Beiträge von Campino

    Ben's Wohnung - 15:00 Uhr


    Gabriel war eigentlich zu clever, zu schlau und zu gerissen um nun blindlinks in Bens Wohnung zu stürmen. Und eigentlich müsste ihm sein Unterbewusstsein sagen, dass alles fauler Zauber war, was gerade vor Bens Haustür abgelaufen war, das wussten sowohl Ben als auch Semir. Aber der erfahrene Kommissar baute darauf, dass Gabriel nicht wie ein normal denkender Mensch, sondern wie ein Fanatiker reagieren würde. Wie ein Rechtsradikaler, der rot sah wenn man Deutschland nur veralberte oder ein radikaler Islamist der tötete, auch wenn er wusste dass jemand es nicht ernst meinte, wenn er Allah beleidigte. Fanatiker dachten nicht rational, auch wenn sie im Ursprung schlaue Menschen waren... und so bauten sie darauf, mit der Provokation in Gabriels Kopf einen Schalter umzulegen.
    Es funktionierte... Gabriel schaffte es, zur Haustür zu gelangen, bevor sie ins Schloß fiel und konnte somit in den Flur ohne eine Klingel zu drücken. Sein Blut kochte in seinen Adern, obwohl er äusserlich ganz ruhig war. Allen Psychoterror, den er Ben ausgesetzt hatte, schien vergessen. Bisher hatte er nur einen schlechten Menschen gejagt und in Angst versetzt, der es gewagt hatte, einen Engel zu jagen. Jetzt wusste er, dass Ben ein großer Sünder war, der es nicht verdient hatte, verschont zu werden. Er hatte auf ein Zeichen Gottes gewartet, und diese Sünden schienen wie ein Befehl von oben zu sein, endlich diesem armseeligen Menschenleben ein Ende zu setzen und die Seele des Sünders in die Unterwelt zu verbannen.


    Er konnte sich an das Geräusch erinnern, als seine scharfe Klinge in den Körper des Bankmanagers eingedrungen war, als er sich erschrocken von Gabriels Stimme umgedreht hatte. Er konnte sich an das Jammern des Kinderschänders erinnern, den er zuerst mit Kabelbinder an das Autobahnbrückengeländer gebunden hatte, bevor er ihn aufschlitzte um seine Seele zu entnehmen. An all das erinnerte sich der Gesandte Gottes, als er Schritt für Schritt die Treppenstufen hinaufstieg, den Griff des scharfen Messers fest umklammert. Er näherte sich der Tür, die er vor einigen Stunden schon einmal aufgebrochen hatte, um die Gasflasche aufzustellen und auf Ben zu warten. Als er angeschossen wurde und vor Schreck die Blumenvase umschmiss, als er fliehen wollte.
    Diesmal war Ben bei klarem Verstand. Und er würde nicht mit ihm rechnen, dachte Gabriel, so kurz nachdem er schon einen Anschlag verübt hatte. Oder hatte er ihn überhaupt im Kopf, dass er dahinter steckte? Natürlich... die Aktion in der Kirche sprach Bände. Doch jetzt war es zu spät, um noch Reue oder Buße von Gott einzufordern. Das würde der Herrscher auch noch zulassen, dachte Gabriel grimmig... wie jedem vergab er die schlimmsten Sünden, nur die Engel hatten unter seinem Zorn zu leiden.


    Die aufgebrochene Tür war noch nicht repariert, und so fiel es Gabriel nicht schwer, ein zweites Mal einzudringen. Ohne sich zu verstecken mit aufrechtem Gang schritt der blonde Mann in die luxuriös ausgestattete Wohnung. Der Flur, sowie das Wohn- und Esszimmer waren komplett leer, doch das Geräusch von fließendem Duschwasser war bis hierher zu vernehmen. Ein diabolisches Grinsen legte sich auf Gabriels Gesicht, und er folgte dem Geräusch das nur von einer Tür noch unterbrochen wurde. Sein Blut geriet mehr und mehr in Wallung, wie immer wenn er kurz davor war, eine Seele in die Unterwelt zu verbannen, den fassungslosen Gesichtsausdruck in den Augen der Sünder zu sehen, wenn sie spürten jetzt für ihre Taten bezahlen zu müssen, bestraft von Gottes Engeln, an die sie schon lange nicht mehr glaubten.
    Die Hand legte sich heiß wie ein Lavastein auf die Klinke des Bades, die andere hatte das Messer so fest umklammert, dass die Gelenke weiß wurden. Langsam und knarrend drückte er die Tür zum modernen Bad auf, das ein wenig in Nebel gehüllt war, ob des heißen Wassers das unaufhörlich aus dem Duschkopf lief. Die Glastüren der Dusche waren milchig, so dass Gabriel Ben nur schwer dahinter vermuten konnte. Ein, zwei Schritte weiter noch, und er war nun ganz dicht dran. "Ich bin der Diener meines Herrn. Ich richte für ihn. Ich tue das, was er versäumt hat.", flüsterte Gabriel mahnisch in das Rauschen des Duschwassers und legte die Hand um den Griff der Tür.


    Das Messer hatte die Tasche längst verlassen und blitzte im Licht der LED-Lichter an der Decke. Er atmtete tief durch bevor er laut rief: "Sie sind nicht rein, die Hierachie der Engel kennt kein Platz für sie. Der freie Wille knüpft den Strick...", und Gabriel riss die Tür auf, und wollte seine Hand bereits auf Bauchhöhe zustechen lassen, als er versteinerte, denn ausser der modern gekachelten Wand sah er nichts. "...und wirft sie dann ins Meer zurück.", hörte er eine Stimme hinter sich, die den Satz aus dem Buch "Hierarchie der Engel" vollendete. Die Stimme gehörte zu Ben, der mit Semir noch einige Kapitel aus dem Buch gelesen hatte, nachdem der Pfarrer ihnen davon erzählt hatte. Jetzt standen sie nebeneinander, hatten beide ihre Dienstwaffen gezückt und auf den weiß gekleideten blonden Mann gerichtet, der sich langsam zu ihnen umdrehte.
    Sie hatten vielleicht 2 oder 3 Meter Abstand zu ihm, als Gabriel, immer noch das Messer in der Hand, einen Schritt auf sie zukam. "Werfen sie das Messer weg! Sie sind verhaftet wegen zweifachen mutmaßlichen Mord, Anstiftung zum Mord und jetzt auch noch Mordversuch.", sagte Semir sachlich, auch wenn ihm die Situation mulmig vorkam. Ausserdem hatte er die Einbrüche gar nicht erst erwähnt. Gabriel würde nie wieder aus dem Gefängnis kommen, wenn er verhaftet würde... und wenn, dann nur um in eine Psychatrie verlegt zu werden.


    "Ihr Hüter des Gesetzes seid selbst die größten Sünder und urteilt nach einem gottlosen Gesetz.", sagte Gabriel mit ruhiger Stimme und machte noch einen Schritt auf die beiden Polizisten zu, die keinerlei Anstalten machten zurück zu weichen. "Bleiben sie stehen!", sagte Semir streng, während Ben deutlicher wurde: "Wirf das verdammte Messer weg, du Sackgesicht!" Doch das Grinsen im Gesicht des Mannes wurde nur noch breiter, und scheinbar schien er zu glauben, was er sagte: "Ihr könnt mich nicht aufhalten! Ich bin ein Bote Gottes!", rief er und tat nun zwei weitere schnelle Schritte auf Semir und Ben zu.
    Die beiden Beamten hatten keine Zeit sich abzusprechen und drückten beide gleichermaßen ab. Zwei Schüsse bellten durch das Zimmer, Semir traf im Oberarm, Ben an der Schulter. Gabriel wurde sich jetzt erst der eigenen Verletztheit bewusst, denn er spürte einen heftigen Schmerz, der noch schlimmer war, als durch den Streifschuss, den er als Strafe Gottes abgetan hatte. Doch Gott würde ihn doch jetzt nicht daran hindern, seine Tat auszuführen. Doch die Schüsse ließen ihn nach hinten taumeln, die Hand gehorchte durch den Durchschuss an der Schulter nicht mehr den Befehlen aus dem Kopf und fiel zu Boden. Gabriel selbst brach stöhnend am Türrahmen des Bades zusammen. Semir reagierte als erstes, schubste mit dem Fuß das Messer in Richtung Wohnzimme, weg von Gabriel von dem nun keine Gefahr mehr auszugehen schien. Gleichzeitig griff Ben schnell zum Handy um einen Krankenwagen zu rufen.

    Ben's Wohnung - 14:30 Uhr


    Der Engel, der den Hirten auf den Feldern Bethlehems erschienen war, sagte zu ihnen: "Fürchtet euch nicht." Der Engel Gabriel, der jetzt erneut auf der Holzbank vor Bens Wohnung saß, dessen Eingangstür beobachtete und zufrieden feststellte, dass der Polizist vor ungefähr 20 Minuten nach Hause gekommen war, hielt sich nicht an die Meinung seiner Vorfahren. Die Menschen sollten erzittern vor der Stärke der Engel, vor ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit. Er wollte ein Exempel statuieren und zeigen, was mit Menschen passierte, die es wagen sollten, einen Engel zu jagen und zu verfolgen, wie es dieser Sünder getan hatte.
    Die Schusswunde schmerzte, aber sie war ein Zeichen Gottes, dass er mit Gabriels Arbeit nicht zufrieden war. Er würde diesen Sündern ohne Frage verzeihen, alle Sünden seinem Sohn aufladen, bis dieser unter der Last wie schon auf einem Kreuzweg elendig scheitern würde. Das wollte Gabriel, das wollten die Engel, die in den Krieg gegen die Menschen zogen, nicht mehr hinnehmen.


    Aber es gab sie, die wenigen Menschen ohne Sünde. Die, die sich in den Dienst Gottes stellten, seine Gebote beachteten, mit aller Strenge. Zwei solcher Menschen gingen scheinbar von Haus zu Haus, um Spenden für ein Kloster oder eine Einrichtung zu sammeln. Sie trugen schwarze Kutten, mit weißen Akzenten und beide hatten eine Kette mit einem Kreuz um den Hals gehängt. Die etwas lockigen Haare der älteren Nonne waren zu sehen, die zweite war jünger von ähnlicher schlanker Statur. Gabriel beobachtete sie, wie sie an der Haustür des Sünders klingelten.
    Es dauerte nur wenige Sekunden, und der junge Polizist öffnete ruckartig die Tür. Der hellhaarige Mann saß dicht genug, um die Stimmen verstehen zu können. "Was wollen sie?" "Wir sind ehrwürdige Schwestern eines Klosters in der Nähe. Ich bin Schwester Jennifer und das ist Schwester Andrea. Wir sammeln einerseits für das Kinderhospiz in der Nähe und natürlich auch für den Erhalt unseres Klosters, damit sich auch in Zukunft Frauen ganz dem göttlichen Glauben zu wenden können.", sagte die jüngere Nonne, während die ältere mit einer Blechdose raschelte.


    Gabriels Muskeln spannten sich an, als er die wütende Stimme des jungen Mannes hörte. "Ich glaubs nicht. Setzen sie sich in die Fußgängerzone wie jeder andere Penner, der betteln möchte. Die Kirche sitzt auf goldenen Stühlen aber ihr wollte den Menschen, die sowieso Kirchensteuer bezahlen, das Geld aus der Tasche ziehen?" Er polterte wütend und machte dabei abfällige Handbewegungen. Gabriels Lächeln, dass er beim Anblick der beiden Nonnen gerade noch auf dem Gesicht hatte, erlosch in Sekundenschnelle.
    "Los, scheren sie sich zum Teufel! Ich gebe nichts." "Aber ich bitte sie, mein Herr. Es geht doch um die Kinder, nicht ausschließlich um uns.", empörte sich die ältere Nonne mit erregter Stimme, wich aber dem drohenden Schritt von Ben, der nach vorne ging, sofort erschrocken zurück, während Jenny das Gleiche tat. "Ich warne sie! Ich erstatte Anzeige wegen Landfriedensbruch, wenn sie nicht sofort dieses Grundstück verlassen. Herrgott nochmal!" Ein Zucken fuhr durch Gabriels Augenlid, als er mit ansah wie dieser Kerl die beiden, sichtlich erschrockenen Nonnen vor seiner Tür verjagte. Diese traten beinahe eine Flucht an, tuschelnd machten sie kehrt um auf dem Bürgersteig schneller zu gehen, bis zum nächsten Haus.


    Gabriel kochte. Er kochte innerlich und sein Hass auf diese Menschen wuchs ins Unermessliche. Sein Plan in die Tat umsetzen, ein Exempel statuieren... es rückte näher und die Wut wurde größer. Er überlegte sich schon, einfach in sein Haus zu gehen, und diese arme Seele in die Unterwelt zu verbannen, nachdem er sie ihm aus dem Körper geschnitten hatte. Doch er musste sich gedulden, denn gerade jetzt hielt an der Tür ein Wagen, aus dem eine ältere Frau in schwarzen Haaren und einem schwarzen Mantel ausstieg. Ihr Blick war streng, die Frisur zu einem Mittelscheitel gekämmt. Auch sie klingelte an der Tür des Polizisten.
    Wieder dauerte es nur wenige Minuten und die Tür wurde von Ben geöffnet. Er schien über den Besuch nicht sonderlich begeistert. "Mama... was machst du denn hier?" Die Frau, die scheinbar die Mutter des Polizisten war, ebenfalls mit einer nicht sichtbaren Sicherheitsweste unterm Mantel, entgegnete sofort schnippisch. "Willst du deine Mutter nicht hinein bitten?" "Ehrlich gesagt... Nein."


    Die Frau seufzte und in ihrer Stimme lag Kummer. "Ach Junge... wie hast du dich nur verändert. Dein Vater hat sich für dich zu Tode gearbeitet, wir haben dir diese Wohnung geschenkt und so dankst du es uns." "Mein Vater hat sich nicht zu Tode gearbeitet, sondern zu Tode gesoffen, das weißt du genau.", knurrte Ben und stellte sich demonstrativ in die Tür, um seine Mutter - mit Namen Anna Engelhardt - nicht hineinzulassen. "Ja... aus Kummer, weil du ihn nicht mehr sehen wolltest und sogar deine Kollegen damals gerufen hast, damit sie ihm hier vor deinem eigenen Haus einen Platzverweis erteilen."
    Ein kurzes Schniefen drang bis zu Gabriel, dessen Wut sich ins Unermessliche steigerte. Sie ergriff Besitz von ihm, hatte Einfluss auf sein Handeln und Denken. "Mama, du langweilst mich. Willst du mir Schuldgefühle machen? Oder willst du, die ihr ganzes Leben lang nur zu Hause gesitzt hat, ein bisschen Haushalt geschmissen hat und Papa die Füße gekrault hast, etwas von Arbeit erzählen?" "Wie redest du mit deiner Mutter?", keifte Anna Engelhardt und stemmte die Hände in die Seiten. "So, wie ich es schon viel früher hätte tun sollen. Verschwinde, ich möchte dich nicht mehr sehen." Mit einem Krachen flog die Tür ins Schloss und die ältere Frau stieg schluchzend wieder zurück in den Wagen.


    Der selbsternannte Engel saß ganz still auf der Bank. So still, dass er beinahe das Atmen vergaß. Dieser Mensch hatte nicht nur einen Engel gejagt, er verstieß auch noch aufs abscheulichste gegen die 10 Gebote. Er achtete Vater und Mutter nicht, er missbrauchte den Namen des Herrn... und das gegenüber seinen irdischen Dienern, die letzten die noch auf dieser Welt verbleiben würden, würden die Engel den Krieg gewinnen.
    Wie in Zeitlupe stand Gabriel von der Bank auf und ging in Richtung der Wohnungstür. Die Klinge des Messers, dass in seiner Jackentasche war, hielt er fest umklammert...

    Krankenhaus - 11:45 Uhr


    Die beiden Autobahnpolizisten wurden von der freundlichen Krankenschwester am Empfang nach ihrer Nachfrage zu Thorsten Pohl sofort an die Personalstelle weitergeleitet. Durch das Treppenhaus, da Ben sich erneut dem Aufzug verweigerte und mehreren Fluren gelangte man schließlich in ein Büro, wo zwei Frauen an jeweils einem PC saßen und die Anfrage zu dem mutmaßlichen Mörder entgegen nahmen. "Herr Pohl war auf der Neurochirugie angestellt.", sagte die jüngere der beiden Frauen, wobei ihre Blicke sich aufreizend oft an Ben verfingen. Dann begann sie immer ein wenig schüchtern zu lächeln und hielt dem jungen Polizisten auch den Zettel mit der Stationsnummer hin. Semir allerdings war schneller und schnappte seinem Partner den Zettel fast schon provokant weg. "Vielen Dank, wir finden alleine hin."
    Ben grinste schelmisch, denn natürlich hatte er sowohl die Blicke, als auch Semirs Reaktion bemerkt. Auf dem Weg nur Neurochirugie knuffte er Semir gegen die Schulter. "Keine Bange, die Zeiten sind vorbei." "Ach wirklich? Das glaube ich erst, wenn du vor dem Altar stehst, mein Freund.", bekam er als Antwort und beide lächelten, trotz ihrer angespannten Situation. Ihre Vertrautheit in solchen Situationen war ein Ventil für Stress, und damit manchmal überlebenswichtig.


    Nun galt es, sich durchzufragen, denn theoretisch konnte jeder Arzt und jede Schwester mit dem Engel zusammengearbeitet haben. Semir und Ben befragten die Schwestern, die ihnen auf dem Flur begegneten, einen Arzt, der aber noch nicht lange da war und den Leiter der Station. Dieser kannte Thorsten Pohl zwar, aber konnte nur wenig Aussagen zu dessen Charakter machen. Ein guter, fähiger junger Arzt mit ausgezeichneten Qualifikationen... aber leider ließ er sich beim Klauen erwischen und musste zwingend entlassen werden. Es war ihm auch mal etwas von einem Streit zu Ohren gekommen während er selbst auf einer Tagung war, aber die Sache wurde nicht weiterverfolgt, weil es scheinbar harmlos war.
    Der Streit ließ zumindest die beiden Polizisten aufhorchen, aber wer sollte etwas zu dem Streit sagen, wenn die meisten Krankenschwestern ihn gar nicht oder nur flüchtig kannten, weil er nie etwas von sich erzählt hatte. Ben war niedergeschlagen. Er hatte sich so sehr Informationen gewünscht, die nützlich sein könnten um dem Kerl etwas nachzuweisen, ihm das Handwerk zu legen. Er konnte doch nicht einfach abwarten, bis Pohl ihm so nahe war, dass er ihn auf frischer Tat ertappte. Sollte er so lange in der Dienststelle schlafen? Solange Carina am Telefon vertrösten, er hätte soviel zu tun, damit er ja nicht rausbekam, wo seine Freundin wohnte? Solange Angst haben, ob und wie der Kerl das nächste Mal zuschlagen könnte?


    Sie wollten schon enttäuscht aufgeben, als sie eine weitere Krankenschwester auf der Station fragten. Sie war schon älter und es stellte sich heraus, dass sie die Dienstälteste war. Sie reagierte auf den Namen Thorsten Pohl auch sofort anders, als der Rest, die nur teilnahmungslos die Schultern hoben. Die Frau, deren Haare im Ansatz bereits grau waren und sich gutmütige Falten bereits im Gesicht breitgemacht hatten, lud die beiden auf eine 5-Minuten-Kaffeetasse in die Küche ein. "Das war ein sehr eigenartiger junger Mann. Sehr still und zurückgezogen. Ich versuche ja immer sofort mit den Leuten ein wenig ins Gespräch zu kommen, um ein wenig von ihnen zu erfahren." Semir schmunzelte, die Frau wirkte ein bisschen wie man sich eine gute Tante, die aber kein Geheimnis für sich behalten konnte und alle Infos über die Mitarbeiter der Station parat hatte, vorstellt.
    "Er ließ sich aber nicht sehr viel entlocken. Dass er sehr religiös ist, habe ich erfahren. Er hat sich dreimal am Tag zurück gezogen und gebetet... wie diese... ähm... Muslime mit ihrem Teppich." "Die beten 5mal am Tag.", konnte sich es Semir nicht verkneifen, obwohl die Frau es überhaupt nicht negativ oder abwertend gemeint hatte.


    "Haben sie mal etwas von einem Streit mitbekommen?", fragte Ben dann, nachdem er seinen Partner ein wenig tadelnd angesehen hatte. "Das können sie laut sagen, Jungchen. Er hat hier mal einen ebenfalls jungen Mann, der seine Mutter besucht hatte, angefahren. Ach was, angefahren... beinahe tätlich angegriffen." Die beiden Polizisten sahen sich an. "Wissen sie warum?" "Der Junge hatte mit seiner Mutter gestritten und sich ziemlich daneben benommen. Ich weiß nur noch, dass Herr Pohl den Jungen angeschrieen hat, dass man Vater und Mutter zu ehren hat. Und das man nicht fluchen soll. Er war wie ausgewechselt, ich bekam regelrecht Angst und zwei Pfleger mussten ihn zurückhalten." Semir hörte aufmerksam zu, und sein Kopf begann zu arbeiten.
    "Hat er sich dazu mal geäussert?" "Hmm... naja... er sah sich im Recht. Weil er eben so streng gläubig war ist er nicht darüber hinweggekommen, wie... hmm... ich meine, gottlos hat er gesagt... wie gottlos die jungen Menschen heutzutage sind. Er hat das sehr ernst genommen. Als herausgekommen war, dass er die Amphetamine mitgehen lassen hatte, waren wir uns hier einig, dass er damals auf irgendeinem Trip vermutlich war. Ich sag ihnen... der war wie eine Maschine. Völlig ausser sich." Sie rieb sich mit der Hand über den Arm, als hätte sie eine Gänsehaut.


    Die 5 Minuten vergingen wie im Flug, und die Frau musste ihrem anstrengenden Beruf wieder nachgehen. Semir und Ben bedankten sich herzlich für Kaffee und Informationen, und machten sich wieder auf den Weg zum Parkplatz. Im Treppenhaus sagte Ben: "Sehr ergiebig war das jetzt nicht." "Ich fands sehr aufschlussreich.", entgegnete Semir. "Naja, dass der Typ ganz gewaltig was am Sender hat, das wussten wir aber schon vorher." "Aber nicht, dass er wahrlich in Raserei gerät, wenn man ihn und seine Religion provoziert." Ben blieb an der letzten Treppenstufe stehen und sah seinen Partner ein wenig fragend an.
    "Du meinst..." "Ganz genau. Jeder andere Verbrecher würde auf sowas nicht einsteigen, weil er das Spiel durchschaut. Aber der Typ reagiert nicht wie andere. Er wird instinktiv reagieren, weil er es muss... weil er gezwungen wird." Ben sah noch etwas skeptisch drein. "Mit solchen Provokationsaktionen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.", meinte er und dachte an Kevins Strategie in einem Mordfall, den Attentäter über die Medien zu provozieren. Geendet hatte das ganze mit einer schwer verletzten Jenny. "Wir werden ihn mit Indizien nicht überführen können. Und wir können auch nicht abwarten, bis er vielleicht beim sechsten Mord einen Fehler macht.", gab Semir zu bedenken, was Ben letztlich überzeugte.

    Dienststelle - 10:30 Uhr


    Ben hatte mit der flachen Hand so fest gegen die Glasscheibe geschlagen, die sein Büro vom Rest des Großraumbüros abtrennte, dass sie vibrierte. Semir und die Chefin sahen ein wenig mahnend, konnten den Unmut ihres Kollegen aber verstehen. Sie hatten den Kerl, der vermutlich für zwei bestialische Morde verantwortlich war schon im Verhörzimmer sitzen und mussten ihn wieder gehen lassen, denn Gabriel, im wahren Leben Thorsten Pohl, hatte alles genau geplant. Als hätte er nur darauf gewartet, vor Bens Haus festgenommen zu werden und den Polizisten haarklein eine plausible Geschichte aufzutischen mit dem Nebeneffekt, dass Ben plötzlich selbst in ganz großen Schwierigkeiten saß... dienstlich gesehen.
    Semir hatte die Chefin, nachdem sie den hell gekleideten Mann gehen lassen haben, unterrichtet, mit allen neuen Entwicklungen, Vorkommnissen... auch der unangenehmen Sache in Bens Wohnung, sowie dem Ergebnis des Verhörs. Selbstverständlich war Anna Engelhard alles andere als erfreut über die Informationen, die sie da von ihrem besten Mitarbeiter bekam. Vor allem die Situation im Haus machte ihr Bauchschmerzen, auch wenn Gabriel beinahe großherzig von einer Anzeige wegen Körperverletzung absehen wollte.


    "Ben, jetzt behalt bitte die Nerven.", wurde er nach dem Schlag gegen die Scheibe von Semir ermahnt. "Ihr habt gut reden.", knurrte er und sah seinen Partner und seine Chefin abwechselnd an, nachdem er sich von der Scheibe weggedreht hatte. "Der Typ macht mir Angst, versteht ihr? Ich weiß nicht, wann und wo er als nächstes zuschlagen will und ich habe keine Lust noch tagelang hier zu wohnen. Der Einschuss am Arm war perfekt um zu beweisen, dass er den Anschlag verübt hat." "Es nutzt aber nichts. Er hat das exakt geplant, als wollte er von dir angeschossen werden. Als wollte er mit dir dieses Spiel spielen. Bei der Flucht hat er die Vase umgestoßen, und sein Arm hat getropft. An der Gasflasche sind keine Fingerabdrücke.", sagte der kleine Polizist weiter.
    Sein bester Freund setzte sich mit schnellem Atem auf seinen Stuhl, faltete die Hände und hielt sich die Fingerspitzen dabei an den Mund. Er versuchte seinen Puls zu beruhigen. "Ich brauche ihnen wohl nicht sagen, welche Konsequenzen es hat, dass sie im Rausch einen, scheinbar unschuldigen Mann angeschossen haben.", sagte die Chefin nun, denn dieser Umstand war es, der ihr momentan am meisten Bauchschmerzen bereitete. "Das ist jetz nicht ihr Ernst, Chefin.", antwortete Ben mit Fassungslosigkeit.


    Semir strich sich mit den Fingern über die Lippen und sah seine langjährige Vorgesetzte an. "Herr Jäger, sie und ich müssen uns an Gesetze halten. Sie haben niemanden gesehen, sie haben etwas gespürt, und geschossen während der Zeuge den sie angeschossen haben, ihnen helfen wollte und klare Aussagen machen kann." "Chefin, ich habe nichts gesehen und nur etwas gespürt, WEIL dieser Zeuge die Gasflasche in meinem Wohnzimmer aufgedreht und deponiert hat.", beharrte er mit lauter werdender Stimme, die bei Anna Engelhardt allerdings abprallte. Sie blieb völlig ruhig als sie antwortete: "Aber dafür gibt es keinen Beweis." Es war mucksmäuschenstill im Büro der Polizisten, nur die Uhr an der Wand tickte erbarmungslos und die Geräuschkulisse aus dem Großraumbüro schwappte durch die dünnen Fensterscheiben.
    "Semir, sag doch auch mal was." "Was soll ich denn sagen? Momentan wiegt die Aussage von Pohl schwerer... er war clean und nüchtern, du nicht. Soll ich dir jetzt was anderes sagen, damit du dich besser fühlst? Du, ich und die Chefin wissen was passiert ist, aber wir müssen es auch beweisen können." Semir verlor nur selten die Fähigkeit, logisch zu denken. Er blieb rational, nüchtern und kühl, während Bens Gedanken gerade Achterbahn fuhren, und zwar mit seinen Emotionen um die Wette.


    "Wir müssen spätestens morgen den Vorfall in ihrer Wohnung, sowie das Verhör von Pohl an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Und spätestens dann wird die Staatsanwaltschaft sie bis zur Klärung vom Dienst suspendieren. Also schaffen sie beide Beweise an, sonst haben SIE" wobei sie mit dem Finger auf Ben zeigte "Ihre Dienstmarke für längere Zeit gesehen." Eine Gnadenfrist, die die Loyalität der Chefin ihren Männern gegenüber bewies. Andere Dienststellenleiter hätten die Marke längst einkassiert bei solch einer Beweislage, das wusste auch Ben, der nur stumm nickte und der Chefin, die danach das Büro verließ, hinterhersah. "Na toll.", murrte er und hatte das Gefühl, den Rückhalt zu verlieren.
    "Was machen wir jetzt?" "Das was wir am besten können. Im Nebel rumstochern und auf den Zufall warten.", meinte Semir sarkastisch und kassierte umgehend ein ebenso ironisches "Danke" von seinem Partner. Die Tür neben ihnen schwenkte auf und Jenny kam in Uniform mit einer Akte herein. "Hat die Chefin schlechte Laune?", fragte sie ein wenig verwundert und bekam die Antwort von Ben: "Nicht nur die Chefin."


    "Was hast du da?" Semir sah neugierig von seinem Platz in Richtung der Akte in Jennys Hand. "Informationen über Thorsten Pohl.", antwortete die junge Frau und legte Semir die Akte auf den Tisch, der sofort interessiert zu lesen begann. "33 Jahre, abgeschlossenes Medizin-Studium als Bester. Hat 4 Jahre im Dreifaltigkeits-Krankenhaus gearbeitet.", las er laut vor. "Na, das passt ja.", murmelte Ben. "Das wird wohl kein Zufall gewesen sein, dass er sich das ausgesucht hat. Hmm... ist aber rausgeflogen, hat Amphetamine mitgehen lassen. Danach den Wohnsitz abgemeldet und quasi wie vom Erdboden verschluckt, anderthalb Jahre." "Das heißt, er ist vorbestraft?" "Ja, wegen Diebstahl und Besitz von Rauschmitteln. Aber die Menge war scheinbar so gering, dass es nur zu einer Geldstrafe gereicht hat."
    Ben seufzte und lehnte sich mit dem Kopf an seine Rückenlehne, wobei er dabei auch die Füße ausstreckte. "Aber das hilft uns doch alles nicht weiter." "Vielleicht könnte man sich in dem Krankenhaus mal umhören. Vielleicht können ehemalige Mitarbeiter von ihm erzählen.", meinte Jenny und sah die beiden Polizisten an. "Gute Idee.", lobte der erfahrene Ermittler und blinzelte Ben zu: "Na los, deine Zeit läuft." Der äffte ihn nach und stand ebenfalls von seinem Stuhl auf. Noch bevor sie das Büro verließen, beugte Semir sich zu der jungen Beamtin herüber: "Jenny... es ist schön, dass du wieder da bist."

    Straße - 9:20 Uhr


    Ben und Semir klebten beinahe an der Windschutzscheibe und beobachteten das Schauspiel, das sich vor ihnen bot. Hotte und Bonrath standen rechts und links von Gabriel, der immer noch seelenruhig auf der Bank saß, und beide Streifenpolizisten wollten gerade wieder abziehen, als Hotte die Meldung seines langjährigen Kollegen bekam, den linken Arm zu überprüfen. "Sagen sie, haben sie Probleme mit dem linken Arm?", fragte Hotte, als der Mann auf der Bank die Geldbörse wieder weggesteckt hatte. "Wie kommen sie darauf?", fand Gabriel zum ersten Mal seine Stimme, und jagte Ben einen Schauer über den Rücken, denn er erinnerte sich an die Situation in der Kirche, als Gabriel neben ihm kniete und beinahe wahnsinnig ein Gebet sprach.
    "Sie haben ihn so komisch gehalten, als die die Geldbörse weggesteckt haben. Laut unseren Angaben wurde kam es bei einem der Einbrüche zu einem Schusswechsel mit einer Verletzung am Oberarm." Die Blicke der beiden Männer trafen sich, und der erfahrene Herzberger hielt den kalten Augen des Engels stand, und hatte dabei seinen strengen Polizeiblick aufgesetzt. "Darf ich ihren Arm mal sehen?" Gabriel schien keine Sekunde nachzudenken, doch statt die Jacke auszuziehen, lächelte er den dicken Polizisten an.


    "Nicht nötig, Herr Wachtmeister. Da haben sie mich wohl erwischt." Ein leises Seufzen, ein kurzer Blick zu Boden bevor Gabriel wieder den Blickkontakt zu Hotte suchte. Semir hatte eine Hand am Lenkrad, die andere am Zündschlüssel, denn ihn beschlich aufgrund der Stimmlage Gabriels ein ungutes Gefühl, gleich eingreifen zu müssen. Bens Mund war trocken wie eine Mehltüte, so aufgeregt war er und hatte die Hand immer noch dicht an seiner Waffe. "Seid bloß vorsichtig, Hotte...", flüsterte er, als würde diesmal er beten.
    "Was meinen sie damit? Zeigen sie mir nun ihren Arm, oder nicht?", verstärkte Hotte seine Aufforderung und bleib trotzdem in einem gewissen Abstand zu dem Mann auf der Bank. "Brauche ich nicht. Ich habe eine Schussverletzung am linken Oberarm und ich war gestern in diesem Haus... das meinen sie doch sicherlich.", sagte er und zeigte mit den Fingern in Richtung von Bens Wohnung. Der wiederrum staunte über das Geständnis nicht schlecht, und auch den beiden Streifenpolizisten fiel es schwer, ihre Verwunderung zu verbergen. Sie rechneten mit Ablehnung der Bitte oder dem sicheren Vorzeigen des intakten Arms, aber nicht mit einem Geständnis. "Das stimmt.", bestätigte der Polizist, und Gabriel stand langsam von der Bank auf. "Ich würde mich freuen, sie zu ihrem Revier zu begleiten, um die Sache klarzustellen." Als Semir kurz das Zögern von Herzberger bemerkte, gab er verbal über das Funkgerät die Bestätigung, dass sie in zur PAST bringen sollten. "Weißt du, was das soll?", fragte Ben verwirrt. "Nein... aber wir werden es hoffentlich gleich rausfinden."


    Dienststelle - 9:45 Uhr


    Es gab für Bonrath und Herzberger keinen Grund, Gabriel Handschellen anzulegen, denn dann wäre ihnen die Fahrt zum Revier wohler erschienen. Beide waren ebenfalls erstaunt über Gabriels Reaktion und ergriffen jegliche Sicherheitsmaßnahme. Bonrath hatte sich nach hinten zu dem blonden Mann gesetzt, und war jederzeit eingriffbereit. Doch die Fahrt verlief ruhig, Gabriel saß lächelnd und schweigend auf dem Rücksitz und sah die Landschaft an sich vorbeiziehen, bis sie vor der Dienststelle parkten. Semirs BMW hielt etwas abseits und beide Polizisten stiegen erst aus, als Gabriel bereits im Gebäude war. "Ich verhöre ihn allein, okay?", stellte Semir sofort klar und Ben begann zu protestieren. "Keine Widerrede. Ben, ich merk doch wie sehr die Sache dich mitnimmt. Das ist die Gelegenheit, wir dürfen uns jetzt keinen emotionalen Fehler erlauben. Der Typ ist nicht blöd." Ben mochte es überhaupt nicht, wenn sein älterer und erfahrener Kollege ein wenig, wie ein Vater zum Sohn mit ihm sprach. Das nachdrückliche: "Vertrau mir" war aber eine Allheilwaffe, und Ben stimmte murrend zu.
    Natürlich aber ließ Ben es sich nicht nehmen, im Nebenraum Stellung zu beziehen, um das Verhör mitzuverfolgen. Er betrachtete den schlanken Mann, der in seinen hellen Kleidern und wasserstoffblonden Haaren tatsächlich etwas engelsgleiches an sich hatte. Die Ähnlichkeit zu Tobias' Aussehen fiel auch sofort auf.


    Semir kam zusammen mit Bonrath in den Verhörraum, Bonrath als Aufpasser. Hotte ging zu Ben in den Nebenraum und klopfte dem jungen Polizisten auf die Schulter. "Ganz schön unheimliche Type, was?", meinte er und biss genüßlich in einen Donut. "Lass es dir schmecken...", meinte der, ebenfalls hungrige Ben mit sarkastischem Unterton, der soviel bedeutete, dass er sich fragte warum Hotte ihm keinen mitgebracht hatte. Der ging aber wissentlich nicht darauf ein, bedankte sich grinsend und biss erneut hinein.
    "Also Herr... Herr Pohl. Sie wurden gestern also in einer fremden Wohnung angeschossen, in deren Umfeld wir wegen zweier Einbrüche ermitteln.", begann Semir und klappte eine Akte auf, bevor er den Mann ansah, und ebenfalls von den kalten ausdrucksstarken Augen getroffen wurde... ein Gegensatz wie Feuer und Wasser zu Semirs warmen südländischen braunen Augen. Gabriel nickte. "Dann erzählen sie mir doch mal, was passiert ist." Gabriel räusperte sich kurz, bevor er begann zu sprechen. Langsam, hochdeutsch und gewandt: "Ich sitze oft auf dieser Bank, weil mir die Gegend gefällt. Gestern nachmittag gegen... ungefähr kurz nach 1 Uhr, als ich kam, habe ich Schreie aus der Wohnung gehört. Die Haustür stand offen, und ich wollte sehen, ob ich helfen kann."


    Während Semir den Mann erst einmal ohne Ausdruck von Wut ansah, kochte es innerlich in Ben. Langsam wurde ihm klar, warum Gabriel so bereitwillig aufs Revier wollte... er hatte sich die Story schon haarklein im Kopf zurecht gelegt, und es gehörte alles zu seinem Plan. "Und, was haben sie vorgefunden?" "Eine Wohnungstür stand auf, und es roch unangenehm nach Butangas. Ich kenne dieses Zeug... eine Modedroge." "So? Darf ich fragen, woher?" "Ich arbeite in einer Jugendanstalt für Süchtige. Dort ist das Zeug der letzte Schrei zur Zeit. Man bekommt es einfach und es verursacht einen ziemlichen halluzinösen Trip." Semir lehnte sich zurück und zog die Augenbrauen etwas nach oben. "Wie konnten sie das Butangas riechen? Das ist doch normalerweise geruchlos." "In den handlichen Flaschen, die man zu kaufen bekommt und beliebt bei Süchtigen sind, ist ein Geruchszusatz beigemischt. Aus Sicherheitsgründen." Gabriel lächelte selbstsicher, er saß aufrecht und hatte die Hände gefaltet.
    "Erzählen sie weiter." "Als ich die Wohnung betrat, da die Tür offenstand, sah ich einen Mann im Raum stehen. Ich hatte mir einen Mundschutz vors Gesicht gehalten. Das Tripverhalten ist meist ähnlich, sie erschrecken, sie reagieren schnell und unvorhersehbar. Darauf war ich eigentlich vorbereitet, als ich den Mann an der Schulter fasste, um ihn vorsichtig hinaus an die frische Luft zu geleiten. Was ich nicht sah, war dass er eine Waffe in der Hand hielt und sofort, als er sich umdrehte, mehrfach abdrückte. Dabei erwischte er mich am Arm, und ich bin aus der Wohnung geflohen, um die Polizei zu benachrichtigen."


    Für einen kurzen Augenblick war es mucksmäuschenstill in dem Verhörzimmer, nur das leise Surren der Klimaanlage und des Aufnahmegerätes war zu hören. Beide Männer blickten sich an, Semir abschätzig und Gabriel selbstsicher. "Dieses Arschloch...", knurrte Ben hinter der verspiegelten Glasscheibe wütend während Hotte den letzten Rest des Donuts verdrückte. "Ziemlich ausgebufft.", meinte der beeindruckt.
    "Bonrath... wir brauchen die Aufzeichnungen des Notrufs von gestern nachmittag.", sagte Semir und der lange Streifenpolizist kümmerte sich. Dafür übernahm Hotte, nachdem er sich den Mund abgewischt hatte, Bonraths Rolle als Aufpasser. "Warum waren sie nicht da, als die Kollegen eingetroffen sind?" "Ich hatte Angst. Was wäre gewesen, wenn der Mann mit der Waffe auf die Straße gekommen wäre? Als ich später nochmal kam, war alles schon vorbei, und ich hielt es nicht mehr für nötig." In keinem Augenblick verlor Gabriel seine Selbstsicherheit. "Und jetzt saßen sie wieder da? Keine Angst mehr vor dem Mann?", fragte Semir herausfordernd und beugt sich ein wenig nach vorne. "Ich gehe davon aus, dass dieser Mann mittlerweile sicher untergebracht ist... hoffe ich zumindest für seien eigene Sicherheit." Das leichte Lächeln auf dem Gesicht des Polizisten erstarrte ob des eindeutig zweideutigen Satzes vor dem Hintergrund, dass dieser Typ hinter Ben her war. Ben erging es ebenso hinter der Glasscheibe und er zwang sich, mit allem was er hatte dazu, nicht den Verhörraum zu betreten.
    "Haben sie den Mann vorher schon einmal gesehen?", fragte der erfahrene Polizist nun, ohne seine Stimmlage zu verändern, und Gabriel schüttelte den Kopf. Provokant schaltete Semir das Aufnahmegerät aus und beugt sich über den Tisch. "Auch nicht vielleicht in der City-Kirche... am Morgen?" Nun verschwand auch Gabriels Lächeln ein Stück, nicht aber seine Selbstsicherheit. "Nein.", war seine kurze klare Antwort... doch beide wussten endgültig, mit wem sie es jeweils zu tun hatten.

    Ich will mich rechtfertigen :D

    Nein im Ernst, denke hier kommt mein Realismussinn ein wenig ins Spiel. Bei Cobra 11 hätte man ihn vermutlich mitgenommen, weil er sich für Bens Haus zu interessieren scheint. Aber in der Realität hat die Polizei keine Befugniss den Mann mitzunehmen, nur weil er auf der Bank sitzt und einem flüchtenden Attentäter ein bisschen ähnlich sieht. Ansonsten hat Ben ihn in seiner Wohnung nicht erkannt, genauso wenig wurde jemand beim Anbringen/Umbringen dies Ziegenbocks gesehen.

    Nüchtern gesagt: Noch hat Gabriel, für die Polizisten beweisbar, nichts getan, was sie berechtigt ihn zu einer Blutprobe mitzunehmen, um die DNA zu vergleichen. Bei einer Schusswunde sieht das schon wieder anders aus, da haben die Polizisten wieder andere Möglichkeiten.

    AUSSERDEM wäre das doch alles viiiiiiiiiiel zu einfach, wenn die beiden den jetzt einfach mitgenommen hätten. Und warum er wieder da sitzt? Weil er es kann. Er ist ein Engel, schon vergessen ;) Und ausserdem nicht ganz dicht. Wäre er ein so besonderer Bösewicht, wenn er handeln würde, wie die normalen Bösewichte? ;)

    Ben's Wohnung - 9:00 Uhr


    Der BMW rollte nur langsam in Richtung Bens Wohnung. Semir hatte absichtlich eine Route gefällt, dass sie nicht von links oder rechts der Wohnung herkamen, wo man sie von der betreffenden Bank sofort sehen würde, sondern von einer Querstraße dahinter. Dort hielt der Autobahnpolizist sein Dienstgefährt nun am Bürgersteig an und blickte konzentriert in Richtung der Bank. "Ich fass es nicht...", stammelte Ben als er die in weiß gekleidete Gestalt mit den hellblonden langen Haaren von hinten sah. "Er ist wieder auf Beobachtungsposten.", bestätigte Semir und schaltete den Motor aus. Die Blickrichtung des Engels schien nur in Richtung der Haustür zu gehen, keine Rührung oder Bewegung ging von seinem Kopf aus.
    Ben zückte sein Smartphone und schoß ein paar Bilder, die den Mann letztlich aber nur von schräg hinten zeigten. "Ich geh jetzt da raus und nehm ihn fest.", schnaubte er wutentbrannt und griff bereits nach dem Türöffner, bevor er von Semir am Ärmel festgehalten wurde. "Weswegen willst du ihn verhaften? Weil er auf ner Bank sitzt? Hör auf, Mensch... jetzt bekommen wir erst mal raus, wer er ist." Die energische Stimme seines Partners ließ ihn wieder von seinem Vorhaben abbringen, und er warf wieder einen Blick Richtung Bank, und auf die beiden Streifenbeamten, die zu Fuß nun den Gehweg entlang gingen.


    Semir griff zum Funkgerät. "Hotte, seid vorsichtig. Geht nicht zu dicht an ihn heran." "Sicher Semir. Mach dir keine Sorgen.", kam verknarzt aus dem Funkgerät zurück. Der kleine Knopf im Ohr des dicken Polizisten war kaum zu sehen. Sein langer Partner Dieter Bonrath hatte die Bank mit dem darauf sitzenden Mann fest im Blick. "Schönen guten Tag, der Herr. Dieter Bonrath, das ist mein Kollege Horst Herzberger." Beide zogen kurz die Kappe und zeigten ihre Dienstausweise, während Gabriel scheinbar nur widerwillig den Kopf entgegen der Sonne hinter den Wolken hob und die beiden Männer anblickte und kurz nickte, als würde er das Zeichen des Verständnisses und die Begrüßung in nur eine Bewegung legen.
    "Wir befragen zur Zeit mögliche Zeugen eines Einbruchs in dieser Gegend. Dabei wurde ein Mann beobachtet, wie er in mehrere Häuser eingestiegen ist.", erklärte nun Hotte und nahm einen Notizblock hervor, auf die er sich die Beschreibung des "Mannes" aufgeschrieben hatte. "Ungefähr 1m78 groß, dunkelbraune kurze Haare, bekleidet mit hellblauer Jeans und dunklem Kapuzenpullover, südländisches Aussehen... haben sie so einen Mann vielleicht beobachtet?" Mit seinen kalten Augen blickte Gabriel die beiden Polizisten nacheinander an, bevor er stumm den Kopf schüttelte.


    Ben und Semir beobachteten die Szene atemlos, durch das Mikrofon in Hottes Jacke konnten sie alle Stimmen verstehen und bekamen somit auch mit, dass Gabriel völlig stumm Antwort gab. "Ich müsste trotzdem ihre Personalien aufnehmen. Die sind nur fürs Protokoll, darüber dass wir sie zu dieser Angelegenheit befragt haben.", forderte Hotte und bekam nun den Blick des Mannes zu spüren. Für einen Moment blieb Gabriel völlig bewegungslos sitzen, seine Lippen bewegten sich kurz doch keine Stimme drang aus ihm heraus. "Ihren Personalausweis, wenn ich bitten darf. Oder den Führerschein, irgendetwas, womit sie sich ausweisen können.", forderte der Polizist erneut. Die beiden standen rechts und links vor Gabriel, weit genug entfernt um nicht von ihm aus dieser Distanz angegriffen zu werden. Doch das Aufspringen hätte genügt, und einer der beiden wäre für den Engel in Reichweite gewesen.
    Ben überfiel ein Kribbeln bei der Beobachtung der Szene. Er hatte seine Hand am Griff seiner Waffe, den Knopf des Halfters schon geöffnet, die Fensterscheibe heruntergedreht... bereit, sofort einzugreifen, falls der Kerl unüberlegtes tun würde. Semir beobachtete Bens Nervosität besorgt, sonst war er in solchen Dingen abgebrüht und ruhig. Gabriel schien mehr als nur einen bleibenden Eindruck auf Ben hinterlassen zu haben. "Bleib ganz ruhig. Da passiert nichts. Die beiden sind vorsichtig.", sagte er mit seiner vertrauenserweckenden Stimme.


    Die Situation war auch für Hotte und Bonrath surreal, denn Gabriel reagierte immer noch nicht. "Können sie mich verstehen? Sprechen sie deutsch?", fragte Bonrath nun energischer und blickte für einen Moment seinen dicken Partner ratlos an. Die Hand des Mannes fuhr nun langsam in die Innentasche seiner hellen Jacke und die Muskeln spannten sich bei beiden Polizisten an... jederzeit bereit, zurück zu weichen und sofort die Dienstwaffe zu ziehen, sollte Gabriel tatsächlich eine Stichwaffe aus der Innentasche herausbefördern. Semir konnte indes Ben deutlich schneller atmen hören und Schweiß glitzerte auf seiner Stirn, trotz dass die Temperatur knapp unter dem zweistelligen Bereich lag.
    Die Hand erschien aus der Jackentasche so langsam, wie sie hinein gegriffen hatte und Gabriel hatte ein schwarzes Portemonnaie in der Hand, das er nun öffnete und einen Personalausweis hervor zog. Innerlich atmete Hotte auf, dem man die kleine Anspannung, die er noch verspürte, nicht anmerkte. Er nahm den Personalausweis entgegen und notierte sich Namen und Anschrift. Der Plan schien zu funktionieren, doch es erschien beiden Polizisten immer noch unheimlich, dass dieser Mann so seelenruhig da saß, und kein Wort sagte. Hotte gab ihm den Ausweis zurück und genauso wortlos verschwand das Portemonnaie samt Ausweis wieder in der Tasche.


    Semirs Handy klingelte und er hob schnell ab: "Semir, was gibts?", meldete er sich und hatte den Kollegen von Hartmut aus der KTU am Telefon. "Hi Semir. Wir haben uns extra beeilt. Die gute oder die schlechte Nachricht zuerst?" "Die schlechte bitte...", meinte Semir ein wenig genervt und verdrehte die Augen. Sie waren mitten in einer Observation und ihm stand gerade nicht der Sinn nach Ratespielen. "Die schlechte: Die DNA der Glasscherbe ist nirgends registriert. Der Mann taucht nicht in unserer Kartei auf." Das hatte Semir eigentlich erwartet, und er war gespannt auf die Gute. "Und die Gute ist: An einer Kugel, die wir aus der Wand gepuhlt haben, haben wir Gewebe und Hautfetzen sowie ebenfalls Blut der gleichen DNA gefunden. Ben hat den Kerl scheinbar angeschossen." "Dann war die Berührung echt.", entfuhr es dem Polizisten, und er sah automatisch zu Ben, der sofort wusste, was gemeint war.
    "Berührung?", fragte der junge KTU-Kollege verwirrt. "Könnt ihr sagen, wo Ben ihn getroffen habt?" "Naja, von der Höhe der Kugeln, je nach Größe müsste es Oberkörper oder Arm gewesen sein. Aber ob er bei einem Streifschuss am Oberkörper so unversehrt rausgekommen wäre ohne noch mehr Blut zu verlieren..." "Danke!", sagte Semir schnell und legte auf. "Scheisse... wir haben nur einen Versuch... rechts oder links, wo hast du ihn getroffen?", fragte er seinen Partner gehetzt, denn ihre beiden Streifenkollegen waren kurz davor, die Befragung zu beenden. "Woher soll ich das wissen, Semir?" "Wenn er sich bei den Schüssen geduckt hat, und in Deckung gegangen ist, dann musst du ihn mit dem ersten oder zweiten Schuss getroffen haben. Nach welcher Richtung hast du dich umgedreht? SCHNELL!" Ben überlegte fieberhaft, versuchte sich das angsteinflößende Bild, die Situation, nochmal ins Gedächtnis zu rufen. "Nach... nach links...", stammelte er. "Sicher?" "Nein..." Semir presste die Lippen zusammen: "Na, hervorragend." Dann griff er zum Funkgerät: "Hotte! Person auf Schussverletzung am linken Arm überprüfen! Lass dir was einfallen!"

    Dienstelle - 7:30 Uhr


    Jenny pfiff - mal wieder - auf den Krankenschein. Es war auch eher eine psychische Maßnahme der Ärzte nach einer Fehlgeburt den Patienten für einige Tage krank zu schreiben, denn körperlich und medizinisch gesehen gab es keine gesundheitlichen Risiken für die junge Frau. Ausserdem wollte sie nicht zu Hause rumsitzen, wo sie es immer wieder vermeiden musste, von Gedanken überfallen zu werden. Der Traum hatte ihr geholfen, Semirs Worte hatten ihr noch mehr geholfen. Und der Gedanke an Kevin, die Tatsache dass er es mehrfach zumindest nach Außen hin schaffte, schwerste Schicksalsschläge zu meistern, motivierte sie auf einmal. Er sollte nicht umsonst gestorben sein, er würde es nicht wollen dass sie sich in ein Schneckenhaus verkriecht.
    Nur die Selbstvorwürfe waren in stillen Moment noch präsent und hatten die Trauer verdrängt. Sie hatte nicht auf ihren Körper gehört, auf die Warnzeichen, die er ausgesendet hatte. Die Unterleibsschmerzen hätten eine Warnung sein sollen, hatte sie sich vielleicht zuviel Streß und Aufregung zugemutet? Die Ärzte versuchten ihr diese Gedanken schnell auszureden. In der Frühzeit der Schwangerschaft konnte ein Abbruch ohne besondere Gründe erfolgen und hätten nur in seltenen Fällen etwas mit Streß zu tun. Mit diesme Satz schloßen es die Ärzte aber auch nicht aus...


    Jenny wurde an diesem grauen, noch halbdunklen Montagmorgen von Bonrath und Hotte begrüßt. Die beiden Beamten wussten, was passiert war und vermieden es direkte Fragen zu stellen. Sie betonten nur, wie froh sie waren, dass Jenny wieder da war und dass sie im Vergleich zu den letzten Wochen viel lebhafter aussah und wirkte. Ihre Gesichtsfarbe war gesünder und ihr Lächeln wieder etwas natürlicher. Als sie die Tasche neben ihren Stuhl stellte, fiel ihr Blick durch die Glasscheibe in das Büro von Ben und Semir, und ihr Blick wurde verwirrt, wobei sie eine Augenbraue ein wenig nach oben zog. Sie ging in Richtung Tür und öffnete diese leise, um dann verwundert im Rahmen stehen zu bleiben und einen Blick auf den schlafenden Ben, auf seinem Stuhl sitzend und zugedeckt mit einer Wolldecke, zu werfen.
    Die junge Polizistin drehte sich zu Bonrath und Herzberger, die ebenfalls mit den Schultern zuckten. Dann ging sie zu ihrer Kaffeemaschine und kochte einen extra starken Kaffee für ihren männlichen Kollegen. Mit der dampfenden Tasse in der Hand kehrte sie langsam ins Büro zurück und hielt ihm eben diese unter die Nase. Der Geruch und der warme Dampf kitzelte Ben im Riechgang und das regelmäßige Atmen änderte seine Frequenz. Langsam flatterten die Lider und sein Kopf, der nicht unbedingt entspannt an der Rückenlehne lag, erhob sich etwas und fiel nun langsam nach vorne Richtung Schreibtisch, wo er sich mit den Händen kurz aufstützte und gähnte.


    "Guten Morgen... bist du von Carina aus deiner eigenen Wohnung geworfen worden?", fragte Jenny in einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und nötigem Scherz in Richtung des, vor allem in den Haaren, zersaust wirkenden Ben. Die Wolldecke fiel ein Stück und Jenny bemerkte, dass er nur im Shirt eines türkischen Fussballvereins, was ihm Semir mal geschenkt hatte, und Boxer-Shorts bekleidet war. "Nein...", stöhnte Ben und rieb sich die Augen. "Ich verstecke mich vor einem Engel. Oh... mein Nacken..." Er ließ sich wieder zurück gegen die Lehne fallen und griff sich mit der Hand nach hinten an den Hals. Gut schlafen schien man auf den Bürostühlen der Dienststelle scheinbar nicht. Der Polizist nahm die dampfende Tasse Kaffee dankbar an und nahm einen heißen Schluck.
    Er blinzelte Jenny an und meinte: "Und was tust du hier?" "Arbeiten. Mir gehts gut, und ich will keine Widersprüche hören.", sagte sie sofort in ihrer bestimmten Stimme, die Ben schon lange vermisst hatte. So hob er sofort abwehrend die Arme, als würde er einen gehegten Widerstand sofort aufgeben und einwilligen. Über die Reaktion musste die junge Frau lachen, und sie setzte sich auf die Fensterbank neben Ben. "Nein im Ernst... ich will wieder arbeiten. Aber nicht so, wie vor einigen Tagen mit einer Menge Gedanken im Kopf, sondern wieder ganz normal.", sagte sie nun etwas ernsthafter.


    Sie erzählte Ben von ihrem Traum, und der Polizist hörte ihr aufmerksam zu. Obwohl Semir eine Menge erreicht hatte mit seinen klugen Worten, so war Jenny Ben gegenüber noch ein Stück offener denn sie hatte zu ihm einfach eine andere Art der Freundschaft. Sie waren zusammen, als Kevin im Gefängnis saß und Jenny sich zwar verliebt hatte, aber die beiden noch nicht zusammen, im Bett gelandet an einem Abend, als Ben die einsame Frau getröstet hatte. Diese Nacht stand nicht zwischen ihnen, sie verband sie auf magische Art und Weise, auf einer Ebene die viel höher als eine normale Freundschaft war. Beide hatten eingesehen, dass es nicht richtig war... aber beide hüteten sich davor, das Ganze einen "Fehler" zu nennen... denn ein Fehler war es für sie nicht. Für beide war es Trost und beiden hatte es zumindest darauf bezogen geholfen. Sie würden es aber vermutlich niemals wieder tun... schon gar nicht jetzt, wo Ben eine feste Freundin hatte. Es kam Jenny auch gar nicht in den Sinn.
    Auch ihm erzählte sie davon, was sie noch belastete... die abgebrochene letzte Verbindung zu Kevin durch den Tod des gemeinsamen Kindes. Bei diesen Worten brach es Ben fast das Herz. "Ich will mir aber auch ein Beispiel an ihm nehmen. Immer wieder aufzustehen.", sagte sie. Ben presste die Lippen ein wenig aufeinander, denn er wusste dass es Kevin immer sehr schwer fiel, wieder aufzustehen, auch wenn er dies nicht nach aussen zeigte. "Solange du nicht die gleichen Mittel wie er dazu benutzt.", meinte er vorsichtig und spielte auf Kevins Vergangenheitsbewältigung an. "Drogen, Alkohol... Flucht vor allem und jedem." Jenny biss sich auf die Lippen und meinte leise: "Ich würde nie Alkohol und Drogen nehmen..." Die dritte Maßnahme zur Trauma-Bewältigung erwähnte sie nicht in diesem Satz.


    Ben kam nicht dazu genauer nachzufragen, denn sein Partner kam gerade ins Büro und warf seinem besten Freund eine Bäckertüte in den Schoss. "Guten Morgen... oh, so pünktlich.", meinte er sarkastisch in Bens Richtung, der heute ja gar nicht unpünktlich erscheinen konnte. "Oh, so witzig.", wiederholte Ben in exakt der gleichen Tonlage und blickte zu Jenny. "Ist er nicht niedlich?" Jenny lachte und wurde von Semir ebenfalls begrüßt. Der stellte schon gar keine Frage danach, warum sie denn hier sei und nicht zuhause, denn er hatte bereits im Krankenhaus das Gefühl, dass es der jungen Frau besser ging... vor allem auch besser, als beim letzten Versuch, wieder zu arbeiten.
    Die beiden Polizisten informierten sie kurz, was am gestrigen Sonntag alles geschehen war, und Jenny bekam große Augen. "Das hört sich ja gruselig an.", meinte sie und saß immer noch an die Fensterbank gelehnt mit verschränkten Armen da. "Nicht nur gruselig, sondern verdammt gefährlich. Und deswegen wäre es ganz gut, wenn wir den nächsten Schritt vor ihm tun.", meinte Semir. "Aber das einzige, was mich momentan noch mehr gruselt, ist deine Frisur.", sagte er dann in Richtung Ben, der genervt abwinkte. "Ja ja... ich geh ja schon unter die Dusche." Er hatte seine Sporttasche mit einigen Utensilien neben sich stehen und im Keller gab es Duschen und Umkleideräume. Doch für einen Moment verharrten die beiden Männer an ihren Plätzen und sahen still zu, wie Jenny an Kevins Bild einen Moment stehen blieb und die Hoffnungskerze neu entzündete, um danach mit einem Finger sanft über das Bild zu streichen.

    Gabriel's Wohnung - 13:30 Uhr


    Verd... nein, er würde nicht fluchen. Er würde ruhig bleiben, und sich nicht versündigen, dachte Gabriel als er sich mit zitternden Händen versuchte, selbst einen Verband um den linken Oberarm zu legen. Sein gesamter Jackenärmel war von innen mit Blut versaut und er war heilfroh, dass ihn auf der Straße niemand angesprochen hatte. Absichtlich ist er jeder gut besuchten Straße aus dem Weg gegangen bis er in seiner Wohnung angekommen war, hatte die Zähne aufeinander gepresst vor Schmerz. Betraten die weltlichen Gesetzhüter ihre Wohnung immer mit der Pistole im Anschlag? Die Schmerztablette wirkte nur langsam, und ein Brennen durchzog seinen Arm, als er Schicht um Schicht Verband über den schmerzenden Streifschuss legte.
    Gabriel hatte die Waffe nicht gesehen. Ben hatte sie in einem solch, für Gabriel, ungünstigen Winkel vor sich gehalten, und so schnell beim Umdrehen geschossen, dass der Engel nicht reagieren konnte. Erst als er den Schmerz spürte, sprang er zur Seite und nahm von seinem Vorhaben Abstand. Erst als er merkte, dass von seinem Arm Blut tropfte, nahm er ihn aufrecht und presste die Hand auf den Streifschuss, bevor er die Wohnung verließ. Hätte er sich umgesehen, wo er verräterische Spuren hinterließ, hätte er noch mehr derer hinterlassen.


    Langsam ließ der Schmerz nach und die Wirkung der Schmerztabletten entfaltete sich in Gabriels Körper. Gott prüfte ihn, Gott war nicht zufrieden mit ihm... sonst hätte er ihn nicht verwundbar gemacht in diesem Moment. Sein Herr erwartete von Gabriel, diesen Job endlich auszuführen nachdem dieser Mensch einen Engel gejagt hatte, das wusste er. Aber warum kümmerte sich Gott nicht selbst darum, er der allmächtige Vater? Er legte seinen Engeln, seinen treuesten Dienern diese Bürde auf und erschwerte dies noch, in dem er seine Unzufriedenheit zum Ausdruck brachte. Gabriel geriet in Raserei bei diesen Gedanken und schrie laut: "Warum hilfst du mir nicht? Warum machst du es mir nur noch schwerer, Gott???"
    Die Wasserflasche zerschellte an der gegenüberliegenden Wand, Gabriel stand auf und fegte schreiend mit einer Handbewegung zwei Kruzifixe und ein Heiligenbild von der Mutter Maria von einem kleinen Seitenschrank. Es fiel polternd zu Boden und blieb liegen, während Gabriel sich mit beiden Händen auf dem Schrank abstützte und schwer atmete. Zusammenreißen, Zusammenreißen. Gott prüft dich, du darfst ihm keine Schwäche zeigen, hämmerte es in Gabriels Kopf.


    Er fiel vor dem Schrank auf die Knie, sammelte die beiden Kruzifixe und das heiligen Bild vom Boden auf und küsste es. "Bitte vergeb mir, oh Herr. Ich bin nicht würdig so mit dir und über dich zu sprechen.", flüsterte er leise während er die Gegenstände wieder an ihren gewohnten Platz stellte. Denn faltete er die Hände und begann auf hebräisch zu beten. Er bat nochmals im Gebet um Vergebung und bat Gott um Kraft, seine Aufgabe zu erfüllen. In sich spürte er, wie der Schmerz im Arm verschwand und eine wohlige Wärme aufkommen. 10, vielleicht sogar 15 Minuten betete er ohne Unterbrechung vor seinem eigenen kleinen Altar, bevor er sich bekreuzigte und wieder erhob.
    Danach fühlte er sich besser. Er wusste, dass Gott ihm vertraute und Kraft schenken würde, um diesen Menschen seiner gerechten Strafe zu zu führen. Und beim nächsten Versuch würde er nicht scheitern, er würde ihm die Seele aus dem Leib schneiden um das Versagen Tobias' wieder reinzuwaschen. Dann würde Tobias vom allmächtigen Vater eine zweite Chance bekommen und könnte weiter am Krieg gegen die Menschen teilnehmen, gegen die Zerstörer der, von Gott erschaffenen Welt.


    Semir's Haus - 13:45 Uhr


    Nein, eigentlich wollte er sich nicht ausruhen, auch wenn er müde war nach diesem Horrortrip. Am liebsten hätte Ben irgendetwas unternommen, ermittelt, nach diesem verdammten blonden Typen gesucht. Aber sein bester Freund kannte kein Erbarmen. Er fuhr den bekannten Weg zu sich nach Hause, wo Ben eher widerwillig aus dem Auto stieg. "Semir wirklich... mir gehts gut, soll ich mich jetzt bei dich auf die Couch legen und schlafen, oder was?", meckerte er auf dem Weg bis zur Haustür. "Jetzt lass die KTU doch erstmal die Glasscherbe untersuchen und deine Kugeln aus der Wand puhlen. Danach können wir immer noch etwas unternehmen.", sagte Semir beschwichtigend und hielt Ben die Haustür auf. Als Ayda und Lilly auf ihren Lieblingsonkel zuliefen und er beide erstmal in die Arme schloß, waren seine Sorgen für einen Moment vergessen.
    Genauso waren sie zumindest verdrängt, als er in der Küche erstmal von Andrea und Ayda selbst gebackenen Schokokuchen vorgesetzt bekam, den er eilig aufass... schließlich hatte er heute noch nichts gegessen, und mit dem Essen kam auch der Hunger. Auch Ayda und Lilly aßen ein Stück mit, sie hatten die ganze Zeit sehnsüchtig gewartet, bis der Kuchen abgekühlt war. Semir betrachtete die drei Esser am Tisch mit einem Lächeln. "Wenn die Kinder essen, dann gehts ihnen gut.", sagte er grinsend zu seiner Frau.


    Als die beiden Mädchen wieder die Küche verlassen hatten, saßen die drei Erwachsenen um den Küchentisch. Semir und Ben berichteten Andrea von den Vorkommnissen heute morgen und heute nachmittag. "Ist doch klar, dass du erstmal bei uns bleibst.", sagte Andrea, auch wenn sie natürlich selbst ein mulmiges Gefühl hatte. Aber sie vertraute ihrem Mann so sehr, dass sie wusste dass dieser genug auf die Familie Acht gab. "Nein, nein... das geht nicht. Das ist viel zu gefährlich für euch.", widersprach Ben. "Dann schläfst du halt in Hottes Mühle.", schlug wiederum Semir vor. Der dicke Polizist hatte sich vor einigen Jahren eine alte Wassermühle gekauft und liebevoll renoviert. Danach bot er sie zu jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit als Unterschlupf an. Ben verzog das Gesicht: "Weißt du noch, wie eng es da damals war?" "Damals waren wir da zu viert!" "Hmm... trotzdem."
    Semir seufzte auf. Manchmal waren seine Kinder leichter zu überzeugen als Ben. "Dann schläfst du halt auf der Dienststelle. Mensch, Ben! Wir machen uns alle Sorgen. Das ist kein stinknormaler Killer, der dir ans Leder will, sondern ein Irrer. Unberechenbar. Das einzige, was gut ist, ist dass er in deine Nähe kommen will, um dich zu töten. Da ist es doch ein Leichtes, sich zu schützen wenn du auf der Dienststelle bleibst, da kommt doch niemand rein." Ben verzog das Gesicht und bewegte den Kopf hin und her, bis Semir es endlich aussprach... und es gar nicht böse meinte: "Du hast doch selbst Angst... das merke ich doch. Du hast Angst und willst es nicht zugeben." Sein Partner blickte zu dem erfahrenen Kommissar auf... und fand es mal wieder erstaunlich, wie sehr er sich in ihn reinversetzen konnte. Langsam, beinahe zögernd, nickte er...

    Ben's Wohnung - 13:25 Uhr


    Der Führer des ABC-Zuges, der von den Polizisten gleich mit alarmiert wurde, kam Semir auf dem Weg nach oben entgegen, mit schwerer Atemmaske bekleidet. "Kann man wieder rein?", fragte er und bekam erst Antwort, als der Feuerwehrmann Helm und Maske abgelegt hatte. "Ja, kein Problem. Wir haben eine Probe genommen." "Und? Könnt ihr schon etwas sagen?" "Butangas. Leicht zu bekommende Inhalationsdroge für Leute, die einen schnellen Rausch und mögliche Lungenschäden möchten. Ist nicht mit zu spaßen. In geschlossenen Räumen dazu noch explosiv. Ihr Freund hatte unglaubliches Glück, dass durch die offene Wohnungstür die Konzentration wohl ein wenig zu gering war, um durch die Pistolenschüsse eine Explosion auszulösen."
    Semir rutschte das Herz in die Hose, als ihm der Gedanke kam, dass hier alles in die Luft geflogen wäre. Er bedankte sich bei dem Feuerwehrmann und stieg weiter hoch in die Wohnung. Die Glasscherben knirschten wieder unter seinen Füßen und diesmal achtete der Polizist darauf. Es waren große Stücke, vielleicht eine Vase die umgefallen war. Sonst fiel ihm beim ersten Durchblick in der Wohnung nichts auf... die Möbel standen an ihrem Platz, und die Wände waren sauber. Nur 6 Löcher waren in der Wand, in denen die Kugeln aus Bens Dienstwaffe noch steckte.


    Dann richtete der Polizist seine Aufmerksamkeit zur Badezimmertür, die nun offen stand genauso wie das Fenster. Die Feuerwehr hatte es vermutlich geöffnet, damit das Gas besser abziehen konnte, so blieb Semir ein Nervenkitzel beim Öffnen der Tür erspart. Nirgends war Jenny zu sehen, oder irgendwelche Spuren, dass Gabriel im Badezimmer war. Die einzige Einbruchsspur waren die Glasscherben, vor denen Semir nun in die Hocke ging. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und er hatte etwas entdeckt. Mit einem geübten Griff zog er sich Einweghandschuhe über die Hände und nahm eine Scherbe in die Hand. An ihr klebte etwas Rotes, und er ging nicht davon aus, dass Carina mit Lippenstift aus einer Blumenvase getrunken hatte... eher, dass der Einbrecher erst noch versuchte, die Scherben zu beseitigen und sich dabei geschnitten hatte. Vielleicht wurde er auch überrascht.
    Die Scherbe in der Hand zog er den Handschuh aus und auf links, so dass dieser nun als Beutel diente, den Semir zuknotete. Er hatte keine Beweistütchen in der Hand. Dann untersuchte er noch den Rahmen der Wohnungstür, an dem keinerlei Einbruchsspuren zu finden waren. Allerdings waren kleine Kratzer im Metall um das Schlösselloch herum, eventuell von einem Dietrich. "Warte nur... dich kriegen wir schon noch dran.", murmelte Semir beinahe schon zufrieden, denn der Kerl schien mehr Spuren hinterlassen zu haben, als ihm lieb war... und vor allem mehr, als bei den beiden Morden.


    Als Semir wieder nach unten auf die Straße kam, hatte Ben sich im Beisein des Notarztes und der beiden Streifenkollegen aufgesetzt und hatte wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Seine Nase brannte allerdings noch wie seine Augen und er hatte Kopfschmerzen. Scheinbar hatte der Feuerwehrmann auch den Arzt über das Gas informiert. "Also Ben, oben war weder Blut an der Wand noch irgendjemand im Badezimmer. Ich nehme an, sie haben das Fenster im Bad geöffnet?", sagte er in Richtung des Truppführers, der sofort nickte. "Das gibt es nicht... ich habe ihn ganz deutlich flüstern, rufen und schreien gehört. Und an der Wand hat jemand mit roter Farbe oder Blut "das Fleisch gefallener Engel" geschrieben.", sagte Ben sofort und merkte dann die unangenehmen Blicke des Notarztes und der Feuerwehrmanns.
    Dass sich jedoch die Buchstaben vor seinen Augen zu neuen Worten versetzt haben, ließ den jungen Polizisten dann doch wieder zweifeln. "Butangas löst starke Halluzinationen aus, was vermutlich das Ziel der Attacke war.", erklärte der Feuerwehrmann. "Es könnte sein, dass es Gedanken aus ihrer Erinnerung abruft und ihnen vorgaukelt. Haben sie diesen Satz schon mal irgendwo an einer Wand stehen gesehen?" Natürlich hatte er das... in der Villa, bevor sie auf Tobias gestoßen waren stand der Satz ebenfalls an der Wand.


    "In der Villa stand das doch, oder?", sagte Semir sofort und Ben nickte. "Die Stimme des Betens von diesem Typ hatte ich natürlich auch von heute Morgen noch im Kopf.", ergänzte er und sein Partner meinte: "Und Jennys Weinen hattest du vom Flughafen noch im Gedächtnis, und damit haben wir die Erklärung." "Das Klopfen sowieso immer, wenn jemand an meine Tür kommt. Das Ganze hat sich zu einem so grotesken Horrortrip gebildet...", sagte Ben bevor es ihn einmal schüttelte. Sein Kopf brummte, seine Augen brannten und er spürte, als er sich aufsetzte, wie seine Knie ein wenig weich und unsicher waren. "Trinken sie heute viel, und ruhen sie sich aus. So ein Trip kann ganz schön schlauchen. Sollten sie Atembeschwerden haben, müssen wir die Lunge untersuchen." "Nein, das geht schon... vielen Dank."
    Langsam legte sich die Aufregung, auch die Schaulustigen auf der Straße verschwanden als Polizei, Feuerwehr und RTW wieder abrückten. Ben hatte sich auf eine niedrige Mauer des Grundstücks gesetzt, die zu dem Haus gehörte wo er wohnte und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. "Was machen wir jetzt nur?" In seiner Stimme lag Sorge, Verzweiflung... und ja, auch ein wenig Angst konnte Semir erkennen. "Du bleibst jedenfalls nicht mehr alleine. Schluß, aus. Keine Widerworte."


    Ben seufzte auf. "Aber Semir... ich will deine Familie nicht in Gefahr bringen, ich kann nicht zu dir. Der Typ macht doch vor nichts und niemandem Halt." Er schüttelte den Kopf. "Nein, das geht nicht." "Dann übernachtest du halt in der Dienststelle. Jedenfalls bleibst du nicht mehr alleine.", beharrte Semir. Sein bester Freund sah zu dem kleinen Polizisten auf: "Mich hat jemand berührt." "Wie bitte?" "Jemand hat mir die Hand auf die Schulter gelegt... danach hab ich mich umgedreht, und geschossen bis ich das Bewusstsein verloren hab.", erzählte Ben unsicher. "Und wenn das auch eine Halluzination war?" Ein Schulterzucken war die Antwort. "Geräusche, optische Dinge... dass man sich die vorstellen kann, ohne dass sie stimmen, kann ich ja verstehen. Aber eine Berührung...?"
    "Naja, wenn sie real gewesen wäre, hättest du irgendjemanden ja getroffen, oder?" Semir zog die Augenbrauen ein wenig nach oben und Ben nickte. "Ja, hast du auch wieder recht." "Aber die Glasscherben waren echt. Scheinbar hat sich der Typ sogar dran geschnitten, das heißt, wir haben jetzt seine DNA." Ben schaute auf und lächelte... "Na, immerhin. Wann ist Hartmut wieder da?" "Im Labor arbeitet ja nicht nur Hartmut.", meinte Semir zwinkernd. Er zog Ben an der Hand auf die Beine, und mit etwas wackeligen Schritten gingen beide zum BMW, nachdem Semir Bens Wohnung vorher verschlossen hatte. "Jetzt fahren wir erstmal zu mir. Dort ruhst du dich aus, solange ich da bin, passiert nichts. Und dann sehen wir weiter." Der junge Polizist lenkte ein, er war zu erschöpft um sich dagegen zu wehren. "War doch gut, dass ich diese Glasvase von Carina noch nicht irgendwo hingestellt habe und neben der Tür gelassen hatte.", meinte er murmelnd, als sie schon unterwegs waren. "Jaja... dass deine Unordnung mal noch zu was gut ist, hätte ich nicht gedacht..."

    Semir's Dienstwagen - 13:10 Uhr


    Semir hing seinen Gedanken nach, während er mit seinem silbernen BMW auf der Landstraße unterwegs nach Hause war. Er machte sich Sorgen... Sorgen um Ben, einerseits seine Sicherheit vor diesem irren Killer, andererseits um den Seelenzustand seines besten Freundes. Er konnte gar nicht aufzählen, wie oft sie schon ins Fadenkreuz geraten waren, doch nie machte Ben einen so angeschlagenen Eindruck. Schon, nachdem man in seinem Keller den Ziegenbock gefunden hatte, hatte Semir das Gefühl, Ben würde die Sache mehr mitnehmen als sonst, und ein noch stärkeres Gefühl beschlich ihn, nach diesem Akt heute morgen in der Kirche. Irgendwas an dem Typ schien Ben mehr zu beunruhigen als bei sonstigen Gefahren, vielleicht weil dieser Verbrecher nicht dem Stereotyp entsprach, mit dem sie es sonst zu tun hatten.
    Dass Ben jetzt alleine in seiner Wohnung bleiben wollte, überraschte den erfahrenen Polizisten überhaupt nicht. Trotz des Dagegenredens musste Semir kurz schmunzeln. Sie waren beide gleichermaßen Dickköpfe, wollten beide gleichermaßen nicht, dass einer auf den anderen aufpasste wie eine Glucke über dem Ei, und trotzdem waren sie beide gleichermaßen heilfroh, wenn sie sich gegenseitig aus der Patsche zogen. Nur zugeben, dass sie den Schutz benötigten, würden sie sich nie... Ben nicht und Semir nicht.


    Dass auf seinem Radiodisplay jetzt ein Anruf über die Bluetooth-Freisprecheinrichtung aus dem Revier kam, beruhigte die Gedanken des Polizisten nicht. "Ja?" "Semir? Ist Ben noch bei dir?", fragte Hanno am Telefon ein wenig aufgeregt, und Semirs Puls beschleunigte sich bei diesem Tonfall sofort. "Nein, wieso? Den hab ich vor 10 Minuten daheim abgesetzt? Was ist los?" "Wir haben über die Zentrale gerade einen Funkspruch reinbekommen. Ein Passant hat Schüsse aus dem Haus vernommen und die Kollegen gerufen.", sagte der Streifenpolizist aufgeregt und Bens bester Freund verlor keine Zeit. "SCHEISSE!"
    Mit einem Ruck zog Semir die Handbremse seines Wagens um auf der Landstraße zu wenden. Die Hinterreifen zogen zwei formvollendete Streifen Gummi auf den Asphalt und ein Auto in Entfernung begann wie wild zu hupen als Semir wieder aufs Gaspedal trat und zwei weitere Streifen beim Beschleunigen auf die Straße radierte. "Ich bin gleich da.", sagte Semir noch am Telefon, bevor er auflegte und das Blaulicht aufs Dach klebte. Zum Glück war an diesem Sonntagnachmittag sehr wenig Verkehr, so dass er nur zwei Autos auf der Landstraße überholen musste, bevor er in die Innenstadt hineinfuhr. Er schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad, wiederholte seinen Fluch von gerade noch mindestens dreimal und machte sich schreckliche Vorwürfe, nicht geblieben zu sein. Schüsse? Bis Ben den Abzug betätigte musste einiges passieren.


    Vor dem Haus schien alles normal, die Kollegen waren noch nicht vor Ort als Semir mit quietschenden Reifen am Bordstein hielt. Für den Weg, den er gerade eben in 10 Minuten zurückgelegt hatte, hatte er jetzt vielleicht 5 gebraucht. Mit dem Schlüssel, den er von Ben für Notfälle bekommen hatte, sperrte er die Haustür auf und wurde im Treppenhaus bereits von einem stechenden Geruch erschlagen. Weil die Wohnungstür nun längere Zeit offenstand hatte sich das Gas im gesamten Treppenhaus ausgebreitet und da Semir sofort gewarnt wurde und nicht wie Ben erst interessiert in die Wohnung ging, konnte er sich dagegen schützen. Die Waffe in der rechten Hand, legte er sich den linken Arm quer über Mund und Nase, hielt die Luft an und rannte die Treppen hoch in den ersten Stock.
    Die Wohnungstür stand weit auf, die Luft im Raum schon teilweise vernebelt. Semir tränten die Augen als er in die Wohnung blickte und seinen besten Freund am Boden liegen sah, die Dienstwaffe daneben. "Oh verdammt...", sagte er unter seinem geschützten Arm, die Gasflasche in der Ecke zischte laut und der Polizist konnte nicht verifizieren, was dieses Gas genau auslöste. Im Sprint und in höchster Eile lief Semir an den Glasscherben vorbei zur Quelle allen Übels, drehte den Hahn der Flasche zu und das Zischen verstummte. Dann riss er alle möglichen Fenster in der Wohnung auf, hing sich einmal übers Fensterbrett, um Luft zu schnappen und nochmal den Atem anzuhalten, bevor er zu Ben lief.


    "Ben??", rief er einmal und hielt sich sofort wieder den Arm vor den Mund. Er spürte einen normal schlagenden Puls am Hals, was ihn sofort ein wenig beruhigte, doch auf Schütteln und Backpfeifen reagierte sein Partner nicht sofort, nur mit Murmeln. Er lebte. Obwohl Ben größer als Semir war und nicht unbedingt schmal gebaut, schaffte es der kantige Polizist, seinen besten Freund irgendwie seitlich zu stützten und ihn aus der Wohnung zu schleifen. Dabei hielt er, so gut es ging, die Luft an, auch wenn er vor der Wohnungstür einmal atmen musste, doch durch den Durchzug der offenen Fenster und der offenen Wohnungstür bis herunter zur Haustür wurde die Intensität des süßlichen Geruchs langsam weniger.
    Unten an der Wohnungstür traf er bereits auf mehrere uniformierte Kollegen mit gezückten Waffen. "Was ist los hier?", fragte einer und bekam von Semir sofort Antwort: "Ruft die Feuerwehr, und geht nicht nach oben. Dort ist irgendein Gas. Und ruft sofort einen Krankenwagen für meinen Partner." Er schaffte es noch, bevor er Ben an den Gehweg niederlegte, seinen Ausweis zu zeigen und einer der Beamten gab über 2-Meter-Funk sofort entsprechende Anforderung an die Zentrale.


    "Ben... komm wach auf!" Wieder tätschelte Semir fast schon zärtlich die Wange seines Partners, dessen Lungen jetzt wieder frische Luft inhalierten. Seine Lider flatterten, die Augen schauten müde nach oben und erblickten die braunen Augen seines Partners. Doch plötzlich, von Semir unerwartet, kam Bewegung in Ben... er schreckte auf, machte einen akkustischen Ausdruck des Erschreckens und versuchte, aufgesetzt rückwärts von Semir weg zu krabbeln. "Lass mich in Ruhe!", schrie er panisch und die nackte Angst stand ihm im Gesicht und in den Augen. Semir hatte seinen Partner so noch nie erlebt. "Ben, bleib ganz ruhig. Ich bins, Semir! Du hast irgendetwas eingeatmet... ganz ruhig.", sprach Semir mit ruhiger Stimme, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug.
    Sein Partner atmete hastig, schnappte nach Luft und zitterte am ganzen Körper. "S...Semir? Oh Gott...", stammelte er und Erinnerungen taten sich auf an das, was er erlebt und empfunden hatte vor einigen Minuten in seiner Wohnung, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Der erfahrene Polizist kam langsam wieder näher zu seinem Freund, als dieser ihn erkannte und nahm den zitternden Mann in den Arm. "Ganz ruhig..." Ihm wurde bewusst, dass er Ben jetzt keine Sekunde mehr aus den Augen lassen durfte.

    "Was ist mit dem Kerl... im Bad? Und was ist mit Jenny?", fragte er stammelnd und Semir schaute ihn verwirrt an. "Ich war nicht im Bad... ich musste wieder da raus." "Er war im Bad... er hat gebetet und geschrien... und jemand hat an die Tür geklopft... und das Blut an der Wand.... und Jenny hat geweint." Bens Stimme überschlug sich fast und Semir blickte seinen Partner beinahe ungläubig an. Weder war ihm Blut an der Wand aufgefallen, noch hatte er irgendwo Jenny gesehen... nur im Bad hatte er nicht nachgesehen. "Okay Ben... ich gehe rauf nachsehen. Bleib du hier unten." Er wies einen Streifenbeamten an: "Passen sie bitte kurz auf ihn auf. Die anderen kommen mit mir nach oben." Das Gas müsste sich mittlerweile verzogen haben, vor allem aber, als die Feuerwehr im Hauseingang einen großen Ventilator anwarf.

    Ben's Wohnung - 13:00 Uhr


    "Und du willst wirklich nicht, dass jemand hier bleibt?", fragte Semir besorgt, als die beiden Polizisten vor der Wohnung in der Innenstadt anhielten. Er hatte die Frage auf dem Weg jetzt bestimmt schon dreimal gestellt, und Ben reagierte mittlerweile verständlicherweise genervt. "Nein, Semir. Nein, nein und nochmal Nein! Ich bin Polizist, ich weiß um die Gefahr und ich kann selbst auf mich aufpassen." Die beiden besten Freunde sahen sich an, Semir zu Ben gedreht und den linken Arm aufs Lenkrad gelegt. Es war ein mahnender Gesichtsausdruck des erfahrenen Beamten und er machte sich Sorgen um die Sicherheit seines Freundes. "Ehrlich... fahr zu deiner Familie. Es ist Sonntag und du bist schon den ganzen Tag unterwegs. Ich will nicht an deiner Scheidung schuld sein." "Pff, das wärst du doch sowieso.", witzelten die beiden und mussten lachen, was die angespannte Stimmung sofort entschärfte.
    "Na gut... aber wenn es nur den geringsten Vorfall gibt... nur das Kleinste!! Dann ruf mich sofort an, hast du verstanden?", mahnte der Polizist nochmal, als Ben schon ausgestiegen war. Der beugte sich nochmal durch die offene Tür und nickte: "Ja, Papa." "So ist brav." Dann verabschiedeten sich die beiden, und Ben schüttelte lächelnd den Kopf. Semir meinte es nur gut, klar machte er sich Sorgen aber manchmal konnte er mit seiner Fürsorge nerven. Umgekehrt wäre er genauso stur wie Ben jetzt und würde auf jegliche Sicherheit verzichten.


    Als er die Treppen hinaufstieg, stieg dem Polizisten ein Geruch in die Nase... ein Geruch, den er noch nie zuvor gerochen hatte, süßlich intensiv und völlig fremd. Es beunruhigte ihn etwas und schien ihn gleichzeitig magisch anzuziehen. Wo kam das her? Hatte Hans ein neues Raumspray hier benutzt? Als er vor seiner Tür stand war der Geruch noch intensiver und ein wenig schummrig fühlte sich der Polizist ebenfalls, doch mit einem Schlag war der Geruch nebensächlich... seine Tür stand einen Spalt weit offen. Bens Herz begann fest gegen seine Brust zu schlagen, seine Hände, die zur Waffe griffen, wurden feucht. Sollte er Semir anrufen? Bevor er reinging? Doch der intensive Geruch, der immer noch in der Nase saß, zog ihn in die Wohnung hinein.
    Wie in Zeitlupe betrat Ben, die Waffe vor sich zeigend die Wohnung. Am Boden lagen Glassplitter des Tisches, die Möbel waren ein wenig von ihrer ursprünglichen Stelle gerückt... so sah es zumindest aus. Der Geruch stieg ihm nun in den Kopf und er spürte, wie die Hand mit der Waffe vor ihm leicht zitterte. Das Knirschen der Glassplitter auf dem Boden, als der Polizist hineintrat, nahm er nicht richtig wahr, er verwandelte sich das Knirschen in ein Zischen in seinem Ohr, das den Gehörgang nicht mehr verlassen wollte.


    Vor ihm verschwamm die Umgebung, sie wankte und bewegte sich. Was war hier nur los... was war mit ihm los? Setzte ihm die Aufregung so sehr zu? Ben schwitzte. Seine Hände waren feucht, seine Stirn voll Schweißperlen. Plötzlich klopfte es. Es klopfte an seiner Tür, ein langanhaltendes, erst schüchternes und dann immer heftigeres Klopfen. Ruckartig drehte sich Ben zu seiner Wohnungstür um und erschrak. Die Tür stand offen, er hatte sie nicht geschlossen nachdem er die Wohnung betreten hatte. Mit vor Schreck aufgerissenen Augen starrte der Kommissar die offene Wohnungstür an, aus deren Richtung das laute Klopfgeräusch kam, das sich genau wie seine Wohnungstür anhörte, und nicht als käme es aus dem Keller oder von einer anderen Tür im Raum.
    Das Zischen in seinem Ohr verwandelte sich langsam in ein Flüstern, als säße jemand in seiner Wohnung und flüsterte. Er konnte nichts verstehen, es waren Gesprächsfetzen in einer fremden Sprache, die sich so anhörten wie das Gebet, das Gabriel in der Kirche sprach. Wieder drehte sich Ben mit der zitternden Waffe in der Hand ruckartig um, wieder knirschte es unter seinen Füßen vom Glas. Das Flüstern kam aus Richtung der Badezimmertür und klang unheilvoll, fast beschwörend.


    Als Ben sich erneut von der Tür zu seinem Wohnzimmer umdrehte, erschrak er erneut. Hatte er die Schrift an der Wand vorher nicht gesehen? Rotbraun stand sie in großen Buchstaben an der Wand, quer durch das ganze Wohnzimmer gekritzelt, an manchen Stellen war sie ein wenig die Wand heruntergelaufen, als sei die Farbe sehr flüssig gewesen... oder war es etwa...? Bens Schritte waren unsicher, er wankte, beinahe stolperte er. Seine Beine fühlten sich zentnerschwer an, alles drehte sich und die Wände begannen sich zu bewegen, so dass es ihm schwerfiel, den Satz zu lesen. "Das Fleisch gefallener Engel..." stand dort rot und unheilvoll, die Schrift wankte wie die Wand, an der sie klebte und scheinbar begannen die Buchstaben vor Bens Augen, die Plätze zu tauschen und bildeten neue, nicht zu entziffernde Wörter. Aber was dort jetzt an der Wand stand, klang böse und sah unheilvoll aus.
    Jetzt bekam Ben Angst. Was ihn vorher nur verwirrte, ängstigte ihn jetzt zu Tode, weil auch das Flüstern in seinem Ohr immer lauter und deutlicher wurde. Es war wie ein teuflisches Wispern einer hellen, krächzenden Stimme und sie klang immer noch von der Badezimmertür her. Der Polizist konnte sich nicht erklären, was hier passierte. War er gefallen und war nun bewusstlos, dass er sich das ganze einbildete? Er zwickte sich in den Arm, es tat weh... er zog sich an den Haaren und es tat weh. Nein... er war definitiv wach.


    Die teuflische Stimme in seinem Ohr war jetzt verständlich, denn sie sprach nicht mehr hebräisch sondern deutsch. "Sie sind nicht rein, die Hierachie der Engel kennt kein Platz für sie.", zischte sie lauter, je näher Ben der Badezimmertür kam. Die Stimme manifestierte sich in seinem Kopf, sie wurde lauter und durchdringlicher und sie hatte den Flüsterton nun getauscht gegen einen lauteren, betörenden Sprechton. Der Polizist war überzeugt dass der blonde Mann aus der Kirche hinter der Badezimmertür auf ihn wartete und wankte wie in Zeitlupe auf die Tür, die Waffe entsichert und den Finger um den Abzug gelegt. Mitten in die Stimme legte sich plötzlich einen leises Weinen, wie von einer Frau... ein durchdringendes, konstantes bitterliches Weinen und Ben erschrak erneut beinahe zu Tode, als er das Weinen identifizieren konnte... es war Jenny.
    "Noch ein Stück... noch ein Stück... das Fleisch gefallener Engel", schrie die Stimme hinter der Badezimmertür und Ben legte die freie Hand auf die Klinke, die sich glühend heiß anfühlte. Er zitterte so stark am ganzen Körper, dass er sie fast nicht herunterdrücken konnte und seine Haare waren mittlerweile schweißnass. Doch er öffnete die Tür nicht, denn sein Herz setzte aus. Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter und ließ Ben erschrocken herumfahren. Er betätigte den Abzug seiner Waffe, immer wieder, bis das Magazin leer war... das Klicken der leeren Waffe hörte er nicht mehr.