Dienststelle - 17:15 Uhr
Es dunkelte bereits im Büro der beiden Autobahnpolizisten, so dass Semir für die letzten Buchstaben zum Abtippen der Zeugenaussagen doch noch die Schreibtischlampe anknipsen musste. Ansonsten wurde der Raum von den großen Monitoren an der Wand hinter Ben beleuchtet, die kühle Deckenbeleuchtung, bestehend aus Neonröhren, benutzten die beiden Kommissare nie. Sie waren vorhin bei Anna Engelhardt, die jetzt bereits Feierabend hatte, und berichteten was sie bisher zu dem Mordfall Heribert Greuler herausgefunden hatten... also war das Gespräch recht schnell beendet. "Glauben sie, die Mutter der beiden Mädchen käme als potentielle Täterin in Frage?", fragte sie zum Abschluß des Gespräches. Semir zuckte mit den Schultern und setzte einen skeptischen Gesichtsausdruck auf. "Ich weiß nicht. Wenn man so wütend auf einen Menschen ist, der seinen Kindern etwas angetan hat... dann sticht man vielleicht ein paar Mal mit dem Messer zu... aber dann gerät man in Panik, man versucht die Leiche verschwinden zu lassen... man ist es doch nicht gewöhnt, jemanden umzubringen." Ben stimmte seinem Partner nickend zu, als dieser fortfuhr: "Aber man bindet die Leiche dann doch nicht in dieser Haltung an die Autobahnbrücke und weidet sie aus. Das ist doch viel zu geplant und beabsichtigt." "Und selbst wenn sie ihn auf diese Weise hätte quälen wollen, und ihr würden diese Skrupel fehlen, glaube ich, dass sie in diesem Kontext noch ganz was anderes... entfernt hätte.", fügte Ben an, und machte mit Zeige- und Mittelfinger eine Scherenbewegung.
"Vielen Dank für den Gedankengang, Herr Jäger...", meinte die Chefin ein wenig ironisch. "Im Ernst. Ich glaube eher dass wir es hier mit ganz was anderem zu tun haben. Vielleicht ein Mafiamord... die lassen sich doch immer mal etwas abscheuchliches einfallen, um abzuschrecken. Vielleicht sollten wir uns morgen mal umhören, mit wem Greuler im Knast so Kontakt hatte." "Als Kinderschänder? Vermutlich nicht alzu viel... aber versuchen können wir es mal." Die Chefin verabschiedete sich danach, und jetzt, kurz vor Feierabend, warf auch Semir seine dick gefütterte Jacke um die Schultern. "Andrea ist heute mit den Kleinen schwimmen. Für ein Bierchen hätte ich noch Zeit.", meinte Semir in Richtung seines Partners, der seinen Monitor ausschaltete, und ebenfalls die Jacke anzog. "Ich bekomme jetzt noch Besuch.", entschuldigte der sich.
Semir lächelte, zog eine Augenbraue hoch und drehte den Kopf ein wenig: "Oh... Kann man behilflich sein?" "Ganz sicher nicht, Casanova. Ich hab Carina zum Essen eingeladen, ganz gemütlich.", meinte Ben lächelnd ob des Scherzes seines besten Freundes. Der hatte überhaupt kein Problem damit, auf das Feierabendbier mit Ben zu verzichten, ob solch einer Alternative für seinen Partner. "Na, dann wünsche ich euch guten Appetit.", sagte er und die beiden verabschiedeten sich auf dem Parkplatz vor der Dienststelle.
Während Semir den Heimweg antrat, nahm Ben einen Umweg durch die Stadt um noch das Essen und einen guten Wein einzukaufen. Er hatte davon eigentlich wenig Ahnung, weil er kein Weintrinker war, also ließ er sich im Fachgeschäft beraten und hoffte, damit auch Carinas Geschmack zu treffen. Die Wahl fiel auf einen Weißwein, der gut zu Pasta passen sollte. Zuhause sprang er schnell unter die Dusche und knöpfte sich gerade danach das Hemd zu, als es an der Tür klingelte. Über den Summer ließ Ben die Haustür aufschnappen, und Carina fuhr mit dem Fahrstuhl in die zweite Etage des Hauses, wo Ben seine teuere Wohnung hatte. Die junge blonde Frau war verhüllt in einen Wintermantel, den sie mit Bens Hilfe, nachdem sie sich mit beinahe scheuen Küssen auf die Wange begrüßt hatten, entgegen nahm und zur Garderobe trug.
"Guck mal, den hab ich zum Essen mitgebracht... ich kenn mich eigentlich nicht aus, aber im Geschäft haben sie gesagt, der würde gut zum Essen passen.", sagte Carina und zog aus einer Art Geschenktüte exakt die gleiche Flasche Wein, die Ben vor einer Stunde gekauft hatte. Die beiden lachten über diesen lustigen Zufall und begannen gemeinsam zu kochen. Ben briet Scampis mit Zwiebeln in einer Pfanne an, während Carina die Tomaten würfelte, die sie danach dazu gab. Im Topf daneben kochten die Spaghetti gemütlich vor sich hin.
Ben tat es gut, den Alltag ein wenig zu vergessen, auch wenn Carina ihn während des Essens auch mal fragte, wie sein Tag war. Er vermied es, über den abscheulichen Mord zu berichten, und er war froh, dass er für ein paar Stunden auch mal von den Gedanken um Kevin abgelenkt war. Carina ging es ebenso. Der schmerzvolle Verlust ihrer Mutter und ihres Bruders steckte noch immer tief in ihrem Herzen, aber sie verarbeitete diesen Verlust, in dem sie langsam begann, wieder für sich zu leben nachdem sie die letzten Jahre damit verbracht hatte, ihre Mutter liebevoll zu pflegen... und damit sehr viel auf ihre Schultern geladen hatte, psychisch und physisch. Dieser ganze Druck, diese ganze Last schien abzufallen und half, die Trauer zu verarbeiten.
Carina kam nur langsam aus ihrem Schneckenhaus heraus, und Ben hatte ihr die letzten Wochen, selbst unter Kevins Verlust leidend, damit geholfen... und half sich dabei selbst. Er hatte sie begleitet, als sie die Formalitäten zu beiden Beerdigungen erledigt hatte, die Formalitäten zum Erbe und ähnliches. Ausserdem war sie seit Ewigkeiten mal wieder aus, sie waren zusammen shoppen und gingen abends ins Kino. Ja, sie hatten sich mehr als nur angefreundet, Ben konnte die Schmetterlinge im Bauch, wenn er bei Carina war, nicht mehr verleugnen. Wo er vor Wochen noch unsicher war, ob es "nur" Mitleid und Hilfsbereitschaft war, war er sich jetzt sicher... er hatte sich verliebt. Nur ob Carina mehr als nur Freundschaft sah, wusste er nicht.
Für Carina dagegen war Ben sowas wie der rettende Engel, als alles um sie herum einstürzte. Wie eine Schutzhaube, die sie über sich zog, damit die Gesteinsbrocken, die von oben herab fielen, sie schützte. Nicht nur, dass sie ihm beistand, während den Ermittlungen um den Mord an ihrem Bruder, sondern auch nach dem Tod der Mutter. Die junge Frau hatte niemanden mehr und spielte ernsthaft nach der Beerdigung ihrer Mutter aus Köln wegzuziehen, das Haus zu verkaufen, alles hinter sich zu lassen. Doch diese Person, dieser Polizist mit den Wuschelhaaren, hielt sie davon ab. Mit dem sie endlich wieder lachen konnte, was sie zuletzt vor allem mit ihrem Bruder getan hatte, bei dem sie sie selbst sein konnte und wieder ihre Fröhlichkeit zu erlangte. Sie fühlte sich in den letzten Monaten nicht als starke Frau obwohl Ben ihr mehrmals sagte, dass er beeindruckt war und ist, wie sich Carina um ihre demenzkranke Mutter gekümmert hatte, während ihr Bruder das Geld verdiente.
Sie redeten nach dem Essen bei einem Gläschen Wein am Essenstisch so viel, dass der Uhrzeiger in Rekordzeit über die Zahlen zu fliegen schien. Carina erzählte von ihrer Kindheit, dass sie auf dem Land aufgewachsen war, bis ihre Eltern und ihr Bruder in die Stadt zogen, dass sie eigentlich Tierärztin werden wollte, und sich so vieles geändert hatte, als ihr Vater gestorben war. Ben wiederrum erzählte von seiner Kindheit, dass es schwer war unter seinem millionenschweren Vater, der den Sohn als Polizisten nur schwer akzeptieren konnte. Dabei schämte sich der junge Kommissar immer ein wenig, weil er etwas als Belastung empfand, um das andere, die es schwerer hatten, beneideten. Er hätte einen ganz leichten Weg gehen können, bei seinem Vater arbeiten und irgendwann die Firma übernehmen... er wählte den schwereren.
"Ich finde das toll, dass du das gemacht hast... und deinen eigenen Weg gegangen bist.", sagte Carina lächelnd und ergriff, ganz automatisch, Bens Hand, die auf dem Tisch lag. Es war nur eine Berührung, eine Geste, die in Ben eine Gänsehaut auslöste. Er war bei Frauen normalerweise immer recht locker, flirtete gerne und meist mit (mehr oder weniger erfolgreichen) flapsigen Sprüchen. Bei dieser Frau, die so herrlich "normal" erschien wie Carina, empfand er das zum ersten Mal als unangebracht. Natürlich scherzte er auch mit ihr, trotzdem war es anders. Und als sie jetzt seine Hand ergriff, war er so perplex, dass er für einen Moment nicht wusste, wie er reagieren sollte.
Carina nahm ihm die Entscheidung ab, als sie auf die Uhr sah und meinte: "Puh, es ist schon spät... ich sollte vielleicht nach Hause fahren." Der Zeiger der Uhr zeigte bereits kurz vor Mitternacht an und Ben hätte schwören können, nach seinem Gefühl wäre es erst kurz nach zehn. "Soll ich dir noch helfen mit Abräumen?" "Ach was, das mach ich gleich.", sagte Ben schnell und winkte ab, spürte seinen Herzschlag als er Carina ansah. Er wollte nicht, dass sie ging. Er wollte, dass sie bei ihr blieb, einfach nur mal nicht die ganze Nacht alleine sein. Und auch die junge Frau bewegte sich vom Stuhl weg zur Garderobe so zögerlich, als spüre sie die Anziehungskraft. Sie hatte die Jacke bereits angezogen, stand auf dem Weg zur Tür als die beiden sich zum Abschied nochmal feste umarmen: "Es war ein wunderschöner Abend.", sagte Carina und blickte dabei tief in Bens Augen. Er kannte diese Aufgeregtheit, diese Hemmung, die er gerade empfand überhaupt nicht... und er war es nicht gewohnt, Überwindung aufzubringen... trotzdem tat er es. Es war wie eine Aufforderung, als Carina leicht nach oben sah und die Augen schloß... eine Aufforderung, die Ben sich nicht zweimal geben ließ, eine Erleichterung die Grenze zu überwinden, und die Frau in seinen Armen zu küssen...