Dienststelle - 12:00 Uhr
Semir und Ben hingen beinahe atemlos an den Lippen des Pastors. Ein Bild, zusammengesetzt wie ein Puzzle aus Sätzen, Informationen und Gedankenfetzen ergab sich langsam in den Köpfen der Kommissare. Doch das Entsetzen in den Augen und in der Stimme des Geistlichen konnten sie noch nicht recht deuten. "Herr Busche... was ist los? Kennen sie diese Zitate?", fragte Semir gespannt, als der Pastor eben jene Zitate, die Tobias seinem Bruder an den Kopf geworfen hatte, bevor er zustach, wiederholte. Er schien sie nochmal und nochmal zu lesen, als müsse er sich genau erinnern woher er die Sätze kannte, die ihn nun so in Aufruhr versetzte hatten. Ben, der scheinbar im Fadenkreuz des Mörders stand, fühlte sich immer unbehaglicher.
"Diese Zitate habe ich schon einmal gelesen. Es... es stammt aus einem Buch.", sagte er nachdenklich und hatte die Brille endgültig abgesetzt. Langsam fand er seine Selbstsicherheit wieder. "Es gibt Abweichungen der Bibel. Menschen, die die Bibel anders gedeutet haben, umgeschrieben haben. Sie glauben zwar an das Christentum wie sie und ich... aber sie deuten Gleichnisse anders und können somit Sachverhalte völlig falsch widergeben. Wenn sich dann Gruppen finden, die an diese Abweichungen glauben, können gefährliche Strömungen entstehen."
"Sie meinen so eine Art Sekte?", fragte Semir interessiert und der Pastor begann, immer noch ein wenig nervös, seine Brille zu putzen. "Ich möchte es nicht Sekte nennen. Letztendlich glauben solche Gemeinschaften einfach nur an andere Auslegungen der Bibel. Viele sind harmlos, andere dagegen nicht. Letztendlich könnte man das Christentum ebenfalls als Sekte bezeichnen, oder?" Er schaute kurz in die Runde, und die beiden Polizisten nickten. Ben stand auf, meinte er könne einen Kaffee vertragen und bot auch Semir und Karl Busche an, die beiden annahmen.
"Woher kennen sie diese Sätze von Tobias. Es kann uns vielleicht helfen, weitere Taten zu verhindern.", fragte der erfahrene Kommissar. "Ich habe mich mit einer Abwandlung befasst, vor 10 oder 15 Jahren irgendwann. Das Buch nennt sich "Hierarchie der Engel" und ist bereits Jahrhunderte alt. Darin wird die Schöpfung des Menschen als Grundübel beschrieben. Adams Sünde ist zwar auch in unserer Bibel der Ursprung der Sünde, allerdings ist Gott gerecht und verzeiht jedem Menschen seine Sünde. In der "Engelsbibel" nenne ich sie mal, ist dies ein wenig anders." Es klang interessant und die beiden Polizisten hörten aufmerksam zu. Karl Busche unterbrach kurz, rührte in seinem Kaffee und nahm einen Schluck, bevor er fortfuhr.
"Die Engel des Herrn übernehmen so etwas wie die Exekutive, da Gott selbst die Sünder nicht bestraft. Sie sehen sich als vernachlässigt an und beginnen einen Krieg gegen den Menschen. Der Anfang der Apokalypse an deren Ende das Aussterben der Menschheit steht, um Gottes Fehler, die Schöpfung des Menschen, zu berichtigen. Damit wieder Frieden auf Erden herrscht." "Aber wem nutzt der Frieden, wenn es keine Menschen mehr gibt?", wunderte sich Ben und der Pastor schmunzelte: "Tieren und Pflanzen. Auch sie sind Gottes Geschöpfe, die allerdings in den Augen der Engel vom Menschen vernichtet werden. Der Verfasser dieser Bücher, dieser Gleichnisse sah sich selbst als dieser Engel und war erfüllt vom Menschenhass. Leider hat er vereinzelt Anhänger gefunden..."
"Und diese glauben nun, dass sie Engel sind, und müssten in Gottes Namen Sünder bestrafen?", fragte Semir beinahe ungläubig. "Das würde erklären, warum es einen verurteilten Kinderschänder und einen Betrüger erwischt hat.", sagte Ben und sein Partner setzte hinzu: "Und Dennis wegen dem Streit mit den Eltern." "Beschränken sie sich nicht auf Verbrecher, oder Menschen, die die 10 Gebote nicht beachtet haben. Für diese Engelsgläubigen, oder ich habe sie früher auch gern als "Engelskrieger" bezeichnet, sind alle Menschen gleichermaßen Sünder. Ausserdem treibt sie die Eifersucht an, weil Gott ihr Herr den Menschen jedes Übel durchgehen lässt, während er zum Beispiel den Erzengel wegen seines Fehlverhaltens sofort bestraft und in die Unterwelt verbannt hat.", erklärte der Pastor.
Semir wollte nochmal zusammenfassen, was sie jetzt erfahren hatten: "Also es gibt da eine Person oder vielleicht sogar eine Gruppe von Menschen, die glauben sie seien Engel. Das heißt, wenn wir Pech haben, haben wir nicht nur einen Verwirrten hier in der Gegend rumlaufen." "Das ist nicht auszuschließen. Es gab immer mal Gruppen, Gemeinschaften von solchen Menschen. Aber größtenteils recht friedlich, sie lehnen die Menschen einfach ab, weil der Glauben an Gott und Moses Gebote, in denen ja auch das Gebot "Du sollst nicht töten" steht, stärker ist. Sie leben für sich alleine. Aber es gab oder gibt auch Gruppen, die radikalisiert sind und den Schriften so weit Glauben schenken, dass sie die Bestrafungen tatsächlich ausführen."
Die beiden Polizisten blickten sich kurz an und atmeten tief durch. Es hörte sich alles surreal an, wie ein abgedrehter Horrorfilm, den sie gerade im Fernsehen sahen. Aber bei allem, was in der Welt passiert, dass Menschen aus Glaubensgründen Kriege führten, war es doch fast wieder realistisch. Ein Irrer, der den wirren Theorien Glauben schenkt, Überzeugungskraft hat, andere mitzuziehen. Dazu Skrupellosigkeit, und schon hat man einen Bestrafer in Engelsgestalt. Ben bekam Gänsehaut, als er sich erinnerte neben dem bleichen Mann in der Kirche gekniet zu haben und er konnte im Ohr die flüsternde Stimme wieder vernehmen. Schnell trank er einen Schluck Kaffee.
"Waren sie dabei, als Tobias umgekommen war?", fragte nun der Pastor und Ben nickte: "Ich hatte ihn verfolgt, als er vor den Zug gelaufen ist." "Ein Mensch, der einen Engel jagt, stellt sich als einer der größten Sünder dar. Es ist Frevel, es ist das Schlimmste was es gibt." Der Polizist zuckte mit den Schultern und meinte ungewollt lustig: "Ich konnte nicht erkennen, dass er ein Engel ist..." "Ich will ihnen damit sagen, dass sie in Gefahr sind." Das war Ben sowieso klar, spätestens nach dem Ziegenbock im Keller. "Aber die Sache hat auch etwas Gutes... einen Sünder, der einen Engel jagt... um den wird sich vermutlich der Anführer der Gruppe kümmern.", sagte er und blickte die beiden Polizisten an.
"Leider können wir den Kerl aber nicht grundlos festnehmen. Es gibt keine verwertbaren Spuren an den Tatorten um etwas nachzuweisen. Wir können den Typ nicht einfach verhaften, nur weil er in der Kirche hebräisch betet und auf der Parkbank vor Bens Haus sitzt.", sagte Semir. "Wir können ja abwarten, bis er mich aufschlitzt.", meinte Ben nun sarkastisch in Semirs Richtung. "Können sie sich das eigentlich erklären? Das Aufschlitzen?" Der Pastor nickte sofort. "Wenn ein Mensch stirbt, stirbt nur sein Körper. Seine Seele, die im Körper wohnt, fährt in den Himmel. Das möchten die Engel natürlich nicht, sie wollen die Seele in die Unterwelt verbannen. Das geht aber nur, wenn sie die Seele finden." Wieder blickte der ältere Mann zu Ben. "Sie brauchen also keine Angst zu haben, dass der Typ eine Bombe unter ihr Auto klemmt, oder sie auf Distanz erschiesst. Vielleicht ist das ein Trost..." Ben wog den Kopf hin und her: "Geht so..."
"Und wo sitzt die Seele des Menschen? Wo sucht er danach?", fragte Semir weiter. "Es ist eher bildlich gemeint. Und wo die Seele wohnt?" Der Pastor setzte die Brille wieder auf die Nase und schmunzelte nun endlich wieder. "Das, mein Junge... bleibt jedem selbst überlassen..."