Dienststelle - 14:00 Uhr
Ben saß an seinem Schreibtisch, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und die Daumen aneinander reibend. Er starrte dieses komische Ding aus Hartplastik mit den 12 Tasten und der Verbindungsschnur an, als wäre es ein Ding aus einer anderen Welt. "Was ist denn jetzt? Machen wir es, oder nicht?", fragte sein Gegenüber zusehends genervt von Bens Unentschlossenheit, und wieder kam als Antwort nur ein interpretierbares Kopfwanken und ein summähnlicher Ton aus Bens Kehle. Er war hin und her gerissen zwischen Angst um Carinas Sicherheit, und dem Druck, den Mörder ihres Bruders zu finden. Er hatte es versprochen, doch die Situation hatte sich um 180 Grad gedreht. Die Chefin wollte es Carina Bachmann überlassen, ob sie den Lockvogel in einer fingierten Übergabe spielen wollte, Semir überließ es wiederrum Ben, überhaupt die Frage zu stellen.
"Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ihr etwas passiert, Semir.", sagte er in Gedanken und strich sich mit den beiden Daumen seiner ineinander verschränkten Fingern über die Lippen. Semir presste die Lippen zusammen, und verstand seinen Partner natürlich. Klar machte er sich Sorgen, aber es war die vielversprechendste Möglichkeit, den Mord aufzuklären, seit sie an diesem Fall arbeiteten. Ausserdem hatten sie jetzt den Druck, dass die Unterlagen morgen nach Holland verschickt wurden, und Drager dann wegen den illegalen Geschäften des Kartells hinter Gitter ging. Im dann nachträglich den Mord nach zu weisen, würde fast unmöglich werden.
"Ich werde dich zu nichts verleiten. Aber du weißt selbst, dass wir wohl bis morgen keine anderen Chance haben, Drager den Mord nachzuweisen." Ben nickte, wieder rasten die Gedanken durch seinen Kopf, wieder wog er ein Für und Wider ab, bis er schließlich den Hörer in die Hand nahm, und Carinas Handynummer wählte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis die junge Frau sich am Telefon mit ihrem Familiennamen meldete. "Hallo Carina, hier ist Ben." "Ben... was gibts denn noch?", fragte sie mit müder Stimme. Entweder hatte sie gerade etwas geschlafen, oder aber sie war gerade wieder in einer anstrengenden Situation zu Hause mit ihrer Mutter. Im Hintergrund konnte der Polizist die klagende Stimme der alten Frau hören, die nach ihrer Mutter suchte und rief.
"Ist alles okay bei dir?" "Jaja, nichts aussergewöhnliches. Warum rufst du an?" Ben druckste ein wenig herum. "Also... mit den Unterlagen können wir zwar vermutlich einen großen Teil des Kartells hinter Gitter bringen... allerdings wird es dann schwierig, den Mord deines Bruders nachzuweisen. Ich denke mal... dass dir das wichtig ist, oder?" Die Frage war eigentlich vollkommen überflüssig, aber Ben war ein wenig verlegen, weil er noch während des Gespräches überlegte, wie er die Frage verpacken konnte. "Ja natürlich ist mir das wichtig.", bestätigte Carina. "Wir müssen spätestens morgen die Unterlagen nach Holland schicken, und dann wird die Falle schnell zuschnappen. Wenn Drager erstmal als Teil des Kartells verhaftet ist, werden wir ihm den Mord nicht mehr nachweisen können.", erklärte er und seine Gesprächspartnerin hörte aufmerksam zu.
"Wir... wir bräuchten... deine Hilfe." "Meine Hilfe?", wiederholte sie und schien nicht zu verstehen. "Richtig... wir haben uns gedacht, dass du... vielleicht bei einer fingierten Übergabe, ihn zu einem Geständnis bringen kannst." "Bei der Übergabe der Papiere, die Drager verlangt?" "Genau. Du rufst ihn an und sagst, dass du einknickst... dass du Angst hast, oder so. Bei dem Treffen werden wir dich, mit allem was wir haben, schützen. Du gibst ihm die Sachen und forderst, dass du wenigstens wissen willst, wer deinen Bruder getötet hat." Ben konnte spüren, wie Carina am Telefon zu denken schien. "Wir können das nicht von dir verlangen. Ich verlange es auf keinen Fall... aber wir wollten dir sagen, dass das die einzige Chance ist, Drager als Mörder zu überführen. Ansonsten wird Drager für seine Handlanger-Dienste ein paar Jahre einfahren, und der Mord bleibt ungesühnt."
Ben klammerte sich mit schwitzenden Händen an den Telefonhörer und wartete gebannt auf eine Antwort. Er konnte Carinas Atem hören, er konnte immer wieder die Stimme ihrer Mutter vernehmen, die scheinbar orientierungslos im Haus herumging, auf der Suche nach ihrer eigenen Mutter. "Okay... ich mach es.", kam es dann irgendwann. "Ich werde Drager anrufen, und einen Treffpunkt mit ihm machen... sobald wie möglich." Ben atmete auf, doch Erleichterung wollte sich in seiner beklemmenden Brust noch nicht breitmachen. "Gut. Dann sagst du mir sofort Bescheid, wann der Zeitpunkt ist, damit wir alles vorbereiten können... Danke.", sagte Ben und nickte Semir zu, der sofort den Hörer ergriff und die nötige technische Ausrüstung von Hartmut anforderte.
Sportgeschäft in Maastrich - 14:30 Uhr
Nachdem Drager das Gespräch mit Carina Bachmann beendet hatte, blickte er gedankenverloren durch das kleine vergitterte Fenster, das zum Innenhof führte. Er war gerade bei seinem Kartellfreund Jos van Dyke, mit dem er sich zwei Tage zuvor noch auf der Raststätte getroffen hatte, um einige Dinge zu besprechen, als ihn ihr Anruf erreichte. "Was ist los? Das ist doch, was du wolltest.", sagte Jos auf holländisch, in selbiger Sprache antwortete ihm Drager. "Was ich wollte? Hör auf... wenn es nach mir ginge, hätte ich das Mädchen längst umgelegt." Sein Blick war verkniffen und seine Hand wanderte zu seinem Glas, das noch einen kleinen Rest dunkelbraunen Whisky enthielt. "Ach was... so ist doch alles in Ordnung. Wir haben die Beweise, mit der die Ratte uns erpresst hat. Also sind wir erstmal aus dem Schneider.", sagte van Dyke und zog an seiner Zigarette.
Drager lachte kurz, nachdem er den letzten Schluck des bitteren Alkohols in sich gekippt hatte. "Sei dir nicht so sicher. Die Bullen haben gestern abend Vesoski geschnappt. Einer der beiden war ständig bei Carina. Ich weiß nicht, mein Freund. Die Sache stinkt zum Himmel, der Sinneswandel kommt mir zu schnell." "Du meinst, sie arbeitet mit den Bullen zusammen? Was soll das bringen? Die Beweise, uns hochgehen zu lassen, haben sie. Warum sollten sie das tun?" Van Dyke zog an der Zigarette und blies den Dunst durch den Raum, während sein Kollege das leere Glas in der Hand drehte. "Ich weiß es nicht... ich bin einfach misstrauisch."
Für einen kurzen Moment herrschte Stille, bis van Dyke wieder das Wort ergriff. "Letztendlich musst du auf den Deal eingehen. Ansonsten fährst du ein, und das für lange Zeit. Und nicht nur du, sondern ich auch, und 10 oder 15 unserer Leute ebenso. Nur der Chef und zwei seiner engsten Vertrauten sind abgesichert, unabhängig davon, was in den Akten steht." "Richtig, und deshalb hat der Chef auch gut lachen, vor allem wenn er uns vorgibt, der Frau und ihrer Mutter kein Haar zu krümmen. Sonst hätte ich längst andere Seiten aufgezogen." Für einen Moment lachte der Verbrecher mit der Kippe auf. "Es konnte ja auch niemand ahnen, dass Carina die Erpressung weiterführt. Der Boss hatte ja gedacht, dass sie viel zu eingeschüchtert ist, wenn er Bachmann durch dich beseitigen lässt. Aber es ist schon eine Ironie, dass sich die eigene Familie gegen einen stellt."
Drager sah zu seinem Freund rüber und presste die Lippen aufeinander. "Vielleicht hätte es geholfen, wenn der Alte gegenüber seiner Tochter mal mit der Wahrheit rausgerückt hätte. Dass Björn nur ihr Halbbruder war, und sie ein Kuckuckskind aus einer Affäre zwischen ihm und ihrer Mutter. Vielleicht wäre dann alles einfach gewesen." Grummelnd setzte er hinzu, als er vom Tisch aufstand. "Es wäre vor allem einfacher gewesen, wenn wir die Frau auch gleich erledigt hätten. Dann wären die Akten niemals gefunden worden." Noch einmal setzte er das Glas an den Mund, um auch wirklich den letzten Tropfen auszutrinken, bevor er es ungehalten auf den Tisch knallen ließ. "Wir müssen los." "Alles klar, mein Freund. Aber ich sag dir, verlier nicht die Nerven bei der Übergabe. Wenn dem Mädchen etwas passiert, wird es keinen Ort geben, an dem du dich vor dem Boss verstecken kannst..."