Jenny's Wohnung - 17:15 Uhr
Irgendetwas tun... irgendetwas musste sie tun. War es nur zum dritten Mal diese Woche das Badezimmer zu putzen, einkaufen zu gehen obwohl sie eh keinen Hunger hatte, oder mal den Schrank nach alten Klamotten ausmisten. Nur vom Rumsitzen, warten, hoffen, trauern und Angst haben würde Jenny wohl wahnsinnig werden. Die Unwissenheit über den Verbleib ihres Freundes war präsent in ihrem Hinterkopf, Appetitlosigkeit begleitete ihren Tag. Die Chefin hatte ihr drei Wochen Sonderurlaub genehmigt... nein, eher verordnet. Während Jenny die erste Woche wirklich brauchte, viel weinte und kaum das Haus verließ, brauchte sie in der zweiten Woche eine Beschäftigung. Das Abwarten machte sie mehr fertig, als alles andere. Sie war in der 9ten Schwangerschaftswoche, die Morgenübelkeit war mittlerweile gewichen, doch hin und wieder spürte sie, seit sie die Nachricht von Kevins vermeintlichen Tod bekam, ein Ziehen im Bauch, Schmerzen, die sie nicht kannte. Doch es war immer nur so kurz, dass sie es ignorierte und meistens nachts.
Nachts wurde die Trauer präsent. Sobald es draussen dunkel wurde, die junge Frau in der Wohnung das Licht anmachte, kam es ihr vor, als würden dunkle Schatten sie bedrohen. Dann sehnte sie sich nach Kevin, an dessen Anwesenheit sie sich in kürzester Zeit gewöhnt hatte, und die ihr jetzt so fehlte. Seine starken Arme, seine schützende Ausstrahlung, seine zwar monotone, aber Sicherheit schenkende Stimme. Jenny war kein ängstlicher Mensch, sie hatte ja auch zwischen ihrem letzten Freund und Kevin alleine gelebt... aber in Verbindung mit der Unwissenheit, der Trauer und der kompletten mentalen Situation drohte sie, in den Nächten zusammen zu brechen.
Immer wenn es unten an der Haustür klingelte oder an der Wohnungstür klopfte, schreckte Jenny auf. Plötzlich waren da eine Vielzahl von Gefühlen... Überschwängliche Freude, weil sie sich immer mal wieder einbildete, es wäre doch Kevin, der zurückkehrte. Hoffnung, dass es Ben oder Semir mit guten Nachrichten waren, gleichzeitig aber auch Angst, dass es die beiden Polizisten, allerdings mit schlechten Nachrichten waren. Unsicherheit, oft auch die Unlust, überhaupt jemanden zu sehen. Aber Semir und Ben, genauso wie Andrea kannten in der Hinsicht kein Erbarmen. Sie ließen die junge Frau nicht im Stich und holten sie nach und nach aus ihrem kleinen selbstgebauten Schneckenhaus. Andrea ging mit ihr zum Shoppen, Ben ging mit ihr ins Kino.
Vor allem Ben war Jenny sehr dankbar. Obwohl der gerade auch versuchte, so viel wie möglich mit Carina Bachmann, die er während des letzten Falls kennengelernt hatte, zu unternehmen, opferte er viel Zeit für Jenny. Sie telefonierten, sie trafen sich und redeten miteinander. Oft über Kevin, über die Arbeit, Jenny fragte auch oft, wie es denn mit Carina lief. Die junge Frau hatte vor zwei Wochen ihre demenzkranke Mutter verloren, und trotz der tiefen Trauer auch wieder Lichtblicke in ihrem Leben entdeckt. Die Freiheit, mal wieder auszugehen und Dinge zu tun, die sie in den letzten Jahren nie tun konnte, genoß sie, meist zusammen mit Ben. Aber der Polizist war auch voll und ganz für Jenny da... genauso wie er es war, als Kevin im Gefängnis saß, auch wenn sie damals eine Grenze überschritten haben.
Als Jenny jetzt die Wohnungstür öffnete, und Ben vor der Schwelle stand, hatte die Angst die Oberhand gewonnen. Bens Blick, sein Gesichtsausdruck sprachen Bände. Auch meinte die Polizistin eine leichte Rötung der Augen zu sehen, und ohne ein Wort zu sagen wusste sie, dass er keine guten Nachrichten bringen würde. Wortlos umarmten sich die beiden für einen innigen Moment, danach schloß die junge Frau die Tür hinter ihm. Die Frage nach Neuigkeiten sparte sich Jenny, als ihr Kollege langsam die Jacke auszog und sich auf einen Stuhl am Küchentisch setzte. "Ben... bitte sag es mir, wenn du es weißt.", war das Erste, was Jenny sagte. Sie wollte endlich Gewissheit, egal wie schmerzhaft sie letztendlich war. Der Wunsch, endlich Gewissheit zu haben war beinahe größer als weitere Mutmacher, die letztendlich doch nichts aussagten. Die ganze Trauer in Jenny staute sich auf, und wollte endlich ausbrechen, doch immer noch blieb sie in der jungen Frau drin, weil noch dieses letzte kleine Fünkchen Hoffnung sie aufhielt. Tränen wurden vergossen, doch der Schmerz begann einfach nicht zu heilen.
Ben seufzte, fuhr sich durch die leicht abstehenden langen Haare und sah kurz zu Boden. Er hatte weder Gewissheit, noch Mutmacher... nur noch mehr Vermutungen, Indizien, Hinweise darauf, dass Kevin den Sturz von der Brücke wirklich nicht überlebt hatte.
"Die... die Botschaft hat sich gemeldet und gesagt, dass sie im Fluss flussabwärts zwei Leichen gefunden haben. Eine... eine passt von der Beschreibung her auf Kevin. Aber nur von Größe, Statur und Haarfarbe.", sagte er langsam, vorsichtig, als wolle er sich mit den Worten an einen Abgrund herantasten, den er nicht überschreiten dürfe. "Sie sind aber nicht zu identifizieren... optisch." Jenny wusste, was das hieß. Oft genug gab es auf der Autobahn Unfälle, wo man auch nur noch anhand von Ausweispapieren feststellen konnte, wer das Unfallopfer wirklich war. Langsam ließ sie sich ebenfalls auf einem Stuhl nieder. "Aufgrund der... der Liegezeit im Wasser ist auch kein... Tattoo mehr zu erkennen... zumindest kein Motiv." "Aber dass ein Tattoo da war, konnte man erkennen?", fragte sie leise, und erkannte ihre eigene Stimme von eben nicht wieder, als sie sich noch so selbstsicher anhörte. Ben nickte stumm...
Informationen, die die Hoffnung wieder verkleinerten... so klein, dass fast nichts davon übrig blieb. "Sie haben noch ein total zerstörtes Handy gefunden, und schicken es uns zu. Wenn das Handy wirklich Kevin gehört, dann..." Bens Stimme stockte. Natürlich konnte man am Zerstörungsgrad des Handys nicht direkt ableiten, dass der Besitzer beim Sturz ums Leben kam, aber es war ein weiteres Indiz dafür, dass schwere Verletzungen garantiert sind. Ebenso der Verletzungsgrad der beiden gefundenen Leichen.
Jenny wusste nicht, wie sie auf diese neuen Informationen reagieren sollte. War die Hoffnung nun ganz weg? Sollte sie damit abschließen können, müssen? Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust, ihre Augen suchten einen Fixpunkt auf dem Tisch, doch sie fanden nichts. Nur ihre zitternden Hände fanden die von Ben auf der Tischplatte und hielten sie fest. "Es tut mir so leid, Jenny... ich weiß selbst nicht, was ich tun soll. Ich mache mir Gedanken, Semir macht sich verrückt... wir wissen beide nicht, ob wir nach Bo...", weiter kam er nicht, als Jenny ihm ins Wort fiel. "NEIN. Ihr fahrt nicht nach Bogota! Ich würde niemals damit zurecht kommen, wenn euch auch etwas passieren würde.", sagte sie sofort und hörte sich sofort wieder viel selbstsicherer an.
"Ich weiß... aber es fühlt sich so an, als würden wir ihn im Stich lassen... auch wenn es kaum Hoffnung gibt, und es so gut wie unmöglich ist, den richtigen Ort alleine zu finden..." "Nein, Ben. Semir hat eine Familie... zwei Kinder und eine Frau. Und ich brauche dich, Carina braucht dich." Die beiden sahen sich einander an, und Jenny spürte wie Ben, dass ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen, und sie versuchte das Gefühl herunter zu schlucken. Immer noch ließ sie die Trauer nicht aus sich heraus. "Kevin hätte das nicht gewollt... er würde euch das nie zum Vorwurf machen.", sagte Jenny leise und ergriff mit beiden Händen die Hände Bens. Und der konnte ihrem Satz innerlich zustimmen... Kevin hätte niemals verlangt, dass sich seine Freunde in so große Gefahr begeben, um ein so aussichtsloses Unternehmen zu starten. Und seine Freundin sah es ebenfalls so... die beiden sollten nicht ihr Leben riskieren, um ihr Gewissheit zu verschaffen. Diese Aufgabe würde sie ganz alleine tragen...