Besetztes Haus - 18:45 Uhr
Wie ist es, wenn man sein Gedächtnis verliert? Den Zustand zu beschreiben fiel Kevin in diesem Moment schwer, denn er wusste nicht mehr, wie es vorher war... der Zustand zuvor, bevor er von einer Steinbrücke in den Rio Cauca gefallen war, und wie durch ein Wunder durch den Schlag auf die im Wasser befindlichen Felsen überlebt hatte, war gelöscht. Ein Schädelbasisbruch, gebrochene Rippen, Prellungen. Es war sein Glück, dass Juan ihn und Annie erst wenige Stunden zuvor mit den Urwaldbewohnern bekannt gemacht hatte. Zwei Jungs, die flußabwärts geangelt hatten, sahen und erkannten den jungen Polizisten, der sich blutend und mit letzter Kraft an einem Stein festgehalten hatte, um nicht irgendwann zu ertrinken. In Windeseile hatten sie Hilfe geholt.
Kevin konnte sich daran nicht erinnern. Dass die Medizinerin des Dorfes ihn mit Heilkräutern und Tränken, teilweise auch mit harten Drogen in eine Art Koma versetzt hatte, dass er pures Glück hatte, dass der Bruch nicht verschoben oder kompliziert war, sondern glatt, und dass die gebrochenen Rippen nicht die Lunge durchstoßen hatten. All das behandelte die erfahrene Frau nur durch Ertasten und auf Verdacht... würde er sterben, dann starb er halt. Doch Kevin starb nicht. Er lebte, zwischen Fiebertraum, Alptraum und kurzen Momenten des Erwachsens. Ohne Zeitgefühl, ohne Erinnerung hatte er das Gefühl, er läge auf einem flammenden Bett, schweißüberströmt und gefesselt, während tausende Empfindungen auf ihn hereinströmten. Wut, Trauer und Freude, doch keines der Gefühle konnte er zuordnen.
Als Kevin zum ersten Mal wirklich wach wurde, hatte er das Gefühl, ein Baby zu sein. Hilflos, völlig orientierungslos, wusste er nicht mal welche Gliedmaßen er bewegen musste, um aufzustehen. Erst langsam funktionierte das Gehirn wieder, er ging durch die Hütte, er ging hinaus und kippte durch die hellen Sonnenstrahlen sofort mit einem Kreislaufkollaps um. Erst beim zweiten Versuch konnte er einige Minuten an der frischen Luft verbringen, als es abend war und die Sonne nicht ganz so stark. Die Bewohner hatten seine Kleider aufgehoben, die er trug, als sie ihn fanden. Ein Handy hatte er nicht dabei, aber einen Geldbeutel. Die ersten Erinnerungsstücke kamen noch, bevor er sich diesen besah, in dem er Geld, Ausweis und Führerschein fand. Den Dienstausweis hatte er nicht mit nach Kolumbien genommen. Er sprach Deutsch, er kannte seinen Namen... und viele Dinge aus längerer Vergangenheit waren klar in seinem Kopf. Doch je näher die Vergangenheit kam, desto verschwommener, desto mehr Durcheinander herrschte.
Jetzt sah er Patrick vor sich stehen, und er konnte das Gesicht sofort einem Namen und einer Geschichte zuordnen... zumindest dachte er, dass er das könne. Patrick war ein Freund... aus seiner Gruppe. "Was... wie... du weißt nichts mehr?", fragte dieser verwirrt. "Ich... ich kann es nicht sagen. Es ist alles durcheinander." Patricks Herz schlug bis zum Hals, und er durchblickte die Situation noch nicht ganz. Seine Waffe hatte er, unauffällig für Kevin, wieder in den Hosenbund gesteckt, kam näher zu dem jungen Polizisten, bevor er vor diesem in die Hocke ging.
Er merkte, dass Kevin ihn nicht als Feind sah. Er erkannte ihn als Patrick, als einen Bekannten, der ihm damals freundlich gesinnt war. Hatte diese Story, mit der Brücke doch etwas Wahres? Hatte er sich den Kopf zu fest angeschlagen? Die Narbe schien dafür zu sprechen. Und der junge Mann erkannte schnell, dass er seinen Plan ändern musste... und wollte. "Okay... dann sag mir mal, an was du dich erinnerst. Was du noch im Kopf hast. Ich meine, du hast mich ja auch erkannt." Kevins Pupillen flitzten durch den Raum, als suche er Antworten. Er dachte nach, Schmerzen durchzuckten immer wieder seinen Kopf, so dass er immer mal wieder die Augen krampfhaft schloß. "Ich... ich weiß meinen Namen... ich weiß wo ich herkomme. Was früher war ist ganz klar vor mir, deswegen hab ich dich erkannt." Für einen Moment blieb er still und Patrick beobachtete ihn gebannt, immer bereit, doch einzugreifen, wenn Erinnerungen aufkamen, die für ihm zum Nachteil wurden.
"Ich... ich weiß dass Janine tot ist. Dass Unbekannte uns überfallen haben." Er blickte zu Patrick auf, für einen Moment trafen sich die Blicke und der Mann, der Kevins Schwester festgehalten hatte während sein Freund Peter Becker ihr die Kehle aufgeschlitzt hat, nickte nur langsam und bekam einen trockenen Mund. Er wusste nicht, ob Kevin überhaupt vorher wusste, wer der Dritte im Bunde war, bevor er sein Gedächtnis verloren hatte.
Irgendwann schüttelte der Polizist nur noch den Kopf. "Danach... ich weiß nicht. Es ist so... undeutlich. Gesichter habe ich vor mir... und Namen... und..." Seine Stimme stockte, sein Puls beschleunigte sich und der pochende Schmerz in seinem Kopf nahm zu. Er spürte Empfindungen und Bilder traten vor sein Auge, die er bereits im Fiebertraum gesehen hatte. Der dunkle Turm, das Mädchen, das verurteilt wurde, der Mann in der Blutlache. Das Weinen eines Babys drang in sein Ohr, als hätte es etwas zu bedeuten... aber er wusste nicht was. Was hatte er erlebt, was diese Bilder in seinem Kopf auslösten. Selbst die Namen blitzten immer nur kurz in seinem Kopf, wie ein Gewitter... man sah den Blitz, konnte aber schon Sekunden danach nicht mehr exakt beschreiben, wie er aussah.
Patrick wartete gebannt... jede Information, die er bekommen konnte, war wichtig für ihn. Wie weit konnte er sich zurück erinnern, wie weit würde er Patrick selbst als Freund oder Feind einschätzen können. Irgendwann aber gab der Polizist das Nachdenken auf, denn der Schmerz in seinem Kopf raubte ihm den Atem. "Patrick, du musst mir helfen. Ich hab auf meinem Pass gesehen wie alt ich bin, und ich weiß, dass ich 18 war, als Janine umgebracht wurde. Ich muss wissen, was passiert ist... und wer ich bin."
Kevins Bitte beantwortete Patrick mit einem Nicken. Es sah von aussen aus, wie das Nicken eines Freundes, stark und selbstverständlich. "Ja natürlich. Natürlich helfe ich dir, Kevin. Bleib ganz ruhig, das kriegen wir hin.", sagte er und streckte dem Polizisten die Hand aus, um ihm auf die Beine zu helfen. Kevin war dafür, dass er fast 2 Monate "krank" war, körperlich noch in einer okayen Verfassung, hatte nicht viel abgenommen, stand aber etwas wackelig. "Hast du sonst noch irgendwas hier?" "Nein... alles was ich hatte, als ich aus Kolumbien gekommen bin, waren meine Kleider und etwas Geld in meinem Geldbeutel. Ich hab keine Ahnung, wo der Rest abgeblieben ist." Er war nach der Ankunft hier, wie ein Gespenst durch die Straßen gewandelt. Hatte die Adresse, die im Ausweis stand, aufgesucht doch das Haus weckte keine Erinnerungen, die Namen auf den Klingelschildern ebenso wenig. Die einzige Erinnerung war ein Plattenbau, doch als er zwischen den Häusern stand, fühlte er sich wie in einer fremden Welt. Wirklich vertraut war ihm nur das besetzte Haus, in das er sich verkroch.
"Erst mal musst du hier weg. Hier wirst du dich bestimmt an nichts erinnern. Pass auf, du kommst mit mir nach Hamburg. Da kannst du bei mir wohnen, dich mal ausruhen und ich erkundige mich von dort hier bei den Behörden. Und dann kannst du dich bei mir in Ruhe versuchen zu erinnern." Vor allem wollte Patrick, dass Kevin nicht jemandem begegnete, an den er sich tatsächlich erinnerte... wie Semir, Ben oder Annie. Vorher musste er die Weichen in Kevins Erinnerung stellen...