Lagerhalle - 9:20 Uhr
Jennys Kleinwagen hielt auf dem Seitenstreifen vor dem Industriegebiet, und ein wenig mulmig war ihr schon. Kevin hatte ihr von diesem Ort erzählt, sein Rückzugsort seiner Jugend. Hier kam er mit Annie zusammen, hier feierte er mit seinen Freunden die wildesten Parties und von hier zog er damals mit seiner Schwester los bevor die Katastrophe passierte, die sein ganzes Leben verändern sollte. Die junge Polizistin hatte lange darüber nachgedacht, ob sie das tun sollte, was sie gerade vor hatte... doch es gab keinen Weg zurück. Es brannte ihr auf der Seele, und sie wollte damit aufräumen. Mit einem Ruck stieg sie aus dem Wagen und stiefelte durch den morgendlichen Sonnenschein auf das Eingangstor der Halle zu.
Innen war es kalt und zugig, ihr Kommen blieb nicht unbemerkt. Noch bevor sie die ersten Meter der Halle durchschritten hatte, kamen zwei Jugendliche mit bunt gefärbten Haaren auf sie zu und nahmen eine bedrohliche Haltung an. "Hey... was wird denn das hier?", fragte einer und sie stellten sich der jungen Frau in den Weg. "Ich will zu Annie.", antwortete Jenny mit sicherer Stimme. Sie war Polizistin, und ließ sich sicherlich nicht von zwei Jugendlichen einschüchtern, auch wenn sie sich gerade nicht in allerbester Form fühlte.
"Was ist hier los?" Hinter den beiden Jungs tauchte der lange schlaksige Ole auf, der Jenny vom Sehen her kannte, schließlich hatte er sie mit Kevin zusammen gesehen, als er ihn bat, nach Annie zu suchen. "Du bist doch Kevins Freundin, oder?" Jenny nickte und Ole schickte die beiden Jungs mit einer Handbewegung weg. "Was willst du hier?" "Ich will zu Annie. Ich muss mit ihr reden." Oles Haltung hatte nichts feindseeliges, sie war abwartend, ein wenig verwirrt. "Reden? Ich kann mir vorstellen, dass du auf Annie nicht gut zu sprechen bist, nachdem was passiert ist. Und auf mich auch nicht." Er sagte es nicht schnippisch sondern seine Stimme war seltsam belegt. "Ich habe Kevin dorthin geschickt." Es war beinahe wie ein Geständnis, das Jenny aufblicken ließ. "Sein Dämon hat ihn dorthin geschickt...", antwortete sie leise. "Wo ist Annie?"
"Annie ist nicht mehr hier. Sie lebt momentan in einer betreuten Wohngemeinschaft für Drogensüchtige. Sie hat mir erzählt was passiert ist, und dass sie Kevins Wunsch erfüllen wollte.", erklärte der großgewachsene Punk. "Was willst du von ihr?", fragte er und klang immer noch ein wenig skeptisch. Er konnte nicht ausschließen, dass Jenny sich vielleicht doch an Annie rächen wollte. Wie Trauernde auf den Tod eines geliebten Menschen reagierten, konnte man ja nie vorhersehen. "Ich will nur mit ihr reden... ehrlich." Ole schien nachzudenken, doch das leicht flehende "Bitte" aus Jennys Mund ließ ihn umfallen. Er gab der Polizistin die Adresse der WG.
Wohngemeinschaft - 9:35 Uhr
Eine WG für Drogenabhängige war meist die letzte Chance für Leute, die an Stoff oder an der Nadel hingen. Hier konnten sie leben, untereinander Erfahrungen austauschen und wurden von Therapeuten betreut. Es war kein Gefängnis, keine Klinik und leider immer auch Umschlagplatz für Dealer, weil sie hier an leichte Kundschaft kommen. Jenny brauchte, nachdem sie den Wagen auf einem nahegelegten Parkplatz abgestellt hatte, gar nicht lange suchen. Annie saß auf einer niedrigen Mauer vor dem großen Anwesen am Bürgersteig. Sie hatte gerade mit einem anderen Mädchen geredet, das jetzt die Straße weiterging. Mit ihrer roten auffälligen Kurzhaarfrisur blickte die Frau auf und erkannte die Polizistin. Eine Mischung aus Erstaunen und sogar ein wenig Ängstlichkeit legte sie auf ihr Gesicht, als Jenny näher kam.
"Hi..." "Hey... was machst du denn hier?" Annies Stimme klang unsicher. Würde Jenny ihr Vorwürfe machen? Sie hatten sich zuletzt gesehen, als sie und Juan Jenny die schlimme Nachricht überbracht hatten. Damals war sie völlig fertig, und wusste scheinbar nicht, auf wen sie mehr wütend sein sollte. Jetzt erschien sie Annie gefasst, zwar mit müden Augen aber festem Blick... gefasster, als die Rothaarige selbst war. "Ich wollte mit dir reden...", sagte Jenny und hatte ihre frierenden Hände in die Manteltasche gesteckt, während sie auf Kevins Ex-Freundin heruntersah.
Annie rutschte ein wenig und gab ein Stück ihres Kissens frei, auf dem sie saß damit sie auf der kalten Steinmauer nicht zu sehr fror und die Polizistin nahm dieses stumme Angebot an. Ein kurzer Blick zu der dunkelhaarigen Frau, und ein wenig fragte sie sich: Was wollte sie mit ihr reden? Warum war sie hier? Aber Jenny kam sofort zur Sache. "Ich habe Kevin jetzt ein Dreivierteljahr gekannt... und ein halbes Jahr waren wir zusammen.", begann sie mit ruhiger Stimme, ohne Annie anzusehen. "Ich habe viel über ihn erfahren... von ihm und von anderen. Manchmal hatte ich den Eindruck, ich würde ihn ganz genau kennen, und manchmal glaubte ich, er sei ein fremder Mensch." Dann glitt ihr Kopf zu Annie herüber, die stumm zuhörte. "Was war er für ein Typ? Ich meine früher, bevor Janine umgebracht wurde?"
Diese Frage stellte sich Jenny schon so lange. Sie hatte Kevin als geheimnisvollen, schweigsamen Polizisten kennen gelernt. Jemand, der nicht gerne von sich erzählte, der sich in manchen Momenten einen Schutzwall um seine Seele aufbaute und der nur wenige Menschen dort hinein ließ. Jenny war eine davon. Er erzählte ihr von der Mordnacht, dass er Drogen genommen hatte danach, und warum er dann zur Polizei ging. Er erzählte, dass er auch noch während seines ersten Falls mit Semir abhängig war. Und von seiner Zeit in der Gang hatte er erzählt, was für Dinger er gedreht hatte, von den wilden Konzerten und den tollen Erlebnissen. Nur was für ein Typ er war... das hatte er nie gesagt.
Annies Lippen zitterten ein wenig, ob von der Kälte oder wieder aufkommender Trauer wusste Jenny nicht. "Kevin war früher ganz anders. Ich war gerade von einer älteren Freundin mit zur Gang genommen worden, als ein Boxkampf dort stattfand." Ein wenig musste sie, ob der Erinnerung nun lächeln, doch es wurde zu einem bitteren Lächeln. "Er stand mit seinen grün gefärbten Haaren dort im Ring, und boxte gegen einen 18jährigen, der einen halben Kopf größer und 15 Kilo schwerer war als er. Ich glaube, er hat die Prügel seines Lebens kassiert. Zwei Stunden später hab ich ihn angesprochen, warum er so blöd sei gegen so einen Koloss in den Ring zu steigen. Da hat er gesagt, dass der Kerl seine kleine Schwester damals auf dem Schulhof angemacht hatte, obwohl sie ein Kind war. Das war Kevin."
Es entstand eine kurze Pause, bevor Annie weiter redete: "Er war früher viel offener. Er hatte soviel von sich erzählt, er war immer gut drauf, wollte im Mittelpunkt stehen. Wo er auftauchte war sofort gute Laune, denn Kevin hat andere mit seiner Energie und seinem Witz sofort angesteckt. Jerry hatte ihn mal als hyperaktives Kind bezeichnet." Wieder ein kurzes Auflachen, und diesmal lächelte auch Jenny. Das war es, was sie erfahren wollte... hatte wirklich nur Janines Tod das aus dem jungen Mann gemacht, was er am Ende war. Ein schweigsamer verschlossener Mann, der gegen sich selbst kämpfte, immer wieder Rückschläge erlebte. Angst vorm Versagen, Angst davor Menschen zu verlieren, die ihm nahe standen?
"Als wir... als wir zusammen kamen wurde er ein kleines bisschen ruhiger. Da habe ich neue Seiten an ihm kennengelernt. Er konnte romantisch sein, eigentlich etwas, was ich nie von ihm erwartet habe. Er hatte bei mir manchmal seine Wildheit, in die ich mich verliebt habe, komplett abgelegt. Und ich habe noch etwas von ihm kennengelernt..." Jenny blickte auf. "Was denn?" "Unbeherrschtheit. Kevin neigte zur Gewalt. Niemals gegen mich, auch wenn wir uns manchmal lauthals stritten. Aber gegen andere. Ich denke, dass er das seinem Vater zu verdanken hat." Die junge Polizistin nickte: "Sein Verhältnis zu seinem Vater kenne ich." Annie fuhr sich mit der Zunge kurz über die Lippe. "Wenn wir auf Demos waren, hat er sich mit anderen mit den Faschos oder den Bullen..." für einen Moment verharrte sie "Sorry... mit den Polizisten angelegt. Wenn mich ein Typ nur schräg angesehen hat, ist er ausgeflippt. Auch im Bezug auf seine Schwester war er nicht zimperlich."
Jenny wurde es mulmig, aber sie hatte etwas ähnliches geahnt. Kevin hatte ihr ja erzählt, dass er damals viel Wut im Bauch hatte, was er versuchte, in seinem Liedtexten zu verarbeiten. Offenbar bestand sein Ventil auch noch aus Gewalt. "Im Boxring hatte er einen Jungen mal zu Tode geprügelt. Der Junge ist zwar letztendlich, soweit ich weiß, an einer Überdosis gestorben, aber wenn Kevin rechtzeitig aufgehört hätte..." Ein wenig wippte sie mit dem Kopf zur Seite. "Der Junge war der Bruder von Janines späterem Mörder... und wahrscheinlich der Grund. Und als ich Schluss gemacht hatte, hat er aus Eifersucht meinen späteren Freund ins Krankenhaus geprügelt. Das war damals, das letzte Mal, dass ich mit ihm geredet habe. Einige Monate später ist Janine gestorben, und Kevin war fort. Als ich ihn jetzt wieder gesehen habe... war er komplett verändert."
Jenny konnte nicht sagen, wie lange sie zusammen auf der Bank saßen, und sie einfach nur an Annies Lippen hing, was sie von dem Mann erzählte, der der Vater ihres Kindes war. Sie stellte Fragen, Annie erzählte, und es war keinerlei böses Blut zwischen den beiden Frauen. Die junge Polizistin spürte, dass Annie unter Kevins Tod ebenso litt, und sie wusste, dass nicht Annie Schuld daran war, dass er nach Kolumbien gefahren ist. Als die junge Punkerin noch einmal auf den Moment, als Kevin abstürzte ansprach, traten ihr Tränen in die Augen, und Jenny legte einen Arm um sie. Sie waren im Schmerz um einen Mann vereint.
"Ich... ich wollte nochmal mit Juan sprechen. Weißt du, ob er noch hier ist?", fragte sie dann nach einem kurzen Moment der Stille. "Ich will ihm nur nochmal danken, dass er versucht hat, Kevin zu helfen." "Wo er ist, weiß ich nicht... aber er hat mir seine Handynummer gegeben.", sagte Annie und nannte der jungen Frau die Nummer. Dann griff Jenny in ihre Manteltasche und nahm ein Bild heraus. "Das wollte ich dir geben. Kevin hatte es zusammen mit einem Liedtext, den er offenbar nach eurem Beziehungsaus geschrieben hatte, aufbewahrt." Annie musste sich eine Faust vor die Lippen halten, als könne sie ihre Emotionen damit unterdrücken, als sie auf das Bild schaute, was sie und Kevin in einem kleinen Fotohäuschen zusammen gemacht hatten. Zwei Jugendliche, die befreit und verliebt in die Kamera lachten, Wange an Wange. Kevins ärmelloses kariertes Hemd, und ihr Top mit den Wassermalfarben und dem rutschenden Träger. Seine Zeilen darüber, dass ihre Zeiten vorbei waren, und nie mehr wieder kommen würden und dass ihm nur die wunderschöne Erinnerung bliebe. Jenny war stolz auf sich, über diesen riesengroßen Schatten gesprungen zu sein, und sie fühlte, dass es ihr gut tat, die Stärkere zu sein, als sie nochmals den Arm um Annie legte, die den Weinkrampf nicht mehr zurückhalten konnte. Danach bedankte sie sich mehrfach bei der jungen Polizistin...