Beiträge von Campino

    Schulungsgebäude Hannover - 13:30 Uhr


    Die Schulung hatte noch keine halbe Stunde gedauert, da hatte Semir den Raum schon das zweite Mal verlassen. Vor der Tür versuchte er, Jenny zu erreichen... doch jedes Mal meldete sich sofort nach Verbindungsaufbau die Mailbox der jungen Frau. "Jenny, hier ist Semir. Melde dich doch bitte, sobald du das hier hörst. Wir machen uns Sorgen." Als er in den Raum zurückkehrte bemerkte er die sorgenvollen Gesichter von Ben und Timo... und ein wenig wunderte er sich, dass beide scheinbar gleich besorgt waren. Ben, der Jenny schon über Jahre kannte und viel mit ihr erlebt hatte, und Timo der Jenny gerade mal ein paar Wochen kannte... und dem die junge Frau scheinbar sehr am Herzen lag.
    Nach einer Stunde läutete der Dozent die erste Kaffeepause ein. "Ich kann nicht mehr ruhig sitzen, Semir. Da stimmt was nicht.", sagte Ben leise zu seinem Partner, als im kompletten Saal Stühlerücken zu hören war, als ob sich eine wütende Meute gleich auf den Kaffee stürzen würde. "Seh ich genauso.", meinte der erfahrene Polizist ein wenig kurz angebunden und ging zu dem Dozenten nach vorne zum Schreibtisch. "Sie müssen uns leider entschuldigen. Wir sind von unserer Dienststelle zurück beordert worden, wegen eines drigenden Einsatzes.", sagte er lächelnd aber überzeugend, in einem Tonfall der keine weiteren Fragen duldete oder gar Widersprüche. "Okay Herr Gerkhan. Ich trage sie und Herrn Jäger dann aus. Kommen sie morgen dann zum zweiten Teil?" Semir sah kurz zu seinem Partner der eine kurze "Hals-ab"-Geste zeigte und den Kopf schüttelte. "Ich... ähm... denke dass das länger dauern wird." meinte er versöhnlich und schüttelte dem Mann die Hand. "Herrn Söderberg nehmen wir mit, den brauchen wir zur Unterstützung.", sagte der kleine Polizist noch schnell, bevor er zu den beiden Männern zurückkehrte. Erst, als sie bereits im Auto waren, fiel dem Dozent auf, dass die beiden Präsidien eigentlich zu weit auseinander lagen für gegenseitige Unterstützung.


    Timo war positiv überrascht, dass Semir ihn völlig selbstverständlich miteinbezog. Als junger Kommissar, der auch noch recht jung und unbedarft aussah, war er es oftmals gewohnt, einfach übergangen zu werden, vor allem von alteingesessenen Polizisten mit ihren jahrzehntelang erprobten Routinen. Ihn hätte es jetzt nicht gewundert, wenn die beiden Männer von Cobra 11 den blonden Jungen beiseite geschoben, ihm auf die Schulter geklopft und gesagt hätten: "Mach du mal den Lehrgang, wir kümmern uns drum." Doch der kleine Polizist, den er wie Ben sofort gut leiden konnte, spürte dass Timo sich ebenfalls ernsthafte Sorgen um Jenny machte. Und nichts war schlimmer, als dann ausgegrenzt und unwissend sitzen gelassen zu werden. Nein, das kam für Semir überhaupt nicht in Frage. Ausserdem war bei einer eventuellen Suche ein Polizist mit Ortskenntnis immer von Vorteil.
    Zu dritt verließen sie schnellen Schrittes das Schulungsgebäude der Hannoveraner Polizei, und Ben konnte nicht anders als auf seine eigene Art und Weise erleichtert auf zu atmen. Er konnte aus jeder Situation immer etwas Gutes gewinnen. "Wenn du gesagt hättest, dass wir morgen wieder kommen... ich hätte dich auf links gezogen." "Blabla... um mich auf links zu ziehen müssen Maschinen kommen, keine Ersatzteile.", frozzelte Semir und grinste Timo an, als der in seinen Dienstwagen stieg. "Ich wusste, dass Hamburg sparen muss, aber dass es so schlimm ist.", meinte auch Ben nun scherzhaft, als die beiden Kommissare mitleidvoll auf den Opel blickten, in den der blonde jungen Mann einstieg... aber ebenfalls lachen musste.


    Innerhalb von knapp zwei Stunden fuhren sie im Konvoi in Richtung Hansestadt. Bei einem kurzen Handy-Telefonat besprachen sie miteinander, dass sie zunächst nochmal zu Jenny in die Wohnung fahren würden, um zu sehen, ob sie vielleicht mittlerweile vom Arzt zurückgekehrt war, und vielleicht einfach nicht bemerkt hatte, dass ihr Handy nicht funktionierte. Vorbehaltlich informierte Ben danach aber auch ihren Technik-Kollegen Hartmut, der Jennys Handy einer Ortung unterziehen sollte. Noch bevor sie in Hamburg an kamen war das nichtssagende Ergebnis, dass der letzte Funkkontakt gestern abend an einem Funkmast in der Nähe von Jennys Wohnung war. Das brachte die Kommissare natürlich nicht weiter, und so parkten sie hintereinander auf den Anwohnerparkplätzen vor Jennys Wohnung.
    Ben nickte anerkenned. "Nettes Häuschen hat sie sich da ausgesucht." "Gemessen an deinen oder normal-sterblichen Standards.", fragte Semir und steckte den Schlüssel in die Jeanstasche. "Ach, der Neid.", hauchte der junge Polizist seinem blonden Nebenmann zu, der den Witz nicht verstand weil er nicht wusste, dass Ben aus einer ziemlich reichen Familie kam und sich deshalb von Haus aus einen ganz anderen Standard erlauben konnte, als Semir in Bens Alter. Trotzdem gab es natürlich keinen Neid zwischen den beiden, Ben schämte sich manchmal ein wenig seiner Herkunft, und Semir nutzte das zu einigen Frozzeleien.


    Auch von innen machte das Haus den hochwertigen Eindruck, den man von aussen schon erkennen konnte. Wohl wissentlich umgang Ben den Aufzug und führte den Zug durchs Treppenhaus an, bis man vor Jennys Wohnungstür stand. "Hast du mal nach nem Schlüssel geguckt? Normalerweise versteckt Jenny immer einen für den Notfall.", sagte der Polizist, nachdem man vergeblich angeklopft hatte, und schaute sich um, bis ihm ein ziemlich großer Blumentopf auffiel. "Hmm... nein... ich...", stotterte Timo ein wenig, als Ben die Pflanze im Topf hochhob und einen Schlüssel aus der Erde puhlte. Jennys Gewohnheiten hatten sich nicht verändert, dachte er lächelnd und steckte den Schlüssel ins Schloß. "Ähm... ich wäre auch nicht reingegangen... ich kann doch nicht einfach bei einer Kollegin in die Wohnung eindringen." Semir verstand Timo und merkte nun auch, dass das Verhältnis der beiden zwar freundschaftlich war... aber auch noch als normale "Kollegen." "Jenny ist keine Kollegin von uns. Sie ist Familie.", wurde der junge Mann von Semir ein wenig belehrt. "Und für die Familie gibt es keine verschlossenen Türen."
    Timo war einigermaßen beeindruckt... nicht nur von der Art Semirs, sondern von dem Verhältnis was zwischen den ehemaligen Kollegen herrschte. "Familie...", ein Wort das er auf der Arbeit nie gehört hatte. Das Klima bei der Hamburger Polizeiabteilung war zwar gut, und man verstand sich untereinander... aber dass er die Kollegen als Familie bezeichnen würde, das kam ihm nie in den Sinn. "Vielleicht...", dachte er laut "...bin ich dazu noch nicht lange genug dabei."


    Ben lief voran. "Jenny? Jenny, bist du da?" Vor jedem Raum, in den er sah, setzte sein Herz kurz aus, jedes Mal hatte er die Befürchtung, er würde die bewusstlose junge Frau irgendwo finden. Er wollte es eben während der Fahrt nicht sagen, aber er hatte immer wieder den Anflug einer grauenhaften Befürchtung, dass Jenny im Bezug auf Kevin und den Verlust des gemeinsamen Kindes einen Rückfall erlebt hatte... einen Rückfall, der ohne Stütze ihrer Freunde vielleicht anders endete. Er wollte den Gedanken verdrängen, doch er war wie ein Bumerang, der immer schneller zurückkam, je weiter man ihn versuchte weg zu werfen. Doch die Befürchtung bestätigte sich nicht... alle Räume waren leer. Timo bewegte sich eher vorsichtig durch die Wohnung, man spürte dass es ihm unangenehm war. Interessiert blieb er vor einem Bild stehen, neben dem eine erloschene weiße Kerze stand.
    "Am Schloß sind Kratzer. Schwierig zu sagen, ob das von einem Einbruch ist, oder ob sie einfach mal mit dem Schlüssel daneben gestochert hat...", sagte Semir nachdenklich und richtete sich von der Eingangstür wieder auf. "Schlüsselbund ist keiner da... und das Auto ist auch weg. Als wäre sie irgendwohin gefahren." Dann richtete sich Ben an Timo, der von dem Bild aufsah: "Aber dann hätte sie dir garantiert Bescheid gesagt..." "Bei unserm Chef hat sie sich auch nicht gemeldet... ich hab vorhin nochmal gefragt." Die drei Männer standen nachdenklich in der Wohnung und stemmten die Hände in die Seite. "Irgendwas stimmt hier nicht... soviel steht fest.", sagte Semir, als wäre es eine unumstößliche Tatsache... nur helfen tat sie den Beamten nicht.

    Dienstwagen - 10:30 Uhr


    Heute konnten die Hamburger Kommissare ausschlafen, denn der Lehrgang in Hannover begann erst um 13 Uhr, damit die Beamten aus weiter entfernten Bundesländern genügend Zeit für die Anfahrt hatten. Manche, die aus München und Baden-Würtemberg reisten sogar schon am Vorabend an. Timo saß in seinem Dienstwagen und sah ein wenig ungeduldig auf die Uhr, denn Jenny ließ sich Zeit, was eigentlich überhaupt nicht ihre Art war. Er war gestern ein wenig enttäuscht, hatte er doch diesmal das Gefühl gehabt, vielleicht einen Schritt auf die junge Beamtin zu zu gehen, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, seit sie ihren Dienst in der Hansestadt angetreten war. Aber der Typ war Timo nicht, dazu war er zu schüchtern, und so genoß er es, mit Jenny zu arbeiten.
    Als er ausstieg, um an dem Mehrfamilienhaus zu klingeln, fiel ihm auf dass Jennys Kleinwagen nicht auf dem angestammten Anwohnerparkplatz stand. Der junge Polizist zog verwundert die Augenbrauen hoch und drückte nochmals auf den Klingelknopf hinter Jennys Familienname. Ein wenig Ratlosigkeit und Unbehagen zog in ihm auf, als sich auch niemand am Handy meldete... im Gegenteil. Die Mailbox sprang sofort an, das Handy war also ausgeschaltet. Für einen Moment stand Timo auf der Eingangstreppe und wusste nicht, was er tun sollte.


    Langsam bewegte er sich in seinen modischen Turnschuhen zurück zum Auto und wählte die Nummer seines Vorgesetzten. "Ähm Chef... Jenny ist nicht zu Hause, geht nicht an ihr Telefon und das Auto ist auch weg. Eigentlich waren wir verabredet, dass wir zusammen nach Hannover fahren.", sagte er beinahe pflichtbewusst. "Hmm, komisch. Vielleicht ist sie krank und zum Arzt gefahren. Hat das Handy aus, und noch niemanden angerufen, weil sie nicht weiß, wie lange sie Krankenschein bekommt. Mach dir keinen Kopf, Junge. Fahr halt alleine nach Hannover, ich melde mich wenn ich was von ihr höre." Wirklich beruhigen konnte das den blonden Polizisten mit schwedischen Wurzeln nicht. Er hatte erwartet, dass Jenny sich vorher bei ihm meldet, vor allem um ihm zu sagen, dass er nicht extra bei ihr vorbeifahren musste. "Alles klar.", gab er durch das Telefon und startete den Motor.
    Mit einem mulmigen Gefühl steuerte er den Wagen Richtung Süden auf die A1, um später auf die A7 zu wechseln. Seine Gedanken kreisten dabei weiter um Jenny, und obwohl er sie noch nicht in und auswendig kannte, so kam ihm das Verhalten komisch vor. Hätte er vielleicht öfters nochmal klingeln sollen? In ihre Wohnung reingehen, um nach zu sehen, ob etwas passiert war? Nein, das wäre nicht legal... aber zumindest würde er sich dann keine Sorgen mehr machen. Die Fahrtzeit von knapp 2 Stunden flog an ihm vorbei, so intensiv dachte er über seine Kollegin nach.


    Beim LKA Hannover parkte er auf dem Besucherparkplatz und stiefelte mit Notizblock bewaffnet in Richtung der Schulungsräume. An der Pforte bekam er Namensschild und Wegbeschreibung, als "Pfand" musste er seinen Dienstausweis abgeben. In einem Vorraum tumelten sich jede Menge Leute, alle mit Namensschildern auf denen auch die unterschiedlichen Dienststellen aufgedruckt war. Man unterhielt sich, man trank eine Tasse Kaffee aus dem Automaten im Flur oder nahm sich eine Stärkung Kekse von den aufgebauten Tischen. Im Schulungsraum selbst saß noch kein Mensch, nur der Beamer lief schon mal warm.
    Jenny hatte Timo auf dem Smartphone Bilder von Semir und Ben gezeigt und nach denen hielt der Polizist nun Ausschau. Sie fielen ihm sofort auf, sie standen beide an einem Stehtisch und spielten "Stein - Schere - Papier." Der Kleine mit den kurzen Haaren gewann mit Stein gegen die Schere und winkte grinsend Richtung Flur, während der größere mit den etwas zersausten langen Haaren beinahe missmutig das Gesicht verzog und in Richtung Kaffeeautomat ging. Eindeutig... das waren Semir und Ben, Jennys ehemalige Kollegen.


    Mit wenigen Schritten war Timo bei dem Polizisten, den er vielleicht um einen halben Kopf überragte. "Hallo... sind sie... Semir Gerkhan aus Köln?", fragte er dann fast wie ein Fan einen Superstar anspricht. Semir sah ein wenig gespielt auf sein Namensschild, wo der komplette Name und auch "Autobahnpolizei NRW" stand, bevor er grinsend antwortete: "Sieht ganz so aus." Die lockere und freundliche Stimme ließ Timo sofort ebenfalls lächeln und er hielt ihm die Hand hin. "Mein Name ist Timo Söderberg. Ich bin der Kollege von Jenny... sie hat viel über euch erzählt." "Ach sieh an...", sagte der erfahrene Polizist freundlich und schüttelte die ausgestreckte Hand. Sofort danach sah er sich aber verwundert um. "Und wo ist Jenny? Du wirst sie doch nicht unterwegs verloren haben..." "Tja..."
    Noch bevor Timo antworten konnte, kam Ben mit zwei Tassen Kaffee in der Hand zurück. "Dafür gehst du in der Pause die Kekse holen, mein Lieber.", krakeelte er und wollte Semir eine Tasse Kaffee herüberreichen. Der griff aber, für Ben überraschend, mit beiden Händen beide Tassen und reichte eine an Timo weiter. "Ich lad dich ein.", meinte er lächelnd und sah dann in das Gesicht seines perplexen Partners. "Das ist Timo, der Partner von Jenny." Ben sah zu Timo und grinste schon absichtlich geschauspielert. "Hallo Timo. Ich bin Ben, der Partner von "Hab ich gerade vergessen."", wobei er Letzteres deutlich unfreundlich in Semirs Ohr zischte. "Lass dir den Kaffee schmecken.", brummte er grinsend und nicht unfreundlich, bevor er den Weg zum Automaten ein zweites Mal antrat.


    "Ja, wo ist Jenny denn nun?" "Tja... ich sollte sie eigentlich zu Hause abholen... aber sie war nicht da.", erklärte der blonde junge Mann. "Nicht da? Obwohl ihr verabredet wart? Das ist eigentlich nicht Jennys Art.", meinte Semir und das Lächeln und die Lockerheit verschwand ein wenig. "Eben... ich hatte mir ein wenig Sorgen gemacht, aber mein Chef meinte, dass sie vielleicht krank ist und zum Arzt. Ihr Wagen war jedenfalls nicht da." "Hast du sie mal versucht anzurufen?" Timo nickte: "Ja, aber ihr Handy ist ausgeschaltet. Ich hab es ein paar Mal versucht."
    Semir machte einen etwas besorgten Gesichtsausdruck, als der Dozent die Menge in den Schulungsraum bat. Ben kam gerade noch als Letzter rein, mit einer dampfenden Tasse Kaffee und vier Keksen zwischen die Finger geklemmt, als würde es bis morgen Nachmittag nichts mehr zu essen geben. Timo setzte sich zu den beiden Autobahnpolizisten, und Semir erzählte seinem Partner leise, was er gerade erfahren hatte...

    Dienststelle Hamburg - 18:00 Uhr einen Tag später


    Jenny packte gerade ihre Sachen vom Schreibtisch zusammen in ihre modische Umhängetasche. Schreibblock, ihre Brieftasche, zwei Kugelschreiber. Morgen würden sie direkt zu dem Lehrgang nach Hannover aufbrechen, ohne nochmal in der Dienststelle vorbei zu fahren, deswegen nahm sie alles, was sie brauchte mit. Heute war ihr und Timo noch ein toller Zufallsfund geglückt, als sie auf den Tipp eines Informanten hin ein Warenlager ausfindig gemacht hatten, dessen Besitzer tatsächlich die Hütte im Hamburger Hafen auf seinen Namen angemietet hatte. Er gestand erst vor wenigen Stunden 14 Einbrüche in Hamburgs nobelsten Vororten, und verschafften so den beiden Ermittlern ein äusserst befriedigendes Gefühl vor Feierabend.
    "Kannst du morgen gleich bei deinen Kollegen prahlen.", kicherte Timo, als er im Türrahmen gelehnt stand und auf Jenny wartete. Sie machten eine Fahrgemeinschaft zusammen, da sich herausstellte dass der blonde junge Mann ganz in der Nähe wohnte, wo Jenny ihre Wohnung gefunden hatte. Jetzt stand er mit dem Autoschlüssel in der Hand parat, um die junge Beamtin mit nach Hause zu nehmen, dabei lächelte er... was er eigentlich fast immer tat.


    Timo war das, was man eine Frohnatur nennen konnte. Seine grünen Augen blickten immer freundlich, sein Mund lächelte oft. Dazu war er immer höflich und es schien, als käme der Ausdruck "schlechte Laune" überhaupt nicht in seinem Wortschatz vor. Selbst, wenn er Verbrecher verhörte, blieb er höflich und verkörperte so perfekt den Part des "guten Bullen.", den bösen Part übernahm dann sein Kollege Gregor, der diesen Part nicht mal spielen musste, denn Grefor hatte oft die Laune, als wenn sich die ganze Welt gegen einen verschworen hätte. Jenny fühlte sich zwischen beiden sehr wohl, waren sie doch beide die Extreme, zwischen denen ihr Gemüt oft ausschlug. Timo brauchte sie vor allem, um gut gelaunt arbeiten zu können.
    Der Junge, der aus Hamburg stammte, war erst vor zwei Jahren von der Polizeischule gekommen, war dann im Streifendienst und erhielt jetzt die Chance, sich in den Kriminalpolizei-Abteilungen zu empfehlen. Wo er, wegen seines jungen Aussehens und mangelndem Durchsetzungsvermögen seiner Ausstrahlung auf der Straße oft Probleme hatte, half ihm jetzt sein Spürsinn, seine Beharrlichkeit und seine Cleverness. Oft kam er auf Zusammenhänge, die so vorher keiner im Kopf hatte. Was man ihm ausserdem nicht ansah, war sein schwarzer Gürtel in Karate. Diesen Selbstverteidigungssport betrieb er schon, seit er 10 ist. Seine hellblonden Haare trug er oft in einem modischen Seitenscheitel und er betonte oft, dass sie trotz der Helle nicht gefärbt waren. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Schweden, erzählte er Jenny.


    Die beiden jungen Polizisten stiegen vor der Dienststelle ins Auto und Timo fädelte sich in den Feierabendverkehr in Hamburg ein. "Ich bin wirklich so gespannt auf deine ehemaligen Kollegen. Nachdem, was du alles über sie erzählt hast, müssen das ja echt dufte Jungs sein." Die junge Frau nickte. "Das sind sie. Und die besten Freunde, die man sich vorstellen kann.", fügte sie hinzu und dachte an die vielen Momente, die sie mit Ben und Semir erlebt hatte... und natürlich mit Kevin. Aber von ihm hatte Jenny noch niemandem hier in Hamburg erzählt. Sie versuchte, das Thema erstmal gar nicht an sich ranzulassen. Natürlich dachte sie oft an ihn, natürlich vermisste sie den jungen Mann in ihrem Bett, wenn sie nachts alleine einschlief. Aber darüber reden... anderen zu erzählen. Nein, das wollte sie momentan noch nicht.
    Und so wusste auch Timo nichts von dem dritten Polizisten, mit dem Jenny nicht nur zusammen gearbeitet hatte, sondern den sie auch geliebt hatte, mit dem sie zusammen gelebt hatte. Nach nur 15 Minuten Fahrzeit hielt er den privaten Opel vor einem modernen, beinahe neu gebauten Mehrfamilienhaus an, wo Jenny wohnte. Ihr Vater, noch mit guten Kontakten nach Hamburg, hatte ihr die Wohnung besorgt und mit dem befreundeten Vermieter Sonderkonditionen ausgehandelt. "Wir sehen uns dann morgen, okay?", sagte Timo und lächelte, wie immer... diesmal ein wenig schüchtern. Er hoffte insgeheim immer ein wenig darauf, dass Jenny ihn mal fragte, ob er noch mit nach oben kommen will... einen Kaffee trinken. Er selbst würde sich wohl niemals trauen zu fragen. "Ja. Kommst du mich abholen?", fragte Jenny und schaute durch das offene Fenster nochmal ins Auto. Der junge Polizist nickte, und sie verabschiedeten sich.


    Die Treppenstufen nach oben hatte Jenny erst einmal gesehen... beim Einzug. Seitdem nahm sie immer den Aufzug in den zweiten Stock, wo ihre Wohnung lag. Modern geschnitten, modern eingerichtet mit einem schönen Balkon in Richtung eines Waldstücks, aus dem morgens der Nebel aufstieg und den man bei Wind herrlich rauschen hören konnte. Es war hier alles ein wenig offener, weiter und nicht so eng zugeschnürt wie im Ruhrgebiet. Jenny warf die Tasche an die Garderobe, legte sie dann aber wohlwissentlich, sie morgen zu vergessen, doch direkt vor die Wohnungstür. Ihr blick schweifte den kurzen Flur bis zum Wohnbereich, und sie stutzte einen Moment. Die Badezimmertür war nur angelehnt... etwas, was Jenny niemals tat.
    Sie hatte den Tick, dass das Badezimmer aus hygienischen und Wärmegründen (für einen Frau gab es nichts schlimmeres, als abends vorm Duschengehen ein kaltes Badezimmer) immer geschlossen war. Sie hätte jetzt hingehen können, und die Tür einfach zu ziehen... doch sie war eine Polizistin. Und so drückte sie die Tür auf um hineinzusehen, ob sie vielleicht das Fenster vergessen hatte zu schließen.


    Auf diesen Umstand warteten Carsten und Patrick. Sie warteten nämlich in einer Art Vorrats- und Gerümpelkammer, die direkt neben der Eingangstür lag und rechneten damit, dass Jenny im Bad nachschauen würde. Genauso leicht, wie sie das Schloß des Eingangs ohne Schaden geknackt hatten, so schnell bewegten sie sich jetzt aus ihrem Versteck heraus. Beinahe lautlos waren sie an Jenny herangetreten, die erst zu spät ein Geräusch hinter sich realisierte. Ihr kurzer Schrei wurde erstickt vom beißenden Chloroform-Geruch aus dem Tuch, das Patrick ihr aufs Gesicht drückte. "Süße Träume, Kleines.", war das letzte, was sie vernehmen konnte...

    Wohnung - 16:30 Uhr


    Der durchdringende Ton des Akkuschraubers röhrte durch die kleine 3-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt von Köln. Patrick Heuser hielt die Tischplatte mit einer Hand, das Tischbein mit der anderen und versuchte beide Bauteile des IKEA-Esszimmertisches zusammen zu fügen. Sein Freund und Mitbewohner, Carsten Kolke, beobachtete ihn dabei vom Sofa aus... aus sicherer Entfernung. Wohlwissend, denn die Gedulds-Zündschnur von Patrick war kurz und immer nah am Feuer. Aus diesem Grund brauchten sie auch einen neuen Tisch, der alte war einem wütenden Fußtritt von dem braunhaarigen Patrick zum Opfer gefallen. Wenn jetzt der Zusammenbau nicht klappte konnte es durchaus sein, dass auch ein anderes Möbelstück dran glauben musste oder der Akkuschrauber durch die Wohnung flog.
    Patricks Gesichtsausdruck war verkniffen. Der junge Mann, gerade Anfang 30 wie sein bester Freund, schnaubte wütend und Carsten wusste, dass dessen Wut nicht vom Tisch herrührte. "Jetzt komm endlich darüber weg. Er ist tot, begreif es endlich. Genau das, was Peter mit ihm gemacht hat, macht er jetzt mit dir." Der Glatzkopf fing den Blick seines Freundes auf, dessen Augen böse funkelten. "Naja... zumindest unabsichtlich." "Hör doch auf mit dem Blödsinn.", warf ihm der Tischbauer entgegen und hantierte weiter an dem wackeligen Tischbein.


    Patrick war wütend, über ein Jahr Arbeit war umsonst. Er war dem Kerl gefolgt, beinahe jeden zweiten oder dritten Tag, immer bewaffnet mit seiner Spiegelreflexkamera. Er hat seinen Alltag nachgezeichnet, seine Wege studiert, seine Arbeit verfolgt und kennt all seine Freunde. Nur er war unsichtbar, als Phantom, als unsichtbarer Geist. Zwei ganze Ordner, unzählige gespeicherte Fotos auf seinem PC hatte er gesammelt und angefertigt. Ohja... Patrick wusste mehr über das Leben des Mannes, den er beschattete, als er vermutlich von sich selbst wusste. Er war es seinem besten Freund schuldig, seinem Freund der von diesem Mann umgebracht wurde, der von ihm vom Dach eines Fabrikgeländes gestoßen wurde. Und mit seinem Freund teilte er das dunkle Geheimnis.
    Und jetzt war alles umsonst gewesen. Der Mann war weg... verschwunden, auf mysteriöse Art und Weise mochte man meinen. Doch Patrick hatte Kontakte, in die Drogenszene von Köln, die wiederrum Kontakte in der Polizei hatte. Er war jahrelang in der Szene aktiv, genauso wie eben jener Polizist, den er verfolgte. Sie hatten miteinander gesprochen, gefeiert, im Ring geboxt und Drogen genommen. "Bei der Polizei gilt er als vermisst. Verschollen, verstehst du? Verschollen ist nicht tot."


    Carsten schüttelte den Kopf. Er kannte Patrick schon seit 8 Jahren, sie saßen zusammen 3 Jahre im Knast und hatten sich angefreundet. Sie konnten sich lauthals streiten, waren grundsätzlich bei jedem Thema anderer Meinung, waren aber wenn es hart auf hart kam ein unschlagbares Duo, das sich blind verstand. "Verschollen im kolumbianischen Dschungel. Vergiss es... mach die Akte zu. Du wirst die Rache nicht mehr bekommen, du hast zu lange gewartet." Er kratzte sich an seinem kahlen Schädel. "Wobei ich nicht verstehe, warum du so lange gewartet hast." "Das verstehst du nicht... der Typ verdient es nicht, sich einfach eine Kugel einzufangen. Er hat Peters Bruder, der damals hilflos war, tot geprügelt. Er hat Peter, meinen besten Freund, umgebracht." Patricks Stimme wurde leiser, während er zu einem unbestimmten Punkt im Zimmer schaute. "Der Kerl soll leiden..."
    "Hallo... ist jemand zu Hause dort oben? Er ist t-o-t!", buchstabierte ihm der, wesentlich rationaler denkende Teil des Duo. "Du hast doch Zack gehört. Er hat gesagt, sein Freund der mit ihm in Kolumbien war, sei sich ganz sicher." "Der hat auch nur gesehen, dass er in den Fluss gefallen ist. Mehr nicht.", widersprach ihm sein Freund, und Carsten schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Patrick in gewisser Weise eine Schraube locker hatte und sich in Dinge verbeißen konnte, und dabei jegliche Realität ausblendete. Deswegen nutzte auch alles Diskutieren nicht.


    "Na schön. Angenommen er lebt noch. Er ist unauffindbar... versteckt er sich irgendwo? Hier in Köln, in Deutschland, überhaupt in Europa? Und warum ist er verschwunden? Hat er was bemerkt?" "Nein, hat er nicht. Das hat Annie uns doch erzählt, warum er da hinten war.", sagte Patrick und schraubte endlich die letzte Schraube ins künstlich wirkende Holz. Endlich, ein Tischbein hatte er dran. "Die glaubt übrigens auch nicht daran, dass er tot ist." "Warum wohl...", spottete Carsten und lehnte sich auf der Couch wieder zurück. "Was ich damit sagen will, ist dass ich nicht glaube, dass du etwas erreichst wenn wir seine Freundin entführen. Wenn die wüsste, wo er ist, hättest du ihn längst gesehen, so intensiv wie du sie beschattet hast. Sogar bis Hamburg bist du gefahren." "Ja, und es hat sich auch gelohnt, mein Freund."
    Der Freund zog die Augenbrauen hoch. Er wusste nicht alles über Patricks Leben, zumindest ein Detail hatte er ausgelassen... nämlich den ersten Teil von Peter Beckers Rache an dem jungen Polizisten für den Tod seines Bruders... nämlich die Vergewaltigung dessen kleiner Schwester und ihr anschließender Tod. Neben Peter und Timmy war Patrick der dritte Beteiligte, was aber niemals herausgekommen war, sonst wäre der Mann heute nicht mehr am Leben. Timmy kam durch einen Unfall im Gefängnis ums Leben.


    Carsten stand kopfschüttelnd von der Couch auf. "Ich muss mal los. Jetzt versuch mal ein bisschen runter zu kommen, und überleg dir das nochmal, ob du das morgen wirklich durchziehen willst. Ob es wirklich Sinn macht.", sagte er mit beinahe beruhigender Stimme und klopfte seinem Freund, der auf dem Boden saß, den demontierten Tisch vor sich, auf die Schulter. Der sah Carsten nicht an, nickte aber zustimmend. "Ja, das tue ich. Okay?" "Gut...". Langsam, mit der Jacke in der Hand ging der tättowierte Glatzkopf Richtung Ausgangstür. "Aber egal, wie du dich entscheidest...", sagte er an der Tür und drehte sich nochmal zu Patrick um. "Du kannst auf mich zählen..."

    Einige Tage zuvor


    Dienststelle - 14:00 Uhr


    "Oh Mann, Semir. Bitte verschone mich... warum müssen wir auf diesen saublöden Lehrgang fahren?" Bens Stimme klang gespielt weinerlich, als er mit gefalteten, bittenden Händen Semir durch das Großraumbüro folgte, und Andrea ein neckisches Grinsen nicht verbergen konnte. "Keine Widerrede.", sagte Semir beharrlich, der zwei Ordner mit Unterlagen unterm Arm trug und in das kleine Nebenbüro, wo die beiden Autobahnpolizisten arbeiteten, hinein ging. Dort warf er einen der beiden Ordner auf Ben's Seite. "Die Chefin hat angeordnet, dass wir beide diesen Lehrgang durchlaufen. Fertig, aus, Feierabend." Ben zog eine Schnute. Nicht nur, dass er sich mehrere Stunden durch langweilige Vorträge quälen musste... sie mussten auch noch über Nacht weg. Eine Nacht, die er mit seiner Freundin Carina verpasste. Er genoß jede Sekunde mit ihr, seit sie vor einem Monat zu ihm gezogen war und schweren Herzens das Elternhaus verkaufte.
    "Warum überhaupt wir? Wir arbeiten mit dem Programm so gut wie gar nicht, das machen in erster Linie Dieter und Hotte." Semir seufzte über die ständige Meckerei seines Partners und ließ sich in seinen Drehstuhl fallen. "Weil das Ministerium die Lehrgangsbudgets gekürzt hat, und Beamte über 50 deswegen, was das angeht, kürzer treten sollen. Wir beide fahren hin, hören uns das an und arbeiten die beiden dann ein. Ausserdem können wir im Streifendienst niemanden entbehren, zur Zeit." "Kein Beamter über 50? Warum darfst du dann hin?"


    Ben hatte Glück, dass sein Grinsen an den Ohren aufhörte, sonst wäre ihm der Kopf abgefallen. Semirs flammender Blick traf ihn, Witze über sein Alter hörte er in den letzten Monaten, bevor er das halbe Jahrhundert voll machte, überhaupt nicht gerne. "Deswegen fahren wir ja jetzt schon, und nicht erst im September, du Knaller. Also nimm jetzt den Ordner und les dich etwas ein, damit du nicht nur Bahnhof und Abfahrt verstehst. Wir haben nie mit dem Vorgänger-Programm gearbeitet, und es wäre gut wenn wir wenigstens die Grundbegriffe der Software schon kennen." Das Grinsen verschwand wieder und missmutig schlich Ben um den Schreibtisch herum, an Kevins Bild mit der Kerze vorbei auf seinen Platz.
    Für einen Moment war es still im Büro, nur das leise Rauschen der Autobahn drang durch das geschlossene Fenster. Es war ein trüber, regnerischer und kalter Mai-Anfang. DBEreits der März und April hatte perfekt die Stimmung der Dienststelle widergespiegelt, nachdem einen Monat zuvor erst Kevin verschollen und zwei Wochen später Jenny das Baby verloren hatte. Aber mit der Zeit heilten die Wunden, und dass es der jungen Polizisten in Hamburg immer besser ging, wie sie am Telefon erzählte, besserte sich auch die Stimmung bei Ben und Semir wieder.


    Jetzt flitzten Semirs Augen konzentriert über die Buchstaben in dem Ordner, der sie auf den Lehrgang in zwei Tagen vorbereiten sollte, doch nicht einmal nach 5 Minuten wurde er abgelenkt. Erst war es Bens Handy, das scheinbar ständig WhatsApp-Nachrichten empfing, die von dem jungen Polizisten natürlich auch prompt beantwortet wurden, dann hörte er auf einmal das schnelle Geklacker von Bens Fingern auf der Tastatur. "Welches Wort verstehst du denn nicht, dass du googlen musst?", fragte Semir süffisant, obwohl er genau wusste, dass sein bester Freund sich gerade wieder hervorragend ablenken ließ. Dessen Blick gab Semir dann endgültig recht. "Ich... hab grad noch ne Online-Auktion laufen, und wollte mal kurz..."
    Semir klappte den Ordner zusammen. "Gut, na schön.", meinte er lächelnd, stand auf und nahm seine Jacke vom Stuhl. "Ich will meinem Partner ja keine Arbeit aufhalsen, die er nicht mag. Komm, wir fahren." Ben lächelte, hatte er Semir doch soweit bekommen lieber eine gemütliche Streifenrunde zu drehen, statt diesen langweiligen Mist zu lesen. Doch er wurde enttäuscht. "Machen wir doch heute Nachmittag die allgemeine Verkehrskontrolle auf dem Rastplatz, die wir schon länger geplant hatten. Es regnet ja nicht soviel. Ich hol nur schnell unsere Regen-Capes, frag du Hotte mal wo er die Gummistiefel hingetan hat von dem letzten Unwetter."


    Ben blickte resigniert zum Fenster raus, dann wieder zu Semir, und wieder aus dem Fenster. Es regnete Bindfäden und das Thermometer hielt sich ganz und gar nicht an die Jahreszeit, hielt es vor den zweistelligen Zahlen doch noch gebührenden Respektabstand. Semir stand bereits in der Tür und sah zu Ben. "Na, was ist?" "Schon gut, schon gut. Du hast gewonnen.", grummelte er, ließ sich wieder auf den Stuhl herabsinken und nahm den Ordner wieder zur Hand. Semir wusste... wenn es etwas gab, was Ben noch mehr hasste als langweilige Unterlagen durchzulesen, dann war es im Regen arbeiten... oder Hunger haben. Beinahe schon selbstzufrieden ob seiner pädagogischen Maßnahme setzte sich auch der erfahrene Beamte wieder auf seinen Platz und zog die Jacke wieder aus.
    Das Telefon ließ Ben erneut seinen guten Vorsatz, wenigstens eine halbe Stunde am Stück zu lesen, unterbrechen. "Jäger, Autobahnpolizei. Ach, Jenny... wie gehts dir." Er hörte die gut gelaunt klingende Stimme seiner ehemaligen Kollegin... wobei sie ja eigentlich noch Kollegen waren, nur nicht mehr auf der gleichen Dienststelle im gleichen Bundesland. Jenny war vor knapp 2 Monaten nach Hamburg gezogen, weil sie einen Bruch, einen Schnitt von ihrem "alten" Leben wollte, um über den Verlust ihres Babys und ihres Freundes besser weg zu kommen. Und es schien zu funktionieren, denn übers Telefon hörte sich die junge Frau so selbstsicher und lebensfroh an, wie früher.


    "Na, alles klar bei euch? Klappt das bei euch übermorgen?", fragte sie, denn sie hatte Ben vor einigen Tagen geschrieben, dass sie zufälligerweise ebenfalls auf den Lehrgang nach Hannover fahren musste und sich die drei dort begegnen würden, zusammen mit Jennys Partner Timo. "Ach Jenny, die Aussicht darauf dich zu sehen ist das Einzige, was mich nicht in den unauffälligen Krankenschein übermorgen treibt.", sagte er ein wenig übertrieben schmeichlerisch und grinste in Semirs Richtung, der wieder über den Rand des Ordners sah und Jennys Lachen fast durch den Hörer mithören konnte. "Du Schwätzer. Das wird bestimmt lustig.", sagte die junge Polizistin und Ben ging das Herz ein wenig auf. Er hatte sie schon lange nicht mehr so unbeschwert gehört, und er freute sich darauf, endlich wieder die "alte" Jenny zu sehen... die fröhliche Jenny, die sie war, als Ben und Kevin sie kennengelernt hatten...

    Weiter gehts,

    die Story spielt ca 2 Monate nach dem Ende von "Hierarchie der Engel". Für mich ist die Story ein wenig Selbstversuch, weil ich bisher nur den Anfang und die Ausgangssituation im Kopf habe... und alles sich erst mit der Zeit aufbauen soll ;)
    Ausserdem ist die Szene im ersten Kapitel, ähnlich wie bei Komakinder, in der Jetztzeit... die nächsten Kapitel finden in der Vergangenheit statt und arbeiten quasi irgendwann auf dieses Kapitel hin.

    Viel Spaß.

    Keller - 13:00 Uhr


    Jenny hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, solange wie sie nun schon hier war. Die Luft war kühl und feucht, es roch modrig und hin und wieder hatte der Kerl ihr auch mal die Augenbinde abgenommen, so dass sie Tag und Nacht unterscheiden konnte. Jetzt aber hatte er ihr ein weißes stinkendes Tuch vor die Augen gebunden. Sie spürte das verkrustete Blut an ihrer Wange, das von einem Cut über der Augenbraue nach unten gelaufen war an dem Tag, als sie entführt wurde und in dieses Verlies gesperrt wurde. Die Worte des Entführers, sein Gesicht und seine Beweggründe, die Namen, die er genannt hatte... alles spuckte in ihrem Kopf, verwirrte sie, machte sie traurig und hellhörig zugleich. Doch sie konnte sie noch keinen Reim darauf machen.
    Ihre Beine und ihr Rücken schmerzte, den der Stuhl auf dem sie gefesselt war, war nicht sehr bequem. Die Arme hinter der Lehne auf dem Rücken fixiert, die Beine fest mit Klebeband an den Stuhlbeinen befestigt. Hin und wieder durfte sie sich in dem Raum frei bewegen, durfte sich auf eine schmutzige Matratze legen, durfte herum laufen und die Beine ausschütteln. Aber irgendwo, irgendwie blieb sie immer fixiert. Wenn der Mann ihr die Beine löste, blieben ihre Hände mit Klebeband auf dem Rücken verbunden. Andersherum genauso. Es gab nichts in diesem Loch, was ihr hätte helfen können, das Klebeband zu öffnen und den Täter zu überwältigen. Einen Versuch hätte sie beinahe bitter bezahlt...


    Sie hörte die Schritte, die über die Steintreppe klackerten immer bevor der Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt wurde, um die verriegelte Tür zu öffnen. Diesmal aber waren es mehr als eine Person, das konnte sie hören. Unbehagen machte sich in ihr breit. Hin und wieder war er zu zweit gekommen, aber die zweite Person hatte nie ein Wort gesagt, und auch immer dann hatte Jenny die Augen verbunden. Dann geriet die junge Polizistin in Panik, dass die Kerle sie berühren, anfassen und verletzen könnten. Eine Vergewaltigung, die erst ein knappes Jahr zurücklag, kam ihr auf einmal wieder zurück in ihre Gedanken, ein schlimmes Erlebnis, das sie eigentlich komplett verdrängt hatte... mit Hilfe von unerschütterlicher Liebe zu einem besonderen Polizisten, und dessen Fürsorge... aber auch mit Ablenkung aufgrund dessen eigener Probleme.
    Doch diese Welt war zerstört worden, innerhalb weniger Wochen. Der Mann, den sie liebte, war tot... abgestürzt von einer Brücke im kolumbianischen Urwald, ertrunken, verschollen... nur Gott und der Teufel würden wissen, was wirklich geschehen ist. Ihr gemeinsames Kind war tot... Jenny hatte es in einer Stresssituation am Flughafen verloren. Sie hatte ihre Freunde, ihr gewohntes Umfeld verlassen und war zur Abteilung für Eigentumsdelikte nach Hamburg in ihre Heimatstadt gegangen... eher geflüchtet.


    Ihr Leben neu ordnen, am liebsten ohne Erinnerung an die schlimme Zeit. In ihrer neuen Wohnung erinnerte nur ein Foto von Kevin an ihn, der Karton in ihrem Schrank und der dunkelblaue Koffer, in dem seine Klamotten waren. Sie konnte die Hoffnung, die nur noch minimal in ihr glühte einfach nicht löschen. Die Kollegen waren nett, die Arbeit war unterhaltsam, wenn auch lange nicht so aufregend wie bei der Autobahnpolizei... doch die Aufregung und der Nervenkitzel fehlte ihr nicht. Zusammen mit Gregor und dem jungen Kommissar Timo, mit dem sie sich angefreundet hatte, nahm sie Einbrüche auf und hatte vor kurzem den ersten Erfolg zu verzeichnen, als man einen Einbrecherring aus dem Ausland dingfest machen konnte. Ohne große Verfolgungsjagd, mit viel Ermittlungsarbeit in den zwei Monaten, in denen sie jetzt in der Hansestadt war.
    Doch wieder war alles mit einem Schlag anders, als sie vor der eigenen Wohnung am Abend entführt wurde und in diesem Kellerverlies aufwachte, und seitdem beinahe eine Tortur mit dem Entführer auf sich nehmen musste. Wie sehr wünschte sie sich zurück nach Köln, wo sie sich in so einer Situation auf ihre Freunde hätte verlassen können. Semir und Ben, Hotte und Dieter, Andrea und die Chefin... sie hätten jeden Stein auf links gedreht, bis sie die junge Kollegin gefunden hätten. Ob Timo und Gregor, ihr neuer Chef Kauptzke überhaupt Nachforschungen anstellen würden? Vielleicht nach einigen Tagen, und dann auch nur auf dem Dienstweg der Vermisstenmeldung.


    Knarrend öffnete sich die Tür, und die Schritte kamen näher. Sie näherten sich von hinten, was die Sache für die blinde Jenny noch unangenehmer machte. "Hallo, mein Liebes. Heute ist der große Tag, den ich dir schon so lange verspreche.", konnte sie die Stimme ihres Entführers hören, die sie kannte, die sie so sehr verfluchte. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie für einen Moment den schweren kalten Lauf einer Waffe an ihrem Nacken spürte, der über ihren Hinterkopf strich bis zu ihrer Stirn. "Und ich hab eine ganz besondere Überraschung für dich."
    Jennys Lippen zitterten, sie hatte Angst... große Angst. Angst vor ihrem Peiniger, Angst davor zu sterben. So schwer die letzte Zeit auch war, sie war ein grundsätzlich so lebensfroher Mensch, dass sie zwar hin und wieder verzweifelte, aber nie den puren Lebensmut verlor. Sie war sich innerlich sicher, dass noch etwas Großes auf sie wartete... aber jetzt war sie dem Tod so nahe, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie konnte spüren, dass die Mündung der Waffe nun ganz leicht an ihre Stirn gehalten wurde. Durch ihr Zittern spürte sie immer eine leichte Berührung... oder zitterte die Hand des Mannes, der die Waffe hielt auch? Würde er sie jetzt einfach erschiessen? Was für einen Sinn hatte dann die Entführung?


    Als sie spürte, dass sich der Knoten des Augentuches an ihrem Hinterkopf lockerte, und die Binde über ihre Brust in ihren Schoß fiel, wusste sie die Antwort. Ihre Augen mussten sich nur einen Augenblick an das einfallende Licht durch die Gitterstäbe gewöhnen, doch dieser Augenblick, dieser Moment vor ihren Augen brannte sich in ihr Gedächtnis. Sie sah zuerst das Oberteil des Mannes, der vor ihr stand, dessen Jacke und ihr Herz begann sich zu überschlagen und ihr wurde übel. Je höher sie blickte, die Kette an seinem Hals, der Ohrring an seinem linken Ohr... die erleichterte Freude, die eigentlich in ihr aufkommen sollte, wurde von der blanken Panik verdrängt, als sie sah, dass er und nicht ihr Entführer die Waffe auf sie richtete. Seine Haare waren länger als vorher und er trug sie immer noch wild durcheinander, jedoch anders als damals... doch es war der Blick, auf dessen nun tränengefüllte Augen Jennys blickten. Der Blick, kalt wie ein Eisblock, hellblau wie Eiskristalle. Aus ihm sprach keine Regung, keine Emotion und sein Finger legte sich um den Abzug. Jennys Mund formte sich zu einer Frage, doch es wollte kein Ton entweichen, nur wie in Zeitlupe schüttelte sie ungläubig den Kopf. Das entsetzte "Nein... bitte nicht..." kam tonlos und geflüstert über ihre Lippen.

    Uih..... nett! ;(
    Fing ja relativ harmlos an, mit einem Jungen und einem Mädchen, das durch eine schöne Landschaft laufen. Forstweg, Korn, Blumen, Heidekraut..... Aber dann kommt der dunkle Turm. Und ab da ist es nicht mehr schön. =O
    Ein Mann in einer Blutlache, ein Mädchen, das gleich hingerichtet werden soll, Angst, Panik, eine Heroinspritze..... das ist wie ein Alptraum. Oder wie ein Drogentrip. (Apropos Drogen.... ist Kevin in der Nähe? :/ )
    Bin sehr gespannt, was es mit diesem Epilog auf sich hat. Hat der noch irgendwas mit der "Hierarchie der Engel" zu tun? Kennen wir den, der da im dunklen Turm rumirrt? Oder ist das mehr wie ein Teaser auf eine gänzlich neue Geschichte, mit neuen Personen?
    Klingt auf jeden Fall sehr spannend und sehr aufregend. Und nicht nach einem 08/15- Fall. Freue mich drauf. :thumbup:

    Vielleicht ein kleiner Hinweis... einige der Sätze, die gesprochen werden, sind Zitate. ;)

    EDIT: Okay, es sind "nur" zwei. :D

    Epilog


    "Ich bin so gerne hier draussen." - "Ich weiß. Aber warum bist du gerne hier?" - "Wegen den ganzen schönen Blumen." - "Und welche ist deine Lieblingsblume?" - "Die Vergissmeinnicht." - "Wieso die?" - "Die hat so einen schönen Namen."


    Er konnte die Kinderstimme des kleinen Mädchens, das ihm antwortete, genau hören. Er konnte den Forstweg, dessen Asphalt an vielen Stellen längst aufgebrochen war, unter seinen Füßen und den Wind in seinen Haaren spüren. Und er konnte das frisch eingefahrene Korn des Bauern, den Duft der Blumen am Wegesrand und des frischen Heidekrauts riechen. Genauso hörte er mitten drin aber auch unberuhigende Geräusche, Geräusche die nicht zu den Bildern vor seinen Augen passen wollten. Immer fortwährend hörte er das Schlagen eines Herzens. Es schlug langsam, beinahe bedächtig, aber der Ton des schlagenden Muskels bohrte sich ins Ohr. Genauso konnte er das Zucken in seiner Brust spüren und seinen rasselnden, langsamen Atem vernehmen, während er selbst mit fröhlicher Jungenstimme sprach.
    Das Mädchen mit den schwarzen Haaren lief voraus auf einen alten gemauerten Turm zu, der gar nicht recht in diese idylische Landschaft passen wollte. Er war aus alten Steinen gemauert, Moos und Gras wuchs zwischen den bröckelnden Steinen und ausser einer Holztür war keinerlei Öffnung vorhanden. "Wir sollten da nicht reingehen." "Ich würde mich alleine ja nicht in so einen alten dunklen Turm trauen... aber solange du bei mir bist.", war ihre Antwort. Die Holztüre knarrte gespenstisch, und als sie hinter ihnen ins Schloß fiel, waren beide von der Dunkelheit umhüllt.


    Plötzlich war alles still. Nur der Herzschlag und der rasselnde Atem war noch zu hören, der Schweiß auf seiner Stirn und der pochende Schmerz zu spüren. Tropfen fielen auf Steine und er hatte das Mädchen aus den Augen verloren. Auf das Rufen nach ihrem Namen erhielt er keine Antwort, und das Geräusch seiner Schuhe klang hohl durch den Gang, der sich vor ihm auftaut und nur schemenhaft zu erkennen war. Immer wieder konnte er eine Öffnung rechts und links ausmachen, als er plötzlich eine unheimliche, weil glasklare Stimme hören konnte. Er kannte sie, und doch war sie ihm fremd. "Nichts ist hier, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint." Er lief ein paar Schritte schneller, sein Atem beschleunigte sich, das Rasseln wurde lauter und sein dumpfer Herzschlag beschleunigte.
    "Gehe niemals, ungeschützt und ohne Licht, eine der Treppen hinunter." Die Treppen lagen hinter den Öffnungen und führten rechts und links des Ganges tief unter die Erde. "Es könnte Jahrzehnte dauern, bis man dich findet. Oder schlimmer...", knurrte die Stimme nun dunkler und verzerrte sich zu einem gutturalen Knurren, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. "Du könntest wiederkehren... verändert wiederkehren. Ein Anderer sein..." Er spürte, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel, und er von einer der dunklen Treppen beinahe magisch angezogen wurde, bevor er sie hinabstieg.


    Es war, als müsse er sich jeden Schritt vorkämpfen, die Beine wollten seinen Kopfbefehlen nicht gehorchen und immer wieder drohte er hinzufallen. Das kleine Mädchen hatte er längst verloren und andere Töne und Geräusche fluteten seinen pochenden schmerzenden Kopf, der sich gar nicht mehr wie der Kopf eines Jungen anfühlte. Die Bilder vor seinen Augen spielten ihm immer wieder Streiche, er sah einen Mann mit schwarzen Haaren in einer Blutlache liegen, der ihn auslachte und man irrer Stimme sagte, dass er niemals mehr aus seinem Kopf verschwinden würde. "Ich sitze in der drin. Du sollst niemals mehr frei sein." Er stolperte an ihm vorbei, Schweiß rann ihm über die Stirn und das Lachen verfolgte ihn weiter, obwohl er den Mann längst hinter sich gelassen hatte.
    Er kam an einer Zellentür vorbei, hinter der ein Mädchen kniete, das aber nicht das Mädchen war, dass er gerade verloren hatte. Sie hatte den Kopf auf einen Holzblock gelegt, und eine unheimliche Stimme verlas eine Anklageschrift. "Werden sie wegen gemeinschaftlicher Entführung zum Tode verurteilt." Bevor das Urteil vollstreckt wurde, kniff er angeekelt die Augen zu und versuchte fortzulaufen, doch er bewegte sich nur wie in Zeitlupe bevor er auf den glitschigen Nasen Steinboden fiel und er seine eigene Stimme hörte, ohne selbst zu sprechen. "Und welche ist deine Lieblingsblume?" - "Die Vergissmeinnicht." - "Wieso die?" - "Die hat so einen schönen Namen."


    Die Farbe der Wände veränderte sich. Sie waren gesäumt von seltsamen, teuflisch anmutenden Zeichen. Eine Spritze aus der einige Tropfen herausliefen stach ihm mit roter glühender Farbe entgegen, während er sich mit dem Rücken an die andere Wand drückte und das Zeichen schien ihn festzuhalten, schien ihn zu zwingen hinzusehen. Das Klopfen des Herzens hatte mittlerweile ein beängstigendes Tempo angenommen und sein Atem überschlug sich beinahe. Diesmal konnte er es nicht nur hören, sondern auch fühlen. Die Wand in seinem Rücken fühlte sich nicht hart und steinig an, sondern wie ein gespanntes Tuch, das ihn festhielt und eine drückende Hitze überkam ihn, während er wie gebannt auf das Zeichen sah, eine aufgemalte Heroin-Spritze mit einem knallroten A darunter.
    Er wollte fort, doch er konnte nicht. War es so, wenn man stirbt? Kein heller Tunnel, sondern ein verdammter dunkler Gang in einem verfluchten Turm? Er hörte Lachen... das befreite, verliebte Lachen junger Menschen um ihn herum, das sich in das Rasseln des Atems und in den Herzschlag hinein mischte. Er fasste sich an den Kopf. Das Lachen veränderte sich. Es wurde immer fröhlicher, immer ausgelassener bis es in ein Babylachen überging... ein kleines Baby, dem man Grimassen machte, und das nicht aufhören wollte zu lachen und dann irgendwann begann, zu weinen und zu schreien. All diese Geräusche bohrten sich tief in seinen Kopf, tief in sein Gehirn und die lange Wunde an seiner Schläfe schien aufzureißen und ihm den Schädel zu spalten.


    Plötzlich war alles still. Das Bild vor seinen Augen verschwand, er hörte und spürte keinen Herzschlag. Nur ein leises, zaghaftes Atmen konnte er hören... und zwei Stimmen. "Und welche ist deine Lieblingsblume?" - "Die Vergissmeinnicht." - "Wieso die?" - "Die hat so einen schönen Namen."


    ...


    Aber was ich mir wünsche ist, dass du schon eine neue Geschichte im Kopf hast und es ohne lange Unterbrechung bald weitergeht. Das wäre schön!


    Der Wunsch könnte in Erfüllung gehen ;) Morgen kommt noch ein kleiner Epilog zu "Hierarchie der Engel", der zum Prolog von "Vergiss mein nicht" hinweist. Es geht also nahtlos weiter.

    Dienststelle - 9:00 Uhr


    Jenny hatte es sich gut überlegt... lange überlegt. Und jetzt verließ sie irgendwie doch der Mut. Der Umschlag in ihrer Tasche schien wie ein heißes Stück Metall zu glühen und ihr somit auch auf der Seele zu liegen und immer wieder streiften ihre Blicke beinahe verstohlen einerseits auf Hotte und Dieter, auf Ben und Semir in ihrem Büro, oder auf das Gesicht der Chefin. Auch Andrea geriet immer öfter in ihr Blickfeld und Jenny stellte sich die Frage, wem sie sich zuerst anvertrauen sollte. Den offiziellen Weg zur Chefin? Mit der Freundin darüber reden? Eigentlich hatte sie ihren Entschluß gefasst, sie hatten das ganze Wochenende darüber nachgedacht, bevor sie das Schreiben aufgesetzt hatte. Mit ihren Eltern telefoniert. Darüber geschlafen...
    Auf der Arbeit funktionierte es wieder... sie funktionierte. Sie konnte sich ablenken, konzentriert ihren Dienst tun nach den schrecklichen Erlebnissen um Kevin, um ihr Kind. Irgendwie, innerlich hatte sie mit allem abgeschlossen. Mit ihrem Kind starb gleichzeitig die Hoffnung, dass Kevin noch leben könnte. Sie trauerte bereits, sie hoffte nicht mehr. Und Kevins Bild mit der Kerze in Bens Büro wurde so etwas wie ein Grab, eine Trauerstelle. Ein echtes Grab bekam der Polizist erst, wenn er von den Behörden offiziell für tot erklärt wird. Doch das konnte Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern.


    Auch wenn es für die Polizistin funktionierte, sich durch die Arbeit abzulenken und konzentriert ihren Dienst zu tun... im Privaten funktionierte es nicht. Sobald sie den Arbeitsmodus abschaltete und zu Hause in ihre Wohnung kam, ging der Film los. Sie erwartete Kevin schlafend auf der Couch oder am Fenster stehend, wenn sie nach Hause kam. Abends wartete sie ständig darauf, dass er vom Training nach Hause kam. Vor zwei Tagen wartete sie mit dem Abendessen, weil sie auf ihn gewartet hatte, bis ihr ins Bewusstsein stieg, dass er nicht nach Hause kommen würde. Alles in ihrer Wohnung erinnerte sie, wenn sie auf der Arbeit saß, erwartete sie dass Kevin im Büro nebenan war, und immer mal zu ihr rübersah.
    Die Gewohnheit saß zu tief in Jenny, und sie sah für den Bruch mit der Gewohnheit nur den Ausweg, den auch Kevin in seiner schlimmsten Phase gezogen hatte. Keine Drogen und kein Alkohol... aber die Flucht. Brechen mit allem, was man besaß, was man hatte und was einem die Routine im Leben gab. Kevin verabschiedete sich damals aus seinem gewohnten Gang-Umfeld, er trampte zwischen Köln, Berlin und Hamburg hin und her. Er gab alles auf, was er hatte, hatte er erzählt und auch, wenn er in dieser Zeit alles an Drogen einschmiß, was er zwischen die Finger bekam, von Heroin mal abgesehen, war ihm so die Flucht gelungen, die Gewohnheiten abzulegen.


    Nach dem zweiten Kaffee und der ersten Streifentour hatte Jenny sich entschieden. Sie klopfte mit dem Fingergelenk an die Glastür der Chefin, die sie daraufhin mit einem kurzen "Ja?" hereinbat. In der jungen Frau kribbelte es, als sie sich zu Anna Engelhardt an den Schreibtisch setzte. "Haben sie kurz Zeit?" Die Chefin blickte von ihren Unterlagen auf und legte den Stift zur Seite. "Natürlich... setzen sie sich." Die Polizistin nahm Platz und legte den Umschlag vor ihr Gegenüber auf den Tisch. "Ich möchte ihnen meinen Versetzungsantrag geben." Ein kurzer Satz und doch kostete er Jenny so manches an Überwindung. Sie spürte, wie sich die Klammer um die Brust legte, doch Jenny kämpfte gegen die Tränen noch erfolgreich an. Erinnerungen kamen auf, als sie hier weinend saß, bei einem Verhör durch die Mordkommission, als der Polizeianwärter, der sie tags zuvor vergewaltigt hatte, tot aufgefunden wurde.
    Zunächst blieb die Chefin stumm und blickte ihre Mitarbeiterin nur versteinert an. Sie öffnete den Umschlag, nahm das Schreiben heraus und las es aufmerksam, bevor sie ihn zur Seite legte. "Haben sie sich das gut überlegt?" Jenny nickte zaghaft, ohne der Chefin in die Augen zu blicken. "Ja. Ich... es erinnert mich hier und zu Hause alles an... ihn." Erst jetzt stellte sie den Blickkontakt wieder her. Die Chefin lehnte sich zurück und strich mit dem Finger über ihre Oberlippe.


    "Ich kann sie verstehen, Jenny. Es ist schwer, was sie durchgemacht haben und zur Zeit noch durchmachen.", sagte die Leiterin der Dienststelle verständnisvoll. "Aber ich weiß nicht, ob eine Flucht... weg von ihren Freunden und dem gewohnten Umfeld in dieser Situation das Richtige ist." "Ich habe mir darüber sehr viele Gedanken gemacht, Chefin. Und ich bin ihnen, wie auch Semir, Ben, Andrea, Hotte oder Dieter mehr als dankbar dafür, was sie für mich tun und getan haben. Es ist nur... die Gewohnheit. Es ist, dass ich zu Hause auf ihn warte... dass ich denke, er sitzt nebenan im Büro." Jenny knetete mit den Fingerkuppen gegeneinander, während Anna Engelhard aufmerksam zuhörte. "Ich weiß, dass Kevin damals, als seine Schwester getötet wurde, auch einen Schnitt gemacht hat. Das hat ihm geholfen und ich hoffe... es hilft mir auch."
    Die Chefin nickte und sah nochmal auf das Schreiben. "Haben sie sich in Hamburg, wo sie hinwollen, schon gemeldet?" "Mein... mein Vater kennt dort den Polizeichef und hat bereits angefragt.", erklärte Jenny ihre Beziehung, denn sie stammte ursprünglich aus Hamburg. "Verstehe... Jenny, ich werde nicht versuchen sie umzustimmen. Aber ich will ihnen sagen, dass ich es persönlich sehr schade finde, sie zu verlieren. Ich werde das Schreiben weiterleiten für sie. Bitte sagen sie mir sofort Bescheid, wenn sie sich umentscheiden sollen." Die junge Frau lächelte. "Danke, Chefin." Bevor sie das Büro verließ sagte die Chefin noch: "Und bitte... sagen sie den anderen Bescheid. Seien sie ehrlich."


    Als Jenny das Büro der Chefin verließ, klopfte ihr Herz noch stärker als vorher, spürte sie noch mehr Kribbeln und ein noch schlechteres Gefühl im Magen. "Andrea, Hotte, Dieter... könnt ihr mal kurz mit mir zu Ben und Semir ins Büro kommen?", sagte sie mit leicht zitternder Stimme. Andrea blickte ein wenig verwundert auf, bevor sie zu den beiden Streifenpolizisten sah und stand dann aber auf. Alle vier traten gemeinsam ins Büro der beiden Autobahnpolizisten, die ebenfalls ob der Parade verwundert aufsahen. Semir schrieb gerade einen Bericht und Ben verdrückte das zweite Schoko-Croissant, während er den aktuellen Lagebericht las, denn auch sie hatten eben ihre erste Tour hinter sich. "Gibts hier was umsonst?", fragte der junge Kommissar, während seinem älterer Partner schon die ersten Vorahnungen kamen, als er Jennys Gesichtszüge sah.
    Hotte schloß hinter sich die Tür, und Jenny übernahm zögerlich das Wort, während sie sich mit der linken Hand über die rechte Handoberfläche kratzte. "Ich weiß nicht genau, wie ich es euch sagen soll...", murmelte sie leise und versuchte, jemandem in die Augen zu sehen. Nach misslungenen Versuchen bei Hotte und Semir, blieben ihre Augen an Ben haften. Semir selbst hätte es schon vorsagen können, denn irgendwie ahnte er es... und er schluckte. Jenny sagte es dann... sie sagte es frei heraus ohne jede Widerkehr. "Ich gehe weg von hier... es tut mir leid."


    ENDE

    Kneipe - 22:00 Uhr


    Der späte Nachmittag wurde nochmal turbulent und anstrengend... und vor allem bedrückend. Die Schar der Engel, die das Krankenhaus gestürmt hatte, hatte ein Blutbad angerichtet, von dem Semir und Ben erst nachträglich etwas mit bekamen, und was vermutlich in den nächsten Tagen die Presse beherrschen würde. Im Foyer wurden zwei Patienten und zwei weitere Schwestern willkürlich attackiert und schwer verletzt, die junge Krankenschwester, die in den Flur getorkelt kam würde den nächsten Tag nicht mehr erleben. Den tödlichen Stich hatte der Mann verursacht, der auch versuchte die Polizisten anzugreifen. Auch er würde später an seinen Verletzungen sterben. Drei weitere Engel wurden wegen schwerer Körperverletzung und versuchtem Mord verhaftet, sie hatten die anderen Verletzungen verursacht.
    Am frühen Abend, gerade als Semir und Ben das Büro verlassen wollten, klingelte das Telefon. Hartmuts Vertretung hatte Höchstleistungen erbracht und die beschlagnahmten Beweisstücke aus Gabriels Wohnung untersucht. An einer Klinge, in die der Spruch "In Gottes Namen" und auf der anderen Seite "Hierarchie der Engel" eingraviert war, konnten feine Gewebespuren und somit DNA festgestellt werden, sowohl von dem getöteten Kinderschänder, als auch von dem Bankmanager. Damit wäre es kein Problem, Gabriel für zweifachen Mord zu verurteilen, und wegen der besonderen Brutalität und der Motivation in eine forensische Klinik zu stecken, aus der er wohl nie mehr herauskommen würde.


    Die beiden Autobahnpolizisten hatten sich mit dem Pastor Karl Busche verabredet. Sie wollten sich bei ihm für die Hilfe, die entscheidenen Schlüssel zu finden und die Beweggründe der Morde zu verstehen, bedanken. Ausserdem wollten sie ihn natürlich darüber unterrichten, dass sie den Übeltäter gefasst hatten. In der Ortschaft, wo der Pastor arbeitete, trafen sie sich in einer urigen Kneipe, wo der Pastor selbst nach der Sonntagsmesse mit den älteren Herren zum Frühschoppen einkehrte, er den Wirt duzte und beinahe jeden Gast, der kam oder ging, mit Handschlag oder einem kurzen Nicken grüßte. Es schien hier, als sei die Zeit irgendwie vor 20 Jahren stehen geblieben... kein Flatscreen an der Wand, kein freies WLAN, sondern ein dudelnder Spieleautomat und die Dunstwolken der Zigaretten, die der Wirt duldete. Kontrollen von der Polizei fanden hier so gut wie nie statt.
    Statt am Tresen hatten sich Ben und Semir mit Busche in eine kleine Nische an einen Tisch verzogen, denn was sie redeten musste ja nicht jeder mitbekommen. Aussergewöhnliche Nachrichten machten in einer kleinen Gemeinde schnell mal die Runde, wuchsen zu Gerüchten, Schauergeschichten und schlimmerem. Darauf konnte der Pastor gut und gerne verzichten, prostete mit einem alkoholfreien Weizenbier den beiden Polizisten gegen dessen Biergläser, die ebenfalls den alkoholfreien Gerstensaft enthielten.


    Semir umriss kurz, dass man Gabriel auf die Schliche gekommen war, ihn mit einer List in seinen religiösen Gefühlen zu beleidigen und zu provozieren. Der Pastor nickte anerkennend und sagte: "Diese Menschen denken nicht rational. Für sie steht ihre Überzeugung an erster Stelle und ihr ordnen sie alles unter. Selbst die Logik, die Gefahr oder sonst etwas." Semir nickte, das gleiche hat er ja auch schon gesagt. "Ich empfand es als erschreckend, wie fanatisch dieser Gabriel war, dass er tatsächlich dachte, er könne nicht sterben oder verwundet werden. Der hat das echt geglaubt.", sagte Ben und wiederholte den Satz nochmals ungläubig.
    "Sehen sie, der Fanatismus ist der Grund dafür, dass Menschen an völlig unlogische Dinge glauben. Verstehen sie mich nicht falsch... wenn man ehrlich ist, sind viele Dinge an die wir im Christentum glauben, auch unlogisch. Natürlich kann niemand schwanger werden, ohne vorher Geschlechtsverkehr gehabt zu haben.", schmunzelte der Pastor und spielte damit auf die Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria an. "Aber normale gemäßigte Gläubige können zwischen dem Glauben und der Realität unterscheiden. Sie glauben an die Schöpfungsgeschichte, wissen aber gleichzeitig dass die Evolutionstheorie wahr ist, dass wir alle vom Affen abstammen und die Frau nicht aus der Rippe Adams. Fanatiker können dies nicht mehr unterscheiden, oder aber haben sich von der Wahrheit abgewendet."


    Für einen kurzen Moment schwiegen die drei Männer, bevor Semir sagte: "Das Ganze wird jetzt die Presse beherrschen. 4 Tote, mehrere Verletzte und das aus religiösen Gründen. Und nicht etwa durch Islamisten, die im Namen Allahs gemordet haben." Der Pastor nickte. "Genauso wie ein Terroranschlag ein dunkles Licht auf alle Muslime wirft, so wirft solch eine Tat ein dunkles Licht auf alle Christen. Gleichzeitig entkräftet es aber auch, dass andere Religionen gewalttätiger sind, als das Christentum." "Sie sagen das sehr selbstkritisch, das finde ich gut.", meinte Semir anerkennend, der mit Religion selbst eigentlich nicht besonders viel am Hut hatte. Andrea hatte er auch nur standesamtlich, nicht kirchlich geheiratet, weil das mit seinen Eltern nicht vereinbar gewesen wäre.
    "Ja, das bin ich. Ich weiß, dass wir im Christentum an manchen Stellen vielleicht weiterentwickelter sind als andere Religionen, es aber an vielen Stellen noch krankt. Ob das nun die Sache mit der Verhütung ist oder die Gleichberechtigung der Frau. Es gibt genauso christliche Gewalttaten wie in jeder anderen Religionen, in denen es Extremisten gibt." "Aber vielleicht nicht so viele wie zb im Islam.", meinte Ben ein wenig vorsichtig, wobei er Semir ansah. Er wusste aber, dass sein Freund das Thema recht distanziert sah.


    "Momentan ist das vielleicht so, aber historisch gesehen sicherlich nicht. Denken sie an die Kreuzzüge. Die Hexenverbrennungen. Oder die Bombenanschläge auf Kliniken, in denen Abtreibungen durchgeführt werden in den 90igern durch die Army of God. Der Klu-Klux-Klan ist nicht nur rassistisch und antisemitisch sondern auch fundamentalistisch christlich. Diese Beispiele gehen in der Berichterstattung nur unter. Wir haben im Christentum selbst genügend schwarze Flecken auf der Weste. Und die wurden durch die Tat der Engel jetzt hervorgehoben." Es war interessant, was der Pastor so erzählte, der sich dann aber irgendwann verabschiedete.
    Semir und Ben saßen noch eine Weile alleine am Tisch. "Ich finde es beängstigend zu wissen, dass es von dieser Glaubensgemeinschaft noch mehr gibt.", sagte der junge Polizist nachdenklich. "Davon kannst du ausgehen. Aber nicht jede wird vermutlich auch diesen Schuss Wahnsinn und Gewaltbereitschaft haben, diese Art des Glaubens auch in die Tat umzusetzen." "Und wenn doch? Man müsste da vielleicht noch etwas weiter ermitteln." Semir schüttelte den Kopf. "Das ist nicht mehr unsere Aufgabe. Unser Mordfall ist gelöst. Wenn in Bremen, in Österreich oder anderen Gegenden noch solche Gruppierungen sind, müssen sich die Behörden dort drum kümmern." Er klopfte Ben auf die Schulter. "Die Gruppe wäre ja auch nie auffällig geworden, hätte sie nicht plötzlich gemordet. Wie willst du an so eine Gruppe herankommen, die sich ruhig verhält?" Da hatte der erfahrene Polizist auch wieder recht.


    Semir lächelte, klopfte Ben auf die Schulter und stand vom Tisch auf. "Lass uns fahren. Sonst trägst du morgen wieder den Kopf unterm Arm.", grinste er und Ben lachte zurück.

    Krankenhaus - 17:00 Uhr


    Semir und Ben stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Beide standen im Flur mit aufgerissenen Augen und Mündern, als die Krankenschwester blutend zusammenbrach, und nach ihr die Glastür sich nochmals öffnete. Sie zählten sie nicht, aber es waren bestimmt 10 oder 12 Menschen, hell gekleidet mit wütendem Blick und blitzenden Messern in den Händen. "Da sind sie!", rief ein junger Mann, der vorneweg ging, gefolgt von einer der Krankenschwestern, die eben noch bei der Aufnahme des schwer verletzten Engelsführer geholfen hatte. Wie als Reflex zogen die 4 Polizisten ihre Dienstwaffen und richteten sie auf die Masse an Menschen, die durch den langen Flur auf sie zu kam. Zwei Patienten konnten sich gerade noch in ihr Zimmer retten, scheinbar machten die Engel nun zwischen schweren und leichten Sündern keinen Unterschied mehr.
    "Bleiben sie stehen! Lassen sie die Messer fallen!", rief Semir laut. Die Masse bewegte sich langsam aber machte keinerlei Anstalten an zu halten. "Was machen wir, wir können nicht die ganzen Menschen über den Haufen schießen!", sagte einer der beiden Uniformierten, wobei sein Kollege sich eher mit Grundsatzfragen beschäftigte: "Was sind das für Irre?" "Die Jünger des Oberirren, den wir gerade festgenommen haben.", antwortete Semir trocken und zielte mit der Waffe hin und her, um die Männer und Frauen zu verunsichern. Doch diese waren, ähnlich wie Gabriel, davon überzeugt Engel zu sein.


    Weglaufen konnten die Beamten nicht, hinter ihnen ging es nur zurück in den OP. Ausserdem würden die Engel wohl bei der Verfolgung wahllos Menschen abstechen. Die Polizisten mussten nun innerhalb weniger Sekunden entscheiden. "Bleiben sie stehen!! Dies ist die letzte Warnung!", rief Semir, der einen Warnschuss zur Decke abgab, der die Meute jedoch nur kurzzeitig zum Stillstand bringen konnte. "Ihr seid die Sünder! Ihr müsst sterben! Ihr habt unseren Engelsführer gefangen genommen!", schrie der Mann an der Front wieder und zeigte mit dem ausgestreckten Mittelfinger in Richtung der Polizisten. Bens Puls raste, sein Herzschlag überschlug sich, als ihm eine Idee kam. Es war risikoreich, aber es war vermutlich der einzige Ausweg.
    "Gefangen genommen?", rief er provokant zurück und war mit zwei Schritten in Gabriels Zimmer. Er nahm in Rekordschnelle die Infusionsflasche vom Haken und legte sie ins Bett, an andere Geräte war der Mann nicht angeschlossen, nur den Stecker des elektrisch verstellbaren Bettes musste er ziehen. Dann zog er mit aller Kraft und aller Eile an dem Bett, in dem der stöhnende blonde Mann im Halbschlaf lag, er zog es in Richtung der Tür auf den Flur, und versperrte damit den Weg. Die Meute war ein gutes Stück näher gekommen und blieb nur noch wenige Meter vor den gezogenen Waffen stehen, als sie ihren Anführer im Bett lagen sahen.


    "Hier ist der Beweis! Er ist kein Engel, und ihr seid auch keine Engel. Er ist verletzt, er besteht aus Fleisch und Blut!", rief Ben laut und deutete mit seiner gezogenen Waffe auf den verletzten Gabriel. Unsicherheit machte sich unter den Engeln breiten, einige sahen fassungslos auf Gabriel, der plötzlich ganz und gar nicht unverwundbar und stark erschien. "Es ist eine Prüfung Gottes...", begann der Wortführer und wurde sofort von Ben unterbrochen. "Scheisse ist es! Er ist verwundbar, genau wie ihr auch. Genauso wie es Tobias war!" "Unser Bruder Afriel wurde von Gott zurückgenommen, weil er versagt hatte und Gott ihm verziehen hat.", sagte die junge Frau im Krankenkittel, die scheinbar sofort nach Einlieferung den Engels-Mob mobilisiert hat.
    "Euer Bruder wurde vom Zug in Stücke gerissen, weil er diesem Wahnsinnigen geglaubt hat. Und wenn ihr ihm immer noch nachfolgen wollt, und an das glaubt, was er tut, dann schaut ihn euch nochmal ganz genau an!", sagte Ben eindringlich und Semir war beeindruckt von seinem Partner, dessen eindringlicher Stimme und Überzeugung, mit der er auf die immer unsicherer werdenden Meute einwirkte. "Es... es stimmt nicht was er sagt?", konnten sie eine zitternde Stimme hören, die von einer Frau in der hinteren Reihe kam.


    "Gabriel ist kein Engel! Er ist ein Mörder, und er wird euch auch zu Mörder machen. Er hat Tobias den Kopf verdreht, dass der versucht hat seinen eigenen Bruder zu töten. Mord ist auch eine Sünde.", sagte Semir mit etwas ruhigerer Stimme. Er hatte die Waffe gesenkt, solange die Meute nun stand, er war aber jederzeit bereit auf Schulter oder Knie zu schiessen. Draussen konnte man bereits Sirenen hören, denn auch im Empfang wurden Menschen verletzt und hatten sofort die Polizei gerufen, viele vermuteten einen Amoklauf oder sogar einen Terroranschlag. Das SEK parkte vor dem Krankenhaus und in einigen Minuten würden die vermummten Beamten hier im Flur eintreffen.
    "Legen sie die Messer nieder. Wenn einer von ihnen uns angreift, werden wir schießen müssen. Einige von ihnen haben vielleicht noch keine Straftat begangen.", sagte der erfahrene Polizist und sah, dass einige Messer noch sauber waren, andere tropften bereits und wurden scheinbar schon benutzt. Ihm fehlte in diesem Moment die Fantasie, sich auszumalen, wieviele Verletzte vielleicht schon im Foyer oder auf der Straße lagen. Es war eine schreckliche Unsicherheit, und auch die beiden uniformierten Beamte waren nervös. Immer wieder wechselnden die Blicke der Menschen zwischen den Polizisten und den leicht wimmernden, mit geschlossenen Augen daliegenden Gabriel, im Halbschlaf der Schmerzmittel dämmernd und unfähig, sein Gefolge nochmals zu manipulieren.


    Plötzlich waren Geräusche zu hören, Getrappel und Stimmen. Das SEK kam durch die gleiche Glastür auf den Flur, im gleichen Moment wo der Mann an der Front laut schrie und mit dem erhobenen Messer auf die Polizisten zustürmen wollte. Schüsse halten durch den Flur, viele der Menschen ließen sich zu Boden fallen, doch getroffen von Semir, Ben und den beiden Polizisten wurde nur der Angreifer. Das SEK griff zu, einige hatten ihr Messer verloren, andere hatten es aus eigenem Antrieb fallen lassen... entweder vor Schreck oder weil sie sich von Ben überzeugen haben lassen... oder auch davon, dass nun ein weiterer mutmaßlicher Engel blutend und leblos am Boden lag. Die Stimmen der SEK-Beamte, die laut Anweisungen an die Menschen riefen, erfüllten den Flur, Handschellen klickten und und Rettungspersonal kam angelaufen, als die Gefahr gebannt war.
    Semir und Ben mussten sich setzen, als Gabriel wieder zurück ins Zimmer gebracht wurde. Bevor sie abgeführt wurde, sagte die Krankenschwester, dass sie die komplette Gruppe der hier ansässigen Engel alarmiert hatte... die Gefahr war vorbei.

    Krankenhaus - 16:30 Uhr


    Ben war nachdenklich, während er als Beifahrer im Dienstwagen dem Krankenwagen folgte, in den vor einigen Minuten der angeschossene Gabriel eingeladen wurde. Der junge Polizist hatte den Ellbogen auf den Seitenrand der Tür gestützt und fuhr sich mit dem Finger unentwegt über die Lippen. Sein Nebenmann und bester Freund, Semir, warf ihm immer wieder kurze Seitenblicke zu. Er spürte die leichte Unruhe und Nachdenklichkeit, die von seinem jungen Partner ausging. "Worüber grübelst du?", fragte er, als sie gerade an einer roten Ampel hielten.
    "Ich weiß nicht. Das ging so... einfach irgendwie.", äusserte Ben seine Gedanken frei heraus. Semir zuckte kurz mit den Schultern. "Es kann ja auch mal etwas auf einfachem Wege gelingen. Es muss uns ja nicht immer die halbe Autobahn um die Ohren fliegen." Er grinste dabei und dachte daran, wie ihre Fälle sonst zu Ende gingen... mit Unfällen, fliegenden Autos und Explosionen.


    "Das meine ich nicht.", sagte Ben und schüttelte dabei den Kopf. "Ich meine... der Typ war doch so clever und uns immer einen Schritt voraus. Er... er hat nichts dem Zufall überlassen. Warum tappt er in so eine, relativ einfache Falle?" Semirs Lächeln wich einem ernsten Gesichtsausdruck und der Polizist legte den Kopf ein wenig schräg. "Weil jeder Mensch seinen Schwachpunkt hat. Und Fantatiker eben diesen Schwachpunkt genau in ihrem Fanatismus haben." Ben blickte ebenfalls herüber zu seinem Partner und nickte langsam, während der Krankenwagen, in dessen Innerem auch ein Kollege war, der auf Gabriel aufpasste, wieder anfuhr.
    "Wie wird er sich seine Verletzung nun erklären? Oder wie hat er sich seinen ersten angeschossenen Arm oder den Tod von Tobias erklärt?", rätselte Ben nun laut, als der BMW ebenfalls langsam wieder beschleunigte. "Tja, das wird nur er uns erklären können... falls er es tut, und wir der Erklärung würdig sind." Ben sah wieder geradeaus und seufzte leise. "Ich hab irgendwie das Gefühl, dass es noch nicht vorbei ist."


    Der weiß-rote Kastenwagen rollte zur Notaufnahme, wo man den blonden Mann auf der Trage auslud und sofort in das Innere des Krankenhauses schob. Dabei waren einige Krankenschwestern beteiligt, während Semir den BMW auf dem Besucherparkplatz abstellte und die beiden Polizisten im Inneren des großen Gebäudes erst einmal warten mussten. In dem Flur, in dem sie gefühlt die letzten Monate Stunden verbrachten, saßen sie wieder auf Plastikstühlen oder tigerten nervös und ungeduldig von einer zur anderen Tür. Beide hingen ihren eigenen Gedanken nach, immer mal wieder drehten sich die Gedankenwelten um Jenny, Kevin und bei Ben auch um Carina. Er schrieb ihr einige Zeilen auf seinem Handy, damit sie sich keine Sorgen machte und er freute sich darauf, sie heute Abend endlich wieder einladen zu können... jetzt, wo die Gefahr scheinbar vorüber war und er sich nicht mehr zu verstecken brauchte. Seine permanente Angst und Unsicherheit war einer gewissen Erleichterung gewichen, doch noch war das Hochgefühl nach einem gelösten Fall nicht da. Er konnte sich nicht erklären, was genau es verhinderte.


    Eine Schar Ärtze und Pfleger kamen zusammen mit dem rollenden Bett aus dem OP. "Wie geht es ihm?", fragte Ben mehr neugierig als besorgt, wobei er auf den Mann im Bett blickte, der die Augen geschlossen hielt und mit seinem hellblonden langen Haaren und dem weißen Kittel tatsächlich etwas engelartiges an sich hatte. "Die Kugel aus der Schulter konnten wir entfernen, er hat nun starke Schmerzmittel erhalten und schläft. Mit einem Verhör wird es heute wohl nichts mehr werden, meine Herren.", sagte der Arzt sofort abweisend. Natürlich wurde er vorher instruiert, wen er da auf dem OP-Tisch hatte.
    Sie schoben Gabriel in das Zimmer, zwei uniformierte Beamte kamen durch den Flur und nahmen davor Platz. Sie waren bereits geschickt worden, nachdem Semir auf der Fahrt hierher der Chefin am Telefon alles erzählt hatte. Beide hatten sofort den gleichen Gedanken, dass Gabriel auf gar keinen Fall unbewacht im Krankenhaus bleiben durfte, zu groß war die Gefahr der Flucht.


    "Wenn ein Pfleger reingeht, geht ihr mit. Wir dürfen kein Risiko eingehen, der Mann ist hochgefährlich.", sagte Semir und der uniformierte Kollege nickte. "Na klar, Semir. Wir machen das hier nicht zum ersten Mal.", meinte er lachend. "Na dann... viel Glück." Gerade wollten sich die beiden Polizisten zum Gehen wenden, als am Ende des Flurs durch die Glastür, die den Eingangsbereich vom Flur abtrennte, eine Krankenschwester getorkelt kam. Obwohl sich beide recht weit weg von ihr befand, konnten sie deutlich den roten Fleck an ihrem Bauch und die Blutflecken an der weißen Wand, als sie versuchte sich daran festzuklammern und langsam zu Boden glitt.
    Bens Pulsschlag beschleunigte sich und im ersten Affekt wollte er im Zimmer nachsehen, ob Gabriel wirklich noch im Bett lag. Doch dass nicht Gabriel für diese Verletzung verantwortlich war, konnten die beiden Polizisten und ihre uniformierten Kollegen sehen, als die Tür ein weiteres Mal aufschwang...