Schulungsgebäude Hannover - 13:30 Uhr
Die Schulung hatte noch keine halbe Stunde gedauert, da hatte Semir den Raum schon das zweite Mal verlassen. Vor der Tür versuchte er, Jenny zu erreichen... doch jedes Mal meldete sich sofort nach Verbindungsaufbau die Mailbox der jungen Frau. "Jenny, hier ist Semir. Melde dich doch bitte, sobald du das hier hörst. Wir machen uns Sorgen." Als er in den Raum zurückkehrte bemerkte er die sorgenvollen Gesichter von Ben und Timo... und ein wenig wunderte er sich, dass beide scheinbar gleich besorgt waren. Ben, der Jenny schon über Jahre kannte und viel mit ihr erlebt hatte, und Timo der Jenny gerade mal ein paar Wochen kannte... und dem die junge Frau scheinbar sehr am Herzen lag.
Nach einer Stunde läutete der Dozent die erste Kaffeepause ein. "Ich kann nicht mehr ruhig sitzen, Semir. Da stimmt was nicht.", sagte Ben leise zu seinem Partner, als im kompletten Saal Stühlerücken zu hören war, als ob sich eine wütende Meute gleich auf den Kaffee stürzen würde. "Seh ich genauso.", meinte der erfahrene Polizist ein wenig kurz angebunden und ging zu dem Dozenten nach vorne zum Schreibtisch. "Sie müssen uns leider entschuldigen. Wir sind von unserer Dienststelle zurück beordert worden, wegen eines drigenden Einsatzes.", sagte er lächelnd aber überzeugend, in einem Tonfall der keine weiteren Fragen duldete oder gar Widersprüche. "Okay Herr Gerkhan. Ich trage sie und Herrn Jäger dann aus. Kommen sie morgen dann zum zweiten Teil?" Semir sah kurz zu seinem Partner der eine kurze "Hals-ab"-Geste zeigte und den Kopf schüttelte. "Ich... ähm... denke dass das länger dauern wird." meinte er versöhnlich und schüttelte dem Mann die Hand. "Herrn Söderberg nehmen wir mit, den brauchen wir zur Unterstützung.", sagte der kleine Polizist noch schnell, bevor er zu den beiden Männern zurückkehrte. Erst, als sie bereits im Auto waren, fiel dem Dozent auf, dass die beiden Präsidien eigentlich zu weit auseinander lagen für gegenseitige Unterstützung.
Timo war positiv überrascht, dass Semir ihn völlig selbstverständlich miteinbezog. Als junger Kommissar, der auch noch recht jung und unbedarft aussah, war er es oftmals gewohnt, einfach übergangen zu werden, vor allem von alteingesessenen Polizisten mit ihren jahrzehntelang erprobten Routinen. Ihn hätte es jetzt nicht gewundert, wenn die beiden Männer von Cobra 11 den blonden Jungen beiseite geschoben, ihm auf die Schulter geklopft und gesagt hätten: "Mach du mal den Lehrgang, wir kümmern uns drum." Doch der kleine Polizist, den er wie Ben sofort gut leiden konnte, spürte dass Timo sich ebenfalls ernsthafte Sorgen um Jenny machte. Und nichts war schlimmer, als dann ausgegrenzt und unwissend sitzen gelassen zu werden. Nein, das kam für Semir überhaupt nicht in Frage. Ausserdem war bei einer eventuellen Suche ein Polizist mit Ortskenntnis immer von Vorteil.
Zu dritt verließen sie schnellen Schrittes das Schulungsgebäude der Hannoveraner Polizei, und Ben konnte nicht anders als auf seine eigene Art und Weise erleichtert auf zu atmen. Er konnte aus jeder Situation immer etwas Gutes gewinnen. "Wenn du gesagt hättest, dass wir morgen wieder kommen... ich hätte dich auf links gezogen." "Blabla... um mich auf links zu ziehen müssen Maschinen kommen, keine Ersatzteile.", frozzelte Semir und grinste Timo an, als der in seinen Dienstwagen stieg. "Ich wusste, dass Hamburg sparen muss, aber dass es so schlimm ist.", meinte auch Ben nun scherzhaft, als die beiden Kommissare mitleidvoll auf den Opel blickten, in den der blonde jungen Mann einstieg... aber ebenfalls lachen musste.
Innerhalb von knapp zwei Stunden fuhren sie im Konvoi in Richtung Hansestadt. Bei einem kurzen Handy-Telefonat besprachen sie miteinander, dass sie zunächst nochmal zu Jenny in die Wohnung fahren würden, um zu sehen, ob sie vielleicht mittlerweile vom Arzt zurückgekehrt war, und vielleicht einfach nicht bemerkt hatte, dass ihr Handy nicht funktionierte. Vorbehaltlich informierte Ben danach aber auch ihren Technik-Kollegen Hartmut, der Jennys Handy einer Ortung unterziehen sollte. Noch bevor sie in Hamburg an kamen war das nichtssagende Ergebnis, dass der letzte Funkkontakt gestern abend an einem Funkmast in der Nähe von Jennys Wohnung war. Das brachte die Kommissare natürlich nicht weiter, und so parkten sie hintereinander auf den Anwohnerparkplätzen vor Jennys Wohnung.
Ben nickte anerkenned. "Nettes Häuschen hat sie sich da ausgesucht." "Gemessen an deinen oder normal-sterblichen Standards.", fragte Semir und steckte den Schlüssel in die Jeanstasche. "Ach, der Neid.", hauchte der junge Polizist seinem blonden Nebenmann zu, der den Witz nicht verstand weil er nicht wusste, dass Ben aus einer ziemlich reichen Familie kam und sich deshalb von Haus aus einen ganz anderen Standard erlauben konnte, als Semir in Bens Alter. Trotzdem gab es natürlich keinen Neid zwischen den beiden, Ben schämte sich manchmal ein wenig seiner Herkunft, und Semir nutzte das zu einigen Frozzeleien.
Auch von innen machte das Haus den hochwertigen Eindruck, den man von aussen schon erkennen konnte. Wohl wissentlich umgang Ben den Aufzug und führte den Zug durchs Treppenhaus an, bis man vor Jennys Wohnungstür stand. "Hast du mal nach nem Schlüssel geguckt? Normalerweise versteckt Jenny immer einen für den Notfall.", sagte der Polizist, nachdem man vergeblich angeklopft hatte, und schaute sich um, bis ihm ein ziemlich großer Blumentopf auffiel. "Hmm... nein... ich...", stotterte Timo ein wenig, als Ben die Pflanze im Topf hochhob und einen Schlüssel aus der Erde puhlte. Jennys Gewohnheiten hatten sich nicht verändert, dachte er lächelnd und steckte den Schlüssel ins Schloß. "Ähm... ich wäre auch nicht reingegangen... ich kann doch nicht einfach bei einer Kollegin in die Wohnung eindringen." Semir verstand Timo und merkte nun auch, dass das Verhältnis der beiden zwar freundschaftlich war... aber auch noch als normale "Kollegen." "Jenny ist keine Kollegin von uns. Sie ist Familie.", wurde der junge Mann von Semir ein wenig belehrt. "Und für die Familie gibt es keine verschlossenen Türen."
Timo war einigermaßen beeindruckt... nicht nur von der Art Semirs, sondern von dem Verhältnis was zwischen den ehemaligen Kollegen herrschte. "Familie...", ein Wort das er auf der Arbeit nie gehört hatte. Das Klima bei der Hamburger Polizeiabteilung war zwar gut, und man verstand sich untereinander... aber dass er die Kollegen als Familie bezeichnen würde, das kam ihm nie in den Sinn. "Vielleicht...", dachte er laut "...bin ich dazu noch nicht lange genug dabei."
Ben lief voran. "Jenny? Jenny, bist du da?" Vor jedem Raum, in den er sah, setzte sein Herz kurz aus, jedes Mal hatte er die Befürchtung, er würde die bewusstlose junge Frau irgendwo finden. Er wollte es eben während der Fahrt nicht sagen, aber er hatte immer wieder den Anflug einer grauenhaften Befürchtung, dass Jenny im Bezug auf Kevin und den Verlust des gemeinsamen Kindes einen Rückfall erlebt hatte... einen Rückfall, der ohne Stütze ihrer Freunde vielleicht anders endete. Er wollte den Gedanken verdrängen, doch er war wie ein Bumerang, der immer schneller zurückkam, je weiter man ihn versuchte weg zu werfen. Doch die Befürchtung bestätigte sich nicht... alle Räume waren leer. Timo bewegte sich eher vorsichtig durch die Wohnung, man spürte dass es ihm unangenehm war. Interessiert blieb er vor einem Bild stehen, neben dem eine erloschene weiße Kerze stand.
"Am Schloß sind Kratzer. Schwierig zu sagen, ob das von einem Einbruch ist, oder ob sie einfach mal mit dem Schlüssel daneben gestochert hat...", sagte Semir nachdenklich und richtete sich von der Eingangstür wieder auf. "Schlüsselbund ist keiner da... und das Auto ist auch weg. Als wäre sie irgendwohin gefahren." Dann richtete sich Ben an Timo, der von dem Bild aufsah: "Aber dann hätte sie dir garantiert Bescheid gesagt..." "Bei unserm Chef hat sie sich auch nicht gemeldet... ich hab vorhin nochmal gefragt." Die drei Männer standen nachdenklich in der Wohnung und stemmten die Hände in die Seite. "Irgendwas stimmt hier nicht... soviel steht fest.", sagte Semir, als wäre es eine unumstößliche Tatsache... nur helfen tat sie den Beamten nicht.