Beiträge von Campino

    @Kathrin

    Mit Empfindungen kann man gar nicht 100% daneben liegen, den Empfindungen sind meist subjektiv. Und du empfindest im Bezug auf Daniel Roesner aka Paul Renner eben anders als ich.

    Ich mag eben eher Charaktere, die neugierig machen. Die mich locken, die nächste und übernächste Folge zu gucken, weil ihr Charakter etwas verspricht. Eine packende Story. Ein greifbarer Charakter, der Anlaß zu Überraschungen gibt, eben weil er aneckt, weil er sich vom Einheitsbrei ablöst. So wie es zb Alex Brandt als Charakter getan hat.

    Dass die Figur Paul Renner so geschrieben ist, wie sie ist... dafür kann der Schauspieler nicht. Der muss nach Drehbuch handeln, wobei ja auch verlautet wurde, dass Roesner schon ein wenig Einfluß auf die Figur hatte. Aber im Prinzip ist erst mal das Drehbuch da, nachdem der Schauspieler spielen muss. Und das Drehbuch bzw die Charakterzeichnung von Paul gibt eben, meiner Meinung nach, nicht viel her. Er hat eine ganz normale Polizeiausbildung absolviert, er ist Wassersportfan, er ist immer gut drauf. Dazu seine Entwicklung in den bisherigen Folgen, da läuft er meist neben Semir her, er ist clever und eloquent, und körperlich gut drauf.

    Aber Kanten, an denen man sich stört und stößt, an denen man über ihn spricht, gibt es nicht. Er konnte keiner Story bisher wirklich den Stempel aufdrücken, weil er nicht heraussticht durch eine bestimmte Charaktereigenschaft, ein gewisses Erlebnis. Nicht mal seine Vergangenheit gibt wirklich etwas her.

    Das alles hängt, wie gesagt erstmal am Drehbuch.

    Aber selbst aus einer mittelmäßigen Figur könnte ein sehr guter Darsteller noch was rausholen. Rene Steinke ist das zB gelungen, den zu Beginn gab die Figur Tom Kranich auch nichts ungewöhnliches her, aber Steinke hat es eben geschafft, diese Figur zu seiner eigenen zu machen, herausstechend die Freundschaft zu Semir, das perfekte Zusammenspiel zwischen Steinke und Atalay. Christian Oliver ist das zb überhaupt nicht gelungen, obwohl dessen Figur Richter sehr dicht an Kranich angelehnt war, und die Art der Folgen quasi identisch.
    Hier ist mir eben Roesner als Schauspieler ebenfalls zu farblos. Er schafft es nicht, die kurzen Momente, an denen seine Figur etwas mehr Screentime und Einfluß auf die Story bekommt, den Stempel aufzudrücken. Die Folge, in der er die Beziehung zu der Frau hatte, dessen Vater unter Verdacht gerät. Da fehlte mir komplett die Bindung, das Spiel zwischen den beiden hat mich emotional gar nicht berührt, weder durch Mimik noch durch Dialoge und deren Tonwahl. Der Abschied am Ende zum Beispiel fand ich extrem lieblos, nicht nur vom Drehbuch her, sondern auch vom Spiel.

    Als Vergleich dazu zb die Szene von Alex und Jenny unter der Dusche in "Ausgelöscht"... das waren Welten Unterschied, klar auch geschuldet dem anderen Stil der Folge. Aber was die beiden Schauspieler da, wortlos allein durch Mimik für eine Stimmung herübergebracht haben, das hat Gänsehaut ausgelöst. Alex war zu dem ein Charakter, der seine Eigenheiten hatte, seine einmaligen Eigenschaften, die eben anders waren, als alles andere was davor war. Er hatte Ecken und Kanten, was sich eben auf Spiel und Ermittlungsarbeit ausgewirkt hat. Das fehlt mir bei Roesner aka Renner komplett, er wirkt mir zu glatt und nicht greifbar... schlicht austauschbar. Ich hab das Gefühl, die Figur in der Art könnte jeder andere auch spielen, und es würde keinen Unterschied machen.

    Zu Beginn habe ich das nur an der Rolle festgemacht, mittlerweile, nach fast 2 Staffeln denke ich, liegt es auch mit am Schauspieler selbst.

    Schwierig zu beschreiben.

    Für mich ist die Rolle von Paul nach wie vor völlig farb- und charakterlos. Keine Ecken und Kanten, an denen man sich festhalten kann, keine ausgeprägten prägnanten Charakterzüge, die ihn zu etwas Besonderem machen.

    Und nach diversen Folgen bin ich auch der Meinung, dass der Schauspieler Roesner das nicht besonders überzeugend rüberbringen könnte, wenn die Charakterbeschreibung etwas hergeben würde, dazu hat er mich persönlich in den Momenten, in denen er Screentime hatte, wie zb in der Folge mit der Beziehung, zu wenig glaubhaft überzeugt.

    Er ist, für mich, bisher absolut ein Mitläufer... sowohl sein Charakter Paul Renner neben Semir, als auch Daniel als Schauspieler neben Erdogan.

    Revier - gleiche Zeit


    Auch Timo hatte sich wieder aufgewärmt, nach einer warmen Dusche zu Hause. Als er in seinem kleinen Badezimmer stand, besah er sich im Spiegel, strich sich die Haare zur Seite. Was für ein aufregender Tag, der aufregendste seines Lebens... nach gestern. Er war jetzt erst seit drei Monaten im Kriminaldienst, nach zwei Jahren Streife und er hatte sich seinen Traum erfüllt. Polizist zu sein, Verbrechen aufzudecken, Verbrecher überführen. Doch was gestern und heute passiert war, überstieg alle kühnen Erwartungen und Träume an diesen Beruf. Obwohl er teilweise wirklich Angst hatte, als er bei den beiden Autobahnpolizisten im Wagen saß oder als sie in der Kühlkammer eingesperrt waren, so war er doch begeistert und stolz auf sich.
    Gerade in der Kühlkammer, als er merkte, dass auch die beiden unerschütterlich wirkenden Beamten ein paar Schwachpunkte hatten, hatte er im wahrsten Sinne des Wortes kühlen Kopf behalten. Das machte ihn stolz, genauso wie Semirs Lob. Timo lächelte still in den Spiegel, bevor er sich Shirt und Pullover über den schlanken Oberkörper zog, und das Badezimmer verließ, um wieder zum Revier zu fahren die Aufgabe zu erledigen, die Semir ihm gegeben hatte. Sie mussten Jenny unbedingt finden.


    Auch wenn ihm die Arbeit Spaß machte und er Gregor recht gut leiden konnte, hatte Timo in den zwei Tagen zusammen mit Ben und Semir ein ganz anderes Gefühl der Zusammenarbeit. Wo Gregor oft das Kommando übernahm und Timo wie einen Praktikanten behandelte, fühlte er sich bei den beiden Autobahnpolizisten gleichberechtigt. Sie hätten auch sagen können, er sollte aus der Schlachterei draussen bleiben, weil es zu gefährlich war, und dass die beiden alleine reingehen würden. Sie hätten auf der Schulung zu ihm sagen können, dass sie Jenny alleine suchten und er sich gefälligst raushalten sollte. Doch ganz selbstverständlich hatten sie den jungen Polizisten miteinbezogen, weil sie merkten, dass Jenny Timo wichtig war.
    Dieses Vertrauen war Timo sehr wichtig. Er hatte durch den Unglücksfall mit seinem besten Freund viele Probleme in seiner Jugend. Auf der Schule war er still und zurückgezogen, fast schon scheu und oft Opfer diverster Mobbing-Aktionen. Doch er wollte nie wieder schwach sein, und hatte sich deswegen nach Selbstverteidigungstraining für den Polizei-Dienst entschieden. Doch auch auf der Straße hatte er zu Beginn Probleme sich durchzusetzen. Weil er jünger aussah als er war, schmal und schmächtig wurde er oft weder von Kollegen noch von Verbrechern ernst genommen.


    Jetzt spürte er, dass er ernst genommen wurde. Jenny hatte ihm dieses Gefühl schon vermittelt, die sich sogar mal bei ihm entschuldigte, dass ihr offenbar mehr von Gregor und ihrem Chef Schwandt zugetraut wurde, obwohl sie einen Monat kürzer bei der Truppe war. Doch sie sagte ihm auch, dass das mit dem Alter zu tun hätte, was sie selbst für schwachsinnig hielt. Timo fühlte sich bei ihr verstanden, und vermutlich löste das, zusammen mit Jennys hübschen Aussehen und ihrer, wenn auch damals erzwungenen Fröhlichkeit, die Gefühle zu ihr in Timo aus. Jedenfalls machte er sich jetzt große Sorgen und wollte alles daran setzen, seine Kollegin zu befreien und sie vor weiterem Unheil bewahren, denn durch Semir und Ben hatte er jetzt auch das Selbstvertrauen dazu.
    Als er ins Büro kam, kam ihm auf den Flur gerade Gregor entgegen, der verblüfft aufblickte. "Timo... du solltest doch zwei, drei Tage frei machen, hat der Chef gesagt." "Ja ich weiß...", druckste Timo herum und sah sich kurz um. "Ist er noch da?" "Nein, der ist heute früher gegangen. Was ist los?" Timo packte Gregor sanft am Arm und zog ihn in ihr Büro. "Komm mal mit, du musst mir helfen.", sagte er schnell. Er vertraute auf Semirs Menschenkenntnis, dass Gregor ihm helfen würde, wusste aber noch nicht genau, ob er dem älteren Kollegen wirklich die ganze Wahrheit sagen sollte.


    "Was ist los, was soll die Geheimniskrämerei?", fragte Gregor und zuckte mit den Schultern, als Timo die Bürotür hinter sich schloß. In diesem Moment entschloß er sich für eine Teilwahrheit... er musste ja nicht alles erzählen. "Wir waren ja bei Jenny in der Wohnung, das weißt du ja..." Gregor nickte und wartete auf weitere Erklärungen. "Da habe ich das Bild von Jenny und ihrem Freund gesehen. Und dem bin ich, mit einem anderen Typen im Bus begegnet. Und uns kam die Idee, dass der vielleicht etwas mit Jennys Verschwinden zu tun haben könnte." "Das ist aber ziemlich weit hergeholt, Timo. Vielleicht sucht der Mann selbst nach ihr." Der erfahrene Polizist zog skeptisch die Augenbrauen nach oben und fuhr sich durch die Haare.
    "Ja... nein... also, Semir und Ben kennen den Mann. Und sie fanden es auch verdächtig... denn er galt bis vor kurzem als verschollen und taucht wieder auf, ohne sich bei Ben und Semir zu melden. Deswegen fanden sie es auch verdächtig. Ausserdem haben die uns an der... an der Verfolgung gehindert." Das war der Teil, den er eigentlich verschweigen wollte. "Verfolgung gehindert?", fragte Gregor genauer nach. "Ja... also... naja, die haben uns drei in eine Kühlkammer im alten Schlachthof gesperrt. Aber es ist nichts passiert.", wiegelte er gleich ab, als Gregor eine vorwurfsvolle Miene aufsetzte.


    "Also Timo... das gefällt mir alles gar nicht, was du da machst. Weißt du, dass dich solche Dinge deinen Job kosten können?" "Aber wir müssen Jenny doch helfen... wenn nicht wir, wer dann?", rechtfertigte sich der junge Kollege. "Ausserdem helfe ich doch nur Ben und Semir..." Fast väterlich legte Gregor dem blonden Mann die Hand auf die Schulter und sagte ruhig: "Ben und Semir haben dreifach und sechsfach soviele Dienstjahre auf dem Buckel wie du. Und sind drei Ränge über dir. Für solche Verfehlungen wird man denen nur auf die Finger klopfen, und vermutlich haben die auch nen fähigen Vorgesetzten, der sie schützt. Du hast weder den Kredit, den die beiden haben, noch einen Vorgesetzten, der dich schützt wenn es hart auf hart kommt." Gregor sprach ruhig und besonnen mit Timo. Er war im Herzen ein guter Kerl, fand Timo, wenn auch ein typischer Beamter... möglichst wenig Risiko, die unangenehmen Aufgaben überließ er meist Jenny und Timo, aber er war ein guter Kriminalist, meist etwas distanziert, oft launisch, aber hin und wieder auch mit guten Tipps.
    Heute schien er gute Laune zu haben. "Versteh mich nicht falsch. Die beiden sind sicher dufte Typen und wollen dir nichts Böses, aber sie können dich eben auch nicht raushauen, wenn du den Beamtenstatus verlierst oder Streifendienst machen musst, bis du 50 bist." Timo sah ein wenig traurig aus, auch wenig hin und hergerissen. Natürlich wollte er seinen Job nicht verlieren... aber müsste man sich, gerade in so einer Situation, wenn eine Kollegin und Freundin verschwindet, nicht auch mal gegen die Regeln stellen? Etwas riskieren, so wie er es heute schon getan hatte, als er die beiden Männer verfolgte.


    Gregor spürte die Unsicherheit in Timo, der vorher noch engagiert nach Hilfe gefragt hatte. Er seufzte und strich sich über die hohe Stirn. "Okay. Ich bin zwar absolut nicht damit einverstanden was du machst, und ich habe auch absolut keine Lust Probleme mit Schwandt zu kriegen... aber ich helfe dir, soweit es geht. Wenn Schwandt mich fragt, stelle ich mich dumm. Wenn er aber was rauskriegt, werde ich dich nicht rausboxen können... okay?" Timo blickte wieder auf und nickte schnell. Er nahm das Hilfsangebot von Gregor an, der zwar in erster Linie wieder an seinen eigenen Pragmatismus und Sicherung dachte, aber trotzdem Timo ein bisschen Loyalität zeigte. "Du kannst das Phantombild-Programm bedienen. Und du hast es schneller drauf, die Verbrecherkartei zu durchsuchen. Wir müssen rausfinden, wer der zweite Typ bei Jennys Freund war."
    Gregor nickte, sein Gesicht drückte immer noch keine Begeisterung aus, doch er legte seine Jacke wieder ab und stellte die Tasche neben den Schreibtisch. Während er den Computer wieder anschaltete, sagte er, wie er Timo immer ein wenig als Praktikant behandelte, aber diesmal mit einem schelmischen Grinsen. "Wir ein längerer Arbeitstag. Kaffee, schwarz, ein Stück Zucker." Timo grinste und machte sich auf den Weg zur Kaffeemaschine...

    Cafe Köln - 16:30 Uhr


    Semir und Ben hatten keine Zeit verloren. Nachdem beide im Hotel in Windeseile geduscht hatten, machten sie sich auf den Weg in Richtung Heimat. Noch unterwegs suchte Semir nach Juans Nummer, die er damals in weiser Voraussicht gespeichert hatte. Dieser Kolumbianer, der Annie damals von Kolumbien nach Hause brachte und die vermeintliche Todesnachricht von Kevin überbrachte, war beiden Polizisten nicht ganz geheuer. Wer war der Mann, der die Heimat verließ für einen, auch ihm, unbekannten Polizisten? Warum kannte er sich mit den dortigen Drogenverhältnissen so gut aus und wieso kehrte er nicht wieder zurück? Doch er hatte auch Herz bewiesen, als er die beiden Polizisten auf Jennys Spur brachte, als sie auf eigene Faust nach Kevin suchen wollte, kurz bevor sie ihr Kind verlor.
    Jetzt erreichte Semir den Mann mit dem prägnanten spanischen Akzent am Telefon. "Juan? Semir hier... wir müssen uns treffen." Juan, am anderen Ende der Leitung, klang einigermaßen verwirrt. Er hatte mit Semir seit dem Anruf wegen Jenny nicht mehr gesprochen, und hatte in keinster Weise damit gerechnet, jemals nochmal Kontakt mit dem Polizisten zu haben. "Si? Was haben wir zu besprechen? Worum geht es?" Auch diese Frage konnte er sich zunächst selbst nicht beantworten. "Um Kevin." "Ah... könnt ihr das Unvermeidliche immer noch nicht akzeptieren?" "Lass uns einfach miteinander sprechen, okay?"


    Der Kolumbianer und die beiden Polizisten verabredeten sich für den späten Nachmittag in einem Kölner Kaffee. Vorher waren die beiden Männer noch zu Hause und packten Koffer, diesmal größere als vorgestern. Dabei wurden sie von ihren Frauen bzw ihrer Freundin ein wenig skeptisch begutachtet. "Aber das wäre doch toll, wenn dein Kollege noch lebt.", sagte Carina zu Ben, die selbst den Polizisten nur von einer Begegnung her kannte. "Ja, im Prinzip schon. Aber wenn er es wirklich ist... wir wissen nicht auf welcher Seite er steht. Und wissen nicht was er vorhat... es ist alles so surreal.", erklärte der junge Polizist, während er den Reissverschluß der großen Reisetasche zu zog. Er verabschiedete sich von seiner Freundin mit einem langen Kuss.
    Andrea war nicht ganz so euphorisch wie Carina. Sie kannte Kevin besser, sie konnte ihn besser einschätzen und irgendwie kam es ihr gar nicht unrealistisch vor, dass Kevin in illegalen Dingen stecken würde. Sie wollte den Gedanken gar nicht denken, weil er maßgeblich an Aydas Rettung damals beteiligt war... aber aufgrund seiner Vergangenheit, konnte sie es nicht abschütteln und so vermied sie ihre Meinung. "Sei bitte vorsichtig... egal, wie Kevin euch gesinnt ist.", war es, was sie ihrem Mann zum Abschied sagte.


    Natürlich waren die beiden besten Freunde (wegen Ben) zu spät. Juan saß bereits am Tisch und rührte ungeduldig in seiner Tasse Kaffee, als er mit seinen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren aufblickte und sein Ohrring im Licht der modischen Lampen blitzte. Die drei Männer schüttelten sich die Hände, Semir bestellte bei der Bedienung ebenfalls einen Kaffee während Ben sich den zweitgrößten Eisbecher des Hauses kommen ließ. "Warum nicht den Größten?", fragte Semir mit kritischem Blick auf Eisbecher und Bens Figur. "Weil ich Diät mache.", war dessen sarkastische Antwort, während Juan die beiden Polizisten beobachtete.
    "Also, was kann ich für euch tun, Amigos?" "Wir würden gern nochmal von dir genau hören, wie das damals in Kolumbien abgelaufen ist. Als Kevin von dieser Brücke gefallen ist." Seufzend lehnte sich Juan auf dem Stuhl zurück. Er hatte für diese Verabredung einen wichtigen Termin mit einigen von Zacks Geschäftspartnern verschoben, für den er mittlerweile arbeitete um sich über Wasser zu halten. "Ich hab euch das doch alles schon erzählt. Es ändert nichts an der Realität, wenn ich euch das nochmal erkläre.", sagte er mit genervten Unterton. "Wir würden es gern trotzdem nochmal hören.", beharrte Semir, während Ben die eiskalte Süßspeise vernichtete. Juan blickte zwischen den beiden Männern hin und her.


    "Na gut. Ich stand zu weit weg, auf einer Gebirgsstraße und hatte nur einen weit entfernten Blick auf die Brücke. Carlos hatte die Waffe auf Kevin gerichtet, der mit dem Rücken zum Abgrund stand. Ich habe versucht, Carlos zu treffen, und konnte ihn einen Moment durch den Schuss ablenken. Dann haben die beiden gekämpft, und dabei ist Kevin von der Brücke gefallen." Die Szene hatte sich schon hunderte Male vor dem inneren Auge der beiden Polizisten abgespielt, Ben hatte sogar einen Alptraum gehabt, dass er selbst auf dieser Brücke stand und nur noch sehen konnte, wie sein Freund abstürzte. "Wie ist er von der Brücke gefallen? Wie genau? Mit dem Kopf vorran, oder wie?", hakte Semir nach. Es war beinahe wie ein Verhör, in dem jede Einzelheit wichtig war.
    "Nein... ähm... ich glaube. Er ist rückwärts gefallen. Er bekam einen Tritt vor die Brust und ist hinterrücks von der Brücke gefallen.", erklärte Juan und musste nochmal kurz nachdenken. Er war in dieser Situation voll mit Adrenalin, ist war schon mehrere Monate her... die Bilder waren nur noch verschwommen vor seinem Auge, auch weil er zuvor schon allerhand Grausamkeiten gesehen und erlebt hatte. "Und wie ist er ins Wasser gefallen? Mit dem Kopf voran, dem Rücken?" "Das konnte ich nicht sehen. Dazu war die Schlucht zu tief."


    Für einen Moment schauten sich die beiden Polizisten an. "Das heißt, du kannst gar nicht sagen, ob er mit dem Kopf aufgeschlagen ist? Vielleicht hat er sich nur die Beine gebrochen?", sagte Ben und Juan erwiederte genervt: "Ich habe bisher niemanden, der von den Brücken in diesen Fluss gefallen ist, wieder aus dem Fluß heraus kriechen sehen." "Und woran sterben die Leute gewöhnlich, die in den Fluß fallen?", fragte nun auch Semir ein wenig erregter. Juan machte eine ausladende Armgeste: "Arbeite ich bei der Policia von Bogota? Sie brechen sich das Genick, sie schlagen mit dem Kopf auf und ertrinken." Für einen Moment herrschte Stille und das Gespräch fiel in dem gut besuchten Cafe, in dem es jede Menge Lärm gab, nicht weiter auf, als Juan nun deutlich sagte: "Er ist tot! Begreift das endlich!"
    Semir schüttelte den Kopf. Plötzlich, je überzeugter Juan von Kevins Tod war, desto überzeugter war Semir von Timos Beobachtung, denn ihn nervte Juans Überzeugung. "Er wurde gesehen. Mit einer Wunde oder Narbe am Kopf.", sagte er mit ruhigerer Stimme, und der Kolumbianer zog die Stirn in Falten. "Wenn er sich den Kopf angeschlagen hat... wie soll er da rausgekommen sein?" "Es muss ihm jemand geholfen haben." Semir erklärte Juan dann, wie es zu der Beobachtung kam. "Also ganz sicher ist sich euer Kollege auch nicht?", sagte er und schien damit seine Annahme zu rechtfertigen.


    "Wie groß kann ein Zufall sein, dass ein Mann, der Kevin gleicht und eine Wunde am Kopf hat, plötzlich auftaucht, nachdem Jenny entführt wurde?", fragte Ben rhetorisch und ihm wurde jetzt auch plötzlich klar, dass der Zufall eigentlich doch viel zu groß war, als dass es ein einfacher Zufall war. "Aber warum nimmt er keinen Kontakt zu euch auf? Und warum sollte er Jenny entführen?", fragte der Kolumbianer. Darauf wussten die beiden Polizisten keine Antwort und Juan dachte nach.
    "Ich kann versuchen, in Bogota etwas heraus zu finden.", bot er dann nach einigen Minuten der Stille an. "Ich kenne da noch einige Leute, die können sich mal umhören... ob er vielleicht irgendwo im Krankenhaus war oder so... wenn euch das hilft." Ben und Semir nickten dankbar, bevor Juan anführte: "Auch wenn ich immer noch nicht glaube, dass er das überlebt hat." "Warum bist du nie nach Kolumbien zurückgekehrt seit dieser Sache?", fragte Ben dann, doch der Südamerikaner wich aus. "Das ist kompliziert." "Soso...", meinte Semir süffisant, der schon immer ein wenig den Verdacht hatte, dass Juan nicht der Reiseführer aus der Armee war, den er vorgab zu sein. Als die beiden Polizisten sich verabschiedeten, hielt er sie noch kurz zurück. "Ich weiß, ich verstehe nichts von Polizeiarbeit...", begann er und blickte die beiden Männer an. "... aber wenn ihr Hilfe braucht bei der Suche nach Jenny, dann meldet euch bei mir."

    Keller - 13:00 Uhr


    Am liebsten hätte Jenny sich von Kopf bis Fuß gewaschen, so schmutzig fühlte sie sich nach diesem schauderhaften Erlebnis mit Patrick, der tatsächlich versucht hatte, sie zu vergewaltigen, so wie er scheinbar auch an der Vergewaltigung von Kevins Schwester beteiligt war. Diese Worte drehten sich in Jennys Kopf. Zuerst hatte sie aber, nachdem der Verbrecher den Raum verlassen hatte, jegliche emotionale Maske abgelegt und war in Tränen auf der Matratze ausgebrochen. Die Hose schnell wieder hochgezogen und das Klebeband vom Mund gerissen waren die einzigen beiden Handlungen, zu denen sie sich im Stande sah, bevor sie mental zusammenbrach.
    Die Stimme, die sie vor der Vergewaltigung gerettet hatte, war so vertraut... und doch so fremd. Es war einfach unwirklich und es konnte nur so sein, dass da oben ein Mann war, der sich so anhörte wie er. Sie hatte ihn nur dumpf wahrgenommen, nur leise gehört und es waren nur 10 oder 11 Wörter, die er rief. Aber es konnte doch einfach nicht sein, dass da oben der Mann stand, mit abstehenden Haaren in seiner abgewetzten Jeans und Lederjacke, mit der Kette um den Hals, von der er mal erzählte, dass sie seiner Mutter, die er nie kennengelernt hatte, gehörte. Nein, es konnte nicht sein. Kevin war tot... und trotzdem sprach dieser Mann von ihm. Und trotzdem wusste er genau, was Jenny vor einigen Wochen widerfahren war.


    In ihrem Kopf drehte sich alles. Der dunkle Raum wurde zu einer Gefühlsachterbahn und sie rollte sich auf der Matratze zu einem kleinen Ball zusammen, die Beine fest an den Leib gezogen und die Knie mit den Armen umklammert. Im ersten Affekt wollte sie an die Tür rennen, wollte das Unmögliche doch wahr sein lassen und laut Kevins Namen rufen. Doch es hielt sie etwas zurück... die Vernunft, die ihr vorgaukelte, dass es gar nicht Kevin sein konnte, der da oben rief? Oder doch die Worte Patricks, die sich wie ein Brenneisen in ihre Seele gedrückt haben. "...dass du euer Kind umgebracht hast... es könnte sein dass er verdammt böse auf dich ist...". Dazu hatte sie die Kopf-Ab-Geste, die Patrick vollführte, im Sinn.
    Würde es stimmen, was der Verbrecher sagte, wäre Kevin sicher nicht auf ihrer Seite. Und wenn er es wirklich war... warum half er ihr nicht? Was hatte er mit Patrick, einem offensichtlichen Schwerverbrecher zu tun... dazu noch der Vergewaltiger seiner Schwester? Wusste er nichts von alldem? Dass Patrick an dem Anschlag beteiligt war, der Kevins komplettes Leben aus den Fugen warf, dass Jenny hier unten im Keller eingesperrt war? Spielte der Typ nicht nur mit ihr, sondern auch mit Kevin ein Spiel?


    Jenny erschrak. Ihre Gedankenwelt gaukelte ihr tatsächlich vor, Kevin wäre dort oben. Ihr Freund, ihr Lebensgefährte... der Vater ihres toten Kindes würde seelenruhig dort oben stehen, während Patrick versuchte, sie zu vergewaltigen. Würde gemeinsame Sache mit einem Verbrecher machen. Nein, das konnte sie nicht glauben. Ihre Gedankenwelt drehte sich, vom Wirklichen zum Unwirkliche, von der Tatsache über die Annahme, und hin zum Abwägen von Wahrscheinlichkeiten. Am Ende kam sie aber immer am gleichen Ergebnis raus... und das Ergebnis war ein blankes mentales Chaos, tief in ihrem Herzen. Gerade, als sie sich abgefunden hatte mit ihrem Schicksal, den Tod ihres Kindes und ihres Freundes hinter sich lassen wollte, wurde sie brutal zurückgeworfen in alte Erinnerungen.
    Als sie langsam ein wenig ruhiger wurde, konnte sie rationaler nachdenken. Jenny wusste nicht, wieviel Zeit nun schon vergangen war, seit Patrick die Tür wieder zugesperrt hatte, und nach oben gegangen war. Sie saß auf der Matratze, trank einen Schluck Wasser aus der Wasserflasche und lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Mauer. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Schramme in ihrem Gesicht und ihre verweinten Augen hatten sich wieder an das die dunkle Umgebung gewöhnt.


    Konnte der Zufall wirklich so groß sein, dass der Typ von Kevin sprach, erst wissen wollte wo er war und jetzt auf einmal davon redete, dass er Kevins Gemütszustand kannte? Dass er Kevins Schwester und deren Tod erwähnte mit sich selbst als Täter? Und dass dann, ausgerechnet dann, dort oben ein Mann rief, der sich exakt wie Kevin anhörte? Das konnte kein Zufall sein. Wenn Patrick nicht nach einem Mann gefahndet hat, der ungefähr Kevins Stimme nachahmen konnte... und das hielt Jenny für ausgeschlosse, weil zu aufwendig... dann lebte Kevin noch. Und er war hier ganz in der Nähe, und musste vor Hass zerfressen sein. Jenny wusste ja zu gut, wie sehr sich der junge Polizist in Dingen, die ihm angetan wurden, verrennen konnte.
    Sie wusste genau, wie lange er an Janines Tod zu knabbern hatte, und immer noch zu knabbern hat. Dass er nach ihrem Mörder suchte, bis er ihn gefunden hatte. Und auch die Worte von Annie fielen ihr ein... "Er war Gewalt nicht abgeneigt...", hatte sie gesagt. Ihre Hoffnung schlug um in Angst. Wenn Kevin bereits so skrupellos war, einfach wegzuschauen, während Jenny hier unten eingesperrt war, dann war er noch zu anderen Dingen fähig. Und wie groß war sein Hass wohl, wenn er tatsächlich glaubte und wusste, dass Jenny das Wohl ihres gemeinsamen Kindes aufs Spiel gesetzt hatte... alleine die Vorstellung, dass der Mann, der sie liebte und den sie liebte, Jenny nun aufs Tiefste verachtete und sie hier unten allein ließ, trieb ihr wieder die Tränen in die Augen.

    Keller - 11:30 Uhr


    War es noch morgens, war es schon mittags? Regnete es oder schien die Sonne? Jenny konnte es nicht sagen. Das vergitterte milchig dreckige Fenster ließ nur wenig Tageslicht in den modrigen dunklen Keller, wo sie auf der Matratze saß, manchmal lag. Manchmal ging sie unruhig hin und her. Jemand hatte ihr heute morgen etwas notdürftiges zu essen gebracht... Brot und eine Flasche Wasser. Dazu wurde sie von dem fremden Mann, der nicht der Gleiche war, der gestern mit ihr gesprochen hatte, losgebunden. Allerdings konnte sie genau die Waffe im Hosenbund sehen und der zweite Mann, diesmal stummer als gestern, lehnte dabei am Türrahmen. Gegen die sie bulligen Männer hatte selbst eine ausgebildete, aber unbewaffnete Polizistin keine Chance.
    Deshalb beließ es Jenny bei einem wütenden Blick aus ihren funkelnden Augen. Sie war froh, endlich ein wenig durch den Mund atmen zu können, und hungrig war sie auch. Während der nächsten Stunden hatte sie kein Geräusch vernommen, sie saß, ging, lag. Es war der pure Horror, diese Hilflosigkeit eingesperrt zu sein, dieses Unwissen, was der Grund dafür war. Und dann schwirrte da immer ein Name in ihrem Kopf... ein Gesicht, ein Augenpaar, ein Lächeln. Seit der Kerl den Namen "Kevin" erwähnt hatte, war er in Jennys Kopf präsent.


    Warum glaubte der Typ, Kevin würde noch leben? Warum war er so überzeugt davon? Und warum suchte er ihn? War das der Grund, warum sie entführt wurde? Hatte der Mann vielleicht vor, Kevin mit ihr zu erpressen? Aber welchen Sinn hatte das, wenn er doch tot war? Vor lauter Nachdenken wurde ihr schwindelig, vor lauter Nachdenken verzweifelte sie, weil sie keine Antwort erhielt. Sie konnte nur hoffen, dass Semir und Ben ihr Fehlen bei dem Lehrgang komisch vorkam, dass Timo und Gregor sie suchen würden. Zumindest bei ihren alten Kollegen konnte sie sich sicher sein, dass die nicht aufgeben würden, bis sie Jenny gefunden hatten.
    Die junge Polizistin konnte nicht sagen, wieviel Zeit vergangen war, seit sie nichts mehr gehört hat, als plötzlich Geräusche zu vernehmen waren. Ganz schwach, als wäre es weit weg, wurde eine Tür zugeschlagen. Dass der Keller beinahe schalldicht war, konnte sie nicht wissen, dass die Tür ganz in ihrer Nähe war. Atemlos saß sie auf der Matratze und lauschte. War da ein Schlurfen? Ein Gehen? Ein Gespräch? Erst die Schritte auf der Kellertreppe wurden lauter, dass die Verbindungstür zwischen Wohnung und Keller geschlossen wurde, dass niemand rein konnte, hörte sie nicht. Aber Patrick sicherte sich ab. Er wusste zwar, dass Kevin mit den Bildern aus einem Album, das er aus den alten Tagen noch hatte, erstmal beschäftigt war... aber sicher ist sicher.


    Bevor der Verbrecher allerdings zu Jenny ging, ging er in einen Nebenraum, wo er sein Handy zog und Carsten anrief. "Lief doch ganz gut, hmm? Er frisst uns aus der Hand.", sagte er nach der Begrüßung selbstsicher. "Mir gefällt das nicht, Patrick. Er ist wankelmütig. Du kannst nicht in seinen Kopf reinschauen, du kannst nie wissen, wie er auf ein bekanntes Gesicht reagiert.", klang die besorgte und misstrauische Stimme Carstens aus dem Hörer. "Darum geht es doch. Wir müssen dafür sorgen, dass er so reagiert, wie er reagieren muss. Ich weiß alles von seinem Leben seit Peters Tod. Und was davor war und er nicht mehr weiß, ist unwichtig. Wir können alle Karten, die wir gegen ihn haben, ausspielen. Wie die Sache mit dem Gefängnis... oder dass Jerry angeblich tot ist."
    Patrick konnte seinen Freund deutlich am Telefon atmen hören. "Wovor hast du Angst? Wenn er sich erinnert, ist das Spiel vorbei. Und wenn nicht, wird er das Spiel beenden... irgendwann, Stück für Stück." "Was hast du jetzt als nächstes vor? Willst du ihn wieder auf die schiefe Bahn bringen?" Carsten hatte das Gespräch vor der Tür nicht mitbekommen. "Noch besser. Ich werde ihm die Mörder seiner Schwester präsentieren, die die Gang Stück für Stück auslöschen wollen. Die bei Jerry angefangen haben, und bei ihm enden wollen." Patrick grinste diabolisch. "Und die Mörder sind...", begann sein Freund langsam, denn er kannte die Antwort. "Genau richtig. Er wird sich sein Leben selbst zerstören... Stück für Stück... und dann sagen wir ihm die Wahrheit." Der Verbrecher grinste im Halbdunkeln: "Er sagt, seine Erinnerungsschubladen mit Namen und Gesichter sind durcheinander. Ich werde ihm die passenden Namen in die Schubladen legen..."


    Als sie das Gespräch beendet hatten, stand Patrick für einen Moment vor der abgeschlossenen Tür, hinter der Jenny gefangen war. Sein Atem beschleunigte sich, ein Flashback überkam ihn. Hilflosigkeit auszunutzen... die Macht haben. Das erregte ihn, und es erregte ihn schon vor 12 Jahren als er, Timmy und Peter die kleine Schwester des damaligen Punk vergewaltigt hatten, während er hilflos und schwer verletzt im Dreck lag. Jetzt saß er zwar unverletzt am Küchentisch und bekam nichts mit... doch hilflos war er genauso wie Jenny im Kellerraum. Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen und sperrte die Tür auf, die er danach sofort wieder sorgsam verschloß. Jenny saß auf der Matratze und blickte halb angstvoll, halb neugierig und wütend zu dem Mann auf.
    "Na... gefällt es dir bei uns?", sagte er Mann und grinste, während er zum Rücken griff und seine Pistole in die Hand nahm. "Sagt mir endlich, was ihr von mir wollt.", spuckte Jenny ihm entgegen, doch Patrick ging auf die Frage gar nicht ein. "Dein Freund ist nicht gut in Form, Kleines... und ausserdem gar nicht gut auf dich zu sprechen." Der jungen Polizistin rutschte das Herz fast bis zur Fußsohle, und die harte Matratze unter ihr fühlte sich an wie eine Luftmatratze auf hoher See.


    "Was sagst du da...?", flüsterte sie fassungslos mit großen Augen. "Mein Freund..." "Der Vater deines Kindes, das du verloren hast! Genau der!", wurde der Mann deutlicher und Jenny schüttelte fassungslos mit dem Kopf. "Er ist gar nicht damit einverstanden, dass du euer Kind umgebracht hast, weil du zu ihm wolltest. Und es könnte sein... dass er verdammt... verdammt böse auf dich ist." Während seine Stimme zwar leiser, aber deutlicher wurde, fuhr er sich mit der Waffe über die Kehle, eine eindeutige Geste. Jenny verlor vollständig die Fassung... so grausam konnte ein Mensch nicht sein, dass er sich das ausdachte. Der Bauch übernahm die Kontrolle und überstimmte den Kopf, der die Gefahr der Waffe sah und ließ sie aufspringen. "Du lügst, du Scheisskerl! Du lügst!", schrie sie und wurde von Patrick mit einem Hieb ins Gesicht sofort auf die Matratze gestreckt.
    Wimmernd, eine Hand auf dem Gesicht, die sofort blutig rot wurde, weil das Blut aus der Nase schoß, während der Verbrecher grinste. "Ja... und ich hab ein bisschen das Gefühl, er hat etwas von seinem alten Charakter wieder entdeckt. Weißt du, wie sein alter Charakter war?", fragte er und packte Jenny brutal an den Haaren, bevor er mit der flachen Hand in ihr Gesicht schlug und sie erneut wimmernd auf die Matratze fiel. Sie erinnerte sich im Schmerz an Annies Worte... Kevins Hang zur Gewalt. Doch niemals gegen Frauen, das konnte sie sich nicht vorstellen, und das wusste auch Patrick. Er vermischte Wahrheit mit Lüge, um Jenny Angst zumachen, bevor er die Rolle Klebeband aus der Jeans nahm und Jenny auf den Bauch drehte.


    Er griff die Handgelenke der wimmernden Frau und band sie auf dem Rücken zusammen, dann drehte er sie wieder um. Aus ihrer Nase lief Blut, eine Schramme an der Wange und ein Klebeband verschloß nun auch ihren Mund. Jenny geriet in Panik, denn dieses Grinsen kannte sie. Es war das typische Grinsen eines Mannes, der nur eins im Sinn hatte. Das gleiche Grinsen, was der Kommissarsanwärter damals in seiner Wohnung im Gesicht hatte, bevor er über die junge Polizistin hergefallen ist. "Aber einen guten Geschmack hat Kevin.", sagte Patrick und ließ den Lauf der Waffe über Jennys schlanken, zitternden Körper streifen, bevor er die Waffe mit seiner Hand ersetzte. "Seine kleine Schwester war zwar jünger..." Mit den Fingern öffnete er schnell Knopf und Reissverschluß von Jennys Jeans, die sich wild aufbäumte und unverständliche Laute hinter ihrem Klebeband von sich gab. "... aber ich bin ja auch keine 16 mehr."
    Mit einem Ruck griff der Mann Jennys Hosenbund und zog Jeans und Unterhose ein Stück herunter, während die junge Frau quiekte und zu weinen begann. Zu schnell kamen die Erinnerungen an die damalige Horrornacht hoch. Doch plötzlich war eine Stimme, ganz fern zu vernehmen, als sei sie ganz weit weg. Während sie für Jenny unwirklich und wie in einem Traum erschien, war sie für Patrick bittere Realität. "Patrick? Wo bist du denn? Hier ist jemand an der Tür!" Mit einem bitteren Lächeln sah der Verbrecher dem verheult und verbluteten Bündel ins Gesicht. "Selbst ungewollt rettet er dich noch...", meinte er, bevor er laut genug zurückbrüllte, dass er sofort komme. Dann zeriss er Jennys Handfesseln und verließ den Raum, was die Frau aber nicht nutzen konnte, denn sie verblieb weinend wie ein zitterndes Bündel auf der Matratze, während ein Stockwerk höher der Mann war, den sie liebte, und der einfach geschehen ließ, was geschah...

    Wieder ne 0815-Story, völlig ohne Spannung erzählt, da man wusste, wer gut und wer böse ist. Paul kommt nach wie vor nicht über die Rolle des "Mitläufers" hinaus und bleibt weiterhin als Charakter schwach und nicht greifbar.

    Gut fand ich, dass die eigentlich schon 1000mal gesehne Haupthandlung in einem etwas neueren Gewand hervorkam... das stumme, traumatisierte Mädchen war da erfrischend, auch wenn ich es unnötig fand, dass ausgerechnet ein fremder Polizist, statt der Mutter, diese Blockade plötzlich aufhob. Das war mir viel zu aufgesetzt und unrealistisch. Auch dass der Attentäter beinahe ausschließlich als Scharfschütze fungierte und sich erst ganz am Schluss auf direkte Konfrontation einließ, hat mir gefallen. Auch wenn es höchst unrealistisch war, dass ein Scharfschütze den frontal auf ihn zu laufende Paul mehrmals verfehlt. Das hätte man besser lösen MÜSSEN!

    Was gar nicht ging, war das Ende. Ich dachte, man wäre nach Ben weg von den kindischen und moralisch höchst fragwürdigen "Reaktionen" eines Semir Gerkhans bzw jeweiligen Partner. Dachte erst noch: "Endlich mal wieder ein etwas bodenständiger Endstunt", als die Kiste den Lieferwagen, wenn auch mit Unfall, zum Stoppen brachte. Das hätte mir richtig gefallen. Aber nein, man muss unbedingt eine, völlig unlogische Explosion (beim Anfangsstunt hatte man ja wenigstens nen Tanklaster benutzt, um die Explosion zu erklären) einbauen, die der Fahrer sicher nicht überlebt hat. Daraufhin sieht man einen triumphierend grinsenden Semir, und Paul der stolz den Daumen reckt.

    Sorry, das geht gar nicht. Das hat nix mit Unrealismus, schlechtem Humor oder Spannungsarmut zu tun, das ist einfach nicht die Figur Semir Gerkhan, mit der ich mich als Fan identifiziere.

    Ohne den beschriebenen Endstunt hätte ich ne mittlere Punktzahl gegeben, so sinds 0/10.

    Dienstfahrzeug - 10:15 Uhr


    Die milden Temperaturen fühlten sich für die drei Polizisten wie ein Hitzschlag an, so durchgefroren waren sie, als sie den Kühlraum endlich verlassen konnten. Ihre Kleidung war klamm und sie beeilten sich in ihren Dienstwagen zu kommen, wo Semir sofort die Heizung anschaltete. "Puh, das war knapp. Ich fühl mich schon wie ein Tiefkühlhähnchen.", keuchte Ben und rieb sich mit den Händen über die Arme, während Timo hinten Platz nahm. "Verdammt, da haben wir uns mal schön überrumpeln lassen.", meinte Semir und hörte von hinten ein, fast schon kleinlautes: "Tut mir leid, dass ich euch da mit reingelockt hab." "Ach was. Das war genau richtig. Stell dir mal vor, du wärst da alleine reingegangen. Dann hätten sich die beiden vielleicht mehr getraut als dich einfach nur einzusperren.", nahm der erfahrene Polizist den jungen Mann in Schutz.
    Trotzdem drehten sich durch Semirs Kopf tausend Gedanken und Gefühle, und er drehte sich zu Timo um. "Denk nochmal nach: Bist du dir sicher, dass einer der Männer wirklich der Mann auf dem Foto in Jennys Wohnung war?" Timo schaute unsicher, und er war immer noch ein wenig überrascht und verwirrt darüber, dass dieser Sachverhalt so wichtig war. War er denn nicht eher logisch, dass der Ex-Freund vielleicht mit Jenny noch eine Rechnung offen hatte?


    Der junge Mann fühlte sich von Semir ein wenig unter Druck gesetzt, durch dessen gezielte Frage: "Ich... ja ich bin mir... also ich hab ihn jetzt nicht von nahen gesehen... eher so im Abstand und dann von hinten." Der Polizist merkte die Unsicherheit an, scheinbar hatte Timo Angst etwas Falsches verbindliches zu sagen. "Er ist mir sofort aufgefallen und eingefallen. Also er hat dem Mann auf jeden Fall extrem geähnelt.", wiegelte er jetzt ab. Ben legte Semir eine Hand auf die Schulter und sah ebenfalls nach hinten. "Warum sollte der Typ uns drei einsperren, wenn er keinen Dreck am Stecken hat." "Aber warum sollte Kevin uns einsperren, wenn er noch lebt?", entgegnete ihm sein bester Freund als Gegenfrage zur Antwort.
    "Warum ist das so schwer zu glauben, dass es der Mann war?", fragte Timo nun endlich, denn er konnte sich auf Semirs Unsicherheit keinen Reim machen. "Weil wir seit 2 Monaten denken, dass der Mann, Jennys Freund und unser Kollege, in Kolumbien bei einem Sturz von einer Brücke ums Leben gekommen ist.", ließ Ben nun endlich die Katze aus dem Sack. "Kevin war... ist unser Partner. Er ist nach Kolumbien geflogen um einer Freundin aus der Klemme zu helfen, und wir haben nur von ihr erfahren, dass er in einen Fluss gestürzt ist, der laut einem Einheimischen, tödlich sein soll."


    Jetzt fiel auch bei Timo der Groschen. "Und Jenny ging auch davon aus, dass dieser Kevin tot ist?" Ein Nicken der beiden Beamten auf den Vordersitzen war die Antwort. "Er hatte definitiv eine frische Narbe an der Stirn.", sagte der junge Beamte jetzt, und seine Stimme klang auf einmal weitaus sicherer als vorher. Kein Stottern, kein Nachdenken. Die Vorstellung, dass jemand von einer Brücke fällt, ohne zu wissen wie der Fluss darunter wirklich ist, machte eine Kopfverletzung plausibel. Auch für Ben und Semir, die sich kurz anschauten und beide konnten es noch nicht so recht glauben. Vor allem Semir hielt die Möglichkeit einer Verwechslung, eines unglaublichen Zufalls immer noch für gegeben. "Wie gehen wir jetzt weiter vor?", fand Ben dann als Erstes die Stimme wieder und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. "Ich würde folgendes vorschlagen:", übernahm Semir das Wort, wie er es gewohnt war... den Überblick behalten und konstruktiv vorgehen. "Erstmal fahren wir Timo nach Hause und wir ins Hotel, und gehen alle drei heiß duschen. Sonst ereilt uns bis morgen die Grippe des Todes." Damit waren erstmal alle einverstanden. "Timo, du fährst ins Präsidium. Versuch herauszufinden, wer der zweite Mann war. Vielleicht habt ihr ihn in der Kartei. Wenn nicht, lass eine Phantomzeichnung anfertigen." "Aber, Herr Schwandt hat mich doch...", wollte Timo einwenden, doch Semir unterbrach ihn mit bestimmter, aber auch vertrauenserweckender Stimme: "Egal. Er braucht es nicht zu merken. Dein Kollege Gregor wird dir dabei helfen, da bin ich sicher." Semir hatte zwar von Gregor nicht den engagiertesten Eindruck, aber er meinte, so etwas wie Loyalität zu Timo zu spüren, die größer war als Ehrfurcht vor seinem Chef.


    "Und was machen wir?", fragte Ben dann, als er den Motor des Mercededes-Dienstwagens anließ. "Wir fahren nach Köln zurück. Bisschen mehr Klamotten packen und unseren Frauen Bescheid sagen, dass der Aufenthalt hier noch etwas länger dauern könnte. Wir bleiben hier, bis wir Jenny gefunden haben und rausbekommen haben, was mit Kevin wirklich ist. Heute abend sind wir dann wieder zurück." Timo nickte zustimmend und auch Ben war einverstanden mit dem Plan. "Ach Timo...", sagte Semir noch, gerade als sein Partner sich in den laufenden Verkehr einfädelte. "Das war richtig stark da drin eben. Kompliment." Timo lächelte schüchtern und wurde beinahe rot. Er war im Dienst nicht unbedingt Lob gewohnt, weil er sich nicht viel zutraute und gerade Gregors Kommunikation eher pragmatisch war.
    Nachdem sie Timo an dessen Adresse abgesetzt und sich verabschiedet hatten, stellte Semir die Heizung ein paar Stufen kleiner. "Wir werden uns in Köln mit Juan treffen.", sagte er dann. "Ja, daran hatte ich auch schon gedacht." Sein bester Freund warf Semir einen kurzen Seitenblick zu: "Du glaubst auch daran, dass Kevin lebt?" Der erfahrene Türke strich sich kurz mit der Zunge über die Oberlippe. "Der Verstand sagt "Nein". Aber es ist zuviel Zufall. Warum sollte der Typ uns einsperren? Woher kennt er uns und weiß, dass wir Polizisten sind? Die Narbe an der Stirn und dass Timo ihn sofort erkannt hat. Kevin hat kein Allerweltsgesicht." Er seufzte: "Es wäre einfach zuviel Zufall..."


    Ben nickte zustimmend. "Auf der anderen Seite... Timo hat Kevin nur auf einem Bild gesehen. Für eine, vielleicht zwei Minuten. Und ihn 24 Stunden danach angeblich erkannt. Wenn der andere Kerl Dreck am Stecken hat, kann er Timo auch als Polizist erkannt haben, und den beiden könnte Timos Observation aufgefallen sein.", stellte er die Gegenthese auf. "Und wenn es wirklich Kevin war... warum meldet er sich nicht? Oder hat sich längst gemeldet? Warum hat er uns nicht erkannt, als die beiden uns eingesperrt haben?" Dabei zuckte er selbst ratlos mit den Schultern, während er mit beiden Händen das Lenkrad festhielt, während sein Partner auf dem Beifahrersitz ohne Gefühlsregung aus der Frontscheibe sah und dabei leise murmelte: "... ausser, er will uns nicht erkennen. Er nimmt es uns übel, dass wir nicht nach ihm gesucht haben? Und er hat dabei..." wieder stockte seine Stimme, und Semir sah zu Ben herüber. "Er hat dabei die Seiten wieder gewechselt?" Für einen Moment stockte Bens Atem, er sah nach vorne und schüttelte dann irgendwann den Kopf, wobei er leise, aber mit tiefster Überzeugung in seiner Stimme seine Ablehnung gegenüber Semirs These wissen ließ: "Nein... Niemals!"

    Hamburg - 10:00 Uhr

    Kevin musste an die Luft. Die Atmosphäre in dem Raum, in dem er, Patrick und Carsten saßen, hielt er für den Moment nicht mehr aus. Zu schwer wurde sein Kopf, zu heftig der Schmerz und zu verwirrend all seine Gedanken und Bilder im Kopf. Vor der Tür sog er die frische Frühlingsluft in seine Lungen, bevor er sich eine Zigarette in den Mund steckte und anzündete. Es dauerte keine halbe Minute, bis Patrick neben ihm stand, um ihn ja nicht aus den Augen zu lassen. "Wann wolltest du mir sagen, dass Jerry tot ist?", bekam er von seinem alten Freund sofort an den Kopf geworfen, doch der Verbrecher zuckte nur mit den Schultern. "Hey... daran hab ich seit gestern gar nicht gedacht. Kevin, das ist Jahre her, Jerry ist vor ein paar Jahren schon verhaftet worden. Ich treff dich, du kannst dich an nichts erinnern, denkst du, ich erzähle dir zuerst, dass Jerry tot ist?"
    Die Rechtfertigung schluckte Kevin stumm mit ausdrucksloser Miene, er nickte nur und zog ein weiteres Mal an seinem Glimmstengel während er in eine andere Richtung sah. "Kevin, es ist doch jetzt erstmal wichtig, dass du etwas über deine Vergangenheit erfahren hast.", versuchte Patrick einzulenken und wurde vom kalten Blick aus den blauen Augen getroffen. "Was hab ich denn erfahren. Dass ich mit Carsten Einbrüche begangen hab. Und? Ich fühl darüber aber nichts. Ich hab kein Gefühl über meine Vergangenheit, verstehst du?"


    Es war schwer zu erklären, wenn Kevin versuchte zurück zu denken. Carsten hatte ihm gesagt, die beiden hätten ein paar Brüche begangen, danach wäre Kevin im Gefängnis gewesen. Von den Brüchen hatte Kevin nur Schemen der Erinnerung, wobei er nicht mal genau sagen konnte, ob es die Einbrüche mit der Gang vor Janines Tod oder danach mit Carsten waren. Und vom Gefängnis sah er ebenfalls nur Umrisse, von Jerry. Er konnte weder die Zeit zuordnen, noch in welcher Gefühlslage er damals war. Nicht mal jetzt konnte er seine Gefühlslage erklären, er war wie ein führerloses Schiff im Meer der Zeit.
    "Verstehst du was ich meine? Ich fühle mich jetzt nicht als Einbrecher. Früher ja, aber...", sein Stimme stockte wieder und er sah sich um. "Irgendwann hat sich etwas geändert. Ich... ich kann es nicht erklären.", sagte er und ging zwei Schritte die Treppe herunter, um sich auf die kalten Stufen zu setzen und nochmals an der Zigarette zu ziehen. Verzweiflung machte sich in ihm breit, denn tief in seinem Inneren spürte er, dass etwas nicht stimmte. Nochmal versuchte er seine Erinnerung zurück zu drehen, was war ihm klar, was war verschwommen. Der Anschlag auf ihn und Janine war präsent, so fest im Kopf verwurzelt, dass er es wohl niemals wieder vergessen würde. Er spürte das Rachegefühl, was aber vom Vergessen ein wenig betäubt war.


    Ab den ersten schlimmen Drogentrips wurde das Bild immer undeutlicher, bis auf zwei klare Kleckse, die Einbrüche mit Carsten, das Gefängnis. Dazwischen waren Gesichter, Namen und Gefühle zu Personen, doch nichts passte zueinander. Er brauchte Greifbares. "Wie solls jetzt weitergehen?", fragte er irgendwann zur Straße, während Patrick hinter ihm stand. Keine Ahnung von der Gefahr, die hinter ihm stand... Patrick, der Mann der Kevin töten wollte, leiden sehen wollte, der Jenny im Keller gefangen hielt und eine Waffe im Hosenbund unter der Jacke stehen hatte, jederzeit bereit kaltblütig abzudrücken, wenn er die Gefahr witterte, Kevin würde sich erinnern. Er sah auf den Rücken des Mannes, der sich der Gefahr in keinster Weise bewusst war.
    "Ich weiß es nicht. Steig bei Carsten wieder ein.", sagte Patrick als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, was Kevin ruckartig aufstehen ließ. "Vergiss es. Die Polizei ist hinter mir her und ich weiß nicht warum. Da kann ich nicht einfach wieder auf Raubzug gehen." Er sah seinen Freund, von dem er dachte, er sei sein Freund kurz an, bevor er sich wieder abwandte.


    "Was ist mit Jerry passiert? Du hast gesagt, er sei angeblich von Wachleuten getötet worden bei einer Revolte. Was sollte das "angeblich" dabei?", fragte der Polizist nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens. Patrick sah den Mann einen Moment lang an, und seine Miene war versteinert, bevor er langsam zu sprechen begann. "Es sind einige aus der alten Clique auf eigenartige Art und Weise ums Leben gekommen. Peter wurde von einem Polizisten von einem Dach gestoßen, Jerry bei einer angeblichen Revolte umgebracht und Kai wurde bei einer Verkehrskontrolle, die angeblich ausser Kontrolle geriet, erschossen. Alles in Köln, das kann kein Zufall sein. Und da habe ich ein wenig recherchiert. Scheinbar will jemand bei der Polizei die komplette damalige Clique auslöschen.", erklärte der Mann mit totaler Selbstsicherheit.
    Kevins Gesichtszüge entglitten. "Und warum sagst du mir das erst jetzt?" "Warum hätte ich dich damit belasten sollen? Du musst doch selbst erstmal klar kommen mit deiner Situation." Das Herz des Polizisten klopfte heftig... waren die Polizisten deswegen hinter ihm her? Wenn es überhaupt Polizisten waren. "Jedenfalls habe ich herausgefunden, dass zwei der Leute, die scheinbar dahinter stecken... ein Mann und eine Frau... auch...", er stockte kurz und sah Kevin beinahe prüfend an, wie er reagieren würde. Der wiederrum sah ihn auffordernd an, weiter zu reden. "... dass die beiden bei dem Anschlag damals dabei waren... auf dich und Janine."


    Für einen Moment war es mucksmäuschenstill, nur Kevin spürte, dass er den Halt unter den Füßen zu verlieren schien. Mit einem Schritt war er bei Patrick und griff seinen Kragen, denn Kevin hatte immer noch genügend Kraft. "Gibt es noch mehr, was du mir verschwiegen hast?", fuhr er ihn mit wütender Stimme an, während der Verbrecher keine Miene verzog. "Ich warne dich, Kevin. Die Bullen sind hinter dir her, und nicht hinter mir. Ich weiß, was ich die letzten Jahre gemacht habe... du nicht. Es wäre ein Leichtes für mich, dich zu verpfeifen!", sagte er drohend. "Wenn die Typen der Gang an den Kragen wollen, hängst du genauso drin wie ich.", widersprach der Polizist, doch Patrick schüttelte den Kopf. "Ich habe meine Verbindungen zur Gang schon seit Jahren gekappt."
    Für einen Moment standen die beiden Männer sich gegenüber, Kevin hatte Patrick fest am Jackenkragen gepackt und gegen den Türrahmen gedrückt. "Aber ich werde dir helfen. Wir müssen den Typen zuvorkommen. Ich hab sie erkannt, als ich sie eingesperrt habe... wenn sie dort überhaupt wieder rauskommen." "Warum solltest du mir helfen, wenn du mit der Gang nichts mehr zu tun hast?" "Weil mir die Gang immer noch etwas bedeutet, du Idiot. Weil sie mein Zuhause war damals, genauso wie für dich. Vergiss deine Vergangenheit, du musst dich jetzt um die Zukunft kümmern! Sonst hast du keine mehr." Und mit einer kurzen Pause setzte er mit Nachdruck hinzu: "Und jetzt lass mich endlich los!" Für einen Moment sahen sich die beiden Männer an und Kevins hellblaue Augen funkelten, als könne er sich nicht entscheiden, ob er Patrick glauben sollte oder nicht. Doch sein Gedächtnis, seine Erinnerung gab nichts her, was Anlaß gab, an seinen Worten zu zweifeln... und seine Hände öffneten sich.

    Kühlraum - 9:50 Uhr


    Es war lange kein ordentlicher Winter mehr in Deutschland, insofern waren die drei Kommissare jahrelang keine Minus-Temperaturen mehr gewöhnt. Ausserdem waren sie für eine solche Witterung in der völlig falschen Kleidung. Und so kam es, dass das Zähneklappern und Bibbern das Geräusch des Kühlgenerators mittlerweile übertönte und alle drei sich die Arme um den Oberkörper geschlungen hatten, was nicht wirklich Besserung versprach. Timo saß immer noch auf einer umgekippten Kiste, während Ben und Semir wieder unruhig durch den kleinen Raum tigerten. "Ihr macht mich nervös...", murmelte er irgendwann und wurde von den beiden erfahrenen Polizisten schräg angesehen. "Irgendwas muss uns doch einfallen, hier rauszukommen."
    Semir blieb an einer Wand stehen, blickte sich um und brach beinahe in Verzweiflung aus. Auch Ben machte es wahnsinnig, keine rettende Idee zu haben. Die Tür zu, kein Handyempfang und niemand wusste, wo sie waren. Kein Hartmut in der Nähe mit einer rettenden Idee, keine Jenny, die sie rausboxte... und kein Kevin, der ihnen helfen konnte. Sie hatten versucht die Tür einzutreten, hatten mit Timos Taschenmesser versucht das Schloß zu knacken ohne Erfolg. "Verdammt, die verdammte Tür muss doch irgendwie aufgehen!", rief Ben laut und trat nochmal wutentbrannt mit dem Fuß gegen den Griff der Tür, der daraufhin krachend abbrach. "Na toll...", murmelte Semir und besah sich den Schaden. Allerdings war der innere Griff einfach nur ein angeschraubtes Stück Plastik und einem Loch in der Tür, der komplette Mechanismus war aussen angebracht, weil nicht vorgesehen war, die Tür von innen zu verschließen.


    Timo sah nach oben an eine Stelle, wo an einem Rohr das zum Generator führte, Eiszapfen hingen. Sein Blick ging herüber zu den alten Birnen der Beleuchtung, die hinter langen Hartplastikbahnen versteckt waren, damit das Licht nur schummrig und weit gefächert wirkte. "Ich hab eine Idee.", sagte er plötzlich und fuhr von der Kiste hoch. Er lief in die Ecke des Kühlraums, wo einige Pappkartons standen und riss davon ein Stück ab, was er zu einem Rohr formte, welches er in das Loch der Tür steckte. "Was wird das?" "Damit stemmen wir die Tür auf." Ben nahm die Antwort auf seine Frage nicht ernst. "Wie bitte? Mit einem Stück Karton?" "Nein, mit dem Eis da oben?", sagte Timo und wies auf das Rohr, an dem mittlerweile mehrere Eiszapfen hingen.
    "Das Eis wird sofort brechen.", widersprach Ben, während Semir ganz still war und nachdachte, bis ihm die Erleuchtung kam. Plötzlich lächelte er und fragte Timo: "Welche Folge ist das?" "Staffel 1: Kleine Fische, große Fische.", antwortete der junge Polizist wie aus der Pistole geschossen und grinste breit, denn Semir hatte verstanden. Offenbar war er selbst ein Fan von MacGyver und hatte die unzähligen Folgen und Ideen, die den Drehbuchschreibern eingefallen sind, gesehen.


    "Könntet ihr mich mal aufklären?", sagte Ben genervt, denn er verstand nur Bahnhof und Abfahrt. Diese amerikanische Serie aus den 80ern hatte er nie gesehen. Semir war die Generation, die diese Serie gesehen hat, als sie neu war, Timo war die Generation, die sie geguckt hat, weil sie als Wiederholung wieder interessant war. Ben war genau dazwischen und interessierte sich zu der Zeit lieber für Musikvideos. "Wasser zieht sich zusammen, wenn es schmilzt und dehnt sich aus, wenn es gefriert. Wir nehmen das Eis von dem Rohr, schmelzen es an den heißen Glühbirnen und leiten es mit der Hartplastikbahn in das Schloß, wo es wieder gefriert.", erklärte Timo und baute mehrere der roten Kisten zu einem wackeligen Turm. "Durch das Gefrieren dehnt das Eis sich wieder aus und wird hoffentlich das Schloß knacken.", ergänzte Semir.
    Ben stöhnte auf: "Ich bin von Nerds umgeben. Hört mal, das funktioniert vielleicht in eurer albernen Serie..." "Alberne Serie?", kam fast gleichzeitig aus Semirs und Timos Mund mit der gleichen Empörung, so dass Ben mit weiten Augen einen Schritt zurückwich. "Ist ja gut... wir können es ja versuchen." Timo stieg auf den wackeligen Turm aus Kisten, um an die Lampe zu gelangen und wurde dabei von Ben festgehalten. Mit dem Taschenmesser hebelte er die Hartplastikbahn an den Lampen ab und reichte sie Semir. Sie war etwas zu lang von der ersten Glühbirne bis zum Plastiktrichter, der in der Tür steckte, doch das machte nichts.


    Dann brach Timo das Eis von dem Rohr und hielt es dicht an die Lampe, während Semir das Leitrohr hielt, damit das Wasser gezielt in die Tür laufen konnte. "Na, wirds?", fragte Ben von unten, der Turm und Timo hielt, damit dieser nicht abstürzte, denn besonders standfest waren die Kisten nicht. Timos Hände begannen schnell zu schmerzen, denn das Eis war wahnsinnig kalt, und der Gegensatz der heißen Glühbirne, an die er das Eis hielt, war für die Nerven der Hand nicht gerade förderlich. Immer wieder drehte und wendete er das Eis, damit es nicht festklebte und langsam begannen erste Tropfen an seinen Fingern herab zu laufen und in das Hartplastik zu tropfen. Erst Tropfen, dann ein kleines Rinnsaal, was sich den Weg nach unten in den Tricher bahnte.
    Es war mühseelig und dauerte, irgendwann tauschten Ben und Timo die Plätze, als der junge blonde Polizist das Gefühl hatte, ihm würden gleich die Finger abfallen. Auch Ben machte leise Schmerzgeräusche, als er das Eis in der Hand hin und her drehte, was Semir zu der Bemerkung: "Der Junge hat nicht so gejammert." hinreissen ließ. "Der Junge stammt ja auch aus dem ewigen Eis.", war Bens nicht böswillig gemeinter Konter, in dem er auf Timos Herkunft anspielte. Der grinste einfach nur und sah, wie die Tür um das Schloß bereits zu gefrieren anfing.


    Sie hatten das Gefühl für die Zeit sowieso völlig verloren, doch es machte ihnen Sorgen, dass ihnen die Eiszapfen ausgingen. An der Türfläche um das Schloß herum hatte sich von innen bereits eine Eisschicht gebildet, als Ben den letzten Zapfen in der Hand hielt und an die Lampe hielt, als diese plötzlich verlosch. "Oh scheisse...", kreischte Ben plötzlich, als es stockfinster wurde, und er nicht mehr wusste, wo die Wände waren. Der Polizist bewegte sich und begann zu wanken, Timo umklammerte Kisten und Bens Beine während Semir versuchte, das Leitrohr mit dem Wasser festzuhalten. "Ben! Verlier jetzt nicht die Nerven! Bleib ganz ruhig, und halt das Eis an die Lampe, so lange sie heiß ist! Wir sind noch nicht raus.", rief Semir von der Tür.
    Ben fing sich und sein Gleichgewicht, sein Zittern war nun wegen der Angst, nicht wegen der Kälste so stark, als es plötzlich ein lautes metallisches Knacken gab. Es kam von draussen, und ließ alle drei Männer aufhorchen. "Ich glaub es ist geborsten.", sagte Timo leise, während Semir leicht gegen die Tür drückte, die keinen Millimeter nach gab. "Warte...", sagte er in der Dunkelheit, bevor er einen Schritt zurückging und mit all seiner Kraft gegen die Tür trat. Dabei barst der letzte Teil des metallischen, völlig vereisten Griff und gab den Weg zurück in Licht, Freiheit und Wärme.

    Imbissbude - 9:45 Uhr


    Patrick ging voraus und führte Kevin in eine Art größerer Imbiss. Eigentlich war noch geschlossen, doch die beiden Verbrecher kannten den Besitzer, der ihnen großzügig den Gastraum aufgeschlossen hatte, damit sie ungestört reden konnten. Ausserdem hatte er Kaffee aufgesetzt. Carsten saß schon am Tisch und rührte ungeduldig in seiner Tasse, als die beiden Männer endlich auftauchten. Er und Patrick hatten sich genauestens überlegt und abgesprochen, was sie Kevin nun vorsetzten wollten, und nach dessen Einblick in seine Gedankenwelt war der ehemalige Gangkollege auch sicher, den jungen Polizisten genug beeinflussen und manipulieren zu können, um ihn endgültig auf seine Seite zu ziehen. Dessen bester Freund stand lächelnd auf und begrüßte erst Patrick, dann Kevin mit einem Handschlag. "Kevin! Schön dich wieder zu sehen.", sagte er mit einer vertrauenserweckenden Stimme und bot Platz. Sofort begann es in Kevins Kopf wieder zu arbeiten und zu kramen, wo in der Schublade mit den Gesichtern er den Glatzkopf mit den grünen Augen einordnen konnte... oder den Namen Carsten. Doch beides konnte er nicht finden, schüttelte zögerlich die Hand und nahm langsam Platz. Er war gespannt darauf, was der Mann ihm erzählen konnte, denn laut Patrick schienen die beiden sich zu kennen. "Was habt ihr so lange gebraucht?" "Wir mussten nen kleinen Umweg nehmen.", meinte Patrick zwinkernd und fügte hinzu: "Erzähle ich dir später."


    "Wie gehts dir, Kevin?", fragte Carsten mit einem Lächeln, das nur Freunde perfekt beherrschten. "Naja... geht so. Mir würde es besser gehen, wenn ich in meinen Kopf ein wenig Ordnung bekommen würde." "Ja, Patrick hat mir erzählt dass du... scheinbar dein Gedächtnis verloren hast?" "Verloren... hmm. Ich kann mich nicht erinnern. Die letzten Jahre sind irgendwie... völlig durcheinander." Die beiden Verbrecher hatten sich erst überlegt, ob sie Kevin die Geschichte auftischen wollten, dass er durch den Sturz in Alkohol und Drogen ein ziemliches Wrack geworden wäre, was seine mangelnde Erinnerung erklärte. Doch könnte das ein jahrelanges Durcheinander in seinem Kopf wirklich erklären? Und ausserdem war er ja jetzt wieder abhängig... nein, der Gedächtnisverlust kam durch ein plötzliches Erlebnis, vermutlich in Kolumbien, was mit seiner Kopfverletzung zu tun hatte. Sie mussten sich etwas anderes ausdenken.
    "An dich kann ich mich zum Beispiel gar nicht erinnern... da ist nichts im...", Kevin stockte und sah Patrick an. Plötzlich arbeitete es wieder in seinem Kopf, Bilder tauchten auf. Bilder in einer Kneipe, von einer Schlägerei, von Blut... Der junge Polizist presste die Augen aufeinander fasste sich stöhnend an den Kopf. "Was ist mit dir?", fragte Carsten besorgt und sah unsicher zu Patrick, der unterm Tisch an seine Waffe griff, falls Kevin sich plötzlich erinnern sollte. Er war immer bereit, einzugreifen... denn er wusste nichts von Amnesie und Gedächtnisverlust und bildete sich ein, Kevin könnte vom Tisch aufspringen und plötzlich wieder der Alte sein.


    "Ich... ich weiß nicht. Vielleicht kenne ich dich doch... aber... ich kann nicht sagen...", stotterte Kevin und krallte seine Finger vor Schmerz in die Kopfhaut, so dass seine Haare noch mehr von sich standen, als sowieso. "Haben wir uns mal in einer Kneipe geprügelt?" Carsten lachte kurz: "Kevin, wir waren öfters zusammen auf Tour durch Kneipen. Und klar gab es da auch mal die ein oder andere Schlägerei... aber... nicht zwischen uns beiden." Den kurzen unsicheren Seitenblick auf Patrick sah der Polizist nicht, er war zuviel damit beschäftigt den hämmernden Kopfschmerz zu unterdrücken. Sein Kopf warf etwas durcheinander, aber zumindest hatte er einen Punkt. Er hatte sich daran erinnert, womit er das verband. Er brauchte zu jedem Bild einfach eine Hilfestellung.
    "Okay... und, was haben wir sonst miteinander zu tun gehabt? Patrick sagte, wir häötten zusammen gearbeitet.", fragte Kevin dann, als sich der Schmerz langsam wieder verzog und abebbte. Sein Gegenüber nickte. "Wir haben ein paar Dinger gedreht. Einbrüche hauptsächlich, weil du das damals mit deiner Clique noch kanntest." Der Polizist atmete langsamer und ruhig. Ja, die Einbrüche wusste er. Mit seiner Clique, mit Jerry, Patrick und den anderen. Aber hatte er sonst noch welche gemacht? Nach Janines Tod? Er dachte wieder nach...


    Doch die Bilder waren nicht deutlich. Er sah sich bei den Einbrüchen immer als Jugendlicher und nicht als Drogenwrack. Oder doch? War Jerry wirklich immer dabei? Oder dieser Typ, der ihm jetzt gegenüber saß. Verzweiflung machte sich in dem jungen Mann breit, und beinahe wollte er Carsten glauben, um endlich Anhaltspunkte zu haben, um endlich Erinnerung zu haben, auf die er vielleicht andere Erinnerungen aufbauen konnte. "Und warum... warum haben wir aufgehört?", fragte er. "Weil wir aufgeflogen sind. Wir waren im Knast... du ein paar Monate, ich anderthalb Jahre. Aber getrennt. Danach hatte ich dich aus den Augen verloren, weshalb ich auch nicht weiß, wie du nach Kolumbien gekommen bist. Vorher hatten wir ungefähr 2 Jahre zusammen Dinger gedreht."
    Gefängniss... wieder arbeitete es. Wieder taten sich Bilder auf, diesmal waren sie deutlicher. Diesmal waren sie klarer. Ja, er hatte die Zelle vor sich. Den Gang durch die grauen Flure, das Gefühl, als er auf der Britsche lag, im Duschraum stand, im Essensraum saß. "Ja... das stimmt. Ich erinnere mich.", sagte Kevin leise. Doch weil alles verschwommen war, konnte er nicht wissen, dass er nur wenige Tage wegen eines vermeintlichen Mordes verhaftet und eingesperrt wurde, und nicht wegen Einbrüchen. Und dass er damals Polizist war, und kein drogenabhängiger Verbrecher.


    Plötzlich sah er zu Patrick, der immer noch am ganzen Körper, für Kevin nicht sichtbar, angespannt war. "Jerry!", sagte der Polizist plötzlich. Er hatte ganz plözlich das Gesicht seines damaligen Mentors vor Augen, seinen Namen im Kopf... weil er diesen noch vor seinem Gedächtniscut in Erinnerung hatte. "Jerry war bei mir im Knast. Ich bin mir ganz sicher." Das hatten Patrick und Carsten nicht überprüft und die beiden Männer sahen sich kurz an. Ersterer war allerdings sehr gedankenschnell, und er hatte sich flugs im Kopf einen Ausweg daraus gebastelt, was jetzt vermutlich kommen mag. "Ja, das stimmt... das war er.", sagte er nachdenklick und nickte. Seine Miene wurde so melanchonisch, wie seine Stimmlage.
    "Jerry kann uns vielleicht helfen... ich hatte immer ein sehr enges Verhältnis zu ihm. Ihm habe ich mit Sicherheit erzählt, was ich vor dem Knast getrieben habe. Auch vor unserer Zeit.", sagte Kevin und zeigte auf Carsten, der sich Patricks Reaktion anschloß und stumm nickte. "Kevin... ich glaube nicht, dass Jerry uns noch helfen kann." Das Gesicht des Verbrechers war ernst, und Kevin schaute verwirrt. "Warum nicht?" Patrick seufzte und blickte kurz zu seinem besten Freund, der es beeindruckend fand, wie schnell sein Nebenmann reagieren konnte, mit neuen Einfällen und Ideen. "Jerry ist vor ein paar Monaten von mehreren Wachmännern umgebracht worden. Angeblich eine Revolte im Knast. Mehr habe ich nicht gehört...". Der junge Polizist musste sich am Tisch festhalten, sein Atem ging schneller und seine Augen wichen langsam mit entsetztem Blick von Patrick weg. "Es tut mir wirklich leid...", nahm er noch dumpf in den Ohren wahr...

    Kühlraum - 9:30 Uhr


    Es herrschte Krisenstimmung im Kühlraum, als klar wurde dass die drei Polizisten offenbar absichtlich eingeschlossen worden sind. "Hast du Kevin erkannt?", fragte Semir mit leicht zitternder Stimme, die er selbst nicht ganz zuordnen konnte, ob sie von der immer stärker werdenden Kälte kam, oder seinem rasenden Herzschlag. "Nein. Der stand hinter uns. Ich hab hinten keine Augen.", entgegnete ihm Ben genervt, der immerhin froh war, dass das Licht an war, und sehen konnte, dass der Raum halbwegs ausreichend groß war. "Ich hab auch nichts gesehen.", meinte Timo niedergeschlagen und fühlte sich an der vertrackten Situation ein wenig mitschuldig. Semir zog sofort sein Smartphone aus der Tasche und sah drauf. "War ja klar...", brummte er, als die Netzanzeige das totale Funkloch anzeigte.
    Der junge Polizist setzte sich auf eine alte Plastikkiste, in der offenbar früher das zerteilte Fleisch gelagert wurde, während Ben und Semir hin und her tigerten. Timo wunderte sich, wirkten die beiden doch in der stressigen Situation bei der Verfolgungsjagd völlig ruhig und besonnen, waren sie jetzt völlig nervös. Natürlich überlegten sie, wie man hier rauskommen könnte, aber trotzdem war die Reaktion der beiden nicht so, wie er sie erwartet hätte. Er konnte nicht in die Köpfe der beiden Autobahnpolizisten schauen.


    Ben dagegen war etwas ruhiger als Semir, dessen Angespanntheit man förmlich spüren konnte. "Können wir das Licht nicht wieder ausmachen?", fragte er plötzlich und sah in ein verwundertes Gesicht von Timo, während Ben ungewohnt ungehalten antwortete: "Bist du irre? Warum sollen wir hier im Dunkeln rumsitzen?" Natürlich fürchtete er, dass er in der Dunkelheit sofort wieder ein beklemmendes Platzangst-Gefühl hatte. Denn anders als sein Schlafzimmer zuhause, wenn es dunkel draussen war, war hier kein einziges Fenster, so dass man vermutlich nicht mal Umrisse oder Schemen erkennen konnte. Absolute, pechschwarze Dunkelheit, so wie er sie in dem Sarg erlebte, nachdem das Feuerzeug seinen Geist aufgab, wäre die Folge.
    "Ich kann diese Kacheln nicht sehen. Dieser Raum... der ist wie...", keuchte Semir und rieb sich durch die Augen. Die Bilder in seinem Kopf wollten nicht verschwinden, denen er sich ausgesetzt war. Die Rohre, das Zischen, der Dampf den er einatmete und das Gefühl, er müsse jetzt sterben, weil er kein Deutscher war. Ben packte ihn an den Schultern. "Jetzt bleib ganz ruhig. Atme ruhig ein und aus, okay?" Natürlich wollte er Semir helfen. Aber in seinem Hinterkopf war auch der Eigennutz, solange das Licht anblieb.


    "Lass mich!", fuhr der älteste der Dreien seinen besten Freund an. "Du willst nur nicht, dass ich das Licht ausmache, weil du dann Platzangst hast! Schläfst du zu Hause auch im Hellen?", keifte er. Ben antwortete sarkastisch: "Gehst du zu Hause nicht mehr ins Badezimmer?" Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, und obwohl man über die Sprüche, die sie sich an den Kopf warfen, lachen hätte können, waren beide Männer gerade in einer kleinen Paniksituation. "Ich mach jetzt das Licht aus.", sagte Semir entschieden und ging einen Schritt auf den Schalter zu, wobei er von Ben am Arm festgehalten wurde. "Du lässt das Licht an, verdammt!" "Sagt mal, was ist denn los mit euch? Sollten wir nicht eher überlegen, wie wir hier rauskommen?", fuhr Timo dazwischen und war erstaunt und ein wenig erschrocken über seine Courage. Sonst war er ein Typ, der sich immer aus Scharmützeln raushielt, ein Harmoniemensch der dann lieber stillschweigend daneben saß, wenn andere sich verbal maßen.
    Für einen Moment sahen die beiden Polizisten den blonden Mann schweigend an, und Timo hatte das Gefühl, dass sie nachdachten ob sie ihn in die Schranken weisen sollten oder tatsächlich mit dem Streit aufhören. Sie hatten füreinander Verständnis, doch die Angst im Herzen hatte die Kontrolle übernommen, und das Verständnis überboten. Semir atmete tief durch, und sein Kopf gewann wieder die Oberhand. Er konnte sich vorstellen, dass es auch für Timo, den sie kurzerhand vergessen hatten, nicht angenehm war im Dunkeln zu sitzen. "Nagut... dann lassen wir das Licht halt an."


    Die Situation beruhigte sich wieder, und auch Ben und Semir setzten sich auf die Kisten und begannen, nachzudenken. "Was hat euch jetzt so nervös gemacht?", fragte Timo ein wenig verwirrt, doch beide Polizisten wiegelten ab. Sie wollten ihre Geschichte nicht preisgeben, denn so gut sie Timo auch in diesen zwei Tagen leiden konnten... er war ein Fremder. "Nervös warst du aber auch gestern, als wir in der Hochhaussiedlung waren.", war Semirs Antwort und seine Stimme klang wieder normal. Timo sah für einen Moment zu Boden und nickte. Sofort konnte man merken, dass ihn etwas beschäftigte, dass er an etwas dachte... und es war nichts Positives. Semir, der feine Antennen für so etwas hatte, auch in Streßsituationen, sah zu ihm rüber. "Willst du sagen, warum du nervös warst?"
    Der blonde Polizist schluckte kurz und räusperte sich. "Ich bin dort aufgewachsen." Ben schaute etwas überrascht. Dass es Polizisten gab, die ihn absoluten Problemvierteln aufgewachsen waren, war nichts ungewöhnliches... aber zumindest im jungen Alter hing ihnen etwas nach. Man konnte oft merken, wo sie herkamen, wie es beispielsweise bei Kevin unverkennbar war. Aber Timo hatten sie, was das angeht, völlig anders eingeschätzt. Wenn sie gefragt worden wären, sie sollten mutmaßen, hätten sie wohl vermutet, er käme aus einer guten Familie mit Eigenheim, die Mutter Hausfrau, der Vater einen gutverdienenden Job. Klischees, die im Kopf oft vorherrschten, ohne dass man etwas dagegen tun konnte.


    Timo bemerkte die kurze, überraschte Reaktion und lächelte. "Ihr könnt euch vorstellen, dass ich unter den Kindern und Jugendlichen, die dort leben, eher ein Aussenseiter war.", sprach er den Punkt unumwunden an. "Und das war nicht immer leicht." Ben und Semir nickten... und doch spürte der Ältere der beiden, dass das nicht alles war. Auf solch eine Vergangenheit, eine schwere Jugend, konnte man traurig zurückblicken, wenn man sie nicht überwunden hat. Aber das hatte Timo, er hatte eine gute Ausbildung, einen guten Beruf und war offen und freundlich, so dass man ihm seine Herkunft niemals anmerken würde. Seine Lippen zitterten, die Stimme ebenfalls, denn das Thermometer fiel jetzt um den Nullpunkt. "Das ist nicht alles, oder?", sagte Semir leise.
    "Ein Junge im Block war wie ich. Wir hatten nichts daran, mit 8 schon zu rauchen oder andere Jungs zu verprügeln. Wir sind Fahrrad gefahren, und haben Fussball gespielt und uns von den anderen Kids ferngehalten. Er war der beste Freund, den man sich vorstellen konnte." Die Stimmlage in der er sprach war konträr zum positiven Inhalt, so dass es Ben für einen Moment die Kehle zuschnürte. "Warum konnte...?", fragte er möglichst einfühlsam, und die Kälte im Raum schien in diesem Moment brutaler, als sie eigentlich war.


    "In dem Block gab es viele Drogenabhängige... aber was wussten wir mit 9 oder 10 Jahren von Junkies und der Gefahr. Wir hatten am Bolzplatz nur die Spritzen gefunden und damit rumgespielt.", erzählte Timo mit trauriger Stimme, und einen der beiden Polizisten anzusehen. Er blickte zu Boden, als hätte diesen mit Spickzetteln ausgelegt. "Ich weiß gar nicht mehr wie es passiert war... ich hatte die Spritze in der Hand... wir haben zum Spaß gerauft... und dann hatte Anders sie im Arm stecken. Er hatte nur "Aua" gerufen, ich habe sie vor Schreck rausgezogen... und wir haben weitergespielt." Semir konnte schon fast ahnen was passiert war. "Er hatte sich mit etwas angesteckt?" Der junge Polizist aber schüttelte den Kopf.
    "Angesteckt nicht. Aber am nächsten Tag ging er nicht mit zur Schule. Er sei krank... Grippe oder sowas. Einen Tag später musste er ins Krankenhaus... und nochmal einen Tag später war er an einer Blutvergiftung gestorben." Die beiden älteren Polizisten wagten es nicht, zu atmen... und sie konnten sich vorstellen, wie groß die Schuldgefühle bei dem jungen Mann sein mussten. "Seine Eltern hatten mich nicht mal mehr zu ihm gelassen, als er im Krankenhaus war. Sie hatten mir die Schuld an seinem Tod gegeben.", sagte er kaum hörbar gegen die Kälte...

    Autorenfreiheit, Autorenfantasie... Akzeptiert :thumbup:

    Allerdings komme ich nicht umhin dich bzgl meiner FF zu korrigieren... Dort wird von der Internen oder der Chefin niemals entschieden, dass ein drogenabhängiger Polizist im Dienst bleiben darf.

    Schätze du spielst auf die Entscheidung nach "Lebenslänglich" an. Zu dem Zeitpunkt der Entscheidung der Internen ist besagter Charakter clean und gesteht lediglich eine nach StgB verjährte kriminelle Vergangenheit.

    Dass er vorher (Auferstanden) und danach (Komakinder) nochmal Drogen konsumiert passiert heimlich ohne Wissen offizieller Stellen. Und dass es abhängige Polizisten gibt, von denen Vorgesetzte nichts wissen, würde ich nicht ausschliessen.

    Nur zur Erklärung, dass es da nicht zu Missverständnissen kommt. ;)

    Ich find den Begriff "Obergeisel" irgendwie komisch... unglücklich gewählt. Klingt nach ner Amtsbezeichnung, Oberkommissar, Oberbürgermeister... das beißt sich in einem, wie ich meine, recht okayen Kapitel.

    Aber eine Frage hätte ich da noch, weil ich hab mich erkundigt und nix gefunden: In welchem Gesetz oder in welchen Vorschriften steht denn, dass bei Geiselnahmen, falls man sich entscheidet zu zahlen, für Polizisten nichts gezahlt wird? Dass würde mich interessieren? Muss man da bei jeder Geiselnahme vorher die Berufe der Geiseln ermitteln? Oder muss der Polizist dazu im Dienst sein?

    Ich fände es ziemlich diskriminierend, wenn Polizisten bei Geiselnahmen der Bundesbank, oder wer auch immer erpresst wird, nichts wert ist. Vielleicht kannst du das erläutern.

    Schlachterei - 9:15 Uhr


    Sind die wirklich so blöd, wie sie aussehen? Unterschätzten sie Patrick und Kevin? Scheinbar schon... den die drei Polizisten hatten weder ihre Waffe gezückt, als sie durch die Gänge schlichen, noch hatten sie sich wenigstens hin und wieder mal umgesehn. Aber welche Veranlassung gab es, vorsichtig zu sein? Kevin war ihr Partner... dachten sie jedenfalls. Und ob der kleine blonde Polizist Patrick als geführten Straftäter aus den Akten kannte, wusste derjenige selbst nicht. "Wir sperren sie in den Kühlraum.", raunte der Verbrecher Kevin zu, während sie in gesicherter Deckung saßen. "Du bleibst hier." "Warum soll ich hier bleiben?", flüsterte der junge Polizist. "Weil es besser für dich ist. Ich hab momentan nichts auf dem Kerbholz... bei dir bin ich mir nicht sicher."
    Kevin blickte mit Unverständnis zu seinem scheinbaren Freund, der leise und kurz erklärte: "Weißt du, ob du momentan gesucht wirst? Ob die drei vielleicht hinter dir her sind?" Natürlich wusste Kevin das nicht. Kevin konnte sich an die letzten Jahre seines Lebens nicht erinnern und sein Kopf hämmerte jedes Mal, wenn er versuchte, ein paar Puzzlestücke zusammen zu setzen. "Nein, weiß ich nicht." "Also. Dann ist es besser, wenn sie dich auf keinen Fall sehen. Also bleib hier."


    Patrick hatte drauf geachtet, dass sie sich weit genug von den drei Polizisten versteckten. Er hatte die Befürchtung, dass Kevins Erinnerung einsetzen würde, wenn er Ben oder Semir sah, vielleicht erkennen würde. Aber früher oder später, damit sein Plan funktionierte, musste er den jungen Polizisten mit den alten Kollegen konfrontieren. Um seine Verschwörung, sein Komplott wirksam zu machen und Kevin in die Enge zu zwängen, müsse er das Risiko eingehen... aber noch nicht jetzt. Erst musste er Kevins Erinnerungsfäden zu einer eigenen Geschichte spinnen, die der junge Mann glaubte. Mit dem Wissen über Kevins Jugend und dem Wissen einiger Dinge aus seiner Gegenwart, könne er ihm die perfekte Verbrecherkarriere zeichnen, die ein Mann, der nur noch Erinnerungsfetzen ohne jeden Bezug im Kopf hatte, sofort glauben würde... weil er sie glauben wollte, um endlich wieder etwas zu wissen.
    Der Verbrecher schlich sich alleine an die drei Polizisten, trat dem jungen Timo in den Rücken und hatte blitzschnell die Tür des Kühlraums verschlossen. An einem Schaltkasten neben der Tür stellte er die Kühlung au fdie kälteste Stufe ein und grinste selbstsicher, bevor er zu Kevin zurückkehrte. "Wieviele sind da noch dazu gekommen?" "Nur zwei. Lass uns gehen." "Und wie sollen die jetzt wieder rauskommen? Willst du sie erfrieren lassen?", fragte Kevin und sein Inneres schien zwiegespalten... die letzte Erinnerung die er an Beziehungen zu Polizisten hatte, war durchweg negativ aber irgendetwas... irgendein Gefühl in ihm, das er nicht näher definieren konnte, hielt die Skrupellosigkeit von ihm fern. "Glaubst du, dass hier irgendeine Kühlung noch funktioniert? Die werden Verstärkung rufen und in einer Stunde wieder draussen sein. Und bis dahin haben wir uns wieder verkrümelt." Als sie das Gebäude verließen, stieß Patrick seinen Freund an. "Ausserdem warst du doch früher auch nicht so zimperlich zu den Bullen."


    Während sie nun zu Fuß den Weg weiter bestritten, wurde Kevins Kopf von einer Bilderflut heimgesucht. "... nicht so zimperlich zu den Bullen...", klang in seinen Ohren nach, und er versuchte sich erneut zu erinnern. Begegnungen mit Polizisten kamen ihm in den Kopf, Aufeinandertreffen bei Demonstrationen. Kevin mit einem Pflasterstein in der Hand, den er wirft und einen der uniformierten Männer am Kopf trifft, der blutend zu Boden sinkt. Kevin, wie er von einem vermummten Polizisten mit Schild, Helm und Schlagstock zu Boden geknüppelt wird. Kevin, der auf einer Polizeidienststelle niedergeschlagen wird. All diese Bilder fluteten seinen Kopf, er spürte den Hass, den er als Jugendlicher auf die Polizei hatte, nur konnte er nicht alle Ereignisse, nicht alle Bilder zuordnen.
    Er spürte, dass ihn irgendetwas zurückhielt in das damalige Denkmuster zu verfallen, aber er kam nicht darauf, was es war, das ihn zurückhielt. Doch präsent war der Gedanke, dass er nicht auf der Seite der Polizei stand. War er kriminell geworden, nachdem er in das Loch aus Drogen und Alkohol nach Janines Tod fiel, und wo seine Erinnerungskette endete? Er erinnerte sich an Einbrüche, an Körperverletzung... aber das war doch, verdammt nochmal, als Janine noch lebte. Oder verwechselte er das in seinen Gedanken? Konnte er sich denn sicher sein, nichts durcheinander zu werfen?


    Seine Beine knickten ein und Kevin musste sich für einen Moment an der Hauswand festhalten, wobei er sich mit der Hand stöhnend an die Schläfe fuhr. "Kevin? Ist alles in Ordnung? Brauchst du was?", fragte Patrick, der bemerkte dass sein Freund neben ihm offenbar Schmerzen hatte. "Nein nein... es sind nur Kopfschmerzen. Wahrscheinlich diese komische Verletzung.", wiegelte er mit seiner manchmal gelangweilt wirkenden Stimme ab. Er fuhr sich, laut ausatmend, durch die abstehenden Haare, von denen ihm ein paar ins Gesicht hingen, weil er sie länger trug als früher. "Ich kriege die Bilder nicht aus dem Kopf, als könne ich mich erinnern, und weiß doch nichts." Er schüttelte den Kopf und ging weiter, doch Patrick bugsierte ihn für einen Moment auf eine Parkbank. "Warte..."
    Für zwei Minuten war der Mann in einer Bäckerei verschwunden und kam mit zwei Flaschen Cola wieder. "Hier, bisschen Zucker schadet nicht. Bleiben wir für einen Moment hier sitzen." Der junge Polizist nickte dankbar, rieb sich mit den Fingern über die Stirn und nahm einen kräftigen Schluck des koffeinhaltigen Zuckerwassers. "Was sind das für Bilder? Was siehst du?", fragte Patrick dann kurz. "Aufeinandertreffen mit der Polizei... allesamt negativ. Aber... irgendwie... ich weiß nicht. Dieser pure Hass, an den ich mich erinnere... ist irgendwie nicht da. Aber ich kann nicht sagen, warum er nicht da ist, weil ich nicht weiß, was zwischen diesen ganzen Dingen geschehen ist.", versuchte Kevin seine Gedankenwelt zu erklären.


    Nach einer kurzen Pause holte er weiter aus. Dabei sah er nach vorne zur Straße, ohne Patrick neben sich anzublicken. "Es ist, als hätte ich im Kopf vier Schubladen. Situationen, Namen, Bilder und Wesenszüge. Aber ich kann nichts zueinander ordnen. Ich erinnere mich an eine Situation, weiß aber nicht, in welchem Verhältnis sie steht. Ich erinnere mich an einen Namen, habe aber kein Bild und keinen Wesenszug. Ich erinnere mich an ein Bild, kenne aber die Person auf diesem Bild nicht. Oder ich erinnere mich an einen Wesenszug... an einen guten Freund... an einen Menschen, der mir Leid zufügen will oder mich liebt... aber dazu habe ich dann kein Bild und keinen Namen." Er klang beinahe verzweifelt als er sprach, und für Kevin war es, seit Janines Tod, völlig untypisch seine Seelenwelt so offen zu legen. Aber auch dieser Charakterzug wurde ihm nur teilweise bewusst, als er stockend erzählte und etwas in ihm ihn daran hindern wollte, weiter zu reden.
    "Es ist, als hätte jemand all diese Schubladen geleert und auf einen Haufen geworfen, und alle Verbindungen zwischen diesen Dingen weggeschnitten. Die Jahre hab ich nicht vergessen, es ist kein schwarzes Loch da." Jetzt erst sah Kevin zu Patrick herüber, der ein perfekt mitfühlenden Gesichtsausdruck über sein hämisches Grinsen legte. "Ich habe nichts vergessen... ich kann mich nur nicht erinnern."

    Hamburg - 9:10 Uhr


    Man konnte meinen, Ben und Semir seien Verkehrsrowdys. Sie hielten sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung, überholten gefahrlos, soweit es ging, mitten in der Innenstadt und legten die Grünphasen der Ampel sehr großzügig aus. Allerdings hatten sie kein Blaulicht an, um nicht sofort den Männern aufzufallen, falls sie noch auf der Straße waren. Beide Polizisten waren nervös, denn die Nachricht, dass Timo angeblich den totgeglaubten Kevin gesehen hatte, löste in beiden eine Flut von Bildern und Gefühlen aus. Die Trauer kam zurück, die Hoffnung, die schon längst gestorben war. Aber auch Unbehagen, warum sich ihr Partner scheinbar mit einem Fremden in Hamburg sehen lässt, nachdem von dort gerade Jenny verschwunden war. Denn wenn er mit Hilfe eines Fremden auf der Suche nach ihr war, warum hatte er sich nicht bei Semir und Ben gemeldet?
    Genau dieser Umstand war es, der die beiden Männer zweifeln ließ, ob sich Timo nicht vielleicht doch geirrt hatte. Wie lange hatte er das Bild in Jennys Wohnung gesehen? Ein paar Minuten, vielleicht Sekunden? Und ausserdem war es schon über einen Tag her, er hatte dazwischen geschlafen, eine Verfolgungsjagd erlebt und vermutlich den Anschiss seines Lebens kassiert. Da konnte man auch mal auf Ideen kommen, dass ein Mann mit blauen Augen und einer etwas zerschossenen Frisur so aussieht, wie der Freund der Kollegin auf dem Foto.


    Semir schien sich mit dieser Erklärung beruhigen zu wollen, in dem er mehrmals sagte: "Das kann nicht sein. Timo hat sich geirrt." Ben wollte das nicht wahrhaben, zu groß die Hoffnung dass sein Freund noch lebte und Juan sich geirrt hatte. "Timo? Wo seid ihr jetzt?", fragte Semir, als er nach mehreren Versuchen eine Handyverbindung herstellen konnte. "Sie sind gerade in ein Gebäude gegangen. Das ist die alte Schlachterei am Schanzenviertel. Dort ist ein Fleischgroßmarkt, und hinten dran der alte Schlachthof." Er nannte noch eine Adresse, die Ben schnell in sein Navi eintippte. "Glaubst du, sie haben dich bemerkt?" "Nein, ich denke nicht. Ich gehe auch rein." "Nichts da!!!", sagte Semir sofort und energisch. "Du wartest, bis wir da sind. Wir sind in 5 Minuten da!" "Aber...", wollte Timo sich rechtfertigen, doch Semir kam ihm, in Vorgesetzten-Manier zuvor: "Du wartest!"
    Der erfahrene Polizist machte sich Sorgen um den Jungen. Er war noch unerfahren und vor allem scheinbar in solchen Einsätzen noch nicht oft gewesen, wie er gestern abend festgestellt hatte. Er konnte ihn nicht einfach alleine da rein gehen lassen, weil die beiden überhaupt nicht einschätzen konnten, was die Männer vor hatten, und wer es überhaupt war. Auch wenn es keinen Hinweis darauf gab, dass etwas gefährlich sein könnte... Semir hatte ein Gefühl. Und sein Gefühl ließ ihn selten im Stich.


    Eigentlich waren es die beiden Polizisten der Autobahnpolizei gewöhnt, solche Order, wie Semir sie gerade ausgegeben hatte, in den Wind zu schlagen, wenn sie sie bekamen. Timo war nicht aus dem Holz geschnitzt, und erleichtert sah der kleine Türke dass der blonde Junge ungeduldig an einer Art Scheuneneingang des roten Backsteingebäudes wartete. Mit quietschenden Reifen hielt Ben den Mercedes am Bordstein an und beide Männer sprangen aus dem Fahrzeug. "Da sind sie rein?", fragte Ben ohne Begrüßung und Timo nickte schnell. "Na dann mal los."
    Die Waffen zogen sie noch nicht... aber langsam und beinahe lautlos bewegten sie sich durch die Gänge der ehemaligen Schlachterei. Vorne im Geschäftsgebäude brummte es, aber nach hinten des alten Gebäudes lag Stille in der ehemaligen Rinderschlachterei. Einige alte Gerätschaften, verrostete Haken, an denen früher Fleischteile aufgehängt wurden, hingen noch an Stangen oder lange verstreut auf dem Boden herum. Wie bei allen verlassenen Gebäuden gab es hier vereinzelte Fälle von Vandalismus und Graffitis. "Könnte man Jenny hier versteckt halten?", fragte Timo flüsternd. "Ich weiß nicht... hier sind so viele Leute vorne in dem Gebäudeteil. Wenn es hier vielleicht einen Keller gibt, dann... vielleicht.", antwortete Ben ebenso leise, der in der Mitte der drei Männer ging.


    "Sollen wir uns aufteilen?", fragte er nach vorne zu seinem Partner. "Nein. Das ist mir zu gefährlich. Wir wissen gar nicht was hier los ist... wir bleiben zusammen." Sie lugten in jede Ecke, durchquerten fast den kompletten Schlachthof. Eine weiße Tür öffnete sich zu ihrer linken, mit einem großen Hebel am Inneren und Äusseren der Tür. Ein leises, gleichmäßiges Geräusch ging von diesem fensterlosen und pechschwarzen Raum aus. Die ganze Schlachterei war nicht besonders gut vom Sonnenlicht beleuchtet und eher schummrig, aber hier kam ihnen die Öffnung wie ein gähnender Schlund vor. "Was ist das?", fragte Timo. "Sieht wie eine Voratskammer aus...", flüsterte Ben zurück, während Semir einen Schritt hinein machte, das Handy mit leuchtender LED in der Hand.
    Auf einmal spürten sie einen Ruck... der Ruck kam von hinten und äusserte sich in einem festen Tritt gegen Timos Rücken, der somit auf Ben und Semir stolperte und alle drei auf den kalten Fliesenboden schlagen ließ. Er kam so unvermittelt und plötzlich, dass keiner der Männer schnellen Halt fand oder kontrolliert fallen konnte. Und noch bevor sich die drei berappelt hatten, umgedreht oder aufgestanden waren, fiel die schwere Tür knallend ins Schloß.


    "Hey! Aufmachen!!", rief Semir noch, der als erstes auf den Beinen war und zur Tür rannte, was nur zwei Schritte waren, doch von aussen hörte man bereits das Geräusch eines schließenden Riegels. Die Kammer konnte scheinbar nur von aussen versperrt werden, und der Polizist zog und zerrte an dem Hebel. "Mach Licht!! Mach LICHT!!!", hörte er die fast panische Stimme seines Partners, denn mit einem Mal war es in dem Raum stockdunkel und Ben konnte nicht mehr erkennen, wie groß oder geräumig dieser Raum war. Es schien, als würde jemand ihm die Luft abdrücken und seine Phobie, seine Platzangst setzte voll ein. Schnell suchte Semir die Wand neben der Tür mit der LED ab und konnte tatsächlich einen Lichtschalter sehen, den er schnell drückte.
    Klirrend sprangen ein paar grelle Neonröhren an der Decke an, und nun war es Semir, dem es unbehaglich wurde. Diese Kammer hatte Ähnlichkeit mit der umgebauten Gaskammer in der Germania, in die er vor Monaten von Neo-Nazis gesperrt wurde. Diesmal allerdings handelte es sich um einen Kühlraum, der leer war. Weiß gekachelt, mit einigen alten Haken und einem großen Generator an der Decke, der just in diesem Moment ansprang. Die drei Polizisten wussten, was das bedeutete... die Temperatur würde hier drin sehr schnell sinken...

    Sieh dir mal die Kommentare auf Facebook an. Da wird einem schlecht.

    Mir wird schon schlecht genug, wenn ich als "Meinung" zu einer Story lese, dass es den verunfallte Polizisten Recht geschieht, dass sie verunfallten, weil sie Semirs Verfolgungsjagd unterbrochen haben. Ähnliches liest man nämlich auch auf Facebook... da sieht man, was für den 0815-RTL-Gucker wichtig ist bei so einer Folge.

    Hamburg - 8:45 Uhr


    Bevor Patrick mit Kevin das Haus in Hamburg verließ, um mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrem Ziel zu fahren, musste er telefonieren. Dazu schloß er sich in einen kleinen Nebenraum im Keller ein, noch bevor Kevin auf der Couch von seinem Drogentrip erwachte, denn er gestern abend begonnen hatte, und dessen Nachwirkungen sich bis tief in die Nacht zogen. Der Nebenraum war aber in dem großen Haus auch weit genug weg von Jennys Verlies, so dass der Verbrecher zwar leise, aber ungestört reden konnte. "Du hast WAS gemacht?", klang die Stimme seines besten Freundes durch das Handy, laut und ungläubig. Carsten fiel aus allen Wolken, als Patrick ihm erzählte, was gestern vorgefallen war und in welchem Zustand das Objekt ihrer Begierde war.
    "Damit ich das jetzt richtig verstehen... der Typ pennt jetzt bei dir auf der Couch, quasi ein Stockwerk über seiner Freundin und kann sich an nichts erinnern? An gar nichts? Bist du eigentlich wahnsinnig? Weißt du, wie gefährlich das ist?", polterte Carsten in den Hörer und Patrick verdrehte genervt die Augen. "Mann, jetzt krieg dich doch mal wieder ein. Kevin hat nen kompletten Blackout. Da ist nichts mehr da von den letzten Jahren. Er weiß nicht, wer seine Schwester gekillt hat, er sieht mich als Freund, weil er sich an mich erinnern kann. Besser kann es gar nicht laufen."


    "Und wenn er sich doch an etwas erinnert? Wenn plötzlich der Groschen fällt, und er einen seiner Kollegen, seine Freundin oder... oder was weiß ich wen erkennt?" Carsten war zunächst nicht zu beruhigen. "Seine Freundin wird er zunächst mal nicht zu Gesicht bekommen. Und wir müssen seine Erinnerung jetzt so lenken, wie wir es brauchen." Der Verbrecher konnte hören, wie sein bester Freund sich am Kinn kratzte. "Ich ahne, was du vor hast. Du willst ihm Storys auftischen... die ihn nachher als was genau da stehen lassen?" Patrick wollte noch nicht alles verraten. "Das sehen wir dann. Jedenfalls brauchen wir jetzt einen weiteren Schritt... seine Zeit, die er verbracht hat. Und da kommst du ins Spiel."
    "Ich? Aber mich kennt er gar nicht." Patrick fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. "Braucht er doch auch nicht. Wenn wir nur einen Fetzen seiner Erinnerung treffen, wird er sich beeinflussen lassen? Er hat die totale Leere und wird nach jedem Strohhalm der Erinnerung schnappen. Wenn er sich gar nicht erinnern kann, dann ist es halt so. Es kann uns nichts passieren, glaub mir." Und skeptisches Grummeln war Carstens Antwort. "Und selbst wenn... wenn etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, dass er sich erinnert oder irgendwas... dann können wir immer noch kurzen Prozess machen." Diese Aussicht stimmte den Gesprächspartner zwar nicht milde, aber er lenkte ein.


    Mit kurzen Worten erklärte Patrick seinem besten Freund den Plan, bis er über ihm die Dusche hörte. Kevin war scheinbar wach, also beendete er das Gespräch nach kurzer Verabschiedung, die sich bei Carsten eher nach "du Wahnsinniger..." anhörte. Als der junge Polizist mit Gedächtnisverlust aus dem Bad kam, standen seine Haare wie früher in alle Richtungen und er zog sich eins von Patricks Oberteilen über den Kopf. "Blöd, wenn man nicht weiß, wo man seine Klamotten gelassen hat, hmm?", versuchte der damalige Gangfreund lustig zu sein, Kevin quittierte es allerdings nur mit einem sarkastischen Grinsen und Nicken. Sein Kopf dröhnte, und ihm war nicht nach Scherzen zu Mute nach einer Nacht auf Trip, vielen Bildern im Kopf die noch mehr Fragen hinterließen als Antworten brachten.
    "Ich hab etwas, was dich aufheitert. Ich hab mal ein bisschen rumtelefoniert zu den alten Kontakten, die ich noch habe. Und Carsten sagte, er hätte in den letzten paar Jahren mit dir gearbeitet.", erklärte Patrick und schenkte Kevin, der sich langsam an den Küchentisch setzte eine Tasse Kaffee aus. "Gearbeitet?", fragte er ahnungslos und sofort begann sein Kopf wieder zu denken. "Ja... also... naja, wie soll ich das jetzt sagen. So wie früher." Der junge Polizist zog die Augenbrauen nach oben. "Brüche gedreht?" "Unter anderem." Kevin stöhnte auf und ließ den Kopf nach hinten fallen, und sein Hirn gaukelte ihm plötzlich Erinnerungen vor. Erinnerungen, die tatsächlich da waren, in seinem Kopf jedoch ohne Zeitangabe. Denn die Brüche hatte er wirklich gedreht... als Jugendlicher mit der Gang, und er vermischte es mit dem Chaos in seinem Kopf, dem Chaos in den Erinnerungen der letzten Jahre.


    "Er will sich mit uns treffen, dann reden wir. Vielleicht kann er dir mit der Erinnerung auf die Sprünge helfen." Die Aussicht darauf, endlich ein wenig Licht ins Dunkel von Kevins Gedächtnis zu bringen, ließ die Müdigkeit verschwinden. Der Kaffee verschwand in Rekordgeschwindigkeit und innerhalb weniger Minuten standen die beiden Männer an der Bushaltestelle. "In Hamburg kommt man mit den Öffentlichen besser voran, vor allem um die Uhrzeit.", erklärte Patrick. Diesmal waren Erinnerungen sofort da... an Busfahrten, meistens schwarz, als Kevin jung war. Vom einen Viertel ins andere, von einem Dealer zur anderen Kneipe. Er begegnete Leuten im Kopf, deren Namen er nicht wusste und deren Geschichte er nicht kannte.
    Während sie im Bus standen fiel Kevin irgendwann auf, dass ein junger Mann, der ein gutes Stück weit von ihnen auf einem der Sitzplätze saß, ihn ansah. Im ersten Moment interessierte er sich nicht für den blonden Mann, doch er sah aus dem Augenwinkel, dass das Interesse nicht abklung. Unauffällig murmelte er in Patricks Richtung. "Kennst du den Typen da hinten? Den Blonden?" Während der junge Polizist sich wegdrehte, damit es nicht auffiel dass beide zu Timo sahen, riskierte nun Patrick einen Blick. "Ach du Kacke...", war die eindeutige Antwort auf Kevins Frage.


    Natürlich kannte Patrick den blonden Jungen. Zu lange hatte er Jenny in den letzten Wochen hier in Hamburg beschattet und beobachtet, als dass ihm Timo entgangen wäre. Persönlich hatte er mit dem Jungen noch nie zu tun, aber das würde sich jetzt scheinbar ändern, wobei er sich wunderte, warum er auffallendes Interesse an Kevin hatte. Scheinbar war bei diesem Timo auch persönliches Interesse am Verschwinden von Jenny im Spiel... und wer weiß, was die Polizistin über ihren vorherigen Freund erzählt hatte. Verdammt. "Wer ist das?", wurde er von Kevins leiser Stimme wieder aus den Gedanken gerissen. "Das ist ein Bulle.", war seine Antwort und beide drehten sich endgültig von Timo weg, um Desinteresse zu zeigen.
    "Und was will der von dir?" "Von mir? Dich beobachtet er." "Okay... was will er von MIR?" Patrick schüttelte den Kopf: "Woher soll ich das wissen. Komm, wir steigen hier aus... wir müssen den Typ kaltstellen." Kevin verzog für einen Moment keine Miene... das letzte Verhältnis zur Polizei, an das er sich klar erinnern konnte, waren Strassenschlachten, Gewalt und eine Mordkommission, die ihn eingesperrt hatte als Tatverdächtigen, nachdem er aus dem Krankenhaus nach dem Attentat auf seine Schwester entlassen wurde. Skrupel hatte er nicht, aber sein Verstand setzte ein. "Ich glaube, es ist nicht so gut, wenn wir uns jetzt Ärger mit der Polizei aufladen." "Nach dem, was Carsten mir erzählt hat, ist die Befürchtung zu spät... und jetzt komm!" Die beiden Männer stiegen aus dem Bus aus, während Timo ihnen mit Abstand folgte...