurz, und es schien, als würde Carina Drager einfach stehen lassen, als sie die Tür aufschloß und im Haus verschwand, ihre Mutter voranschiebend, die scheinbar ständig etwas sagte, aber von Carina ignoriert wurde. Das Gesicht des Kerls, als er sich von dem Haus abwandt und in Bens Richtung ging, erschrak den Polizisten für einen Moment... feindseelig, wütend... der Mann kochte, bevor er sich in einen Wagen gleiten ließ, der einige Autos vor Ben am Straßenrand stand. Der Polizist entschied sich gegen eine Konfrontation mit Carina und hielt es für klüger, Drager unauffällig zu folgen. Mit einer schnelle Drehung am Schlüssel wurde der Dienstwagen gestartet und sich zwei Autos hinter dem dunkelblauen Audi in den laufenden Verkehr eingeordnet.