Ben's Wohnung - 15:00 Uhr
Gabriel war eigentlich zu clever, zu schlau und zu gerissen um nun blindlinks in Bens Wohnung zu stürmen. Und eigentlich müsste ihm sein Unterbewusstsein sagen, dass alles fauler Zauber war, was gerade vor Bens Haustür abgelaufen war, das wussten sowohl Ben als auch Semir. Aber der erfahrene Kommissar baute darauf, dass Gabriel nicht wie ein normal denkender Mensch, sondern wie ein Fanatiker reagieren würde. Wie ein Rechtsradikaler, der rot sah wenn man Deutschland nur veralberte oder ein radikaler Islamist der tötete, auch wenn er wusste dass jemand es nicht ernst meinte, wenn er Allah beleidigte. Fanatiker dachten nicht rational, auch wenn sie im Ursprung schlaue Menschen waren... und so bauten sie darauf, mit der Provokation in Gabriels Kopf einen Schalter umzulegen.
Es funktionierte... Gabriel schaffte es, zur Haustür zu gelangen, bevor sie ins Schloß fiel und konnte somit in den Flur ohne eine Klingel zu drücken. Sein Blut kochte in seinen Adern, obwohl er äusserlich ganz ruhig war. Allen Psychoterror, den er Ben ausgesetzt hatte, schien vergessen. Bisher hatte er nur einen schlechten Menschen gejagt und in Angst versetzt, der es gewagt hatte, einen Engel zu jagen. Jetzt wusste er, dass Ben ein großer Sünder war, der es nicht verdient hatte, verschont zu werden. Er hatte auf ein Zeichen Gottes gewartet, und diese Sünden schienen wie ein Befehl von oben zu sein, endlich diesem armseeligen Menschenleben ein Ende zu setzen und die Seele des Sünders in die Unterwelt zu verbannen.
Er konnte sich an das Geräusch erinnern, als seine scharfe Klinge in den Körper des Bankmanagers eingedrungen war, als er sich erschrocken von Gabriels Stimme umgedreht hatte. Er konnte sich an das Jammern des Kinderschänders erinnern, den er zuerst mit Kabelbinder an das Autobahnbrückengeländer gebunden hatte, bevor er ihn aufschlitzte um seine Seele zu entnehmen. An all das erinnerte sich der Gesandte Gottes, als er Schritt für Schritt die Treppenstufen hinaufstieg, den Griff des scharfen Messers fest umklammert. Er näherte sich der Tür, die er vor einigen Stunden schon einmal aufgebrochen hatte, um die Gasflasche aufzustellen und auf Ben zu warten. Als er angeschossen wurde und vor Schreck die Blumenvase umschmiss, als er fliehen wollte.
Diesmal war Ben bei klarem Verstand. Und er würde nicht mit ihm rechnen, dachte Gabriel, so kurz nachdem er schon einen Anschlag verübt hatte. Oder hatte er ihn überhaupt im Kopf, dass er dahinter steckte? Natürlich... die Aktion in der Kirche sprach Bände. Doch jetzt war es zu spät, um noch Reue oder Buße von Gott einzufordern. Das würde der Herrscher auch noch zulassen, dachte Gabriel grimmig... wie jedem vergab er die schlimmsten Sünden, nur die Engel hatten unter seinem Zorn zu leiden.
Die aufgebrochene Tür war noch nicht repariert, und so fiel es Gabriel nicht schwer, ein zweites Mal einzudringen. Ohne sich zu verstecken mit aufrechtem Gang schritt der blonde Mann in die luxuriös ausgestattete Wohnung. Der Flur, sowie das Wohn- und Esszimmer waren komplett leer, doch das Geräusch von fließendem Duschwasser war bis hierher zu vernehmen. Ein diabolisches Grinsen legte sich auf Gabriels Gesicht, und er folgte dem Geräusch das nur von einer Tür noch unterbrochen wurde. Sein Blut geriet mehr und mehr in Wallung, wie immer wenn er kurz davor war, eine Seele in die Unterwelt zu verbannen, den fassungslosen Gesichtsausdruck in den Augen der Sünder zu sehen, wenn sie spürten jetzt für ihre Taten bezahlen zu müssen, bestraft von Gottes Engeln, an die sie schon lange nicht mehr glaubten.
Die Hand legte sich heiß wie ein Lavastein auf die Klinke des Bades, die andere hatte das Messer so fest umklammert, dass die Gelenke weiß wurden. Langsam und knarrend drückte er die Tür zum modernen Bad auf, das ein wenig in Nebel gehüllt war, ob des heißen Wassers das unaufhörlich aus dem Duschkopf lief. Die Glastüren der Dusche waren milchig, so dass Gabriel Ben nur schwer dahinter vermuten konnte. Ein, zwei Schritte weiter noch, und er war nun ganz dicht dran. "Ich bin der Diener meines Herrn. Ich richte für ihn. Ich tue das, was er versäumt hat.", flüsterte Gabriel mahnisch in das Rauschen des Duschwassers und legte die Hand um den Griff der Tür.
Das Messer hatte die Tasche längst verlassen und blitzte im Licht der LED-Lichter an der Decke. Er atmtete tief durch bevor er laut rief: "Sie sind nicht rein, die Hierachie der Engel kennt kein Platz für sie. Der freie Wille knüpft den Strick...", und Gabriel riss die Tür auf, und wollte seine Hand bereits auf Bauchhöhe zustechen lassen, als er versteinerte, denn ausser der modern gekachelten Wand sah er nichts. "...und wirft sie dann ins Meer zurück.", hörte er eine Stimme hinter sich, die den Satz aus dem Buch "Hierarchie der Engel" vollendete. Die Stimme gehörte zu Ben, der mit Semir noch einige Kapitel aus dem Buch gelesen hatte, nachdem der Pfarrer ihnen davon erzählt hatte. Jetzt standen sie nebeneinander, hatten beide ihre Dienstwaffen gezückt und auf den weiß gekleideten blonden Mann gerichtet, der sich langsam zu ihnen umdrehte.
Sie hatten vielleicht 2 oder 3 Meter Abstand zu ihm, als Gabriel, immer noch das Messer in der Hand, einen Schritt auf sie zukam. "Werfen sie das Messer weg! Sie sind verhaftet wegen zweifachen mutmaßlichen Mord, Anstiftung zum Mord und jetzt auch noch Mordversuch.", sagte Semir sachlich, auch wenn ihm die Situation mulmig vorkam. Ausserdem hatte er die Einbrüche gar nicht erst erwähnt. Gabriel würde nie wieder aus dem Gefängnis kommen, wenn er verhaftet würde... und wenn, dann nur um in eine Psychatrie verlegt zu werden.
"Ihr Hüter des Gesetzes seid selbst die größten Sünder und urteilt nach einem gottlosen Gesetz.", sagte Gabriel mit ruhiger Stimme und machte noch einen Schritt auf die beiden Polizisten zu, die keinerlei Anstalten machten zurück zu weichen. "Bleiben sie stehen!", sagte Semir streng, während Ben deutlicher wurde: "Wirf das verdammte Messer weg, du Sackgesicht!" Doch das Grinsen im Gesicht des Mannes wurde nur noch breiter, und scheinbar schien er zu glauben, was er sagte: "Ihr könnt mich nicht aufhalten! Ich bin ein Bote Gottes!", rief er und tat nun zwei weitere schnelle Schritte auf Semir und Ben zu.
Die beiden Beamten hatten keine Zeit sich abzusprechen und drückten beide gleichermaßen ab. Zwei Schüsse bellten durch das Zimmer, Semir traf im Oberarm, Ben an der Schulter. Gabriel wurde sich jetzt erst der eigenen Verletztheit bewusst, denn er spürte einen heftigen Schmerz, der noch schlimmer war, als durch den Streifschuss, den er als Strafe Gottes abgetan hatte. Doch Gott würde ihn doch jetzt nicht daran hindern, seine Tat auszuführen. Doch die Schüsse ließen ihn nach hinten taumeln, die Hand gehorchte durch den Durchschuss an der Schulter nicht mehr den Befehlen aus dem Kopf und fiel zu Boden. Gabriel selbst brach stöhnend am Türrahmen des Bades zusammen. Semir reagierte als erstes, schubste mit dem Fuß das Messer in Richtung Wohnzimme, weg von Gabriel von dem nun keine Gefahr mehr auszugehen schien. Gleichzeitig griff Ben schnell zum Handy um einen Krankenwagen zu rufen.