Innenstadt - 18:00 Uhr
Semir hätte die Treppe am liebsten verflucht, denn sie knarrte leise bei jeder Stufe, die die beiden Polizisten nahmen. Würde in den Wohnungen geredet werden oder der Fernseher laufen, würde man nichts hören wenn jemand die Stockwerke runter oder hoch poltern würde. Aber jetzt, wo Carina in ihrer Wohnung den Atem anhielt, und der Eindringling dort oben vermutlich ebenso leise arbeitete, konnte jedes laute Geräusch verräterisch sein. Auch das leise Geräusch, als die beiden Polizisten ihre Dienstwaffen aus dem Holster nahmen und das metallische Klicken beim entsichern, schien durch den ganzen Flur zu hören zu sein. Draussen war es bereits stockfinster und Ben leuchtete mit seinem Smartphone zur Tür. Beide Männer konnten sofort das gesplitterte Schloß und die nur angelehnte Tür erkennen.
Mit stummen Blicken verständigten sich die beiden Freunde, Ben lehnte sich mit dem Rücken an den Türrahmen und blieb aufrechtstehen, während der kleinere Semir in die Hocke ging und die Tür Stück für Stück ohne Knarren aufdrückte. Sofort fiel Licht aus dem Inneren der Wohnung in den Flur und der große Kommissare spürte, wie ihm die Hände um den Griff der Waffe feucht wurde. Erinnerungen kamen zurück an den Einsatz im Krankenhaus, als er angeschossen und schwer verletzt wurde, weswegen er zuletzt in Einsätzen manchmal mit Angstzuständen zu kämpfen hatte. Doch solange Semir bei ihm war, spürte er Vertrauen, atmete tief durch und umgriff den Griff der Waffe noch fester.
Leise Geräusche drangen aus dem Inneren der Wohnung, es klang nach Rascheln und Kramen. Die Tür, die zum Büro führte, war ebenfalls nur angelehnt und darin brannte Licht, der Einbrecher ging doch lauter vor, als man es von draussen hätte vermuten können. Die Waffe nach vorne gerichtet mit leisen Schritten ging Semir langsam in Richtung der Tür, Ben folgte ihm. Mit einem Blick ins Wohnzimmer sahen sie, dass eine Bodenvase zerbrochen und verstreut herum lag, offenbar war der Einbrecher im Dunkeln dagegen gestoßen, was das Poltern ausgelöst hat. Das Herz des erfahrenen Polizisten pumpte gegen den Brustkorb, obwohl er solche Situationen schon tausende von Male erlebt hatte, war er doch immer noch aufgeregt, weil man bei solchen Typen mit allem rechnen konnte.
Die beiden Polizisten hörten von drinnen ein wütendes Schnauben: "Wo ist der Krempel bloß?" Semir zeigte Ben mit den Fingern an, wann sie zuschlagen wollten, und der Polizist mit dem Wuschelkopf nickte. Mit einem lauten Krachen flog die Tür auf, als Semir sich dagegen stemmte und die beiden Polizisten richteten die Waffe auf den maskierten Mann, der am Schreibtisch stand und in mehreren Ordnern blätterte. Trotz der Überraschung und der Verdutztheit des Mannes reagierte der erstaunlich schnell und griff seine Waffe, die auf dem Schreibtisch lag. Die beiden Polizisten mussten sich entscheiden zwischen in Deckung gehen und selbst abdrücken.
Man entschied sich für Zweiteres, was wohl die bessere Entscheidung gewesen war, denn der Einbrecher zögerte keine Sekunde und betätigte den Abzug. Holz des Rahmens splitterte, in die eine Kugel einschlug, in der Wand des Flures hinterließ eine weitere Kugel ein Loch. "Polizei, werfen sie die Waffe weg!", schrie Ben aus der Deckung heraus, die beiden waren links und rechts vom Türrahmen verschwunden. Sie konnten sich anblicken und warteten einen Moment, bevor sie wieder ins Büro lugten, vorsichtig um auf alles vorbereitet zu sein. Sie konnten gerade noch sehen, wie der Typ das Fenster öffnete, und sich auf den kleinen Fensterbrettvorsprung stellte, der durchgängig am kompletten Haus entlanglief.
"Oh ne, das auch noch.", stöhnte Ben als die beiden zum Fenster liefen und hinausblickten. Die schwarze Gestalt hielt sich an der Dachrinne fest, in der anderen Hand noch die Waffe, mit der er Richtung Fenster feuerte wo Semir den Kopf zurück zog. "Los komm! Oder hast du neben Platzangst auch noch Höhenangst?", rief der erfahrene Kommissar und zog Ben hinter sich her. Beide Polizisten stiegen ebenfalls auf den kurzen Vorsprung, hielten sich mit einer Hand am Dachvorsprung fest und folgten dem Mann, der jetzt seine Waffe weggesteckt hatte und nach unten sah. "Hiergeblieben!!", schrie Semir noch, als er vielleicht einen Meter entfernt entsetzt sah, wie der Mann sich fallen ließ.
Unten konnte er schwach erkennen, dass ein Kleintransporter mit offener Ladefläche stand, in den der Mann sich fallen ließ. Semir und Ben konnten nicht genau erkennen, was er geladen hatte, es schien aber etwas Weiches zu sein, in dem der Mann landete, denn er bewegte sich sofort wieder. "Schnell, komm! Sonst ist er weg.", sagte Semir, ging den Meter weiter und sprang gezielt ebenso herunter, als er sicher war, dass der Mann so schnell nicht in den Wagen springen konnte, denn er war gerade erst von der Ladefläche geklettert. Semir kam der freie Fall nur kurz vor, so hoch war das dreistöckige Haus auch nicht und der Untergrund, der sich als einige aufgestapelte Matratzen entpuppte dämpfte den Aufprall hervorragend. Der Einbrecher war offenbar gut vorbereitet.
Semir kletterte vom Transporter, als der Einbrecher gerade einstieg, und rief noch ein lautes "Schnell!!", nach oben. Denn je länger Ben wartete, desto größer wurde die Gefahr, dass der Mann den Wagen anließ und Ben somit daneben sprang. Aber der Typ hatte gerade die Tür aufgerissen, als Ben sich vom Vorsprung wegdrückte, nachdem ihm schnell noch ein kurzes "Oh Fuck...", entfuhr. Er krachte gerade auf die Matratzen, als der Einbrecher den Wagen anließ und Semir den Türgriff ergreifen wollte.
Mit einem Ruck setzte sich der kleine Transporter in Bewegung und Semir entglitt die Klinke, so dass er beinahe stolperte. Ben hatte keine Zeit mehr zum Absteigen und krallte sich an den Matratzen fest, als der Wagen anfuhr und aus der Gasse, in der er stand, steuerte. "BEEEN!!", rief Semir nochmal beim Hinterherrennen in Richtung Hauptstraße. Der Transporter bog links ab, Semir rechts in Richtung des BMWs, in den er sich schwang und sofort den Motor startete. Weil er in die verkehrte Richtung stand, haute er den Rückwärtsgang rein, ließ die Hinterreifen durchdrehen und zog dann bei einer gewissen Geschwindigkeit die Handbremse des Wagens, um ihn um 180 Grad herumschleudern zu lassen. Diese Kunststückcken wurden mit den modernen elektronischen Handbremsen immer schwieriger, aber Semir überlistete die Gesetze der Phsyik und nahm die Verfolgung des Transporters auf.
Ben spürte jede Unebenheit und jede Kurve, die der Transporter nahm. Immer wenn der im Abendverkehr einem Wagen ausweichen musste, rutschten die Matratzen von links nach rechts, da sie nicht so breit waren wie die Ladefläche. Gehalten wurden sie nur von einigen Schnellspannern, die am Führerhaus befestigt waren und unter dem Druck ätzten, die Matratzen auf der Ladefläche zu halten, denn die hintere Ladeklappe stand offen. Stück für Stück zog sich Ben ans Führerhaus heran, bis er endlich den Metallrahmen der Ladefläche zum Führerhaus hin ergreifen konnte und durch das kleine Heckfenster des Führerhauses direkt in den Rückspiegel sah, wo sich die Blicke Bens und des Einbrechers trafen...