Köln - 14:00 Uhr
Ben fuhr gerade mit seinem Dienstwagen, den die beiden Polizisten auch privat nutzen durften, vor dem Krankenhaus vor. Carina hatte einige Stunden bei ihm geschlafen und sich danach ein wenig in seinem Badezimmer frisch gemacht, bevor er sie zurück ins Krankenhaus fuhr. "Wenn du willst, gehe ich mit.", bot Ben der jungen Frau an, die ein Gespräch mit dem Arzt, der ihre Mutter gestern noch behandelt hatte, führen sollte, um alles weitere jetzt abzuklären. Sie hatte sich etwas gefasst, der erste brutale Schock war jetzt der Traurigkeit, aber auch der Gewissheit gewichen, dass es ihrer Mutter jetzt vermutlich besser ging, als vorher. Das Vergessen verschwunden, bildete sich Carina ein, dass sie sich jetzt wohl fühlte, und, wo sie auch immer war, wieder an alle schönen Dinge in ihrem Leben erinnern konnte, während sie im Gegensatz dazu die weniger schönen einfach vergessen hatte.
"Nein, wirklich nicht. Ich... ich muss das alleine schaffen. Du hast schon soviel für mich getan.", sagte sie und lächelte ein wenig, was ihr schon leichter fiel, als gerade eben noch. Ben nickte, er wollte sich nicht aufdrängen aber Carina das Gefühl geben, für sie da zu sein. "Okay. Du kannst mich ja anrufen... wenn du willst." Sie nickte und umarmte den Polizisten nochmal, bevor sie ausstieg und Ben nochmal zu winkte, bevor sie das Krankenhaus betrat. Der war sich immer noch nicht im klaren, welche Gefühle das wirklich waren, die er zu Carina in den letzten Tagen entwickelt hatte...
Gerade, als er den Motor seines Wagens wieder startete, klingelte das Telefon. Auf dem Display prangte groß "SEMIR", und Ben war wenig erstaunt... wie immer, wenn einer der beiden mal einen Tag frei hatte, passierte irgendetwas, was den Urlaub abrupt beendete. "Hätte mich auch gewundert, wenn du mich nicht an meinem freien Tag anrufen würdest.", meldete er sich ein wenig schelmisch. Doch dann war er erschrocken, über Semirs Stimmlage. Sie klang erschöpft, sie klang traurig... sie klang hoffnungslos. Und später, als Ben zu Jenny unterwegs war, hatte er sich eingebildet, ihr Weinen im Hintergrund zu hören. "Kannst du zu Jenny in die Wohnung kommen? Es ist dringend... es geht um Kevin." "Was ist passiert?", fragte Ben sofort und spürte, wie er das Auto aus der Kontrolle zu verlieren schien, obwohl er noch wie angewurzelt auf dem Parkplatz des Krankenhauses stand. "Komm bitte... ich erkläre es dir hier."
Ben verlor keine Zeit. Als er auf vor Jennys Haus sowohl Semirs BMW, als auch den Privatwagen von ihrem bekannten Mediziner Roland Meisner dort stehen sah, der normalerweise ein begnadeter Tatortmediziner war, und von Ben immer scherzhaft als "Leichenschnippler" tituliert, erschrak er nochmals. Dass er im Halteverbot parkte, war ihm völlig egal, er sprintete zur Haustür und riss beinahe die Klingel ab. Semirs Stimme erklang an der Gegensprechanlage. "Ben? Ich mache auf." Nach dem Signalton drückte der Polizist die Tür auf und war so schnell er konnte bei Jenny in der Wohnung.
Zunächst war er beinahe erleichtert, dass Meisner nicht vor einer Leiche kniete, sondern vor dem Sofa auf dem Jenny lag. Die junge Polizistin hatte jeglichen Arzt abgelehnt, doch kam nicht mehr aus einer Spirale aus Wut, Verzweiflung und Weinen heraus. Semir hatte dann Meisner angerufen, der auch eine allgemeinmedizinische Ausbildung hatte und Rückgriff auf diverse Beruhigungsmittel. Weil Jenny den Pathologen auch kannte, wehrte sie sich letzendlich nicht. Der Mediziner war ebenfalls geschockt von Semirs Nachricht, dass Kevin in Kolumbien angeblich den Tod gefunden hatte, doch er legte sein Augenmerk jetzt erstmal auf Jenny, die alsbald schläfrig wurde und sich auf ihre Couch im Wohnzimmer legte.
"Was ist passiert?", fragte Ben nochmals, genauso wie am Telefon und Semir zog ihn am Arm in Richtung Küche. "Annie war eben hier...", begann er langsam und Bens Augen wurden tellergroß. "Annie? Alleine?" Der erfahrene Polizist schüttelte den Kopf. "Nein, nicht alleine. Aber...", er stockte kurz ... "aber leider auch ohne Kevin." Ben sah zu Semir herunter, den Mund halboffen und es schien sich in seinem Kopf schon eine Art dunkle, böse Vorahnung abzuzeichnen. "Ne...", sagte er, als wolle er den Gedanken verscheuchen, bevor Semir ihn ausformulierte. "Kevin ist in Kolumbien angeblich eine Brücke heruntergestürzt im Kampf gegen einen Drogenboss, der Annie zuerst festgehalten und die beiden dann später verfolgt hatte."
Ben legte eine Hand vor den Mund, drehte sich von Semir weg und ging einige Schritte durch die Küche... eine typische Reaktion des Polizisten, der seine Wut, seine Trauer und Entsetzen meistens in Bewegung versuchte, zu verbergen oder auszudrücken. Mit beiden Händen stützte er sich auf das Fensterbrett und sah durch die Scheibe hinaus in den kalten, trüben und wolkenverhangenen Nachmittag. Semir wusste, dass Ben ebenfalls ein sehr enges Verhältnis zu Kevin hatte, im Gegensatz zu seinem besten Freund wusste er aber, wie es sich anfühlte einen engen Partner zu verlieren. Dreimal hatte Semir dieses Gefühl der Ohnmacht schon erlebt, einmal war es, im Falle von André, unbegründet. Die anderen beidem Male war sein Partner, Tom und Chris, in seinen Armen gestorben. Vor allem bei Tom, mit dem Semir ein sehr enges freundschaftliches Verhältnis hatte, war es schwer zu ertragen...
Bei Kevin war das Verhältnis anders. Es war kein Verhältnis dass sich die drei regelmäßig ausserhalb der Arbeit sahen, miteinander essen und trinken gingen, dass man gemeinsame Interessen hatte. Zwischen Semir und Kevin war das Verhältnis, seitdem der junge Kollege leichtsinnig sein Leben für Semir aufs Spiel gesetzt hatte, ein brüderliches. Sie wussten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten, und doch war es immer wieder zerrüttet worden, wie jetzt zuletzt durch Kevins Hilfe für Annie. "Annie hatte noch jemanden dabei... ein Kerl, der Kevin in Kolumbien geholfen hatte. Ein Fremdenführer oder so. Der hatte gesagt, dass der Fluss, in den Kevin gestürzt sei, keine Überlebenschance böte."
Semir sprach in Bens Rücken, er sprach vorsichtig, denn er sah, wie die breiten Schultern des Polizisten bebten. "Das heißt, sie haben Kevin gar nicht gefunden?" Kopfschütteln bei seinem besten Freund. "Nein, haben sie nicht." "Also könnte er noch leben?" Ben hatte sich zu Semir umgedreht, doch dessen Gesichtsausdruck war verkniffen. "Ben... welchen Grund gäbe es für diesen Juan, uns anzulügen und die Sache schlimmer zu machen, als sie ist? Sie wurden dort von schwer bewaffneten Rebellen verfolgt. Selbst wenn, beim unwahrscheinlichen Falle, dass Kevin den Fluss überlebt hat..." "Hör auf Semir!", unterbrach Ben seinen Partner, und seine Stimme wurde emotional aufgebracht. "Hör auf! Kevin ist nicht tot! Das kann einfach nicht sein!!" Semir spürte, dass sein Partner jetzt gerade die surreale Information über Kevins Tod erst bewusst wahrnahm, und er versuchte ihn zu beruhigen. "Ben... jetzt mach mal langsam." "Kevin wird Vater! Der hätte sich doch nie in eine solche Gefahr begeben! DAS KANN NICHT SEIN, SEMIR!!"
Der Polizist ging einen Schritt auf seinen Partner zu, und jetzt lösten sich auch bei ihm jegliche Emotion. Semir war nicht so nahe am Wasser gebaut wie sein Partner, eine Schwäche darin gab er höchstens vor seiner Frau zu, wo er kein Problem hatte zu weinen. Doch Ben war anders, und jetzt musste er von seinem Partner in den Arm genommen werden. Meisner, der gerade zur Küche kam, befürchtete, gleich die nächste Beruhigungsspritze aufzuziehen.
"Ist schon okay... Semir.", sagte Ben nach einer Minute leise, als würde er mit sich selbst reden, und löste die Umarmung wieder. Er spürte selbst, dass er kurzzeitig die Kontrolle verloren hatte, als er sich jetzt von seinem Partner wieder löste, und sich die Tränen, die sich in den Augen gesammelt hatten, wegwischte, bevor sie den Weg über die Wange fanden. "Wir müssen dorthin... wir müssen ihn suchen.", sagte er dann sofort zu seinem Partner. "Ich denke genauso wie du... aber ich weiß auch, dass wir ihn dort niemals finden werden. Die Brücke ist eine von hunderten irgendwo im Dschungel... im Dschungel wo sich angeblich Rebellen rumtreiben sollen, von dem Drogenkartell ganz zu schweigen." Die beiden Männer sahen sich an, und es wurde wieder klar, dass Semir zwar den gleichen emotionalen Gedanken hatte wie Ben, allerdings rationaler darüber nachdachte. "Wir müssen die kolumbianische Botschaft anrufen, damit die Behörden dort reagieren."
Ben reagierte nicht auf die letzten Worte. Er sah stumm an Semir vorbei auf das kleine, in diesem Moment so zerbrechlich wirkende Geschöpf auf der Couch, zusammengerollt mit geschlossenen Augen, als versuche Jenny ihren Bauch und ihr Kind vor dem Rest der bösen Welt zu schützen. Die Wangen waren gerötet und noch immer klang manchmal ein leises Schluchzen aus ihrem Mund. Dem jungen Polizisten zerbrach das Herz, er stand Jenny so nahe nachdem er sie getröstet hatte, als Kevin unschuldig im Gefängnis war, auch wenn es dabei zu einer Affäre gekommen ist. Trotzdem verstanden sie sich so gut, und es tat Ben unglaublich weh, sie so zu sehen. Was sie an Trauer und Schmerz empfand, gerade den Vater ihres Kindes, den Mann an ihrer Seite, verloren zu haben, konnte weder er noch sein bester Freund Semir auch nur im Ansatz nachvollziehen...