Beiträge von Campino

    Dienststelle - 12:00 Uhr


    Semir und Ben hingen beinahe atemlos an den Lippen des Pastors. Ein Bild, zusammengesetzt wie ein Puzzle aus Sätzen, Informationen und Gedankenfetzen ergab sich langsam in den Köpfen der Kommissare. Doch das Entsetzen in den Augen und in der Stimme des Geistlichen konnten sie noch nicht recht deuten. "Herr Busche... was ist los? Kennen sie diese Zitate?", fragte Semir gespannt, als der Pastor eben jene Zitate, die Tobias seinem Bruder an den Kopf geworfen hatte, bevor er zustach, wiederholte. Er schien sie nochmal und nochmal zu lesen, als müsse er sich genau erinnern woher er die Sätze kannte, die ihn nun so in Aufruhr versetzte hatten. Ben, der scheinbar im Fadenkreuz des Mörders stand, fühlte sich immer unbehaglicher.
    "Diese Zitate habe ich schon einmal gelesen. Es... es stammt aus einem Buch.", sagte er nachdenklich und hatte die Brille endgültig abgesetzt. Langsam fand er seine Selbstsicherheit wieder. "Es gibt Abweichungen der Bibel. Menschen, die die Bibel anders gedeutet haben, umgeschrieben haben. Sie glauben zwar an das Christentum wie sie und ich... aber sie deuten Gleichnisse anders und können somit Sachverhalte völlig falsch widergeben. Wenn sich dann Gruppen finden, die an diese Abweichungen glauben, können gefährliche Strömungen entstehen."


    "Sie meinen so eine Art Sekte?", fragte Semir interessiert und der Pastor begann, immer noch ein wenig nervös, seine Brille zu putzen. "Ich möchte es nicht Sekte nennen. Letztendlich glauben solche Gemeinschaften einfach nur an andere Auslegungen der Bibel. Viele sind harmlos, andere dagegen nicht. Letztendlich könnte man das Christentum ebenfalls als Sekte bezeichnen, oder?" Er schaute kurz in die Runde, und die beiden Polizisten nickten. Ben stand auf, meinte er könne einen Kaffee vertragen und bot auch Semir und Karl Busche an, die beiden annahmen.
    "Woher kennen sie diese Sätze von Tobias. Es kann uns vielleicht helfen, weitere Taten zu verhindern.", fragte der erfahrene Kommissar. "Ich habe mich mit einer Abwandlung befasst, vor 10 oder 15 Jahren irgendwann. Das Buch nennt sich "Hierarchie der Engel" und ist bereits Jahrhunderte alt. Darin wird die Schöpfung des Menschen als Grundübel beschrieben. Adams Sünde ist zwar auch in unserer Bibel der Ursprung der Sünde, allerdings ist Gott gerecht und verzeiht jedem Menschen seine Sünde. In der "Engelsbibel" nenne ich sie mal, ist dies ein wenig anders." Es klang interessant und die beiden Polizisten hörten aufmerksam zu. Karl Busche unterbrach kurz, rührte in seinem Kaffee und nahm einen Schluck, bevor er fortfuhr.


    "Die Engel des Herrn übernehmen so etwas wie die Exekutive, da Gott selbst die Sünder nicht bestraft. Sie sehen sich als vernachlässigt an und beginnen einen Krieg gegen den Menschen. Der Anfang der Apokalypse an deren Ende das Aussterben der Menschheit steht, um Gottes Fehler, die Schöpfung des Menschen, zu berichtigen. Damit wieder Frieden auf Erden herrscht." "Aber wem nutzt der Frieden, wenn es keine Menschen mehr gibt?", wunderte sich Ben und der Pastor schmunzelte: "Tieren und Pflanzen. Auch sie sind Gottes Geschöpfe, die allerdings in den Augen der Engel vom Menschen vernichtet werden. Der Verfasser dieser Bücher, dieser Gleichnisse sah sich selbst als dieser Engel und war erfüllt vom Menschenhass. Leider hat er vereinzelt Anhänger gefunden..."
    "Und diese glauben nun, dass sie Engel sind, und müssten in Gottes Namen Sünder bestrafen?", fragte Semir beinahe ungläubig. "Das würde erklären, warum es einen verurteilten Kinderschänder und einen Betrüger erwischt hat.", sagte Ben und sein Partner setzte hinzu: "Und Dennis wegen dem Streit mit den Eltern." "Beschränken sie sich nicht auf Verbrecher, oder Menschen, die die 10 Gebote nicht beachtet haben. Für diese Engelsgläubigen, oder ich habe sie früher auch gern als "Engelskrieger" bezeichnet, sind alle Menschen gleichermaßen Sünder. Ausserdem treibt sie die Eifersucht an, weil Gott ihr Herr den Menschen jedes Übel durchgehen lässt, während er zum Beispiel den Erzengel wegen seines Fehlverhaltens sofort bestraft und in die Unterwelt verbannt hat.", erklärte der Pastor.


    Semir wollte nochmal zusammenfassen, was sie jetzt erfahren hatten: "Also es gibt da eine Person oder vielleicht sogar eine Gruppe von Menschen, die glauben sie seien Engel. Das heißt, wenn wir Pech haben, haben wir nicht nur einen Verwirrten hier in der Gegend rumlaufen." "Das ist nicht auszuschließen. Es gab immer mal Gruppen, Gemeinschaften von solchen Menschen. Aber größtenteils recht friedlich, sie lehnen die Menschen einfach ab, weil der Glauben an Gott und Moses Gebote, in denen ja auch das Gebot "Du sollst nicht töten" steht, stärker ist. Sie leben für sich alleine. Aber es gab oder gibt auch Gruppen, die radikalisiert sind und den Schriften so weit Glauben schenken, dass sie die Bestrafungen tatsächlich ausführen."
    Die beiden Polizisten blickten sich kurz an und atmeten tief durch. Es hörte sich alles surreal an, wie ein abgedrehter Horrorfilm, den sie gerade im Fernsehen sahen. Aber bei allem, was in der Welt passiert, dass Menschen aus Glaubensgründen Kriege führten, war es doch fast wieder realistisch. Ein Irrer, der den wirren Theorien Glauben schenkt, Überzeugungskraft hat, andere mitzuziehen. Dazu Skrupellosigkeit, und schon hat man einen Bestrafer in Engelsgestalt. Ben bekam Gänsehaut, als er sich erinnerte neben dem bleichen Mann in der Kirche gekniet zu haben und er konnte im Ohr die flüsternde Stimme wieder vernehmen. Schnell trank er einen Schluck Kaffee.


    "Waren sie dabei, als Tobias umgekommen war?", fragte nun der Pastor und Ben nickte: "Ich hatte ihn verfolgt, als er vor den Zug gelaufen ist." "Ein Mensch, der einen Engel jagt, stellt sich als einer der größten Sünder dar. Es ist Frevel, es ist das Schlimmste was es gibt." Der Polizist zuckte mit den Schultern und meinte ungewollt lustig: "Ich konnte nicht erkennen, dass er ein Engel ist..." "Ich will ihnen damit sagen, dass sie in Gefahr sind." Das war Ben sowieso klar, spätestens nach dem Ziegenbock im Keller. "Aber die Sache hat auch etwas Gutes... einen Sünder, der einen Engel jagt... um den wird sich vermutlich der Anführer der Gruppe kümmern.", sagte er und blickte die beiden Polizisten an.
    "Leider können wir den Kerl aber nicht grundlos festnehmen. Es gibt keine verwertbaren Spuren an den Tatorten um etwas nachzuweisen. Wir können den Typ nicht einfach verhaften, nur weil er in der Kirche hebräisch betet und auf der Parkbank vor Bens Haus sitzt.", sagte Semir. "Wir können ja abwarten, bis er mich aufschlitzt.", meinte Ben nun sarkastisch in Semirs Richtung. "Können sie sich das eigentlich erklären? Das Aufschlitzen?" Der Pastor nickte sofort. "Wenn ein Mensch stirbt, stirbt nur sein Körper. Seine Seele, die im Körper wohnt, fährt in den Himmel. Das möchten die Engel natürlich nicht, sie wollen die Seele in die Unterwelt verbannen. Das geht aber nur, wenn sie die Seele finden." Wieder blickte der ältere Mann zu Ben. "Sie brauchen also keine Angst zu haben, dass der Typ eine Bombe unter ihr Auto klemmt, oder sie auf Distanz erschiesst. Vielleicht ist das ein Trost..." Ben wog den Kopf hin und her: "Geht so..."

    "Und wo sitzt die Seele des Menschen? Wo sucht er danach?", fragte Semir weiter. "Es ist eher bildlich gemeint. Und wo die Seele wohnt?" Der Pastor setzte die Brille wieder auf die Nase und schmunzelte nun endlich wieder. "Das, mein Junge... bleibt jedem selbst überlassen..."

    Was er übersetzt hat, hat er ja gesagt... das erste Kapitel, die Schöpfung bis zum sechsten Tag, bis zur Erschaffung des Menschen und Gabriels eigener Zusatz, dass dies ein Fehler war...

    Das "Oh mein Gott" des Pastors hat sich auf die Sätze von Tobias bezogen, die im Protokoll stehen ;)

    Dienststelle - 11:30 Uhr


    Semir schaltete sofort auf Polizeimodus. Seine Ahnung von gestern abend, dass der Fall mit Tobias' Suizid noch nicht abgeschlossen war, war mal wieder richtig. Auf sein kriminalistisches Gespür konnte sich der erfahrene Ermittler bisher immer verlassen. Ben brauchte noch ein Weilchen, bis er auftaute, und sein bester Freund konnte sich nicht erklären, was an der Begegnung mit diesem merkwürdigen Mann so besonders war, dass der junge Mann so mitgenommen war. Was hatte es in ihm ausgelöst? Zum Reden brachte er ihn bis zur Dienststelle noch nicht, aber dafür wäre sicher später noch Zeit. Semir hatte sich die Tonaufnahme, die zwar verrauscht und undeutlich klang dadurch, dass Ben dass Handy in der Jeanstasche hatte, aber doch verständlich war, schon angehört. Doch sofort nach den ersten Wortfetzen hatte er den Kopf geschüttelt.
    "Es hört sich schon nach einer Sprache an... es ist nichts ausgedachtes, oder?", meinte Semir, während er den BMW in Richtung Dienststelle steuerte und Ben nickte: "Als er sprach war ich von der Situation ein wenig überrascht, aber jetzt wo ich es höre... viele sch- und ch-Laute." Doch sofort schüttelte er den Kopf, beide waren keine Sprachgenies und sie mussten sich wohl auf das einzige Genie verlassen, dass sie in ihrer direkten Umgebung hatten... Hartmut Freund.


    Die beiden Polizisten wurden von manchen Streifenbeamten, die auch am Sonntag Tagesdienst hatten, überrascht angesehen als sie in ihr Büro marschierten, doch alzu ungewöhnlich war es nun doch nicht, dass Semir und Ben auch am Wochenende arbeiteten. Semir griff sofort nach dem Hörer und wählte Hartmuts Handynummer, im Wissen, den rothaarigen Mann gerade mitten aus dem Wochenende zu reißen. Doch prompt gab es eine Abfuhr: "Lieber Anrufer, hallo Semir, hallo Ben. Warum ich euch auf meiner Mailbox-Ansage grüße? Weil ich weiß, dass ihr die Einzigen seid, die mich selbst am Wochenende anrufen. Doch es tut mir leid, ich bin auf dem Weg zur E3 in Los Angeles und komme erst am Dienstag wieder nach Hause. Ihr könnt mir eure Sorgen gerne auf die Mailbox sprechen, und ich werde mich am Dienstag darum kümmern. Euer Hartmut."
    Beendet wurde der Vortrag durch einen langen Piepton der andeutete, dass die Aufnahme lief. Semir verzog das Gesicht und knurrte nur ein "Guten Flug." auf die Mailbox, bevor er den Hörer auf die Gabel fallen ließ. "Was ist?", fragte sein Gegenüber erstaunt, den natürlich hatte er die Mailbox-Ansage über den Hörer nicht mitbekommen. Semir winkte ab: "Ist nicht im Lande, hängt in den USA und daddelt.", wobei der Polizist mit den Händen ein Videospiel nachahmte. Das war absolut nicht seine Welt, während Ben die Augen verdrehte...


    Hanno Busche, ein Streifenpolizist Mitte 30 steckte den Kopf zur Tür herein. "Seid ihr daheim rausgeflogen?", scherzte er, wusste er doch eigentlich dass der Mordfall, an dem die beiden gearbeitet hatten, abgeschlossen war. Plötzlich kam Ben eine Idee: "Hey Hanno... dein Onkel ist doch Pastor, oder?" "Ja, warum?" Semir hob die Augenbrauen und machte eine lobende Geste in Form eines erstaunten Gesichtes in Bens Richtung für den Einfall. Hanno hatte bei einer Feier mal eine Predigt parodiert und dabei erzählt, dass der Bruder seines Vaters Pastor in einer kleinen Gemeinde sei, und sein Leben ganz Gott verschrieben hat. "Glaubst du, der könnte mal hier vorbeikommen? Am besten jetzt gleich?" Der junge Beamte wusste zwar nicht genau um was es geht, aber er nickte und versuchte seinen Onkel zu erreichen.
    Sie mussten sich gedulden. Karl Büsche war zunächst nicht zu erreichen und alle waren sich einig, dass er vermutlich Sonntags vormittags arbeitete und eine Messe hielt. Doch gegen 11 Uhr hatte Hanno ihn endlich an der Leitung, nur eine halbe Stunde später saß eine oppulente Erscheinung in weißem Hemd und schwarzen Anzug, halblangen grauen Haaren und weißen Bart bei Semir am Schreibtisch. Dem Pastor nahm man seinen Beruf sofort ab, er sprach bedächtig, hochdeutsch aber laut und kernig. Ausserdem hatte er warmherzige Augen, dem vermutlich sofort jedem Kind vertraute, auch wenn Semir wusste, dass das nicht immer gut war. Mit festem Händedruck schüttelte er jedem die Hand.


    Ben hatte sein Handy an den PC angeschlossen, die Lautsprecher aufgedreht und ließ das Gespräch, was sich für ihn wie ein Gebet anhörte, abspielen. Karl Büsch hörte aufmerksam zu und nickte sofort bei den ersten Worten. "Das ist Hebräisch. Ich kenne die Sprache, die ersten Fassungen der Bibel wurden in Hebräisch geschrieben.", erklärte er und erbat sich einen Zettel. Semir spulte zurück, und man hörte die Wortfetzen erneut. Alles konnte man nicht verstehen, aber scheinbar schien der Zusammenhang ausreichend, denn der ältere Mann nickte immer wieder, strich etwas durch, schrieb es erneut, schaute und nickte. Dreimal hörte er sich die Aufnahme an, bis er zwei dicke Striche unter einige Zeilen Text malte.
    "Ich bin beeindruckt, wenn dieser Mann kein Buch vor sich hatte." "Wie meinen sie das? Er hatte kein Buch vor sich.", antwortete Ben und blickte ein wenig verwirrt. "Die hebräische Sprache ist sehr schwer. Sein Akzent ist perfekt und er rezitiert die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel aus dem Kopf. Das Buch Genesis, oder auch das 1.Buch Mose. Kennen sie sich ein wenig aus?" Der Mann erntete ein wenig verlegene Blicke. Semir hatte mit Religion, weder mit dem Christentum noch dem Islam besonders zu tun und auch Ben konnte sich höchstens daran erinnern, dass er mal an Weihnachten mit seiner Oma in die Kirche gegangen war, damit es auch ordentlich Geschenke gab. Der Pastor schmunzelte. "Ich sehe schon..."


    Er setzte seine Brille für einen Moment ab. "Die Schöpfungsgeschichte beschreibt die Erschaffung der Erde durch Gott. Das Land, das Meer, den Himmel und die Erde, der Tag und die Nacht, die Vegetation und die Tiere. Zu guter Letzt der Mensch. Alles erschafft er an 6 Tagen, am siebten Tag ruht er. Deswegen ist in christlichen Ländern der Sonntag frei." Er stockte kurz und lächelte: "Für die meisten jedenfalls... für uns nicht." Damit meinte er Pastore, Priester und natürlich auch Polizisten im Schichtdienst. "Das Kapitel 1 ist eigentlich zu Ende, wenn Gott den Menschen am 6. Tag erschaffen hat, und weiter zitiert er hier auch nicht. Allerdings, dieser eine Satz, den er zum Schluß sagt, mit etwas zeitlichem Abstand... können sie nochmal vorspielen?" Mit zwei schnellen Klicks spulte Semir an die Stelle, an der der letzte Satz mit etwas Verzögerung erklingt und sofort spürte Ben den unheimlichen Blick Gabriels auf sich.
    "Er gehört nicht zum Kapitel. Er sagt hier so etwas wie: "Das war ein Fehler." oder "das war falsch." Er bezieht es entweder auf die gesamte Schöpfung, oder die Erschaffung des Menschen." In Semirs Kopf arbeitete es nicht weniger als in dem seines Partners. "Aber was hat das zu bedeuten? Dieser Mann ist verwickelt in zwei abscheuliche Mordfälle, eventuell sogar als Täter. Ich weiß nicht ob ich ihnen die Bilder zeigen kann, aber vielleicht können sie uns helfen." Der Mann lächelte und nickte: "Nur zu, ich kann etwas vertragen. Ich habe 20 Jahre als Notfallseelsorger gearbeitet."


    Semir nahm die Akte mit den Bildern der beiden Tatorte, sowie die Bilder des enthaupteten und gekreuzigten Ziegenbocks. Auch wenn er eben noch recht taff war, wurde Karl Büsch nun doch kurzzeitig flau. "Das ist ja schrecklich", sagte er zuerst nur und der erfahrene Polizist hatte nun doch ein schlechtes Gefühl, dem Mann diese Fotos zu zeigen. Aber er erhoffte sich eine Information, einen Hinweis der entscheidend sein konnte. "Was sofort auffällt ist die Kreuzigungsdarstellung. Bei dem Ziegenbock natürlich ganz extrem. Der Ziegenbock ist ausserdem das Tier des Teufels, er steht für das Böse.", erklärte der Pastor, was sich deckte mit den Infos von Roland Meisner. Semir machte sich Notizen.
    Die Augen des Pastors flogen auch über das Protokoll des Anschlages auf Dennis. Als er die nahmen laß, hielt er den Atem an. "Tobias war in meiner Gemeinde. Ich habe gestern von seinem Tod erfahren." "Er hat einen Anschlag auf seinen Bruder verübt und wir vermuten, es steht im Zusammenhang mit den Morden." Die Stimme Semirs klang für den Pastor für einen Moment weit weg, als er das Zitat im Protokoll las, was Tobias zu Dennis gesagt haben soll: "Er sagte, dass er mir die Seele aus dem Körper schneiden will", las er leise aus dem Protokoll und setzte dahinter den nächsten aufgeschriebenen Satz: "Sie sind nicht rein, die Hierachie der Engel kennt kein Platz für sie." Er blickte mit erschrockenem Gesicht erst zu Ben, dann zu Semir und sagte fassungslos: "Oh mein Gott..."

    Krankenhaus - 9:30 Uhr


    Die Frühvisite war vorbei, Jenny hatte grünes Licht. Es gab keinerlei gesundheitliche Risiken für die junge Polizisten, nach Hause zu dürfen. Sie hatte ausserdem extra darum gebeten, an einem Sonntag das Krankenhaus zu verlassen dürfen und unterzeichnete dafür den Vordruck, dass sie trotz der Visite das Krankenhaus auf eigene Gefahr verließ. Eigentlich wollte Ben und Semir die junge Frau nochmal besuchen kommen, doch scheinbar war ihnen, wie immer, etwas dazwischen gekommen. Sie war ihnen nicht böse, wusste sie doch selbst, wie oft sie einfach unvorbereitet aus dem Wochenende gerissen wurden. Jetzt saß sie auf dem Bett, bereits angezogen in Jeans, Top und dicker Weste und packte ihre Sachen in eine kleine Sporttasche.
    Sie fühlte sich leer und ausgebrannt, die Trauer über alle Vorkommnisse überwog natürlich... aber irgendwie spürte sie eine gewisse Erleichterung. Sie konnte es nicht genau sagen, aber Jenny hatte das Gefühl, dass sie sich mit dem schönen und zugleich traurigen Traum heute Nacht verabschiedet hat. Sie dachte, dass Kevin ihr diesen Traum, in dem sie sah wie es gewesen wäre eine Kind mit dem geheimnisvollen Mann zu haben, geschenkt hatte, auch wenn es weh tat, es zu sehen. Und doch fühlte sie sich in dem Traum so gut wie schon lange nicht mehr.


    Dieser Traum hing ihr nach, sie dachte den ganzen Morgen daran und trotzdem fühlte sie sich wohl. Auch, als sich die Tür öffnete und Semir alleine ins Zimmer kam. "Hallo Jenny... oh, du bist schon am Packen?" Die junge Frau nickte: "Ja, ich darf heute morgen schon raus. Wo ist Ben?", fragte die junge Frau und schaffte ein Lächeln, als Semir sie freundschaftlich in den Arm nahm, wobei er sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen musste um mit Jenny auf einer Höhe zu sein. "Keine Ahnung, ich dachte wir treffen uns hier. Aber du kennst ja seine Pünktlichkeit.", meinte der erfahrene Polizist. Ben war etwas, was man mittlerweile "pünktlich unpünktlich" nennen konnte. Wenn es einen Termin um 10 Uhr gab, rechnete man mit ihm erst ab 10:15 Uhr... frühestens.
    Semir setzte sich auf einen Stuhl, während Jenny sich noch einmal auf das weiße Bett niederließ. Obwohl die Frage trivial war, und eigentlich nur eine (negative) Antwort zuließ, stellte der Polizist sie trotzdem. "Wie fühlst du dich?" Das Lächeln geriet nun etwas schmerzhafter, und Jenny zuckte mit den Schultern. "Kann ich gar nicht recht sagen. Irgendwie leer... traurig... aber auch befreit." Sie wollte nicht, dass ihre Worte einen falschen Eindruck hinterließen, wusste aber auch, dass Semir der Mann neben Ben war, dem sie alles anvertrauen konnte.


    "Befreit? Meinst du das im Bezug auf das Kind?", fragte der Mann vorsichtig, der sich so gut in andere hineinversetzen konnte, so gut zuhören konnte und fast immer, was das anging, die Ruhe behielt. "Nein... vielleicht ein bisschen. Natürlich war es eine Art Belastung aber auf der anderen Seite... auch nicht." Jenny schwankte hin und her, sie wollte keinesfalls als Erleichterung sehen, das Baby verloren zu haben, auch wenn die Zeit als alleinerziehende Mutter natürlich schwer, aber auch schön geworden wäre. "Auf der einen Seite war das Kind meine letzte Verbindung zu Kevin. Auf der anderen Seite... vielleicht fällt es mir jetzt leichter, los zu lassen...", sie stockte kurz. "Ach, das hört sich blöd an."
    Semir legte Jenny eine Hand aufs Knie, strich mit dem Daumen über den Jeansstoff. "Jenny, diese Gefühle kannst du nicht in einen geraden Satz packen. Ich verstehe was du meinst, auch wenn ich in dieser Situation nie war." Jenny hörte den Worten des Mannes zu, der zwar knapp aber unter Umständen fast ihr Vater sein könnte. "Loslassen ist nicht vergessen. Du brauchst dich nicht zu schämen, loszulassen denn dein Leben muss weitergehen." Hier wusste Semir genau von was er redete, denn er musste den Tod dreier Freunde bereits verarbeiten.


    Jenny war dankbar für die Worte Semirs, sie pflegten ein wenig die verwundete Seele der jungen Frau, die in den letzten Wochen Schicksalsschlag um Schicksalsschlag verkraften musste. "Guck mal, gerade Kevin hatte sich zuviel festgeklammert an Dingen, die nicht mehr zu reparieren waren. Seine Schwester, die Vergangenheit mit Annie oder der Tod des Kindes in dem brennenden Haus. Er hat versucht es zu verdrängen, doch seine Dämonen kamen immer zurück." Jenny nickte, er kannte die Gedanken ihres Freundes, der viel mit sich schleppte, was seine Kindheit anging und vor allem den gewaltsamen Mord an seiner Schwester, den er mit ansehen musste und nicht verhindern konnte. Es verfolgte ihn wie ein Schatten.
    "Lass Kevin nicht zu einem Dämon in dir werden." Diese Worte brannten sich in Jennys Kopf fest, und würden sie noch lange begleiten. Die Tränen, die jetzt floßen, floßen nicht vor Trauer und Gram um Kevin, sondern vor Rührung ob der kleinen Gesten Semirs und dessen Trost. Spontan, sie hätte sich gar nicht zurückhalten können, schlug sie ihre Arme um den kleinen Polizisten, der diesmal ihr Fels in der Brandung war. Es tat so gut, Freunde zu haben, die immer für sie da waren... und sie wusste genau, dass Ben zwar vielleicht andere Worte gefunden hätte, aber ebenso für sie bereit gestanden hätte wie auch Hotte, Bonrath oder Andrea. "Danke Semir..."


    Der kurze magische Moment wurde von der aufschwenkenden Tür unterbrochen, und ein blasser, gehetzt wirkender Ben stand im Türrahmen. Die Frau und der Mann lösten sich voneinander und blickten dem Polizisten entgegen, der ein wenig verwirrt fragte: "Alles okay?" "Das Gleiche könnte ich dich fragen. Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst auf dem Krankenhausflur begegnet.", gab Semir zur Antwort, denn der Blick von Ben verriet, dass irgendetwas passiert sein musste. Dem jungen Mann sah man oft schon am Gesicht an, ob er sich wohl oder unwohl fühlte, und diesmal war eindeutig Zweiteres der Fall.
    "Was hast du diesmal im Keller gefunden?" "Nichts im Keller... vor meinem Haus.", antwortete Ben mit leicht zittriger Stimme und setzte sich auf das Bett, wobei er sich dann mit den Händen zweimal übers Gesicht fuhr. "Na los, spucks schon aus." Erstmal entschuldigte sich Ben bei Jenny, umarmte sich zur Begrüßung, fragte ebenso wie es ihr ginge, was sie diesmal mit: "Besser als gestern.", beantwortete. Nach Semirs Worten fühlte sie sich tatsächlich ein gutes Stück wohler, als durch den Traum sowieso schon. "Jetzt sag schon... was ist passiert?" Mit kurzen Worten erzählte Ben seinen bisherigen Morgen, und Semir bekam tellergroße Augen. "Bist du eigentlich irr? Du kannst dem Typ doch nicht einfach alleine hinterher gehen... wer weiß was er mit dir gemacht hätte, wenn..." "Ich glaube, der will mir nur Angst machen.", widersprach Ben direkt und wurde von seinem besten Freund skeptisch angesehen. "Der Ziegenbock hat das aber anders gesehen...". Jenny verstand nicht um was es ging, denn von dem gestrigen Abend hatte sie nichts mitbekommen, sie würde erst im Auto alles ausführlich erfahren. "Wir müssen rausbekommen, was der Typ gesagt hat... ich habe es aufgezeichnet.", meinte der junge Polizist noch, und hielt sein Handy nach oben. "Na dann los..." Die beiden Polizisten waren sofort wieder im Ermittlungsmodus.

    Kirche - 8:45 Uhr


    Ben zögerte einige Sekunden, bis er die Tür zur Kirche öffnete. Es war früher Sonntagmorgen, hier fand allerdings keine Messe statt, insofern waren viele Leute in einer anderen Kirche beim Gottesdienst. Ben aktivierte das Mikrofon seines Handys, um ein eventuelles Gespräch aufzuzeichnen und versenkte es wieder in der Hosentasche, als er von der kühlen, weihraucherfüllten Luft der Kirche empfangen wurde. Auch war die Kirche im Inneren ungewöhnlich hell, während viele alte Kirchen im Inneren eher schummrig waren fiel durch große Fensterfronten Licht hinein. Eine ältere Frau saß auf einem der Stühle, es gab nur zusammengestellte Stühle, keine typischen Kirchenbänke, sonst schien sich niemand in der Kirche zu befinden.
    Nur Gabriel war weiter vorne zu sehen. Er kniete direkt auf der ersten Stufe, die nach oben zum Altar führte und schien in ein Gebet vertieft zu sein. Ben atmete tief durch, die Atmosphäre war trotz der Helligkeit unheimlich, denn es war absolut still im Gotteshaus, nur seine Schritte halten ein wenig auf dem Marmorboden unter ihm. Er kam dem merkwürdigen blonden Mann immer näher und überlegte erst, ob er ihn nochmal zur Rede stellen sollte, doch die Stille und der Eindruck der Kirche bewog ihn dazu, selbst an den Stufen auf die Knie zu gehen.


    Gabriel hatte die Augen geschlossen, die Hände gefaltet und die Stirn an eben jene Hände gelegt. Er schien total ins Gebet vertieft zu sein, weggerückt in eine andere Welt. Er sprach leise, mit gedämpfter aber ergriffener Stimme ein Gebet, das aus scheinbar sinnlosen Wörtern bestand in einer Sprache, die Ben noch nie zuvor gehört hatte. Er sprach und sprach, ohne Punkt und Komma, ohne Luft zu holen einen langen Text und es schien eine beinahe verschwörerische Botschaft zu sein, die der Polizist allerdings nicht verstehen konnte. Irgendwann, er konnte gar nicht sagen wie lange er nun dem unheimlichen Mann neben ihm zugehört hatte, brach der Redeschwall ab und Gabriel schwieg. Dann sagte er einen weiteren Satz in der fremden Sprache, verstummte und blickte zu Ben.
    Die gefalteten Hände lösten sich, die linke Hand fuhr in die helle Jacke des Mannes und der Polizist reagierte instinktiv. Er war so angespannt, jeden Muskel in seinem Körper geschärft sofort los zu schlagen, dass er für einen Moment nicht nachdachte und nur reagierte. Mit der linken Hand packte Ben Gabriel am Kragen und beförderte ihn auf den harten Marmor Boden, die rechte fuhr in seine Jackeninnentasche, um die Dienstwaffe zu ziehen. Gekonnt machte er Gabriel sofort wehrlos, in dem er ihn mit dem Knie auf der Hüfte auf den Boden fixierte und die Waffe auf ihn richtete.


    "KEINE BEWEGUNG!", rief er laut, dass es durch die Kirche schallte. Die Frau auf den Stühlen blickte sofort auf und rief: "Um Himmels Willen, wir sind hier in einer Kirche!" "Der Mann hat ein Messer bei sich! Bleiben sie ganz ruhig, ich bin von der Polizei." Gabriel blickte ohne Angst oder eine andere emotionale Reaktion in Bens Gesicht. Nur ein leises Flüstern war zu hören, wieder in einer Sprache, die sich ähnlich anhörte wie vorher. Seine Hand wurde bei dem Angriff von Ben wieder aus der Tasche gezogen und lag nun auf dem kalten Marmorboden. Aber der selbsternannte Engel spürte Bens Nervosität, seine Hand, mit der er die Waffe hielt, zitterte leicht und auch sein Atem vibrierte. Der Polizist ließ den Kragen des Mannes los und griff in die Jackentasche.
    Ein eisiger Schauer überfiel ihn, als er den scheinbaren hölzernen Messergriff, der sich aber verdammt klein anfühlte, ertastete. Doch statt einer Klinge beförderte er das Kreuz eines Rosenkranzes aus der Tasche, das er geschockt betrachtete. Auch in den anderen Taschen, die Gabriel ohne Gegenwehr durchsuchen ließ, fand sich nichts ausser ein Schlüssel. Keine Waffe, kein Messer, gar nichts. Ben hatte sich von seiner Angst und den Gefühlen leiten lassen, und obwohl Gabriel flüsternd keinerlei Reaktion zeigte, glaubte der Polizist so etwas wie Zufriedenheit zu erkennen.


    "Fuck...", sagte er leise und ließ von dem Mann ab. Er war geschockt ob seiner Reaktion, er war sich plötzlich nicht mehr sicher, was er hier überhaupt tat. Hatte er sich in etwas verrannt, sah er schon Gespenster? Hatte dieser merkwürdige Mann gar nichts damit zu tun? Aber warum verhielt er sich so? Da konnte doch etwas nicht stimmen. Er rappelte sich auf, steckte die Waffe wieder weg und ging von dem Altar Richtung Ausgang. Es kam dem Polizisten wie eine Flucht vor nach einer verlorenen Schlacht, er sah nur noch wie Gabriel sich ebenfalls aufrappelte und wieder zum Gebet hinkniete. "Wollen sie den Mann nicht mitnehmen, wenn er ein Messer hat?", fragte die alte Frau verwirrt, als Ben sie passierte. "Nein, es ist alles in Ordnung", sagte er schnell, als er endlich die Tür erreichte.
    Draussen begrüßte ihn der Orkan mit einer Böe, die Autos mit Motorgeräuschen und die Natur wieder mit ihren Lauten, die im Inneren der Kirche ausgeblendet waren. Ben schloß die Kirchenpforte und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Holztür, als hätte er gerade einen Horrorort verlassen und er musste die bösen Geister in dem Gebäude gefangen halten. Tief sog er die Luft in die Lungen, ihm wurde ein wenig schwindelig und er konnte sich diese Aufgeregtheit nicht erklären. Bevor er ging, beendete er die Audioaufnahme seines Smartphones. Er musste herausbekommen, was Gabriel gesagt hatte, was die fremden Worte bedeuteten.


    Gabriel war wieder in sein Gebet vertieft, diesmal redete er jedoch, als er alleine war, klar und deutlich, beinahe in Ekstase: "Ach sprich doch Mensch, warum das Leid? Man schenkte dir die Tugend. Sie stand zum Aufbruch stets bereit und starb in früher Jugend." Nach jedem Vers, als wäre es ein Psalm der jedoch nirgends in der Bibel stand, machte er eine Pause und bekreuzigte sich. Er sprach für sich mit der Stimme Gottes. "Ach sprich doch Mensch, was tat ich dir? Ich kann mich nicht bewegen. Mein Herz ertrinkt in deiner Gier und aus den Augen perlt der Regen." Seine Hände verkramften sich, er begann zu zittern und die Knöchel wurden weiß. "Ach sprich doch Mensch, wann endet es? Ich möchte es nicht mehr sehen. Ich gab dir stets nur Besseres und du ließt es vergehen." Mit einem Ruck öffnete er die Augen, seine Stimme änderte sich zu einem wütenden Zischen. "Ach sprich doch Mensch, wer bin ich nur? Nun kenn ich meinen wirklichen Wert. Greif unser Herz, verwisch die Spur und laufe weg, mach nie mehr kehrt!"

    Ben's Wohnung - 08:00 Uhr


    Es war tatsächlich die unruhige Nacht geworden, die Ben bereits vermutet hatte. Nicht nur das Wetter trug dazu bei. Das Gewitter hatte sich zwar noch am Abend gelegt, aber Regen und Orkan wüteten die ganze Nacht. Als Ben am Morgen nur in Boxer-Shorts ans Fenster trat hatte er Kopfschmerzen und die Augen waren schwer. Beim kleinsten Geräusch war er wach geworden, jedesmal wenn eine Mülltonne umkippte, Äste gegen Häuser prallten oder der Regen wieder stärker wurde, fuhr er aus dem Bett hoch. Obwohl er wusste, dass ein Streifenwagen zur Abschreckung vor dem Haus stand und zwei Beamte einen wachsamen Blick auf den Hauseingang hatten, konnte Ben die Angst nicht verdrängen. Wobei Angst hatte er nicht, es war mehr eine Unsicherheit, die er immer hatte wenn er im Fadenkreuz stand. Diesmal allerdings nicht eines einfachen Mörders, sondern eines gefährlichen Irren.
    Der Morgen begrüßte ihn grau und stürmisch. Die Straße war übersät von kleinen Ästen der umliegenden Bäume, so hatte man sich den Frühlingsanfang nicht vorgestellt. Der Streifenwagen stand noch immer vor Bens Haustür. Wer in den Keller wollte, musste trotzdem neben dem Haus durch eine Gasse zur Hintertür, ansonsten kam niemand unbemerkt ins Haus herein. Ein Gefühl von Sicherheit wollte sich trotzdem nicht breitmachen bei dem jungen Polizisten, der duschen ging und sich dann anzog.


    Als er erneut aus dem Fenster sah, fiel ihm der Mann wieder auf. Seine langen wasserstoffblonden Haare waren dem Windspiel schutzlos ausgeliefert, nur sein schwerer Pferdeschwanz konnte dem Wind Paroli liefern. Sein Blick war starr auf das Haus von Ben gerichtet, und in seinen hellen Kleidern sah er irgendwie engelsgleich aus. Dem Polizisten war er gestern schon aufgefallen, aber diesmal krampfte sich sein Magen ein wenig zusammen. Die Haare glichen sich denen von Tobias... ein Zufall? Es konnte nur ein Zufall sein, ein irrer unmöglicher Zufall, redete sich Ben ein. Engel, Teufel, Gott... diese Wörter schwirrten ihm durch den schmerzenden Kopf und für einen Moment wurde ihm ein wenig schwindelig, so dass er sich am Fensterbrett festhalten musste.
    Eigentlich wollte Ben sich auf den Weg ins Krankenhaus machen, um Jenny zu besuchen, die heute nachmittag entlassen werden sollte. Doch gerade befürchtete er, er würde damit den Killer auch zu Jenny locken. Mit klopfenden Herzen beobachtete er den blonden Mann auf der Parkbank, der genauso bewegungslos da saß wie Ben am Fenster stand. "Na warte, du Mistkerl.", murmelte er und schlug den Vorhang wieder vors Fenster. Er zog sich Schuhe und Jacke an, bevor er die Wohnung mit schnellen Schritten verließ.


    Obwohl Ben keine Ahnung hatte, ob der Typ wirklich etwas damit zu tun hatte, hatte sich diese Vorstellung in seinem Kopf manifestiert. Als Fakt war da einfach ein Typ, der gestern abend wie heute morgen auf der Parkbank saß, helle Kleidung trug und blond gefärbte Haare hatte, wie Tobias. Mehr nicht. Doch rationales Denken war für Ben nicht mehr drin. Er ging freundlich grüßend zum Streifenwagen und beugte sich durch das offene Seitenfenster. "Ihr könnt Feierabend machen. Ich bin wach und mache mich jetzt auf den Weg." Die Beamten waren angehalten, das Haus vor allem zu überwachen, während Ben schlief. "Alles klar, pass auf dich auf.", sagte der Fahrer und ließ das Auto an. "Schönen Feierabend.", wünschte Ben, bevor der Wagen abfuhr.
    Nun hatte Ben freien Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite wo die Bank stand und die hellen Augen des Mannes waren direkt auf Ben gerichtet. Soziale Berührungsängste hatte Ben sowieso nicht, und so fiel es ihm nicht schwer, schnurstracks auf den Mann zu zu gehen, auch wenn ihm etwas mulmig war, wenn er sich vorstellte, dass der Typ zwei Menschen und einen Ziegenbock aufgeschlitzt hatte. Die Augen des Mannes bewegten sich mit Bens Bewegungen, und durch eine leichte Kopfdrehung ließ er den Polizisten auch nicht aus dem Blick, als er sich setzte.


    "Was wollen sie von mir?", fragte er unverblümt ohne jedes Drumherum reden, doch es schien, als spreche er mit einem Bild. Das Gesicht von Gabriel zeigte keine Regung, keinen Ausdruck, keine Anzeichen von irgendeinem Gefühl. Keine Verwunderung, Begeisterung, Wut oder Desinteresse sprach aus der Mimik des Engels, der nur da saß und Ben anschaute, dessen mulmiges Gefühl sich noch verstärkte. "Warum sitzen sie ständig hier und beglotzen mein Haus?", setzte er die Frage nach und erntete erneut ein Schweigen. Auch äusserlich war Gabriel völlig ruhig, kein heftiges Atmen, kein auffälliges Blinzeln, wie ein Spielzeug, eine Puppe verfolgte er jede kleinste Bewegung Bens mit den Pupillen... sie waren das Einzige, was sich an dem Mann bewegte.
    Ben konnte ihn nicht einfach festnehmen, er hatte keinen Grund. Aber in seinem Innersten wusste er, dass es kein Zufall war, dass der Mann dort saß, sonst würde er antworten. Und jetzt kam plötzlich Bewegung in den eigenartigen Kerl. Er stand von der Bank auf, den Blick immer noch auf Ben gerichtet während der Wind an Haaren und Kleidung riss. Dann erst wendete er den Blick ab und Gabriel setzte sich mit langsamen Schritten in Bewegung, die Hände in der weißen Hose versenkt. "Hey!", rief Ben ihm hinterher, um ihn zum Stehenbleiben aufzufordern, doch der störte sich gar nicht daran, und ging weiter.


    Für einen Moment zögerte der Polizist, bevor er dann die Verfolgung aufnahm. Nicht verdeckt, nicht sich versteckend, sondern offen und auffällig folgte er Gabriel auf zwei Meter Abstand. Der Polizist wusste, dass es nichts bringen würde, den Kerl zu packen, zu schütteln und zum Reden zu zwingen. Wer so stoisch ruhig sein Gegenüber ansah, würde vermutlich auch jedes Verhör überstehen. Ausserdem waren, trotz des stürmischen, aber momentan trockenen Wetters, denn der Regen hatte aufgehört, viele Leute auf der Straße unterwegs. Er wollte wissen, wo der Kerl hinging... doch Gabriel hatte andere Pläne. Er wusste, dass Ben ihn verfolgte und er wusste, dass er ihn jetzt überall hinlocken konnte, denn die menschliche Schwäche Neugier war ihn ihm geweckt.
    Gabriel steuerte die Antoniter CityKirche in der Innenstadt von Köln an, nachdem sie eine halbe Stunde über Bürgersteige spaziert waren. Verstärkung zu rufen hatte der, mit Adrenalin angestaute Ben völlig in die Ecke gedrängt, als sein Vordermann die schwere Eingangstür der Kirche öffnete und darin verschwand. Für den jungen Polizisten gab es keine Frage, dem blonden Mann auch in die Kirche zu folgen...

    Semir's Haus - 18:30 Uhr


    Es war genau das richtige Wetter um mit einer Wolldecke zusammen am Kamin zu sitzen. Draussen schüttete es mittlerweile in Strömen, der Wind peitschte Zweige und Äste von den Bäumen, die bei Semir auf die Terasse fielen und der Himmel grollte böse und unheilvoll. Während die kleine Lilly ein wenig angstvoll Schutz unter der Wolldecke bei Andrea auf der Couch suchte, stand Ayda am Fenster und blickte in den dunklen Abend, um die kurz aufzuckenden Blitze zu erhaschen, die für einen Sekundenbruchteil die Umgebung erhellten. "Schatz, willst du nicht zu uns auf die Couch kommen?", fragte Andrea ein wenig übertrieben sehnsuchtsvoll und blickte über den Rand der Lehne in Richtung des Esszimmertisches, während sie sich versuchte, mit Fernsehn abzulenken von den Geschehnissen des Tages.
    Da saß Semir, gebeugt über zwei geöffnete Akten, die er am Nachmittag aus dem Büro mitgebracht hatte und gab nur ein geistesabwesendes "Gleich..." zur Antwort. Er hatte den Kopf auf einer Hand abgestützt, während er aufmerksam las, immer wieder eine Seite umblätterte und mehrmals die Stirn runzelte.


    Semir hatte sich die Berichte der beiden Tatorte mitgenommen und nochmal aufmerksam gelesen. Es war wie ein kriminalistischer Instinkt, eine Ahnung die ihn umtrieb und den Fall im Kopf noch nicht abschließen ließ. Das ging ihm zu schnell, zu einfach... zwei eiskalte brutale Morde von einem Jungen begangen, der es beim dritten Mord nicht schafft das Messer durchzuziehen? Der sofort flüchtet und in suizidaler Absicht vor einen Zug rennt? Nein, das passte in Semirs Augen nicht zusammen. Jemand, der zwei Menschen beinahe ausweidete und einen davon an das Geländer einer Autobahnbrücke zum Ausbluten band war nicht der ängstliche Tobias. Dazu fehlte dem Polizisten die Vorstellungskraft, auch wenn er sich nicht auf ein Klischee verließ. Natürlich konnte es auch so sein und es wäre für die Polizisten die bequemste Art, den Fall abzuschließen, aber dann würde vermutlich früher oder später wieder ein Mord passieren.
    War Tobias ein Nachahmungstäter, der einen Hass auf seinen Bruder hatte? Ließ er sich von dem Doppelmord inspirieren? Was hatte es mit den Dingen zu tun, die Tobias gesagt hatte, mit Gott und Engel... die Welt retten. Seine Augen strichen über die Protokolle, die er selbst angefertigt hatte. Je mehr er las, desto mehr wurde ihm klar, dass Tobias kein Einzeltäter war. Erst das Klingeln seines Handys rieß ihn aus den Gedanken. "Ben? Ben... jetzt bleib doch mal ganz ruhig. Was ist passiert?"


    Ben's Wohnung - 19:15 Uhr


    Ben saß auf der Treppe im Hausflur, als Semirs BMW im strömenden Regen vor dem Haus hielt. Unterwegs musste der erfahrene Polizist mehreren umgekippten Mülltonnen ausweichen, die der Orkan umgeworfen hatte, ausserdme kamen ihm drei Feuerwehrautos im Einsatz entgegen. Nach Bens aufgelösten Anruf hatte er sofort die Spurensicherung und Meisner angerufen, auch wenn der sich ob der scheinbaren Kurzbeschreibung des Fundes nicht zuständig fühlte. "Bitte, du findest Spuren, die sonst keiner findet. Ausserdem nimmst du die Sache ernst." "Na schön, ich bin gleich da." Der Rechtsmediziner kam gleichzeitig bei Ben an.
    Ben öffnete mit bleichem Gesicht die Haustür und Semir hatte bereits die Taschenlampe in der Hand. "Alles klar bei dir?" Der junge Polizist nickte und sagte ehrlich: "Ich hab mich furchtbar erschrocken da unten. Ich war auch seitdem nicht mehr runter gegangen." "Na komm...", meinte sein Partner etwas scherzhaft. "Es wird schon kein Monster sein." Ben hatte Semir angerufen und nur davon berichtet, dass ein blutiges Ding im Keller hinge, dass er sein Handy verloren hatte und nicht mehr fand im Dunkeln. Zu dritt gehen die drei Männer die Treppen runter, verfolgt von einigen Männern, die nach Spuren suchen sollen, denn dass es sich hier nicht um einen Streich handelte, sondern um eine Drohung, war beiden Freunden klar.


    Semir leuchtete in den geöffneten Raum hinein und suchte zuerst den Sicherungskasten nach der ausgeschalteten Hauptsicherung ab. Als er sie fand und den Schalter wieder umlegte, flackerte sofort die Neonröhre an der Decke auf und offenbarte das Massaker. Es traf die Männer unvorbereitet, ohne Warnung und zumindest die Polizisten hielten sich angeekelt die Hand vor den Mund. "Herrgott, ist das krank...", fluchte Semir und kniff die Augen in der Helligkeit zusammen.
    Der Boden des Raumes war zu großen Teilen mit rotem Blut bedeckt. An der Wand stand eine große Holzplatte, an die der Täter einen Ziegenbock regelrecht gekreuzigt hatte, die Vorderhufen auseinander gestreckt und mit Nägeln an die Holzplatte geschlagen. Aus dem aufgeschlitzten Tierkadaver hingen Gedärme und regelmäßig tropfte Blut aus dem durchtränkten Fell auf den Boden. Was den Anblick noch unerträglicher machte war die Tatsache, dass der Täter das Tier auch noch enthauptet hatte und der Kopf auf dem Boden lag. Semirs Vermutungen bezüglich Tobias als Einzeltäter aller drei Morde, die er eben zu Hause am Esszimmertisch hatte, schienen sich zu bestätigen. "Das ist ja mal ne Sauerei...", meinte auch Meisner.


    "Da scheint jemand sauer auf dich zu sein.", sagte Semir in Bens Richtung, der das Massaker mit offenem Munde anschaute. "Tobias scheint sich das Muster der Morde nur abgeschaut zu haben. Der Mörder des Kinderschänders und des Bankmenschen läuft noch frei herum.", teilte Ben seine Gedanken mit und sein Herz schlug etwas schneller. Er würde niemals zugeben, Angst zu haben und beide standen schon öfters im Visier von irgendwelchen Verbrechern, aber solch eine kranke Brutalität war auch ihnen selten untergekommen und es verursachte zumindest ein flaues Gefühl.
    Meisner ging interessiert um das Brett herum. "Kreuzigung und ein Ziegenbock... was sagt uns das?", fragte er und legte zwei Finger ans Kinn, während er zu Semir und Ben sah, die ein wenig ratlos dreinschauten. "Ihr kennt die Bibel auch nur von aussen... na gut, Semir ist entschuldigt. Der Ziegenbock ist das Sündertier, das Abbild des Teufels. Die Kreuzigung dazu... wenn ihr mich fragt ist das schon fast eine Art christlichen Extremismus, radikal christlich... wenn man sich dann noch ansieht, was die beiden vorherigen Mordopfer verbrochen haben.", half er den beiden Ermittler ein wenig auf die Sprünge. Einer der Mitarbeiter brachte aus einem anderen Raum einen blutverschmierten Ganzkörper-Schutzanzug. "Das lag nebenan." Als Ben den Anzug betrachtete meinte er fast sarkastisch: "Das wird ja heute ne sehr ruhige Nacht für mich werden..."

    Ben's Wohnung - 18:30 Uhr


    Es fiel Ben schwer, die Gedanken über Jenny, Kevin und das verlorene Kind zu verdrängen, als er gegen frühen Nachmittag zu Carina zurückkehrte. Natürlich erzählte er seiner jungen Freundin von den Geschehnissen, warum er so schnell aufbrechen musste, und warum es ihm jetzt so mies ging, und erhielt umgehend Trost von der blonden Frau. Carina hatte selbst schon Schicksalsschläge erlebt und wusste damit umzugehen, genauso wusste sie aber auch sich durchzusetzen und quasi zu bestimmen, dass die beiden an diesem Nachmittag etwas unternehmen sollten um Ben auf andere Gedanken zu bringen. Sie hatte jahrelang ihre demenzkranke Mutter gepflegt und hatte gelernt, sich durchzusetzen, was bei Demenzkranken manchmal schwerer war, als bei kleinen Kindern.
    Auch wenn der Ablenkung letztlich vor allem viel Herumfahrerei war, tat es Ben sehr gut mit Carina durch die Gegend zu streifen. Sie besuchten eine alte Burg, wo sie spazieren gingen, aßen am späteren Nachmittag in einem kleinen urigen Restaurant und waren gerade, als das Unwetter sich näherte wieder bei Carinas Wohnung. "Mach dir jetzt kein schlechtes Gewissen. Jenny hätte es auch nicht geholfen, wenn du den ganzen Tag zu Hause gesessen hättest und den Kopf in den Sand gesteckt hättest.", sagte sie noch, als sie sich verabschiedeten und Ben nickte zustimmend. "Ja, du hast wohl Recht." Er wollte heute Nacht gern zu Hause schlafen und morgen früh trotzdem Jenny besuchen gehen.


    Das verliebte Pärchen küsste sich auf den Mund, bevor der Polizist den Heimweg antrat. Die kahlen Äste großer Bäume ätzten unter den ersten Sturmböen, die das Gewitter und der schwarze Himmel mit sich brachten. Es waren fast keinerlei Menschen auf der Straße, als es begann, dicke Tropfen zu regnen und Ben in die Tiefgarage abbog. Nur ein seltsam wirkender Mann auf der Bank gegenüber von Bens Wohnung schien das Wetter nicht zu stören, er saß in stoischer Ruhe dort. Ben wunderte sich... waren wasserstoffblonde Haare nicht längst total unmodern? Jetzt sah er, nach Tobias, bereits den Zweiten mit dieser auffälligen Haarfarbe. Doch als er aus dem Wagen gestiegen war, hatte er diesen Gedanken schon wieder verdrängt.
    Mit müden Schritten ging der Polizist die Treppenstufen nach oben in seine Wohnung, ausser ihm wohnte in dem modernen Haus nur Hans, ein 65jähriger reicher Witwer unter ihm. Die dritte Wohnung stand leer. An die große Fensterfront von Bens Penthouse prasselte der Regen nun lauthals, je nach Böe mehr oder weniger laut, und das Grollen über den Wolken wurde lauter, mittlerweile war der Himmel über Köln pechschwarz. Ben zog seine Klamotten aus und stellte sich unter die Dusche, das warme Wasser auf seiner Haut tat ihm gut.


    Gerade als er dabei war, sich die Haare zu föhnen, ging mit einem Schlag das Licht aus und der Föhn verstummte. Plötzlich war die Welt um ihn herum ganz ruhig, nur der tosende Sturm draussen war zu hören. "Scheisse...", murmelte er genervt und tastete nach seinem Shirt, das er bereit gelegt hatte und sich nun überzog, die Jeans hatte er bereits an, den er wollte sich nach dem Duschen noch was Kleines zu essen kaufen gehen. Jetzt tastete er nach seinem Handy, denn der moderne Mann besass keine Taschenlampe mehr, seit es Smartphones gab. Nur in Socken tapste er vom Bad vorsichtig durch das, von zwei Straßenlaternen vor den Fenstern nur schwach beleuchtete Wohnzimmer in Richtung Wohnungstür. Für Sekundenbruchteile wurde der Raum von einem Blitz erleuchtet, worauf sofort ein krachender Donner folgte.
    Als der Polizist gerade die Wohnungstür öffnete, konnte er ein pfeifendes Windgeräusch im Flur unter sich hören, was mit einem klackernden Geräusch, wie das Zufallen der Kellertür, verstummte. Stocksteif blieb Ben stehen und lauschte, einen Fuß noch in der Wohnungstür, doch ausser dem Rauschen des Regens von Draussen und dem Donnergrollen, konnte er nichts hören. Doch... sein Herz schlug lauter als vorher, denn er wusste dass er die Kellertür nach draussen imemr verschlossen hielt, und ausser ihm niemand im Haus war. Er ging nochmal zurück in die Wohnung, um seine Dienstwaffe zu holen, bevor er die Treppen hinab in den Keller stieg und sich mit seinem Handy den Weg beleuchtete.


    Beinahe fühlte er sich übertrieben paranoid, schließlich hatte er "nur" ein Geräusch gehört, was er als Kellertür vermutete. Es konnte genauso gut eine graue Mülltonne gewesen sein, die auf der Straße durch eine Sturmböe umgekippt war. Das Wetter verstärkte sich, mittlerweile war es ein Sturzregen und auch der Sturm nahm zu. Langsam, die Waffe in der rechten, das Handy in der linken Hand ging Ben die Kellertreppe herunter, bis er im Untergeschoss den Flur betrat, der sich unter dem großen Haus in verschiedene Räume erstreckte. Nirgends funktionierte Licht, das ganze Haus schien tot und das Handylicht ließ immer nur einen Kegel und einen Bereich sichtbar erscheinen. Das Licht reichte nicht aus, um die Kellertür am anderen Ende des Flurs zu beleuchten, aber Ben bemerkte einen Windhauch durch die Haare streichen.
    Je weiter sich Ben zur Tür vortastete und aufpassen musste, dass er nicht über einen der zahllosen Kartons mit Gerümpel stolperte, die Hans hier dauernd abstellte, desto fester schlug sein Herz gegen den Brustkorb. Die Dunkelheit ließ den Flur enger erscheinen, und ausser dem Handy gab es nichts, was die Dunkelheit auch nur im Ansatz verdrängte. Als er an der Kellertür letztlich angekommen war, bemerkte er den Spalt, die sie offenstand und sein Herz setzte aus. Als musste jemand hier drin sein, oder gewesen sein, denn von selbst konnte die schwere Feuerschutztür auch bei schlimmsten Orkanböen nicht aufgedrückt werden.


    Ben schloß die Tür sorgfältig und tastete sich zurück in Richtung Versorgungsraum, den sein Handy gab bereits erste Warntöne von sich, dass der Akku schwindete. Komplette Dunkelheite würde dann bedeuten, dass er den Sicherungskasten nur erahnen könnte. Er erreichte die Tür zum Versorgungsraum und trat ein, komplette Dunkelheit füllte den Raum und das Rauschen des Orkans und des Regens waren hier noch besser zu hören, so wie ein permanentes Tropfgeräusch. Ben leuchtete direkt auf den Sicherungskasten und hielt inne. Das Tropfgeräusch bohrte sich in seinen Gehörgang und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Dieser Raum hatte weder ein Waschbecken, noch überhaupt einen Wasseranschluß, der ein Tropfgeräusch verursachen könnte.
    Wie in Zeitlupe, ohne zu Atmen drehte sich Ben vom Sicherungskasten weg zur daneben liegenden Wand. Als der nur noch schwache Lichtkegel die Ursache des Tropfgeräusches erfasste, schrie Ben laut auf, das Handy fiel klackernd zu Boden und der Raum wurde in totale Dunkelheit getaucht.

    Krankenhaus - 18:00 Uhr


    Man konnte den Anschein haben, dass der Tag sich der Stimmung anpasste. Über den Nachmittag zog sich der Himmel voll Wolken, peitschender Wind kündigte ein Unwetter für den Abend an. Der Tag verabschiedete das natürliche Licht bereits früher als sonst, als der dunkle Himmel zu grollen und knurren begann. Andrea war drei Stunden bei Jenny im Krankenhaus geblieben, hatte sie versucht mental zu stützen. Die zweifache Mutter konnte nicht sagen, ob es ihr gelungen war oder nicht. Sie hielt Jennys Hand, sie hörte ihr zu, wenn sie wieder zu weinen begann. "Es ist alles meine Schuld.", wimmerte sie und Andrea antwortete sofort mit nötigem Nachdruck: "Red dir das nicht ein." Auch wenn Jennys Verhalten vielleicht eine Fehlgeburt zumindest begünstigte, Andrea wusste dass in den ersten zwei Monaten ein Abbruch keine Seltenheit war.
    Keine tröstende Antwort, ausser einer weiteren Geste in Form einer Umarmung, fand Andrea darauf, als Jenny sagte: "Das Baby war das Einzige, was mir von Kevin geblieben ist." Es brach Andrea das Herz, ihre Freundin so verzweifelt und traurig zu sehen, erst mit der Zeit beruhigte sie sich. Sie hatte keine Schmerzen, fühlte sich nur müde und es war okay für sie, als Andrea sich dann nach drei Stunden verabschiedete und den Heimweg antrat. Die junge Polizistin war sowieso müde und erschöpft von allem und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.


    Im Gegensatz zu ihren vorherigen Alpträumen waren die Bilder, die sie im Traum sah, beruhigend an. Sie spürte in sich eine Leichtigkeit aufsteigen, ein wohliges Gefühl der Zufriedenheit. Jenny stand vor dem Spiegel in ihrem Bad, spürte ihre straffe Hauf um den runden Babybauch an ihren Händen, als sie über ihn strich und betrachtete ihn lächelnd im Spiegel. Ihre Augen waren wach und voller Vorfreude, ihr Lächeln befreit. Hinter ihr sah sie keine unberuhigenden Bilder, keine Kälte umschlich ihr Herz, denn keine dunkle Gestalt tauchte hinter ihr auf, sondern Kevin. Mit seinen hellblauen Augen, seinen abstehenden Haaren kam er hinter ihr an den Spiegel, umfasste sie von hinten mit seinen Armen und legte seine Hände auf die von Jenny auf ihren Bauch, in dem ihr gemeinsames Kind heranwuchs.
    "Freust du dich?", fragte die junge Frau und sah nach schräg hinten zu ihrem Freund, der sie verliebt anlächelte. "Na klar. Ich konnte es mir nie vorstellen, aber ich freue mich riesig darauf, Vater zu werden.", sagte er mit seiner monoton klingenden Stimme, und Jenny überfuhr eine freudige Gänsehaut, die beiden jungen Menschen küssten sich innig und die Frau spürte eine große Sehnsucht in sich aufsteigen. Sie spürte Kevins nackten Oberkörper an ihrem Rücken, seine großen Hände auf ihren.


    Als die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheibe des Krankenzimmers prasselten, drehte Jenny sich im Schlaf auf die Seite, zog die Beine leicht an den Oberkörper und einige Tränen liefen ihr aus den Augen. Im Traum lag sie genau so da, nur dass sie wach war, den Arm unter ihrem Körper leicht nach vorne ausgestreckt und den Kopf an wenig angehoben. Sie blickte in das Gesicht eines kleinen Babys, das neben ihr auf dem Rücken lag und vergnügliche Laute von sich gab. Es blickte mit den gleichen hellblauen Augen in die Welt, in denen Jenny vor einem dreiviertel Jahr zum ersten Mal versank. Mit der Hand streichelte sie über den kleinen Kopf des Kindes und gab ihm einen Kuss auf die Wange, sie fühlte sich so gut, befreit und voll Liebe gegenüber dem kleinen Geschöpf neben ihr und zu dem Mann, der jetzt an ihr Bett trat und zu erst das Kind küsste, und dann Jenny küsste.
    "Wann kommst du heute nach Hause?", fragte sie ihren Freund und spürte wie seine Hand sanft über ihre Wange strich. "Pünktlich. Heute mache ich keine Musik mit Ben, heute bin ich ganz für euch beide da.", versprach Kevin, bevor er das Wohnung zum Dienst verließ. Bevor er durch die Tür schritt, drehte sich der junge Mann mit den abstehenden Haaren nach einmal zu seiner Freundin und seinem Kind um und lächelte... lächelte so, wie Jenny es selten bei ihm gesehen hatte. "Ich liebe dich, Jenny. Und ich werde euch niemals alleine lassen", sagte er bevor er ging.


    Das Erwachen aus Alpträumen hatte immer etwas Erleichterndes. Zum Glück war das, was man geträumt hatte, nicht wirklich passiert. Alles ist gut, es war nur ein Traum. Das Aufwachen aus wirklich schönen Träumen dagegen war niederschmetternd. Es war alles nur ein Traum, und es ist nicht wirklich passiert. Jenny wurde durch das Krachen eines Donners geweckt, jedoch nicht ruckartig oder erschreckend, sondern nur durch bloßes Augenaufschlagen. Sie lag auf der Seite im Bett und erwartete, neben sich ihr Kind liegen zu sehen, wie gerade eben und am Bett Kevin stehen zu sehen, der sich zur Arbeit verabschiedete. Doch ihr Blick war sofort klar und sie realisierte sofort wieder, nicht im Bett zu Hause mit ihrem Kind zu liegen, sondern alleine im Krankenhaus.
    Sie hatte ihr Kind verloren, Kevin war tot und die letzte Verbindung zu ihm zerstört. Sie hatte nicht auf die Warnsignale ihres Körpers gehört, auch wenn der Arzt ihr eben Statistiken erklärt hatte, wonach jede fünfte Schwangerschaft in den ersten zwei Monaten so enden kann. Doch das waren für Jenny in diesem Moment nur Zahlen ohne Wert, ohne Bezugspunkt. Für sie hatte sie alleine ihr Kind auf dem Gewissen, sie fühlte sich egoistisch und selbstsüchtig.


    Als Jenny realisierte, dass sie gerade die schönsten Momente ihres Lebens mit Kevin zusammen nur geträumt hatte, und jetzt auf die nasse Fensterfront des Krankenhauses hinaus in ein stürmisches Unwetter blickte, begann sie zu weinen. Sie dachte, sie hätte nach diesem Tag keine Tränen mehr übrig, doch sie täuschte sich. Mit dem Himmel zusammen weinte sie um die Wette, sie krampfte ihre Hand ins Kissen und ins Bettlaken, dort wo gerade eben noch ihr Kind lag, vergnügte Laute von sich gab, und dem Kevin einen Kuss gab, kurz bevor er sich mit einem weiteren Kuss von Jenny verabschiedete, wie er sich am Telefon von ihr verabschiedet hatte, als er noch in Kolumbien war. "Ich liebe dich, Jenny. Und ich werde euch niemals alleine lassen"

    Dienststelle - 11:30 Uhr


    Der Weg zurück kam ihnen wie ein Kreuzweg vor, den sie zu Fuß und ohne Schuhe über Glasscherben gehen mussten. Semir und Ben kehrten alleine wieder zur Dienststelle zurück, Andrea war bei Jenny geblieben. Beide hatten es nicht übers Herz gebracht, ins Zimmer zu gehen und belangloses zu Jenny zu sagen. Sie wollten nicht, sie konnten es nicht und sie entschlossen sich beide dagegen. Andrea war für Jenny da, sie hatte still am Bett gesessen und wie im Akkord über Jennys Hand gestrichen, die nicht reagierte bis die beiden Polizisten letztendlich das Krankenhaus verließen.
    Ben wollte niemand sehen, hören oder mit keinem reden. Jetzt einen Moment alleine sein, das war sein Wunsch. Selbst Semir ließ ihn kurzzeitig im Büro alleine um die Chefin zu unterrichten ob der schrecklichen Nachricht über die Fehlgeburt von Jenny. Jeder im Großraumbüro konnte ihr geschocktes Gesicht, ihre geweiteten Augen klar sehen, wie sie die Hände vor den Mund schlug. Sie sagte nur wenige Worte, die meiste Zeit sprach Semir und am Ende kam auch das Kopfschütteln bei Anna Engelhardt, die selbst keine Kinder hatte und nicht im Ansatz sich vorstellen konnte, wie es der jungen Frau wohl gehen müsse. Dass man in der nächsten Zeit nun wieder auf die verzichten müsse, war natürlich völlig klar, momentan aber auch total unwichtig.


    Ben wusste in den Minuten alleine allerdings nichts mit sich anzufangen. Er wanderte ziellos durch den kleinen Raum, vom Fenster zum Schreibtisch, zum Aktenschrank und wieder zurück. Er war so aufgewühlt tief in sich drin, tausende Gedanken fluteten seinen Kopf. Jenny, Kevin, das Baby, Erinnerungen an Juan, wie er sagte dass Kevin tot sei, wie Semir berichtete, dass man in Kolumbien zwei Leichen gefunden hatte und wie Hartmut das verpixelte Bild aufgerufen hatte, das er auf dem zerstörten Handy gefunden hatte. Jennys Blick, als sie ihr davon erzählten und der Moment, als er und Semir Jenny am Boden liegen sahen, gerade vor zwei Stunden. Ihm gefror das Blut nochmal in den Adern, als er in seinem Kopf den Arzt hörte... "Fehlgeburt."
    Auf dem Seitenschrank in ihrem Büro stand ihre "Hoffnungskerze". Semir hatte diese Idee, statt einer Trauerkerze für Kevin eine Hoffnungskerze anzuzünden neben dem Bild von ihm und seiner Schwester. Ben starrte gedankenverloren auf das Bild, als ihn eine Mischung aus Wut und Verzweiflung ergriff. Wut auf Kevin, der Schuld an diesem ganzen Schlamassel hatte, der alles kaputt gemacht hatte, weil er Annie nach Kolumbien hinterher gereist war, Jenny allein gelassen hatte.


    "Du blöder Vollidiot!", schrie er, wobei er mit einem wütenden Schlag das Bild vom Schrank fegte, so dass es klirrend auf den Boden fiel und ein Riss durch die Scheibe des Bilderrahmens ging. Er verlief quer von oben rechts nach unten links, und er durchschnitt genau Kevins Gesicht, während er das hübsche Gesicht seiner Schwester verfehlte. Ben stiegen wieder Tränen in die Augen und er ging vor dem Bild in die Knie und sagte schluchzend: "Du verdammtes Arschloch...", wobei er das Bild fast liebevoll wieder in die Hand nahm, und Tränen auf das gesplitterte Glas fielen. Natürlich war seine Wut der Verzweiflung geschuldet, er war wie Jenny in einem mentalen Ausnahmezustand. Er fand es so ungerecht...
    Semir hatte natürlich den ersten Ruf mitbekommen, denn er war gerade im Großraumbüro um zumindest Hotte und Bonrath noch zu erzählen, was vorgefallen war. Er hielt mitten drin inne und blickte zur Glasscheibe in sein eigenes Büro, woher Bens Stimme kam. "Bin gleich wieder da.", sagte er kurz angebunden zu den beiden geschockten Streifenpolizisten, denen das Schicksal ihrer jungen Kollegin natürlich auch nah ging. Bonrath hatte selbst einen Sohn, mit dem er schon manch brenzlige Situation erlebt hatte.


    "Ben? Ist alles okay?", fragte Semir, als er ins Büro kam und sein Partner sich gerade mit dem Bild in der Hand wieder erhob. Schnell wischte er sich die erneuten Tränen aus den Augen und nickte schwach, während er das Bild akkurat und vorsichtig neben die Kerze auf seinen alten Platz stellte, auch wenn der Riss nun das Bild ein wenig verunstaltete. "Jetzt hat Jenny alles verloren, was ihr von Kevin übrig geblieben ist.", sagte Ben leise, ohne seinen Partner, der hinter ihm stand, anzusehen. "Es ist alles kaputt. Jenny hat jetzt niemanden mehr." "Doch. Jenny hat uns und das weiß sie auch. Wir werden immer für sie da sein und genau wie du und Kevin mich vor einigen Wochen aus dem Tief gezogen habt, werden wir Jenny da raus ziehen.", sagte sein Partner und legte Ben von hinten die Hand auf die Schulter.
    "Das ist nicht das Gleiche. Wir können Jenny nur unterstützen. Aber du weißt doch selbst auch, wie sehr dir die Liebe deiner Frau geholfen hat, das ist einfach was anderes als freundschaftliche Unterstützung.", sagte der jüngere Kommissar und strich sich ein wenig die Haare zurecht. "Das merke ich doch jetzt selbst bei Carina dass sie, versteh mich nicht falsch, anders helfen und trösten kann, als du es tust." Semir fühlte sich durch Bens Worte in keinster Weise abgewertet, er wusste was sein bester Freund sagen wollte. Wenn man jemanden liebte, wurde man anders aufgefangen und aufgebaut, als wenn man "nur" befreundet war, egal wie tief die Freundschaft war. War man, wie Semir, schon jahrelang in einer Beziehung, war dieses Gefühl noch stärker, als wenn die Beziehung frisch war.


    "Ein Schicksal wäre schlimm gewesen... das Baby hätte ihr geholfen, über Kevins Verlust hinweg zu kommen und sie hätte in dem Kind immer eine Verbindung zu ihm gehabt. Genauso hätte Kevin sie gestützt, wenn er noch da wäre und sie hätte das Kind verloren. Aber jetzt hat sie nichts... gar nichts." Nun endlich drehte sich Ben mit einem Gesichtsausdruck zu seinem Partner, der dem das Herz brach. "Das macht mich fertig, Semir." Er hatte eine besondere Beziehung zu Jenny, seit sie zusammen vor einem halben Jahr im Bett gelandet waren, als sie sich gegenseitig getröstet hatten, und er litt unter Jennys Schicksal extrem.
    "Vielleicht solltest du ein wenig Urlaub machen. Mit Carina ein paar Tage weg fahren, weit weg. Alles hier einfach mal vergessen.", schlug Semir vor. Der Mordfall war in ihren Augen scheinbar mit dem Selbstmord Tobias' abgeschlossen, die Morde, sowie der Mordversuch trugen die gleiche Handschrift, das Motiv lag für Semir auch auf der Hand nach den Aussagen von Dennis zu Tobias Worten vor dem Anschlag, er hatte nur noch keine Zeit es mit Ben zu analysieren. Aber Ben schüttelte zu Semirs Vorschlag den Kopf. "Ich kann doch jetzt nicht einfach in Urlaub fahren, wenn Jenny mich braucht." "Ich weiß. Aber Ben, es bringt auch Jenny nichts, wenn du dich fertig machst. Andrea ist bei ihr und ich glaube, das ist momentan auch ganz gut so. Sie wird es verstehen, schließlich leidest du , und auch ich, genauso unter Kevins Verlust." Und nach einem kurzen Moment der Stille setzte Semir noch hinzu: "Überlegs dir mal..."

    Ja, Valentina

    Bei mir ist nichts sicher... :D vor allem wenn es um traurige Dinge geht (frag Trauerkloß ;) )

    Aber ich finde es ausgesprochen schön, dass die Emotionen und vor allem Jennys Gedanken bei euch ankommen ohne dass ich sie selbst schreibe. Denn quasi habt ihr schon ein weiteres Kapitel geschrieben bzgl dem letzten gekappten Halteseil zu Kevin. Das ist für mich ein ganz zentrales Bild der Geschichte um die beiden, was ich eben durch (leider) ein so schlimmes Ereignis wie die Fehlgeburt zeichnen wollte/konnte.

    Übrigens... Man kann als Autor auch beim Lesen der Feedbacks schlucken ;( Danke dafür!

    Krankenhaus - 10:15 Uhr


    Es ging alles so schnell, und alles kam den drei wie in einem Alptraum vor. Jenny sowieso, nachdem sie mit unbarmherzigen Schmerzen auf dem Flughafenboden zusammengebrochen war. Ihr ging nur ein Gedanke durch den Kopf... das Baby. Sie bekam nur durch einen Schmerzenschleier mit, wie eine Flughafenärztin sich über die beugte, sie stöhnte noch, dass sie schwanger sei woraufhin die Frau alle Vermutungen über eine Kolik einstellte und sofort einen Krankenwagen rief. Der Notarzt, der ihr eine Spritze gegen die Schmerzen gab, bevor sie durch eine Spalier neugieriger Menschen auf der Trage nach draussen in den Krankenwagen abtransportiert wurde. Bis ins Krankenhaus flüsterte sie abwesend immer wieder: "Mein Baby..."
    Ben und Semir fühlten sich hilflos und völlig taub. Wie durch eine Welt voll Watte nahmen sie ihre Umgebung wahr, als sie die Ärzte bei Jenny beobachteten, wie sie weggebracht wurde und wie der Krankenwagen vom Parkverbot aus weg fuhr. Und wie einer der Notfallärzte, bevor er die Tür hinter Jenny schloß noch das Wort sagte, dass den beiden Polizisten im Kopf schwirrte bis sie das Krankenhaus erreichten... "Vielleicht eine Fehlgeburt." Es klang so umbarmherzig, so schrecklich in ihren Ohren, dass sie auf der gesamten Fahrt keinen Ton sagten. Nur Semir rief Andrea an, dass sie doch bitte schnell ins Krankenhaus kommen sollte.


    Andrea kam, und erreichte das Krankenhaus, als Jenny bereits im Untersuchungszimmer war und die beiden Polizisten auf dem Flur saßen. Eine kurze Umarmung mit Ben, eine längere mit Semir bevor sie mit Schrecken in den Augen erfuhr, was geschehen ist. "Sie ist einfach vor uns zusammengebrochen.", sagte Semir mit belegter Stimme, während Ben im Hintergrund saß und den Kopf auf die Hände gestützt hatte. Er war verzweifelt, gestern abend schon sein mentaler Zusammenbruch wegen Kevin und Jenny. Dann das Mutmachen durch Carina, dass er, Ben, auch zumindest in einem gewissen Umfang für das Kind da sein könnte, statt seines Freundes, der ums Leben gekommen war. Und jetzt dieser Zwischenfall, der ihn traf wie ein Hammerschlag. Nichts fühlte sich real an, alles war wie in Trance.
    "Sie wird untersucht. Dann können sie es sicher sagen.", meinte der erfahrene Kommissar. Dann setzte sich auch Andrea auf einen der Stühle im Flur, ihre Beine wippend, die Finger aufeinander knetend. Sie hatte zwei Schwangerschaften problemlos geschafft, aber sie kannte die Angst bei jedem Schmerz und jeder Veränderung ihres Körpers aufzuschrecken und nachzuhorchen. War das normal, oder nicht? Die Angst vor Komplikationen war in der Schwangerschaft allgegenwärtig und auch Semir hatte sich damals von dieser, ihm nicht gekannten Nervosität anstecken lassen. Dass es jetzt ihrer guten Freundin passierte, weckte diese alten Ängste wieder.


    Sie warteten, und die Zeit zog sich wie Kaugummi, bis die Tür des Untersuchungszimmers aufging und Jenny im Bett herausgeschoben wurde. Ihre Haare lagen um ihren Kopf auf dem Kissen wie ein Heiligenschein, ihr Gesicht war blass und die Augen starrten gerötet an die Decke. Es schien, als sei Jenny ganz weit weg. Man schob sie durch den Flur, ein kleines Stück in ein Zimmer hinein, das zum Flur eine Fensterscheibe hatte. "Was ist los mit ihr, Doc?", fragte Semir, kurz bevor sie das Zimmer erreicht hatten, und der Arzt wartete kurz, bis der Krankenpfleger das Bett komplett ins Zimmer geschoben hatte, und die Tür geschlossen hatte. Semir, Ben und Andrea hielten den Atem an, die Angst nagte an ihnen, und die Befürchtungen wuchsen.
    Sie bestätigten sich in einem kurzen, brutal sachlichen Satz, den der Arzt sagte: "Frau Dorn hat leider eine Fehlgeburt in der 9. Schwangerschaftswoche erlitten. Es tut mir sehr leid." Keiner der drei konnte später noch genau sagen, wie sie in diesem Moment reagiert hatten. Entsetztes Schauen, betretenes Wegdrehen, Kopfschütteln... es war eine Mischung aus allem. Ben entfuhr nur ein leises: "Nein...", bevor er sich mit den Händen vor dem Mund wegdrehte und ein paar Schritte ging. "Es ist in diesem Zeitraum leider Gottes nichts unnormales, dass es eine Fehlgeburt gibt. Unnormal ist eher, dass sie in so einem frühen Stadium mit solchen Schmerzen einhergeht. Wir haben Frau Dorn ein Schmerzmittel verabreicht, und werden sie über Nacht beobachten. Mehr kann ich ihnen nicht sagen."


    Der Arzt ließ die beiden Männer und die Frau in ihrem Schock stehen. Semir und Ben hatten Erfahrungen damit, Todesnachrichten zu überbringen. Sie fuhren zu Eltern und sagten, dass sich ihr 19jähriger Sohn auf der Autobahn totgefahren hatte. Doch was sollten sie jetzt zu ihrer Freundin, ihrer Kollegin sagen, nach dem sie gerade eine Fehlgeburt erlitten hatte... eine Fehlgeburt des Kindes, dessen Vater sie gerade erst vor drei Wochen verloren hatte. Wie konnte man jemanden, dem das Schicksal zweimal so böse mitgespielt hat, trösten? Semir und Ben wussten es nicht, sie trauten sich nicht in das Zimmer zu gehen, sie wollten sich nicht hinsetzen, stumm bleiben oder mit nichtssagenden Phrasen herumwerfen.
    Nur Andrea traute sich hinein. Sie ging in das Zimmer, setzte sich dicht an Jennys Bett, und nahm ihre eiskalte Hand in die Hände. Ein stummes Zeichen des Trostes, das mehr sagte als tausend Worte, auch wenn die junge Frau zunächst nicht darauf reagierte. Ihr Blick ging ins Leere, noch benebelt von dem Schmerzmitteln, doch sie wusste was geschehen war. Sie hatte den Arzt verstanden, als dieser ihr erklärte, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte, und dass das winzige Herz ihres Kindes nicht mehr schlug.


    Ben und Semir beobachteten die Szene stumm an dem Fenster des Zimmers, das zum Flur zeigte. Semirs Augen waren müde, sein Bart schien grauer als einige Tage zuvor und seine Stirn noch faltiger als sonst. Bens Blick drückte Trauer und Verzweiflung aus... und Mitschuld. "Jetzt stehen wir wieder da. Und fragen uns, ob wir etwas falsch gemacht haben.", sagte er leise und seine Stimme schien entrückt. Semir erriet seine Gedanken... er machte sich Vorwürfe, dass sie Jenny hinterher gefahren sind, ihr hinterher gelaufen waren, um sie vor dem Flug abzuhalten. "Tu das nicht, Ben. Gib dir keine Mitschuld.", sagte er beinahe beschwörend, den er konnte sich ausmalen, wo dies hinführte. "Wir haben versucht, sie vor einer riesigen Dummheit zu bewahren. Hätten wir sie fliegen lassen, hätte sie nicht nur ihr Kind verloren, sondern auch ihr Leben."
    Es fiel Semir schwer, so rational zu denken und zu reden, und solch einem emotionalen Moment. Aber er musste Ben schnell auf andere Gedanken bringen, er musste ihm schnell realistisch zeigen, dass sie keine Schuld an dieser Fehlgeburt hatten.

    Semir's Haus - 8:45 Uhr


    Semir war kein Langschläfer. An einem Samstag, so wie heute, zog es ihn spätestens gegen halb 8 aus dem Bett, dann genoß er die Stille im Haus und trank im Sommer den ersten Kaffee auf der Terasse. Jetzt, im Winter, schürte er als Erstes das Feuer im Kamin des modernen Hauses, bevor er begann das Frühstück zu bereiten, bevor erst Andrea und spätestens gegen halb 10 die Kinder wach wurden. Draussen lag noch etwas Dunkelheit über dem Wohngebiet, nur ein blau-rotes Band am Horizont kündigte den Tag kündigte den Tag unmittelbar an, je weiter man Richtung Osten sah, desto heller wurde der Himmel. Es würde wohl heute weniger bewölkt werden als die letzten Tage, dafür aber wohl auch wieder etwas kälter. Trotzdem freute man sich schon auf den nahenden Frühling.
    Es hätte für Semir ein toller Morgen sein können, doch noch immer lag der Verlust seines Partners wie ein Schatten auf dem Haus. Der Prozess des Verdrängens lief bei jedem Menschen verschiedenartig ab, und selbst bei Semir war es mehrmals unterschiedlich verlaufen. Bei Tom fiel es ihm besonders schwer und hing dem Polizisten lange nach. Tage, Wochen, bei Jenny würde es sicherlich länger dauern, vor allem weil es mit ihrem Kind etwas gab, das sie ein Lebenlang mit Kevin verbinden würde... nicht nur die gegenseitige Liebe zueinander.


    Dass sein Handy um diese Uhrzeit am Wochenende klingelte, daran war Semir leider auch schon gewöhnt. Wieder ein Mordfall, ein Kollege in Schwierigkeiten oder Ben. Doch diesmal war die Nummer, die auf dem Display leuchtete mit einem Namen verbunden, der Semir überraschte. "Ja?", meldete er sich verwundert und stellte die Kaffeetasse auf den Frühstückstisch. "Hier ist Juan. Habt ihr Kevins Freundin die Idee ins Ohr gesetzt, ihn in Kolumbien zu suchen?", kam die mit spanischem Akzent durchsetzte Stimme von Juan aus dem Hörer und Semir sah verwundert auf. "Wie kommst du darauf?" "Weil sie scheinbar gerade auf dem Weg zum Flughafen ist. Sie hat mich angerufen und gefragt, ob ich sie begleiten kann." "WAS?", rief der Polizist entsetzt und stand vom Küchentisch auf.
    "Ich habe abgelehnt, weil ich nicht zurückkehren kann. Und weil es sowieso aussichtslos ist. Auch für sie.", erklärte der Kolumbianer. "Wann hat sie dich angerufen?" "Gerade eben. Sie hat gesagt, dass sie jetzt losfährt, aber es hat sich angehört, als wäre sie schon auf der Autobahn. Aber nicht weit, denn sie wäre mich abholen gekommen." "Danke, dass du angerufen hast.", sagte Semir und meinte es ehrlich. Juan schien tatsächlich in Ordnung zu sein, auch wenn er für den Polizisten nach wie vor undurchsichtig war. "Ihr müsst sie aufhalten. Sie wird dort hinten sterben.", sagte er mit ernster Stimme.


    Semir ließ alles stehen und liegen, sagte seiner Frau im Bad nur kurz mit "Ich muss kurz weg.", Bescheid um ihr nicht soviele Sorgen zu bereiten. Doch natürlich merkte Andrea, dass irgendetwas nicht stimme. Der Polizist warf sich die Jacke über die Schulter und wählte noch beim Einsteigen ins Auto Bens Nummer. Der meldete sich verschlafen. "Ben! Steh schnell auf und mach dich fertig, ich bin in ein paar Minuten bei dir.", rief er in die Freisprecheinrichtung. "Es ist Wochenende...", quengelte es zurück. "Jenny ist auf dem Weg zum Flughafen um nach Kolumbien zu fliegen. Wir müssen sie aufhalten." Sofort stand Ben kerzengerade im Bett. "Okay, ich mach mich fertig. Ich bin aber nicht zu Hause.", sagte er schnell und hörte: "Alles klar, ich kenn die Adresse noch. Bis gleich." Ben musste lächeln. Natürlich wusste Semir sofort wo er war, das blinde Verständnis zwischen den beiden zeigte sich in solchen Momenten.
    Es dauerte tatsächlich keine 5 Minuten, und Semir hielt mit quietschenden Reifen vor Carinas Wohnung, 10 Sekunden später saß Ben nach der kurzen Verabschiedung neben ihm im BMW. "Wir haben gestern das Fass zum Überlaufen gebracht.", sagte er noch zu Semir, als sie auf die Autobahn Richtung Frankfurt fuhren. Obwohl Semir so schnell fuhr, wie es ging ohne den Verkehr zu gefährden, konnten sie Jennys Kleinwagen auf dem Weg nicht entdecken... scheinbar war ihr Vorsprung doch größer wie gedacht und sie fuhr auch nicht gerade gemütlich.


    Je näher sie sich dem Airport Frankfurt näherte, desto fester schlug ihr Herz gegen die Rippen, desto größer wurde ihre Nervosität, ihre Unsicherheit. Sie parkte im Parkhaus und zog den kleinen Koffer, den sie gepackt hatte, hinter sich her. Die Schlange am Schalter nach Kolumbien war kurz, und sie konnte bereits nach wenigen Minuten ihr Gepäck aufgeben, um zur Kontrolle zu gelangen. Dort sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln, dass sie schwanger sei und wurde manuell kontrolliert, statt durch den Scanner zu gehen. Jenny war schlecht und sie fühlte leichten Schwindel aufsteigen, als sie durch die Fensterfront die Flugzeuge sah, die Menschen gehen und reden hörte. Kinder mit Familien, junge Pärchen die in Urlaub flogen, sich darauf freuten und lachten.
    Semir hatte den BMW im Parkverbot geparkt und sein Partner die Kelle in die Frontscheibe gelegt, um nicht abgeschleppt zu werden. Mit schnellen Schritten liefen die beiden in das Flughafengebäude, Ben richtete den Blick sofort auf die große Anzeigetafel. "Schalter 8 und 9, Ausgang 1.", sagte er und beide setzten sich wieder in Bewegung. Am Schalter war so gut wie nichts los, und Jenny erblickten sie dort ebenfalls nicht. Doch hinter der Sicherheitsschleuse konnten sie die junge Kollegin entdecken, die sich von dort gerade entfernte.


    "JENNY!!", riefen sie sofort laut, was das allgemeine Gemurmel und Gerede am Flughafen trotzdem deutlich übertönte. Nicht nur Jenny wurde auf die beiden Männer aufmerksam und beschleunigte ihren Schritt, auch die Sicherheitsleute an der Schleuse wurden sofort hellhörig. Aktiv wurden sie auch, als die beiden Männer nun auf die Schleuse zugelaufen kamen, um diese schnell zu passieren. "Immer langsam mit den jungen Pferden. Ihr Ticket und ihren Ausweis!", verlangte ein älterer, aber kantig gebauter Flughafensecurity-Mann, und hielt Semir am Arm fest. "Wir sind von der Polizei! Loslassen!", keifte der und Ben zeigte sofort seinen Ausweis, bevor sich zwei Security-Männer auch noch um ihn kümmern konnten. "Wir müssen die junge Frau aufhalten!", sagte er hektisch.
    In Jennys Kopf drehte sich alles. Sie sah nur geradeaus, begann leicht zu laufen und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Alles in ihr geriet ausser Kontrolle, in ihrem Kopf drehte sich alles und ihr Herzschlag wurde immer schneller. Plötzlich stach es... es stach in ihren Bauch, als hätte ihr jemand ein scharfes Messer hineingerammt. Ein unbändiger Schmerz, der sie stürzen und hinfallen ließ, der sie aufstöhnen und kurz aufschreien ließ. Jenny lag am Boden und krümmte, sofort waren zwei Männer und eine Frau bei ihr, um sich zu erkundigen, was passiert sei. Hinten kam zuerst Semir, dann Ben angerannt, die sich zu Jenny herunterbeugten und dem erfahrenen Polizist stockte der Atem, als er bemerkte, dass die junge Frau die Arme krampfthaft um den Bauch schlug. "Einen Arzt, schnell!!", rief er laut, während Jenny schluchzend und zitternd am kalten schmutzigen Boden lag.

    Ich weiß jetzt gerade nicht, was ich mir wünschen soll. Ich würde Jenny natürlich ungern in Kolumbien sehen, alleine schon wegen ihrer Schwangerschaft.
    Aber wenn sie es doch schafft loszufliegen, bevor Semir am Flughafen ist, dann MÜSSEN er und Ben hinterher. Das ist ja klar - die würden Jenny ja nicht einfach so in ihr Unglück rennen lassen, ohne was zu tun. Und dann würde Kevins Schicksal vielleicht doch endlich aufgeklärt werden.
    Also ich bin hin- und hergerissen, was ich mir wünschen soll, wie es weitergeht und lege das mal vertrauensvoll in Campinos Hände. Er wird schon wissen, was gut ist. ^^

    Streiche das "gut" und ersetze es wahlweise mit "traurig" "dramatisch" "happyendlos" :D

    Gut wird bei mir nichts, das wisst ihr doch.

    Café - 08:30 Uhr


    Jemand, der den jungen Mann mit Pferdeschwanz am Tisch, Handy am Ohr und dampfenden Café vor sich beobachtete, hätte vermutet dass er ein Tourist wäre, der das Wetter falsch eingeschätzt hat. Juan war unerschütterlich in seiner Kleiderwahl, trug trotz der Kälte ein ausgeschnittenes Muskelshirt und hatte lediglich ein braunes offenes Hemd darüber gezogen. Die dicke Winterjacke neben ihm war ihm ein Graus und er zog sie nur widerwillig an. Mit dem nasskalten Wetter hatte er sich noch nicht wieder angefreundet, zu lange war er in Kolumbien und zu sehr hatte er sich dort an das warme Klima gewöhnt. Er rührte mit dem Löffel in seine, wie er ebenfalls gewöhnungsbedingt fand, schlechten Kaffee herum und rollte genervt die Augen.
    "Was heißt das, die vertrauen mir nicht. Dann musst du eben... hier... so ein Empfehlungsschreiben aufsetzen. Mann Zack, ich mach doch für die Brüder nicht den Laufburschen.", meckerte er und blickte immer mal mit wachen Augen herum, dass sich niemand um ihn zu sehr für sein Gespräch interessierte. "Ich brauch wieder Arbeit, denn genau wie in Kolumbien gibt es Essen hier nicht umsonst. Im Gegenteil, hier ist das Essen verflucht teuer." Was der Nachtclubbesitzer am anderen Ende der Leitung sagte, schien dem Kartellchef nicht zu gefallen.


    "Nein, weiß ich noch nicht. Das könnte noch dauern.", sagte er auf die Frage, wann er wieder nach Kolumbien zurückkehrte. Santos hatte dort ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt und Juan selbst hielt Kontakt mit seinen Leuten, um immer mal abzuchecken, wie das Klima dort hinten war. "Ja... ja, ich warte dann. Sieh zu, was du machen kannst. Ciao Amigo." Klappernd fiel das Handy auf den Tisch und mit der Tasse in der Hand lehnte sich der Kolumbianer zurück. Bekannte von Zack trauten dem Kartellchef aus Bogota nicht eine Rolle in deren Drogengeschäften einzunehmen, und er sollte sich branchenüblich erst einmal mit Kurierdiensten hochdienen. Allerdings hatte Juan auch gewissen Ansprüche an seine Arbeit, und als Anführer eines Kartells in Kolumbien verkaufte man keine Trips an Straßenecken. Allerdings konnte er das Misstrauen auch verstehen.
    Sein Ärger hielt nicht lange an, denn das Handy klingelte nur wenige Minuten nach Beendigung des Gespräches erneut. "Buenas Dias", meldete er sich und stutzte sofort, als er die junge Frauenstimme am Hörer hörte. Im Hintergrund waren Fahrgeräusche zu vernehmen und es schien, als wäre die sie unterwegs. "Juan... ich bitte dich noch einmal. Hilf mir." Der Mann sah sich um, als würde er plötzlich beobachtet werden und seine Nackenhaare stellten sich auf. In Jennys Stimme lag nicht mehr die vorsichtige Bitte um Hilfe, sondern ein hektischer letzter Versuch. Als stehe sie an der Schwelle, an der Kante der Klippe und drohte damit, alleine drüber zu springen.


    "Ich habe dir erklärt, dass ich dir nicht helfen kann und nicht helfen will.", sagte Juan mit gedämpfter aber zischender Stimme. "Wo bist du?" "Ich fahre zum Flughafen. Ich fliege auf jeden Fall dorthin, ob mit oder ohne dich. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus." Die Stimme klang entschlossen und stark, doch der Kolumbianer spürte und hörte auch die Nervosität heraus. "Hör auf damit! Es ist zu gefährlich und du wirst dort hinten nichts ausrichten können. Alleine schon gar nicht." Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er daran dachte was der schwangeren Frau dort hinten alles passieren könne. Juan wusste ja nicht, ob Santos Kevins Handy vielleicht noch zu Gesicht bekommen hatte, bevor es zerstört wurde, Jennys Gesicht kannte und damit ihre Beziehung zu Kevin.
    "Sie haben uns Kevins Handy geschickt. Es ist darauf geschossen worden! Ich will endlich wissen, ob er noch lebt oder ich endlich trauern kann.", sagte sie beharrlich und setzte noch einmal hinzu: "Ich kann mehr ausrichten, wenn du dabei bist, aber ich kann dich nicht zwingen. Wenn du mir hilfst, komme ich dich abholen, ich fahre jetzt gerade los." Juan fuhr sich mit einer Hand über die Haare, biss sich auf die Lippe, als würde er ernsthaft nachdenken und abwägen. Doch dann schüttelte er den Kopf: "Das ist Wahnsinn. Hör auf damit, Jenny. Komm zurück und bleib zu Hause!" Seine Worte hatten die Überzeugungskraft eines charismatischen Anführers, doch bei Jenny trafen sie nicht. Das Gespräch wurde ihrerseits unterbrochen. "Jenny? JENNY!!" Er kümmerte sich nicht darum, dass die Leute nun doch zu ihm blickten. "Fuck..." Er hätte es so einfach haben können... ignorieren können, er würde Jenny, Semir oder Ben in seinem Leben wohl nicht wiedersehen. Resigniert blickte er auf den schwarzen Display seines Telefons, bevor er Semirs Handynummer wählte.


    Köln - gleiche Zeit


    Die Nachricht am Abend traf sie wie ein Donnerschlag, ein Hieb mit einem Baseballschläger direkt aufs Herz. Sie konnte Ben und Semir nicht mal einen Vorwurf machen, und doch schmerzte sie die Erkenntnis, dass ihre Kollegen die Hoffnung aufgegeben hatten. Die Einschätzung von Juan, das Auffinden der Leichen, das Handy... alles hatte dazu geführt dass ihre Hoffnung kleiner wurden, aber ihr Herz klammerte sich an Kevin... und das zeigte Jennys Unterbewusstsein in dieser Nacht mit aller Härte. Schreckliche Alpträume, stündliches schweißgebadetes Aufwachen wechselten sich mit Krämpfen ab. Erst als sie gegen vier Uhr ihren Beschluss gefasst hatte und im Internet ein Ticket für den nächsten Flug nach Kolumbien kaufte, wurde sie ruhiger, als hätte sich ihr Gewissen beruhigt.
    Doch das Gewissen meldete sich am Morgen wieder, als sie ihren Koffer packte. Sie wollte Semir und Ben nichts sagen, die würden sie versuchen aufzuhalten oder, im schlimmsten Fall, mitkommen. Das aber konnte wiederum Jenny nicht verantworten. Sie hatte Verantwortung alleine für sich und ihr Kind wobei sie dieses im Unterbewusstsein verdrängte. Die junge Frau war in einen psychischen Ausnahmesituation und nicht in der Lage alle Konsequenzen abzuwägen. Schmerzen verdrängte sie, hervorgerufen doch den Stress und ihre Nervosität...


    Als sie gerade von ihrer Wohnung wegfuhr, rief sie nochmals bei Juan an. Er war der Einzige, den sie bei der Reise mitnehmen würde... er kannte sich aus, er kannte die Stelle und er kannte das Risiko. Und so schrecklich es sich in Jennys Kopf anhörte... besser dem Kolumbianer stieß etwas zu, als Semir oder Ben. Er Herz schlug fest gegen die Rippen, als Juan ihr unmissverständlich klar machte, dass sie sich auf ein Himmelfahrtskommando einließ, und er nicht mit von der Partie war. Die Hoffnungen der jungen Polizistin auf eine positive Antwort waren vor dem Gespräch schon sehr gering, aber sie wollte es nicht unversucht lassen.
    Die Autobahn Richtung Frankfurt vor ihr erschien ihr wie ein langer Schlauch, bei dem andere Autos zu Flecken verschwammen, obwohl sie nicht besonders schnell fuhr. Sie fühlte sich in der Verantwortung es nicht unversucht zu lassen, Kevin in Kolumbien zu suchen. Sie stellte sich vor, ihr Sohn oder ihre Tochter würde sie in ein paar Jahren fragen, was mit Papa passiert ist, und Jenny müsse sich vorwerfen lassen, warum sie nicht alles versucht hätte... warum sie zu früh aufgegeben habe. Davon träumte sich, sie träumte von einem blutverschmierten Kevin, der ihr diesen Vorwurf machte... warum hast du mich alleine gelassen. Jenny hielt diese Gedanken nicht mehr aus...

    Carinas Wohnung - 19:00 Uhr


    Auch nach einer Dusche, in frischen Klamotten fühlte Ben sich einfach nur müde. Nicht körperlich, trotz der anstrengenden Verfolgungsjagd hinter dem jungen Tobias quer durch das Villenviertel bis zu den Eisenbahnschienen, sondern seelisch. Der Unfall ging ihm nahe, niemand schüttelte das einfach so ab aber irgendwo waren es die beiden Polizisten auch gewöhnt, dass so etwas passieren kann. Aber dass dessen großer Bruder nun völlig im Unklaren gelassen wurde, warum er von Tobias attackiert wurde, ging Ben nicht aus dem Kopf. Als er unter der Dusche stand dachte er darüber nach, wie es ihm gehen würde, würde Semir ihn angreifen... ohne Grund, ohne Vorwarnung, und er würde niemals mehr erfahren, warum. Der Gedanke ließ ihn schaudern, obwohl das Wasser, das auf seinen nackten Körper rieselte, warm war.
    Ausserdem ging ihm Jenny nicht aus dem Kopf. Ihr entsetzter Blick, mit dem sie Ben und Semir nacheinander ansah. "Ihr habt ihn aufgegeben...", hallte ihm noch im Gehörgang nach und verursachte Magenkrämpfe. Hatten sie ihn aufgegeben? Ja... zu Unrecht? Vielleicht. Ben konnte es selbst nicht sagen. Er wusste selbst nicht, ob er noch hoffen sollte, ob er noch hoffen wollte. Ob er sich an einen Strohhalm klammern sollte, der schon längst abgeknicht war, an einem Ast festhalten, der schon längst nur noch an der letzten Faser hing, bevor er abriss.


    Semir schien ihm kühler und realistischer, wobei Ben darüber nicht negativ dachte... im Gegenteil. Er bewunderte seinen besten Freund oftmals dafür, dass dieser selbst so emotionale Dinge, wenn nötig, mit Distanz und Sachlichkeit bewerten konnte, und wenn nötig Abstand dazu hielt. Es gelang ihm nicht immer, aber meistens. Und der junge Polizist spürte ganz deutlich, dass Semir nicht mehr an ein Wunder glaubte, und sich dementsprechend auch nicht mehr daran klammern wollte.
    Der Abend erschien ihm dunkler als die letzten, als Carina zu ihm nach Hause gekommen war. Es wäre ihm auch heute lieber gewesen, aber der jungen Frau war es etwas unangenehm, sich ständig einladen zu lassen und wollte nun, dass Ben einmal zu ihr nach Hause kam. Die Straßen waren leergefegt, als der Polizist aus der Tiefgarage seiner Wohnung fuhr, nur wenige Menschen waren bei der nassen Kälte auf der Straße. Ein Mann mit einem Hund beim Abendspaziergang, eine Frau mit einem Kind an der Hand, die vermutlich vom abendlichen Shopping aus der Innenstadt kommt, und ein auffallend hell gekleideter Mann mit blondem Pferdeschwanz auf einer Bank sitzend, gegenüber von Bens Wohnung. Der Polizist war so in Gedanken versunken, dass er niemanden der Menschen beachtete.


    Bei Carina angekommen schlug dem Polizisten sofort der Duft frischen Essens entgegen, und sein Hungergefühl, dass die ganze Zeit unterdrückt wurde, meldete sich auf einmal doch. Die beiden umarmten sich innig und Carina freute sich darauf, einen weiteren Abend mit Ben verbringen zu dürfen. Doch schon während des Essens merkte die junge Frau, dass er seltsam schweigsam war. Er erzählte nur in Bruchstücken von dem Unfall des Jungen, der seinen eigenen Bruder attackiert hatte, dass sie die Beweggründe nicht kannten, aber den Fall der unheimlichen Mordserie damit wohl aufgeklärt hätten. Die Morde passierten alle auf die gleiche Art und Weise, nur diesmal war es eben schief gegangen, und Tobias wurde überrascht.
    Carina hörte Ben zu, sieh saßen sich schräg gegenüber und unaufhörlich strichen ihre Finger über Bens Hand auf dem Tisch. Natürlich wusste die blonde Frau auch über das Schicksal von Bens Freund Kevin, aber sie vermied es, nachzufragen. Doch das brauchte sie nicht. Ben erzählte von sich aus, und es tat ihm gut. Der Polizist war anders als sein schweigsamer Freund, er frass selten etwas in sich hinein und war immer froh, reden zu können, sein Herz ausschütten zu können, und man musste ihn dazu nicht überreden.


    Natürlich konnte er immer mit Semir reden, doch es war schwer frei von der Seele zu reden, wenn derjenige, der ihm zuhörte, selber betroffen war. Und lange Zeit war Ben alleine, hin und wieder telefonierte er mit seiner Schwester, die nicht hier lebte. Aber jetzt war Carina in seinem Leben und endlich eine Schulter, an der er sich auch mal anlehnen konnte. Die junge Frau war mental stark, war selbst Kummer gewohnt, nachdem sie jahrelang ihre schwer demenzkranke Mutter gepflegt hatte. Sie hatte auch nicht den Eindruck nun einen Mann zum Freund zu haben, der ausschließlich Sorgen und Probleme hatte, davor hatte Ben ein wenig Angst. Aber Carina gab ihm das sichere Gefühl, sich einfach fallen zu lassen, zu reden.
    "Es hat weh getan, als sie gesagt hat, dass wir Kevin aufgegeben haben.", meinte er leise und seine Stimme zitterte. Soviel Emotionen sich in den letzten Tagen aufgebaut hatten fanden am späten Nachmittag bei Jenny ihren negativen Höhepunkt. "Sie will es nicht wahrhaben, was passiert ist. Und so lange man Kevins Leiche nicht einwandfrei gefunden hat, wird sie sich weiter an diesen Strohhalm klammern.", meinte Carina und zeigte auch Verständnis für die junge Polizistin. "Ich weiß... mir geht es ja nicht anders. Für einen Moment bin ich voll Hoffnung, einen Moment später denke ich... vergiss es. Wir müssen es akzeptieren." Er seufzte. "Ich weiß es selber nicht."


    Doch etwas belastete Ben noch mehr... der Abschied. Das letzte Mal, als Kevin und Ben sich sahen, lag Kevin gerade mit blutender Nase am Boden, nachdem Semir ihn niedergeschlagen hatte. "Ich kann das einfach nicht vergessen. Dass wir uns nicht mehr ausgesprochen haben. Es ist, als stünde noch etwas zwischen uns, und ich kann es nicht mehr klären. Und dann noch sein Kind...", sagte Ben und blickte zu Carina auf. "Das Kind hätte ihm Halt gegeben, es hätte ihm geholfen. Er hat sich so darauf gefreut, hat Jenny gesagt." Der Gedanke, später dem Kind nur von seinem Vater erzählen zu können, statt dass er selbst bei ihm saß, versetzte dem Polizisten einen Stich nach dem anderen ins Herz.
    "Ich weiß doch selbst, wie scheisse es ist mit einem Vater aufzuwachsen, der so gut wie nicht da ist. Und Kevin weiß...", er stockte kurz und musste schlucken. "Kevin wusste es auch. Er wäre so ein guter Vater geworden." Plötzlich stiegen alle Emotionen von Ben hoch, als er wieder aufsah zu Carina, die einfach zuhörte, und für Ben da war. Aber nun zeigte er nicht nur Worte, sondern auch eine Reaktion, als sich seine Augen mit Wasser füllten. "Es ist so verdammt ungerecht...", schluchzte er mit verzerrter Stimme, und konnte seine Gefühle nicht mehr verbergen. Die junge Frau stand auf und nahm ihren Freund tröstend in die Arme, eine Geste die mehr Trost spendete als tausend Worte... und der nahm den Trost dankbar an. "Ich bin so froh, dass du da bist.", hörte die junge Frau seine Stimme neben sich und der Polizist hatte zum ersten Mal das Gefühl, er würde tatsächlich um Kevins Tod weinen...

    Krankenhaus - 16:45


    Sie hatten sich so sehr beeilt wie es ging. Semir hatte sich auf der Dienststelle in Sekundenschnelle umgezogen, nachdem Andrea bereits zu Hause war, um ihrem Mann frische Sachen zu holen. Sie wurde von Semir von unterwegs bereits angerufen, als der erfahrene Polizist noch im Dienstwagen gebibbert hatte und die Unfallaufnahme an den Bahngleisen beobachtet hatte. Danach waren die beiden so schnell es ging zurück gefahren, um dann sofort in Richtung Krankenhaus aufzubrechen. Diesmal fühlten sich die zwei Männer noch unwohler, noch aufgewühlter. Nun war es keine einfache Befragung, es war auch kein einfaches Überbringen einer Todesnachricht. Sie mussten dem jungen Dennis sagen, dass sein Bruder tot war, und er würde niemals erfahren, warum er von seinem eigenen Fleisch und Blut attackiert wurde.
    Ein Notfallseelsorger war mit den beiden Polizisten ins Krankenzimmer gegangen, doch er war letztendlich überflüssig. Es schien, als hätte Dennis ein ungutes Gefühl gehabt, er schrie nicht, er weinte nicht, er sah nur mit leerem Blick aus der großen Fensterfront in die grauen Wolken aus dem Krankenzimmer heraus, nachdem Semir die Todesnachricht überbrachte. Der Polizist unterließ es, Details des Todes zu nennen, doch dass es auf der Flucht passierte, sagte er. Kein Wort des Vorwurfs, was er und Ben schon oft hören mussten, wenn ein Verdächtiger bei der Flucht einen Unfall hatte.


    "Hat er... irgendetwas gesagt?", fragte der junge Fussballer dann nach langer Zeit des Schweigens, doch Ben musste stumm den Kopf schütteln. "Wir hatten keine Gelegenheit ihn zu befragen." Wieder Stille, jedoch war von Dennis keine Kälte oder Ablehnung zu spüren, sondern eine tiefe Ratlosigkeit. Es machte alles einfach keinen Sinn. "Tobias hat sich irgendwann verändert. Er war früher lebhafter, irgendwann hat er sich sehr zurückgezogen und auch von mir distanziert. Er hat sich die Haare gefärbt, er hatte plötzlich so altmodische Klamotten an, und manchmal kam er erst spät nach Hause." Plötzlich sprudelte es aus Dennis heraus, als wolle er eine Biographie seines Bruders erzählen. Es tauchten Erinnerungsstücke vor seinem Auge auf, die er nicht einfach herunterschlucken konnte.
    "Ich meine, in dem Alter ist das ja nicht unnormal, dass man sich ändert, aber es passte nicht zusammen. Die Kleidung, diese Stille und dann trotzdem von zu Hause wegbleiben. Einmal hatte er gesagt, dass er nun auf dem richtigen Weg war. Dass er ein Ziel hatte. Ich hatte nur gedacht: Was redet der da...?" Dennis sah die beiden Kommissare nicht an, als er sprach und stockte nun kurz. Seine Unterlippe bebte. "Hätte ich ihn doch nur mal gefragt. Warum hab ich ihn nicht gefragt... was er tut, und was sein Ziel war?"


    Ben und Semir standen stumm im Zimmer und hatten einen Kloß im Hals. Sie hatten beide schon wichtige Menschen in ihrem Leben verloren, sie waren beide schon von Menschen enttäuscht worden, die vordergründig Freunde waren, um hinterrücks die Waffe auf jemanden zu richten. Semir hatte diese sehr unangenehme Erfahrung vor langer Zeit mit der Lebensgefährtin eines toten LKA-Freundes gemacht. Doch der eigene Bruder war nochmal eine ganze andere Sache, eine andere Dimension, die die beiden Beamten nicht greifen konnten. Sie sprachen ihr Beileid aus, und als sie wieder im Dienstwagen saßen, waren beide fix und fertig. Es hatte angefangen zu regnen und die Frontscheibe war blind, die Sicht nach draussen verschleiert und verschwommen.
    Nach Minuten des Schweigens fand Ben zuerst seine Stimme wieder. "Haben wir irgendwas falsch gemacht? Hätten wir heute etwas besser machen können?" Sie sahen einander nicht an, sie sahen sturr gerade aus und Semir antwortete erst nicht. "Das SEK... das SEK hätte ihn sicher nicht fliehen lassen. Wir hätten das SEK rufen sollen." "Ben, was bringt es jetzt. Sowas kann uns immer passieren, und das weißt du.", sagte Semir, doch er konnte seinen Partner verstehen. Er war hinter dem Jungen her, er hatte gesehen was passiert war. Er tätschelte Bens Oberschenkel sanft. "Komm, wir haben noch einen Gang vor uns."


    Jennys Wohnung - 17:30 Uhr


    Jenny war stolz auf sich. Sie hatte den Tag heute gut rumbekommen, ihre Arbeit völlig normal erledigt und sich wohl gefühlt. Die Trauer, den Schmerz, sie hatte ihn erfolgreich unterdrückt, was auch eine Form der Verarbeitung war. Endlich hatte sie das Gefühl, dass die Arbeit ihr gut tat... genau das, was Jenny sich erhofft hatte. Sie war gerade ein paar Minuten daheim, als es unten an der Haustür klingelte und sie, nach Überprüfung über die Sprechanlage, für Semir und Ben den Summer drückte. Ein Lächeln, ein befreites typisches Jenny-Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, als die beiden Männer nach oben kamen. "Hallo ihr Zwei... was macht ihr denn hier?", fragte sie und ließ Ben und Semir eintreten.
    Ein kurzes Hallo, sie wollten mal kurz vorbeischauen und ein paar Worte über die scheinbare Lösung der Mordserie wurden gewechselt. Die beiden Männer setzten sich zu Jenny auf die Couch und die junge Frau merkte an der Stimmung der beiden, dass ihnen etwas auf dem Herzen lag. "Jenny... wir müssen dir noch etwas erzählen. Und wir wollten es erst heute abend machen, weil wir dich im Dienst nicht wieder runterziehen wollten.", sagte Semir irgendwann, und machte damit gleich klar, dass er die verspätete Info auf seine Kappe nahm. Jenny spürte ihr Unbehagen im Bauch und nickte aufmerksam.


    "Die Botschaft hat uns das Handy, das sie gefunden haben, geschickt. Hartmut hat es unter die Lupe genommen.", begann Semir vorsichtig. Beinahe konnte sich Jenny den Rest zusammenreimen... wenn es nicht Kevins Handy war, würden die beiden es einfach sagen. "Es ist Kevins Handy. Und es war ziemlich zerstört." Ein Stich ins Herz, ein weiterer Stich in ihrem Bauch... doch nur der zweite tat körperlich weh, so dass ihr Mundwinkel kurz zuckte. Das Handy ziemlich zerstört... von dem Aufprall. "Woher wisst ihr, dass es Kevins Handy ist?" "Hartmut konnte aus einem Teil der Festplatte Teile eines Bildes wiederherstellen.", erklärte Ben und vermied es tunlichst zu sagen, um welches Bild es sich handelte... nämlich um ein Bild von Kevin und Jenny selbst.
    "Da ist noch was...", sagte Semir leise und strich sich mit den Fingern über den Unterarm. "Hartmut hat herausgefunden dass... dass ein 9mm-Kugel ins Handy geschossen wurde, anhand der Kanten. Ausserdem hat er minimalste Blutspuren aufzeigen können, was aber zu wenig war um eine Blutgruppe oder DNA zu bestimmen." Jenny konnte die Informationen nicht in Zusammenhang bringen... eine Kugel, Blut... "Und was bedeutet das?", fragte sie verwirrt. "Das wissen wir selbst nicht, Jenny.", sagte Ben und beide Polizisten fühlten sich furchtbar niedergeschlagen. Sie konnten Jenny nur Informationen geben, aber immer noch keine Klarheit in die Sache bringen.


    "Wir wollen nicht mehr spekulieren. Aber du hast ein Recht zu erfahren, was Hartmut uns gesagt hat." Die junge Frau nickte abwesend, langsam formten sich die Puzzleteile zu einem Bild, und wie in Zeitlupe bewegten sich ihre Augen nach oben und wechselten zwischen Semir und Ben hin und her. "Ihr habt ihn aufgegeben..." Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Es klang so merkwürdig endgültig, so kalt dass Ben eine Gänsehaut bekam. "Jenny...", "Ihr habt ihn wirklich aufgegeben!", wiederholte die junge Frau lauter und ihr Herz klopfte fest an ihre Brust. Sie stand nicht wütend auf, sie schrie die beiden Polizisten nicht an. Sie saß einfach stocksteif auf der Couch und blickte zwischen ihnen hin und her. Semir wäre es in diesem Moment wohl lieber gewesen, wenn sie ausgeflippt wäre, und sie hätten sie beruhigen können. So klangen ihre Worte wie ein eiskalter Vorwurf.
    "Es gibt einfach nicht mehr viel, was dafür spricht, dass er noch lebt. Vielleicht müssen wir einfach anfangen, uns damit abzufinden...", sagte er vorsichtig, angstvoll mit jedem seiner Worte durch eine dünne Glasscheibe zu brechen, auf der er balancierte. Ben hatte völlig die Worte verloren, er fühlte sich einfach hundeelend, Jenny so zu beobachten. "Es ist okay...", meinte sie dann irgendwann. "Danke, dass ihr mir Bescheid gesagt habt." Das scheinbare Akzeptieren versetzte den beiden Beamten einen weiteren Stich, denn diese Reaktion war nicht ehrlich, das wussten sie. Beide fühlten sich mies, als sie Jennys Wohnung wenig später verließen...