Beiträge von Campino

    Köln - 15:10 Uhr


    Eine Heimat, festen Wohnsitz, das Gefühl nach Hause zu kommen. Ben konnte nachfühlen, dass Kevin dieses Gefühl lange nicht hatte als sie vor dem Altbauhaus am Kölner Stadtrand ausstiegen. Als sie den jungen Polizisten kennengelernt hatten, wohnte er in einem heruntergekommenen Wohnsilo, für sich isoliert. Es war ein schreckliches Gefühl zum ersten Mal seine Wohnung zu betreten. Sie war vermutlich die sauberste im ganzen Block, Kevin lebte nicht im Mief, aber die Atmosphäre drum herum war einfach nur bedrückend. Danach zog er zu seiner Ziehmutter Kalle. Sie war ein Transvestit-Künstler rund um die Uhr, zog ihn auf weil sie Kevins Vater, der sich nicht um den Jungen kümmerte, aus dem Rotlichtbezirk kannte. Auch seine Schwester nahm sie bei sich auf.
    Kalle war aber weder Mama noch Papa... sie war keine Bezugsperson, sondern Ansprechpartnerin. Sie bot den beiden Kindern das bisschen Liebe, was zum Leben nötig war und eine raue Herzlichkeit, die sie nie abgelegt hatte. Dass Kevin auf die schiefe Bahn geriet, konnte auch sie nicht verhindern... sie sah es als "vorprogrammiert" an, bei seinem Hintergrund.
    Als Kevin mit Jenny zusammen kam, zog er aus und zu der jungen Polizisten. Zum ersten Mal fühlte er sich richtig zu Hause, wenn er von der Arbeit heimkam. Zum ersten Mal Dazugehörigkeit, Wärme und Geborgenheit. Er setzte es aufs Spiel und verlor. Nach seiner Rückkehr aus Kolumbien kam er wieder bei Kalle unter.


    "Mal hier, mal dort... das ist für einen Menschen auch nicht gut.", murmelte Ben mehr für sich, als sie vor dem Haus ausstiegen und den Klingelknopf drückten. "Er hat sich das selbst ausgesucht." Semirs Antwort klang in Bens Ohren ungewohnt kaltherzig, und er stellte mit Erschrecken fest, dass er das Gleiche gedacht hatte. Als müsse er sein eigenes Gewissen beruhigen fragte er schnippisch: "Hat er das?" Der junge Polizist spürte bei seinem erfahrenen Partner die Unsicherheit und Dünnhäutigkeit. Die Anrufversuche hatte er mittlerweile aufgegeben und je mehr Zeit verstrich ohne dass sein Handy klingelte und sich Ayda endlich meldete, desto mehr wurde die Befürchtung greifbar, es sei etwas Schlimmes passiert.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis die mächtige Erscheinung von Kalle an der Tür auftauchte und misstrauisch auf die beiden Beamten sah. Polizisten gehörten nicht zu ihrer Lieblingsspezies und ausser Kevin (der in ihren Augen nie ein richtiger Polizist war, eher ein Verfechter für Gerechtigkeit) hatte sie noch keinen sympathischen Polizisten kennengelernt. Auch sah sie manche Erzählung von Kevin über Ben und Semir kritischer, als sie die lobenden Worte ihres Ziehsohns auf der Plusseite verbuchte.


    "Ja?", fragte sie schnippisch. "Ist Kevin zu Hause?" Semir sah ernsthaft drein und hielt es nicht für nötig, seinen Ausweis zu zeigen. Erstens kannte Kalle die beiden Polizisten und zweitens konnte die Nachfrage auch rein privater Natur sein. "Nein, der arbeitet. Das müsstet ihr doch wissen." "Er ist übers Handy nicht erreichbar. Hat er gesagt, dass er noch irgendetwas erledigen will?" Ben und Semir spürten die Ablehnung in Kalles Gestik und Mimik. Scheinbar hatte Kevin von den letzten Vorkommnissen mit den beiden Polizisten und ihr gestörtes Verhältnis untereinander erzählt, und die Ziehmutter hatte klar Stellung bezogen. "Wenn ihr das hättet erfahren sollen, hätte er es euch erzählt."
    Mit diesem Satz wollte sie eigentlich die Tür schließen, aber Semir stellte seinen Schuh zwischen Rahmen und Tür. "Was soll das?", zischte Kalle. "Hören sie! Er sollte meine Tochter von der Schule abholen, und nun sind beide spurlos verschwunden. Wir haben die Vermutung, dass Kevin...", Semir stockte. Er wollte es schon wieder sagen. Er wollte Kevin schon wieder vorverurteilen, wie er es eben bei Hartmut gemacht hatte. "Wir haben die Befürchtung dass beiden etwas passiert sein könnte.", kam sein Partner ihm zur Hilfe.


    Kalle sah abwechselnd von einem zu dem anderen Kollegen. "Ihr glaubt, er hat der Kleinen was angetan?" Es war eine Mischung aus Fassungslosigkeit in ihren Augen und Arroganz in der Stimme. Semirs Mund war staubtrocken und seine Gedanken in seinem Kopf liessen mögliche Antwortmöglichkeiten durcheinander purzeln. "Wir glauben gar nichts.", stellte Ben klar. "Wir suchen ihn, weil wir uns Sorgen um ihn machen. Und vor allem um Ayda. Also helfen sie uns, wenn sie etwas wissen."
    Kalle bewegte die Lippen, als würde sie etwas kauen. Sie sah auf den Boden und dachte nach, für die beiden Polizisten war dieses Schweigen schwer zu ertragen. Denn es schien fast, als sei es ein Schuldeingeständnis. "Wo hat er sich versteckt?", rutschte es Ben raus, und diesmal verurteilte er Kevin vor. "Er hat sich nirgends versteckt!", fauchte Kalle. "Er hat schon Recht, wenn er euch nicht vertraut, und nicht erzählt wo er zur Mittagspause war. Sein ganzes Leben lang wurde er von seinen sogenannten Kollegen..." sie spuckte das Wort fast schon verächtlich aus... "... als Krimineller gebrandtmarkt. Nicht als einer von ihnen. Der Junge, der von der Straße kam und in den Polizeidienst wollte. Zuhälter-Vater, Ziehmutter aus dem Gewerbe... pah. Dabei wart ihr die Ersten, über die er auch mal gut gesprochen hatte."


    Kalles Worte drangen vor allem in Bens Seele ein, und die beiden Polizisten standen recht hilflos an der Tür. Aber Kalle verstand immerhin eines: Semir machte sich ernsthaft Sorgen um seine Tochter, und das erweichte ihr Herz. Sie war sich ganz sicher, dass Kevin ihr nichts angetan hatte... und dass es eine Erklärung für das Verschwinden geben musste. "Er wollte in der Mittagspause zu Jerry. Mehr weiß ich nicht. Und jetzt lassen sie mich zufrieden.", sagte sie missmutig und zog nun endgültig die Tür zu, nachdem Semir den Fuß aus der Tür genommen hatte.
    Beide Polizisten gingen niedergeschlagen zu ihrem Dienstwagen. Es fühlte sich beschissen an, dachte Ben... wenn man so den Spiegel vorgehalten bekommt. Sie dachten wie die Kollegen von Kevin, über die er sich immer beklagt hatte, in seinen alten Abteilungen. Vorurteile gegenüber seiner Vergangenheit. Einmal Krimineller, immer Krimineller. Semir dachte in diesem Moment, als er leise zu Ben sagte: "Das ist ein Alptraum...", vor allem an seine Tochter Ayda...

    Köln - 14:45 Uhr


    Hartmut war sprachlos. Man konnte für einen Moment seinen Atem am Telefon hören, als Semir diesen Satz sagte. Und es dauerte sicher einige Sekunden bis das Superhirn die Sprache wiederfand. "Semir, weißt du eigentlich, was du da gerade gesagt hast? Glaubst du das nur, oder weißt du das?" Auch er konnte Semirs Verzweiflung, Semirs Zweifel in seiner Stimme deutlich raushören. "Ich... ich weiß nur, dass er meine Tochter von der Schule abholen sollte. Und dass meine Tochter jetzt eben nicht zu Hause ist, sowohl sie als auch Kevin das Handy ausgeschaltet haben und momentan nirgends auffindbar sind. Es gibt keinen Stau in der Umgebung und wenn sie mit dem Auto liegen geblieben wären, hätte Kevin uns doch angerufen."
    "Aber warum sollte er das tun?" Semir erklärte in kurzen Sätzen die Überlegungen, die die beiden Kommissare hatten, als sie zusammen im Wohnzimmer saßen und Theorien über die Beweggründe spannen. "Wenn er euch damit erpressen wollte, hätte er sich doch längst gemeldet, oder? Ausserdem... Kevin ist ein Einzelgänger. Zur Not würde er den Mörder seiner Schwester alleine suchen, der würde niemals deine Kinder miteinspannen." Hartmut stand Kevin völlig neutral gegenüber. Natürlich hatte er auch eine emotionale Bindung zur Familie Gerkhan, aber nicht so eng wie zum Beispiel Ben... und deshalb eine weitaus distanziertere Sicht auf die Dinge.


    Und es war gut, eine solche Stimme zu hören. "Meinst du wirklich?", fragte Semir und seine Zweifel an der eigenen Theorie begannen stärker zu werden. "Ganz sicher... Semir, egal was da los ist, es gibt sicher eine harmlose Erklärung dafür.", versuchte er auch seinen Kumpel zu beruhigen. Ben hörte die Worte, und seine Zweifel wurden schneller stärker, weil er nochmal etwas distanzierter war als Semir, aber in der Vertrauensfrage auf Kevin bezogen ebenso betroffen und involviert. Vielleicht hatten sie überreagiert mit ihrem Verdacht. Semir noch unter dem Eindruck der Entführung vor einigen Monaten, er unter dem Eindruck von Kevins Angriff unter Gedächtnisverlust... es kam einfach alles zusammen.
    In Windeseile versuchte Hartmut noch herauszufinden, wo die letzte Einbuchung der beiden Handys war. Beide Einbuchungen waren in einer Funkzelle nahe der Schule, auf die Ayda ging, jene Zelle aber recht groß und von mehreren anderen Funkzellen überlagert. "Hmm... komisch...", murmelte Hartmut. "Was denn?" "Kevins Handy wurde ordnungsgemäß ausgeschaltet. Man kann das aus dem Checkout im Netz erkennen. Aydas Handy aber hat diesen Checkout nicht vollzogen." "Und was bedeutet das?" Es würde sicher nicht zur Beruhigung von Semir beitragen, aber Hartmut musste in so einer Situation einfach ehrlich sein. "Defekt des Handys oder entfernen des Akkus. Einfach alles, was das Handy ausgehen lässt, aber keinen normalen Herunterfahrvorgang. Vielleicht ist ihr Handy heute tatsächlich einfach kaputt gegangen."


    Hartmut hatte den Satz gerade zu Ende gesprochen, als ein weiterer Apparat in seinem Büro klingelte. "Moment kurz...", sagte er zu Semir und sie konnten die Worte nur kurz hören. "Was? - Wozu braucht ihr mich da? Wozu haben wir ein Sprengstoffkommando? Hmm... ja... okay, ich pack meine Sachen und komme sofort." Dann legte er auf und nahm sein Handy wieder zur Hand. In seinem Kopf drehte es sich kurz, weil er jetzt erst die Informationen verarbeitete, und sein Herz begann fest zu schlagen. "Semir! Auf welcher Schule ist deine Tochter?", fragte er hastig. "Auf dem Genoveva-Gymnasium... wieso?", war die Antwort und er hörte Hartmut ausatmen. "Gott sei Dank..." "Warum? Was ist los?"
    "Es gibt eine Amoklage am Montessori-Gymnasium. Ich muss los, die haben scheinbar Probleme mit der Technik des Sprengsatzes, mit denen die Täter die Eingangstür verbarrikatiert haben." Bei dem Wort "Amoklage" wurde Semir kurz schlecht. Es war der Alptraum aller Eltern, nach Erfurt, nach Winnenden. Eine Situation, vor der man nie gewappnet war und die immer und überall passieren konnte. Jetzt war sie in Köln passiert... aber zum Glück nicht auf der Schule seiner Tochter, sondern auf einer Schule die gut 12km weiter westlich in Köln lag und nicht den besten Ruf hatte. Aber das war oft Ansichtssache...


    "Okay, Hartmut... sei vorsichtig, danke für deine Hilfe.", sagte Semir und beendete das Gespräch. "Sprengsatz? Klingt fast eher nach Geiselnahme als nach Amoklauf. Amoklauf ist doch eigentlich so schnell wie möglich mehrere Menschen ermorden, während man sich mit nem Sprengsatz eher barrikatieren will...", überlegte Ben laut und sah Semir an, der ein wenig bleich um die Nasenspitze war. Seine Sorge hatte sich nicht gelegt... obwohl die Tatsache, dass Aydas Handy einfach nur kaputt gegangen war, sowohl beruhigend als auch beunruhigend sein konnte. Aber Semir ließ eine Beruhigung nicht zu. "Was machen wir jetzt?", fragte Ben, nachdem Semir auf seinen Einwurf nicht einging.
    "Hartmut hat irgendwie recht, mit dem was er über Kevin sagt...", sagte er während er auf sein Handy blickte. "Aber ich will auf Nummer sicher gehen... lass uns zu ihm nach Hause fahren. Einfach nur gucken, ob er da ist... okay?" Ben konnte Semir verstehen... es war einfach die nackte Angst um sein Kind, und die ließ sich auch durch logische Worte von Hartmut nicht einfach verdrängen. Je nachdem, was sie bei Kevin vorfänden, würde es die Angst vielleicht entschärfen... oder verstärken. Sie machten sich auf den Weg...

    Semirs Haus - 14:30 Uhr


    Wenn Semir in normalem Tempo morgens zur Arbeit fuhr, brauchte er normalerweise eine Viertelstunde, je nach Verkehr. Jetzt beeilte er sich... zur Einsatzfahrt fehlte nur, dass er die rote Ampel missachtete und das Blaulicht einschaltete. Er war wütend auf sich... einerseits, weil er entgegen seinem Bauchgefühl vor einer Stunde gehandelt hatte und andererseits weil ihn das fehlende Vertrauen, das große Misstrauen Kevin gegenüber selbst ärgerte. Aber er konnte nicht aus seiner Haut und Gefühle ließen sich nicht ignorieren. Zu sehr war er nach der Entführung vor knapp einem Jahr gebranntes Kind, zu frisch die Erinnerungen daran, als er hilflos mitansehen musste, wie der vermeintliche Entführer mit den Beamten im Verhörzimmer Katz und Maus spielte, beharrlich schwieg und keinerlei Infos über den Aufenthaltsort seiner kleinen Tochter preisgab. Hilflos, wie er sie beobachtete, im Koma liegend... nicht wissend ob sie jemals wieder aufwachen würde.
    Dieses Gefühl der Hilflosigkeit verfolgte ihn hin und wieder in seinen Träumen. Dann wurde der erfahrene Polizist schweißgebadet wach und brauchte meist eine Zeitlang, bis er wieder in den Schlaf fand. Eigenartigerweise beschäftigte ihn das schlimmere Trauma um ihn selbst ein paar Wochen später nicht so lange und nachhaltig, wie die Entführung seiner Tochter.


    Und angespannt war er. Angespannt, als er den BMW in der Einfahrt zu seiner Garage vor dem kleinen aber schicken Einfamilienhaus anhielt. Mit schnellen Schritten waren die beiden Kommissare an der Haustür, mit zittrigen Fingern suchte Semir den Zugang seines Schlüssels ins Schloß, um die Haustür aufzusperren. Es kam ihm vor, als schlüge ihm eine Kälte aus dem Haus entgegen, obwohl die Temperatur völlig normal war, und ohne zu wissen, dass das Haus tatsächlich menschenleer war, spürte er es sofort. "Ayda?", rief er einmal in den Flur, einmal ins Wohnzimmer und ging dann mit schnellen Schritten die Treppe hinauf ins Kinderzimmer. Doch auch das war leer.
    "Scheisse...", murmelte er niedergeschlagen und nervös. Die Schlinge um seinen Bauch zog sich immer weiter zu und sein Puls beschleunigte sich. "Und?" "Nichts...", war Semirs kurze Antwort, als er die Treppe wieder zu Ben kam. "Kann es sein, dass sie noch zu einer Freundin ist?" Der Familienvater schüttelte den Kopf: "Dann schreibt sie uns das... und wenn ihr Handy wirklich leer wäre, hätte sie es hier aufgeladen, bevor sie ging... oder einen Zettel hingelegt. Sie ist da sehr genau."


    Die beiden Männer setzten sich ins Wohnzimmer auf die Couch-Landschaft. Ben begann selbst langsam zu zweifeln... wo sollte Kevin mit Ayda hin? Was konnte ihnen dazwischen kommen? Die beiden Polizisten hatten auf dem Weg die Verkehrslage bei Hotte abgefragt... nirgends in der Innenstadt gab es Stau. Es gab zwar einen, scheinbar etwas größeren Einsatz in Köln, aber der war nicht zwischen Aydas Schule und ihrem Wohnhaus. Also konnten sie auch nicht im Stau stehen. Traute er Kevin so etwas zu? Eine Entführung? Eine Entführung von Semirs Tochter? Mittlerweile traute der junge Polizist seinem schweigsamen Partner einiges zu... und er war selbst auch nicht völlig von Jennys Version der Notwehr im Keller überzeugt. Aber seine Skrupellosigkeit richtete sich vor allem gegen seine Feinde... aber nicht gegen seine Freunde.
    "Nur mal angenommen... Kevin hätte Ayda tatsächlich... entführt.", begann Ben vorsichtig in Semirs Richtung. "Welchen Grund hätte er?" Bevor sein bester Freund antwortete, zuckte er mit den Schultern: "Ich war mehr dagegen als dafür, dass er nochmal bei uns arbeitet?" "Aber davon weiß er nichts." "Wenn jemand geredet hat?" Ben schüttelte den Kopf: "Selbst wenn... was bezweckt dann eine Entführung? Was will er verlangen? Ausserdem... er arbeitet wieder bei uns. Er hat das, was er wollte... egal was du darüber denkst. Ich hatte eher das Gefühl, dass er versucht ist, zumindest das Vertrauen was zur Zusammenarbeit nötig ist, wieder zu erlangen. Wenn auch nicht soweit, dass es zur Freundschaft reicht." Eigentlich taten Ben diese Worte weh, aber es war eben das, was er fühlte.


    Semir konnte der Argumentation folgen... er saß auf der Couch, nach vorne gebeugt und die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Hände zu einer Faust zusammengeballt. Er sah durch den Raum, als würde sich an einer der Wände eine Antwort für alle Fragen befinden. Plötzlich schien an der Wohnzimmerwand die Antwort zu stehen... jedenfalls wurden Semirs Augen größer, als hätte er gerade eine Erleuchtung. Er sah zu Ben herüber und fragte ernst: "Wenn Kevin dich fragen würde... ob du ihm hilfst den dritten Beteiligten an Janines Tod zu finden und zu töten... was würdest du ihm sagen?" "Ich würde ihm sagen, dass er nicht mehr ganz dicht ist... vielleicht etwas schönen umschrieben.", antwortete Ben und sein Partner nickte: "Ich würde es ihm ähnlich sagen. Vor allem, nachdem was in den letzten Wochen passiert ist."
    Langsam fiel auch der Groschen bei Ben und er hatte das gleiche Bild vor Augen, wie Semir... die beiden Striche an Kevins Unterarm... zwei für die toten Peter und Patrick, die an dem Mord beteiligt waren, der Kevins Leben zerstört hatte. "Du meinst, das bedeuten die Striche? Die beiden Männer, die tot sind?", fragte Ben. "Hast du etwa die Story mit den Dienststellen-Engagements geglaubt? Mal davon abgesehen, dass er sich dann verzählt hätte?", meinte Semir spöttisch und sein Partner schüttelte den Kopf. "Nein... natürlich nicht."


    Semir fuhr mit seinen Gedanken fort: "Wenn er unsere Hilfe erzwingen will, braucht er ein Druckmittel. Und Kevin weiß genau, wie wir beide reagieren wenn eines meiner Kinder in Gefahr ist. Er hat es selbst erlebt damals." Für Ben war die Vorstellung, dass Kevin gleich anrufen würde und mit seiner monotonen Stimme drohte, Ayda etwas anzutun, völlig surreal. "Aber meinst du nicht, er könnte das alleine? Ohne uns?" "Ich weiß es nicht. Aber vielleicht ist das der einzige Grund, warum er nochmal unbedingt auf unsere Dienststelle wollte." Es war still, unheimlich still. Nur die Wanduhr in Semirs Wohnzimmer machte Geräusche, für einige Minuten schwiegen sich die beiden Männer an. Es war so surreal... aber genauso surreal war es für Ben immer noch, dass Kevin seine Hände um dessen Hals gelegt hatte und zudrückte, bis Ben sich nicht mehr rührte. Es hatte die Schranke in seinem Kopf zerstört, die ihn jetzt noch von dem Verdacht abhielten, Kevin hätte Ayda tatsächlich entführt. "Dann müsste er sich ja bald melden...", sagte er resigniert.
    Semir zog sein Handy aus der Tasche... nachdem erneuten Anrufversuch auf Aydas und Kevins Handy, was wieder in der Mailbox endete, wählte er Hartmuts Nummer: "Hartmut... du musst was für uns tun." "Was auch sonst... wann ruft ihr eigentlich mal an und sagt: Hartmut, können wir etwas für dich tun?", gluckste das rothaarige Genie durch die Leitung. "Mir ist nicht nach Scherzen zu Mute... du musst ein Dienstfahrzeug für uns orten."


    Sofort war Hartmut an seinem PC. Semirs Satz, dass er nicht nach Scherzen aufgelegt war und die Stimmlage, hatte den KTU-Leiter in Alarmbereitschaft versetzt... denn dann musste wirklich was passiert sein. "Okay... Kennzeichen?" Semir gab das Kennzeichen von Kevins Dienstfahrzeug durch, das Hartmut sofort erkannte: "Moment... das ist doch Kevins Wagen." "Ganz richtig...", bestätigte Semir beinahe niedergeschlagen. "Ist was mit ihm passiert?" "Nun guck doch bitte..." Durch das Telefon konnte er Hartmuts schnelle Finger auf der Tastatur klacken hören. "Hmm... letzte Aufzeichnung an der Dienststelle. Gegen 12 Uhr... dann wurde das Gerät abgeschaltet." "Abgeschaltet...?" "Für Privatfahrten schaltet ihr das Modul doch selbst auch manchmal ab... ist er irgendwohin gefahren?" Semir dachte nach, aber Ben, der über Lautsprecher mithörte, kam ihm zuvor: "Er hatte gesagt, er muss etwas erledigen... das war so um Mittag." Man konnte es nun deuten, wie man mochte... schaltete er es absichtlich ab, um nicht geortet werden zu können? Wegen der Entführung? Was hatte er sonst Geheimnisvolles zu erledigen? Zu seinem Dealer fahren? Semir bekam Kopfschmerzen und bedankte sich bei Hartmut. "Semir... was ist los? Warum wolltet ihr das wissen?" Der erfahrene Polizist seufzte... er vertraute Hartmut, doch bisher war alles Spekulation. "Bitte sags noch keinem... aber..." Seine Stimme stockte: "Wir glauben... dass..." Er biss sich auf die Lippen: "Kevin hat meine Tochter entführt..."

    Dienststelle - 14:10 Uhr


    Semir und Ben waren mit den Rettungskräften ein eingespieltes Team. Zu oft sahen sie sich und arbeiteten miteinander, man kannte sich und wusste genau, wie der andere tickte. Nur selten gab es unangenehme Überraschungen, wenn beim Rettungsdienst Azubis mitfuhren und deren Magen für Unfallopfer noch nicht wirklich ausgelegt war. Dann gab es meist noch den ein oder anderen mehr zu versorgen, vor allem Unfälle, bei denen Motorradfahrer und LKWs beteiligt waren, konnten manchmal hässlich sein. Als das Gröbste bereinigt war, konnten die beiden Autobahnpolizisten allerdings aufbrechen und übergaben die Einsatzleitung an Hotte und Dieter, die noch vor Ort blieben bis der letzte Unfallwagen abtransportiert war. Die Autobahn war mittlerweile einspurig auf beiden Seiten wieder passierbar und die Autobahnmeisterei begann bereits, die Mittelleitplanke zu reperarieren.
    Semir fühlte sich unwohl. Er konnte gar nicht genau sagen woher diese Unwohlsein stammte, was es auslöste... oder wollte er es nicht sagen? Denn immer wieder erwischte er sich bei Gedanken, die er eigentlich gar nicht denken wollte. Denn er hätte sich nicht im Traum vorstellen können, wie tief das Misstrauen Kevin gegenüber sein konnte, wenn sein Hirn ihm diesen Streich spielte und ihm alarmierende Gedanken, Ideen und Bilder in seinem Kopf vorgaukelte. Ja, er fühlte sich unwohl, weil er Kevin misstraute, aber das wollte er noch nicht wahr haben.


    Noch während sie unterwegs zurück zur Dienststelle waren, griff der Familienvater zu seinem Handy um seine Tochter anzurufen. Wenn Kevin sie direkt nach ihrem Telefonat abgeholt hatte, wenn er in der Innenstadt war, müsste er sie längst zu Hause abgesetzt haben. Seine Stirn legte sich in Falten, als nur die Mailbox dranging, und er kurz die liebliche Stimme seiner Tochter hörte, die fröhlich sagte dass man ihr eine Nachricht hinterlassen sollte. Semir steckte das Handy zurück in die Hosentasche und räusperte sich nur, während Ben herüber zu seinem besten Freund sah. Er meinte, Sorgenfalten zu sehen und dass er aus dem Fenster sah. "Alles klar?" "Ja ja...", war die kurze Antwort. Ben verzog das Gesicht zu einer Schnute... sie kannten sich so lange, sie kannten sich in und auswendig... warum machten sie sich, wenn sie Sorgen oder Probleme hatten, immer noch etwas einander vor?
    Als Ben den Mercedes auf den Dienstparkplatz abstellte, drückte Semir die Wahlwiederholtaste. Wieder nur die Mailbox... die Sorgenfalten wurden tiefer. Er tippte in WhatsApp eine Nachricht an seine Tochter. "Melde dich mal bitte kurz." Ein grauer Haken bestätigte, dass die Nachricht abgeschickt wurde. Als er das Handy auf den Schreibtisch legte, kurz zur Toilette ging und einige Minuten später zurückkam um auf das Handy zu sehen, hatte sich der Status nicht geändert... die Nachricht war zwar verschickt, aber nicht an Aydas Handy ausgeliefert. Der dritte Anruf endete ebenfalls sofort wieder bei der Mailbox.


    "Das gibts doch nicht...", murmelte der erfahrene Polizist. "Was ist denn los, sag mal?", fragte sein Partner wieder vom anderen Ende des Schreibtisches. "Aydas Handy scheint ausgeschaltet zu sein." Semirs ernster Blick traf seinen Partner, bevor er mit ein paar schnellen Schritten an der Bürotür war, um quer durch das Großraumbüro zu gucken. Durch die Glasscheiben erkannte er, dass Kevins Büro leer war. Er biss sich auf die Lippen. Ben bemerkte die Geste, bemerkte Semirs Unsicherheit... und obwohl sein eigenes Vertrauen in Kevin einen schweren Schaden erlitten hatte, sah der junge Polizist die Dinge noch etwas realer. "Semir, du siehst Gespenster. Vielleicht ist ihr Akku leer." "Akku leer? Man merkt, dass du keine Teenies zu Hause hast."
    Semir brummte, als er sich zurück auf seinen Platz setzte. "Ayda lädt ihr Handy jede Nacht auf. Akku leer... eine Katastrophe. Wieviel WhatsApp-Nachrichten man da von der Freundin verpasst." Er atmete hörbar aus und fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf. "Nen Haustürschlüssel hat sie doch, oder?", fragte Ben, als ihm die Stille zu unangenehm wurde. "Na klar...", war die kurze Antwort.


    Semirs Gedanken waren absurd... mit einem klaren, absolut rationalen Blick würde er das Gleiche sagen. Er war geschult darauf, bei Vermisstenfällen erst einmal alle rationalen Gründe für das Verschwinden auszuschließen. Welche logischen Erklärungen gab es, dass ein Kind oder ein Jugendlicher nicht zu Hause auftauchte. Nur die wenigsten fielen wirklich einem Verbrechen zum Opfer. Meist gingen sie halt noch weg, ohne Bescheid zu sagen. Verspäteten sich, waren im Funkloch, das Handy verloren oder kaputt... oder tatsächlich das Akku leer. Es gab soviele Möglichkeiten, die erklärbar waren, ohne dass die Verschwundene sofort entführt worden ist.
    Doch Semir war vorbelastet... Ayda war erst vor knapp einem Jahr entführt worden und von Semir, Ben und Kevin gerettet. Seitdem war Semir viel wachsamer, was seine Kinder anging. Natürlich war er kein Helikoptervater, er versuchte mit der nötigen Vernunft Ayda einen normalen Freiraum in ihrem Alter zu lassen. Trotzdem war die Angst gestiegen, dass so etwas nochmal vorkam. Und jetzt, dieses Misstrauen in Kevin, diese Angst um seine Tochter und nun die komische Situation, dass ihr Handy ausgeschaltet war... es war einfach zu viel. Der Kopf spielte Semir Streiche und gegen die negativen, beängstigenden Gedanken, konnte er sich nicht wehren. Er nahm das Handy in die Hand und drückte die Wahlwiederholungstaste... wieder Mailbox. Als bei Kevins Nummer ebenfalls direkt die Mailbox dranging, spürte er, wie sich sein Puls beschleunigte.


    "Kevins Handy ist auch ausgeschaltet...", sagte er zu Ben, der von seinem Bildschirm aufsah. "Vielleicht fahren beide gerade im Funkloch?" "Ja klar... vielleicht fahren sie nach Österreich, gerade durch nen Tunnel. Meine Güte Ben... von der Schule bis nach Hause ist es mit dem Auto ne Viertelstunde... durch Stadt und Wohngebiet, da gibt es kein Funkloch. Und jetzt versuch mir bitte nicht zu erklären, dass beide Handys leer sind oder zufällig gleichzeitig kaputt gegangen sind." Ruckartig stand Semir von seinem Stuhl auf und zog sich die leichte Jeansjacke über. "Was ist denn jetzt? Wo willst du hin?" "Ich fahr nach Hause nachsehen, ob meine Tochter da ist." "Ruf doch auf dem Festnetz an.", sagte Ben kopfschüttelnd und zeigte mit der Hand auf sein Telefon.
    "Wenn Ayda in ihrem Zimmer sitzt und Musik hört, hört sie das nicht. Ich fahr jetzt nach Hause.", sagte der erfahrene Polizist entschlossen und verließ das kleine Büro. Ben sprang auf und folgte ihm: "Warte doch!" Dass sich in der Dienststelle etwas Hektik breitmachte, die nicht den beiden galt, merkten sie nicht.

    Köln - 13:30 Uhr


    Kevin war noch aufgewühlt von dem Gespräch mit Jerry, als er in der Kölner Innenstadt von einer roten Ampel an die nächste rollte. Er war aufgebracht, irgendwie wütend auf seinen Freund, dass er ihn hinsichtlich der Mörder von Janine belogen hatte... zumindest in Bezug auf Patrick. Aber hätte er sich ausgerechnet daran erinnert, bei seinem Gedächtnisverlust? Hätte er Patrick vielleicht vorher schon gefunden? Kevin spinnte den Gedanken weiter... hätte er Patrick vorher gefunden, festgenommen oder getötet... wer hätte ihn dann gefunden nach seinem Total-Blackout aus Kolumbien? War es vielleicht eine glückliche Fügung, dass Jerry nichts gesagt hatte? Allerdings wäre dann vor allem Jenny einiges erspart geblieben... nein, glücklich war das sicher nicht. Es war nur eine andere Art von Übel.
    Der Gedanke an Jenny ließ Kevin sofort traurig werden. Er hatte gedacht, dass er es wegstecken könnte... oder dass sich der Verlust in Wut und Sucht niederschlagen würde. Doch er irrte. Wo er all die Jahre Schmerz und Trauer mit Alkohol, Zigaretten und Drogen betäubte, funktionierte es bei Jenny nicht. Lag er schlaflos im Bett und dachte an die junge Polizistin, spürte er nicht das geringste Verlangen nach Alkohol oder Tabak... noch weniger nach kleinen Helferpillen. Es war, als sei alleine die Tatsache dass Jenny ihm damals nach seinem heftigen Absturz, ohne Kompromisse helfen wollte, immer noch verantwortlich dafür, dass er von seiner Sucht die Finger ließ. Zumindest, wenn der Kummer wegen der Trennung verursacht wurde.


    Das Hupen hinter ihm, weil er an der grünen Ampel nicht anfuhr, weckte ihn aus seinen Tagträumen. "Ja ja...", grummelte er mit Blick in den Rückspiegel, bevor er hastig anfuhr. Die Stimme aus dem Radio, die gerade die Verkehrsmeldungen vorlas, ließ ihn wieder vollends in die reale Welt zurückkehren. "... Vollsperrung nach einem schweren Verkehrsunfall mit mehreren Fahrzeugen auf der A57 vor Roggendorf. Es sind bereits mehrere Kilometer Stau in beide Richtungen zusammengekommen...". Auf der engen Autobahn kam es häufiger zu Unfällen, aber ein Massencrash bei diesem schönen Wetter... komisch. Kevin griff zum Funkgerät um nach zu hören, ob seine Kollegen Verstärkung bräuchten... und um sicher zu gehen, dass er bei seinem Privatbesuch im Gefängnis keinen Funkspruch überhört hatte.


    Am Unfallort hörte Ben aus der offenen Fahrertür das Knarzen des Funkgerätes sowie Kevins Stimme. "Cobra 11 2 ruft Cobra 11 1, kommen? Braucht ihr Unterstützung?" Ben stand im Shirt in der Sonne, denn es war ungewöhnlich warm für den mittleren März, während Feuerwehr, THW und Krankenwagen herumwuselten. Mehrere zusammengeschobene PKWs, eine durchbrochene Mittelleitplanke und zwei LKWs mit Totalschaden standen herum. Ben und Semir waren zur Aufnahme und Koordination gerufen worden, würden aber abwarten müssen bis die Verletzten aus ihren Autos befreit wurden. Der junge Polizist ging zurück zum Wagen, öffnete die Fahrertür und griff in das Innere, um das Funkgerät zu greifen. "Hier Cobra 11 1... bräuchten wir schon, aber du wirst uns nicht erreichen. Es staut sich bereits bis nach Köln, und hier gibts keinen Standstreifen... und auf ne Rettungsgasse kannst du bei dem ignoranten deutschen Autofahrer lange warten.", sagte Ben durchs Funkgerät. "Ausser du kommst von der anderen Seite und die Ausfahrt dahinter... aber eigentlich..."
    Im Hintergrund konnte Kevin in seinem Wagen die aufgeregte laute Stimme von Semir hören. "Was ist denn los bei euch?" Ben blickte rüber zur Beifahrertür, wo Semir mit dem Handy am Ohr stand, laut redete, mit der freien Hand gestikulierte als zeichnete er ein Bild und immer ein paar Schritte hin und her ging.


    "Andrea, ich kann hier nicht weg. Kann sie nicht mit dem Bus fahren? Wieso hat sie ihr Handy nicht an?" Er schnaubte, sah zu Ben und verdrehte die Augen. "Wir haben hier ne Vollsperrung und 7km Stau. Ich weiß, dass du nicht einfach aus der Schulung kannst. Wieso kannst du telefonieren? Achso, ihr habt 5 Minuten Pause. Was ist mit deinen Eltern? Achja, Kreuzfahrt... ich weiß. Herrje... was soll ich denn machen." Ben grinste und führte das Funkgerät wieder Richtung Mund. "Ayda scheint Schulschluß zu haben und im Hause Gerkhan ist niemand da, der sie abholen kann. Semir organisiert." "Hört sich eher nach Katastrophenfall an.", merkte Kevin schnippisch an und sorgte bei Ben für ein Grinsen... der Polizist hatte das Gefühl, einen ganz leichten Schwung von guter Laune, Unbeschwertheit und kippender Distanz bei Kevin zu hören... und spürte sofort bei sich selbst, dass ihm das nicht angenehm war.
    "Ich bin gerade in der Innenstadt. Ich kann sie doch abholen.", hörte Ben dann plötzlich die Stimme seines Partners, dem er wie auch Semir in letzter Zeit so wenig Vertrauen entgegen brachten. "Ähm... ich weiß nicht... also... das muss ich Semir fragen. Moment." Ben konnte nicht genau sagen warum er gerade ein penibel schlechtes Gefühl hatte. "Semir?" "Moment...", winkte der ab. "Ja... ja... dann weiß ich auch nicht. Wenn sie merkt, dass keiner kommt, wird sie ihr Handy schon einschalten oder selbst mit dem Bus fahren. Sie ist ja nun keine 6 mehr." Ayda war bereits 12, ging seit dem letzten Sommer auf ein Gymnasium und wurde trotzdem öfters noch von ihren Eltern abgeholt. Manchmal war ihr das peinlich weil viele ihrer Freundinen selbstständig mit dem Bus nach Hause fuhren. Heute hatte sie Theater AG und deshalb länger Schule. Von ihrem Koma vor einem Jahr hatte sie sich gut und vollständig erholt, auch wenn es ihr schwer fiel und sie einigen zu Beginn verpasst hatte.


    "Semir!?" "Was ist denn?", fragte der leicht genervt, nachdem er das Telefonat beendet hatte. "Kevin ist am Funk... er hat mitbekommen, was los ist und hat... ähm... er ist gerade in der Innenstadt und hat gefragt, ob er Ayda abholen soll." Dabei hatte er nicht den Finger auf dem Sendeknopf, so dass Kevin die unsichere Stimmlage von Ben nicht mitbekam. Semir sah seinen Partner an, und plötzlich erwischte er sich bei Gedanken, die er sich vor einigen Monaten nicht mal getraut hätte, nur zu denken. Kevin hatte sein Leben riskiert um Ayda aus den Fängen eines Gangster-Trios zu retten. Kevin war Polizist... er hatte seine Schwester verloren und wusste am besten, wie sich Verlust anführlte.
    Aber er wusste auch dass Kevin anfällig war für Rachegedanken... und dass sowohl dass er selbst nicht unbedingt dafür waren, dass Kevin noch einmal eine Chance auf der Dienststelle erhielt. Nur, wusste das auch Kevin? Aber was sollte er schon tun? Nein... nein, das würde er nie... würde er nie? "Semir, was ist?" "Ben... halt mich für ein Vollidiot, aber mir gehen gerade die merkwürdigsten Sachen durch den Kopf, wenn ich dran denke, dass Kevin meine Tochter von der Schule abholt.", sagte er offen und ehrlich zu seinem Partner, kam um den Wagen herum und stellte sich zu Ben an die Fahrertür. "Ja, so ganz wohl war mir auch gerade nicht... aber wenn wir mal ehrlich sind... das würde Kevin niemals tun." Die beiden sahen sich an. "Oder?"


    Plötzlich schlug Ben gegen das Lenkrad im Auto. "Spinnen wir? Wir reden hier von Kevin! Er hatte sein Gedächtnis verloren, aber jetzt zieht er wieder klar. Von mir aus hat er ein Drogenproblem oder Rachegefühle gegen die Mörder seiner Schwester, aber doch nicht gegen uns. Doch nicht gegen dich.", sagte er laut, als hätte er gerade einen imaginären Schlag gegen den Hinterkopf wegen seiner Zweifel bekommen. Semir hatte diesen Schlag nicht bekommen, und seine Augen drückten immer noch Skepsis aus. Er würde umkommen vor Gram, wenn er diese Situation falsch einschätzte, und seiner Tochter würde ewas passieren. Umgekehrt genauso würde er sich grämen, wenn Ayda auf dem Heimweg alleine was zustoßen würde... und er schätzte diese Gefahr größer ein, als die Hirngespinste um Kevin... er nickte. Danach gab Ben die Adresse von Aydas Schule per Funk durch, und der junge Polizist machte sich auf den Weg.

    Vorstadt - 15:00 Uhr


    Thomas spürte die angenehm warme Frühlingsluft auf dem Gesicht, als er mit dem Fahrrad durch die Straßen des großen Wohngebiets fuhr. An Vorgärten und hochwertigen Wohnhäusern vorbei, nahm er Kurs auf das Haus seines Freundes Jens. Jens war ein kluger Kopf, für sein Alter ein Ass in Chemie und Physik. Er hatte immer etwas, was mit diesen Themen zu tun hatte im Kopf und konnte sich nur schwer davon trennen, auch mal an etwas anderes zu denken. An den Hobbys anderer Jugendlicher hatte er meist kein Interesse. Der Schüler verbrachte seine Freizeit zu Hause, las Fachbücher über Physik und Chemie oder werkelte in der Garage an allerlei Dingen.
    So auch heute. Thomas bremste in der Kieseinfahrt seinen Drahtesel ab, wobei er mit dem Hinterrad eine Spur durch die Kieselsteine zog. Mit dem Fuß schüttete er die Furche wieder zu, weil er wusste dass Jens' Vater ziemlich akkurat und empfindlich reagierte, wenn sein englischer Rassen nur zwei Centimeter zu hoch wuchs, oder ein Kieselstein nicht genau im Winkel zu den anderen lag. Mit knirschenden Schritten ging er zum Garagentor und klopfte dreimal, wartete kurz, und klopfte wieder dreimal.


    Mit surrendem Geräusch setzte sich der elektronische Garagenöffner in Gang und ließ Tobias eintreten. Die beiden Jungs begrüßten sich, Jens blieb auf seinem Drehstuhl, von dem er die Lehne abmontiert hatte sitzen und rollte von einem Schreibtisch, auf dem er ein Laptop stehen hatte, zu einer Werkbank auf dem einige seltsame Apparaturen lagen. "Und, wie läufts?", fragte Tobias und sah sich in der Garage um. Er sah die Apparaturen, Drähte und Platinen, ein pinkes Päkchen. "Ich hätte nicht gedacht, dass man im Darknet so einfach Anleitungen findet und sich die passenden Zutaten dazu schicken lassen kann...", sagte der Bastler verblüfft und nahm fachmännisch den heißen Lötkolben zur Hand. "Danke, dass du mir das eingerichtet hast."
    Tobias stand schräg hinter ihm und lächelte, wobei seine Augen funkeln. "Bist du sicher, dass du mitmachen willst?", fragte er Jens, als sei der sich selbst noch nicht sicher darüber gewesen. In Wahrheit traute Tobias dem manchmal sensibel und scheu wirkenden Jens das, was sie vorhatten, einfach nicht zu. Und auch die Stimme, mit der der junge Bastler antwortete, empfand Tobias als wackelig, entgegen des Inhalts: "Den Typen in den Arsch treten? Da kannst du Gift drauf nehmen." Er grinste, fragte noch ob bei Marvin alles klar sei, was Tobias bejahte. Dann ging Jens stumm seinem Hobby weiter nach.


    JVA - 13:00 Uhr am nächsten Tag


    Die schweren Türen der JVA öffneten sich vor Kevin und er trat von einer bekannten in die andere bekannte Welt... und das nicht nur, weil er Polizist war und öfters Insassen der JVA vernehmen oder besuchen musste, sondern weil er selbst schon hier drin war. Ein paar Tage nach dem Anschlag auf ihn, als die Polizei ihn nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus kurzzeitig als Verdächtigen festnahm. Angeblich soll er bei dem Anschlag auf die mitgeholfen haben, sogar unter Mordverdacht stand er. Es sei danach eskaliert und seine eigenen Freunde hätten ihn auch umbringen wollen... für Kevin an den Haaren herbeigezogen und nur schwer zu ertragen. Das zweite Mal, als er unter Verdacht stand einen jungen Kommissarsanwärter erschlagen zu haben, der einen Tag davor Jenny vergewaltigt hatte, war er auch ein paar Tage in dieser Anstalt, und fand seinen alten Freund Jerry wieder. Und zu dem war er jetzt unterwegs.
    An der Pforte zeigte er seinen Dienstausweis vor, bekundete sein Anliegen Jerry zu besuchen und wurde durchgelassen. Es war beinahe üblich dass das Überwachungspersonal nach kurzer Bitte den Raum verließ, wenn der Besucher Polizist war, und noch dazu im Dienst war.


    Jerry grinste, als er sich Kevin gegenüber an den Tisch saß... die Haare etwas länger als zuvor, ein wenig müde wirkend. "Kevin, was für eine Überraschung. Ich hab gehört, du seist tot." "Ich habe gehört, du würdest leben.", sprach ihn der junge Polizist auf die leichte Blässe an. "Ach... hatte ne Blinddarm-OP. Das Alter... du kennst das.", meinte er und lachte. Dann lehnte er sich zurück, zündete sich eine Zigarette an und legte die Beine übereinander. "Was verschafft mir das Vergnügen deines Anblicks?"
    Kevin beugte sich ein wenig über den Tisch und sein Gesicht wurde ernst. "Patrick ist tot." "Patrick?", wiederholte Jerry etwas leiser und auch sein Gesicht wurde ernst. Ohne, dass Kevin weitere Details bekannt gab, bemerkte er sofort in Jerrys Verhalten eine Veränderung. Die Lockerheit war weg, seine Stirn zog sich in Falten. "Hast du...?", fragte er leise und abwartend, als er bemerkte dass auch Kevins Ausdruck erhärtete, seine Sympathie gerade verloren ging. "Du hast es also gewusst?" Jerry seufzte... und nickte. "Ja hab ich. Schon als du im Knast warst.", ließ er heraus und Kevins Blick wandelte sich ins Fassungslose...


    "Warum hast du es mir nicht gesagt?", zischte er hörbar wütend seinem Freund und ehemaligen Mentor entgegen. "Weil ich wusste, was du dann tust, sobald du hier raus bist. Nachdem du erzählt hast, was mit Peter Becker passiert ist, hielt ich es für besser. Um dich zu schützen." Kevin sah zur Seite, als würde ihn das beruhigen und tippte mit den Fingern auf dem Tisch herum. Er konnte seine Wut in diesem Moment schlecht verbergen. "Sag mal, wie alt bin ich eigentlich?", fragte er sarkastisch. "Scheinbar nicht alt genug um zu wissen, dass Rache kein guter Begleiter ist." Irgendwo hatte er diese Worte schon einmal gehört... sie kamen von einem bärtigen Mann mit dickem Bauch in Uniform, und er sagte sie vor über einem Jahr, als Peter Becker noch lebte.
    "Was ist mit Timmy? Ist der wirklich durch einen "Unfall" hier ums Leben gekommen, oder war das auch eine Lüge?" Timmy hatte damals den drei Angreifern den Tipp gegeben, dass Kevin nicht mehr ganz klar in der Birne war und seine Schwester jetzt nach Hause brachte, damit sie ihm auflauern konnten. "Erstmal habe ich dich bei Patrick nicht belogen, sondern einfach nicht die Wahrheit gesagt." Für solche Spitzfindigkeiten hätte Kevin seinen Freund schon vor 15 Jahren erwürgen können. "Und nein... bei Timmy habe ich dir die Wahrheit gesagt. Timmy ist Wurmfutter, und er hat es verdient." "Aha... aber Rache ist kein guter Begleiter, was?" "Das war keine Rache, sondern längst fällig. Der Typ war ein Kriecher."


    Für ein paar Augenblicke schwiegen die beiden Männer. Kevins Puls beruhigte sich langsam, aber er war immer noch erregt von der Tatsache, dass sein bester Freund ihn in so einer Sache belogen hatte... oder zumindest nicht die volle Wahrheit gesagt hat. Jerry war es unangenehm, und er verbuchte es als Fehler. Ehrlichkeit war das Wichtigste für Kevin, die Grundlage für sein Vertrauen. "Wer war der Dritte?", fragte Kevin dann plötzlich und sah Jerry an. "Ich weiß es nicht." "Jerry...", sagte der Polizist warnend, als würde er schon wieder eine "Unehrlichkeit" hinter der Aussage des JVA-Insassens vermuten. "Kevin, ich schwöre dir... es tut mir leid, dass ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe. Aber ich hatte Angst, dass du Unsinn machst. Ich war damals überzeugt, dass du unschuldig bist und wusste, dass du da draussen eine Chance hast. Die hättest du dir mit einem Mord völlig verbaut."
    Kevin atmete durch... damals, als er aus dem Knast rauskam, war er gefestigt... er hatte Vertrauen zu Semir und Ben, und die Beziehung zu Jenny stand kurz vorm Anfang. "Wenn du es damals gesagt hättest... wäre vielleicht gar nichts passiert." "Und was ist jetzt passiert? Warum hast du ihn umgebracht?" Kevin sah seinen Freund an und erzählte, was in den letzten Tagen vorgefallen war... danach musste Jerry erstmal durchatmen.


    "Janines Erinnerung wird erst positiv, wenn die Kerle tot sind. Dann kann ich mit ihr leben, vorher geht es nicht.", sagte Kevin mit bitterer Stimme und sah Jerry fest an. Der konnte die Sichtweise zwar verstehen, aber er fand sie nicht gut. Sie war ein Schlag in die Magengrube. Kevin würde noch einen Mord begehen... aber diesmal sagte Jerry die Wahrheit: "Ich weiß es nicht. Wirklich nicht, Kevin. Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste, aber ich weiß es nicht." Er sagte die Wahrheit, das spürte der Polizist. Lügen konnte er wirklich nicht gut... damals sagte er schlicht nicht alles, und Kevin hatte ihn auch nicht gefragt.
    Die beiden verabschiedeten sich und bevor der junge Polizist den Raum verließ, hielt Jerrys Stimme ihn noch kurz zurück: "Mach keinen Scheiss, Kevin. Lass den dritten Strich von deinem Unterarm weg... er ist es nicht wert, was du verlierst... glaub mir."

    Hamburg - 13:30 Uhr


    Semir hatte in seinem Kleiderschrank vielleicht zwei Anzüge. Beide waren schwarz, der eine etwas teurer als der Andere. Warum er sich den Zweiten überhaupt mal zulegte, wusste er nicht mehr... vermutlich war ihm der Erste zu eng geworden. Er wusste aber, dass es nur zwei Anlässe gab, an denen er den Anzug aus dem Schrank nahm. Entweder waren es fröhliche Anläße, wie Hochzeiten, runde Geburtstage die etwas größer gefeiert wurden oder offizielle Anläße der Polizei, wie der alljährliche Ball bei dem sich allerlei Politikpräsenz die Klinke in die Hand gab, und zu dem Anna Engelhardt ihren Stellvertreter jedes Mal nötigen musste, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dann stand Semir immer mit bittersüßer Miene an Stehtischen und wartete, bis er endlich nach Hause durfte.
    Oder aber, es waren traurige Anlässe zu denen er den schwarzen Anzug anziehen musste, meistens dann mit passender schwarzer Krawatte, und das waren zumeist Beerdigungen. Die improvisierte von André, die wirklichen von Tom und Chris... und jetzt, als er vor dem Hotelspiegel die Krawatte fachmännisch band, was er vermutlich gleich bei seinem Partner Ben ebenfalls machen musste, weil der es nicht konnte, musste der Anzug wieder zu dem traurigen Anlaß herhalten.


    Jenny hatte sie vor drei Tagen mit erschöpfter und trauriger Stimme angerufen. Timo sei nur wenige Tage, nachdem er, Ben und Kevin Hamburg verlassen hatten, verstorben ohne noch einmal aufzuwachen. Die inneren Verletzungen, die er durch den Schuss erlitten hatten, waren einfach zu schlimm. Ben und Semir waren gleichermaßen betroffen von der Nachricht und sagten sofort zu, zur Beerdigung zu kommen, schließlich hatten sie mit ihm zusammen gearbeitet, um Jenny zu finden. Die hatte noch Tage an Timos Bett gewacht und gebetet, dass er aufwachen würde.
    Kevins Reaktion war äusserlich distanziert, Ben hatte es ihm gesagt. Aber innerlich nagte Timos Tod an Kevin. Überhaupt war ihr Verhältnis in den wenigen Tagen, in denen die drei wieder zusammenarbeiteten, nachdem die Chefin in Absprache mit Ben und Semir die Entscheidung gefällt hatte, Kevin wieder seinen Job bei der Autobahnpolizei zurück zu geben, von Abstand und beinahe Misstrauen geprägt. Ben bezeichnet es mal, als würden sie sich nicht kennen, als wäre Kevin ein neuer unbekannter Kollege und keine der Seiten hatte ein Interesse daran, die jeweils andere Seite näher kennen zu lernen. War Kevin mit einem der beiden Polizisten zusammen auf Streife, herrschte eine kühle Atmosphäre, in der sich niemand wohl fühlte... ein völliger Gegensatz zu dem, was war wenn Semir und Ben zusammen im Auto saßen. Auch Ben konnte sich, entgegen seiner sonstigen Überzeugung, nicht dazu durchringen tiefergehende Gespräche mit Kevin zu beginnen, oder in vielleicht zu einer gemeinsamen Gitarren-Session zu überreden... der Schock und der Eindruck von Kevin aus dem Parkhaus saß einfach noch zu tief.


    Semir klopfte an Bens Hotelzimmertür, es wurde Zeit, aufzubrechen. Sie würden Jenny bei ihrer Wohnung noch abholen, und der erfahrene Polizist schaute in das völlig verzweifelte Gesicht seines Partners, der noch ohne Jackett aber mit völlig verknoteter Krawatte vor ihm stand. "Ich häng mich an dem Ding gleich auf...", jammerte er gespielt, und Semir zog missbilligend und kopfschüttelnd die Augenbrauen hoch. "Lass den Papa mal ran...", meinte er, entknotete die Krawatte komplett und zurrte fachmännisch einen perfekten Krawattenknoten zusammen. "Wird Zeit, dass du öfters wieder Uniform anziehst. Los, ab gehts... wir sind spät dran." Ein Satz, der für Ben, der chronisch zu spät kam, nicht neu war.
    Jenny war nicht der Typ Frau für lange Kleider... so hatte sie sich für eine dunkelblaue Jeans und einen leichten schwarzen Blazer entschieden. Es war ein schöner, beinahe schon warmer Frühlingstag und die Sonne strahlte vom Himmel, als wolle sie die kleine Trauergemeinde, die sich nach der Messe auf dem Friedhof versammelte, verhöhnen. Jenny aber wollte sich einbilden, dass es Timo war, der mit seinem Jugendfreund und seinen Eltern um die Wette strahlten, weil sie wieder vereint waren.


    Angehörige hatte Timo keine... die Eltern bereits tot, keine feste Freundin oder Geschwister. Im Prinzip lebte der junge Mann völlig allein für sich und lebte für seinen Beruf... was man aufgrund seines sonnigen Wesens nur schwer glauben konnte. Gregor wusste Bescheid um seine Situation, nahm sich dem Jungen aber nicht an, denn er spürte keine Verpflichtung für ihn. Und Schwandt, der Leiter der Dienststelle OK wusste mehr über seine Fallstatistiken als über seine Mitarbeiter. Seine Trauerrede vor dem Grab fiel kurz und allgemein aus, als hätte er sie sich im Internet ausgedruckt. Sie wurde Timo, da waren sich Ben, Semir und auch Jenny später, als sie zusammen in die Hamburger Innenstadt essen waren, gemeinsam einig.
    "Jetzt bin ich vor meinem Trauma in Köln nach Hamburg gezogen... jetzt habe ich hier mein Trauma, und das in Köln ist fort.", sagte die junge Frau nachdenklich. Sie hatte viele Tränen an Timos Bett vergossen, seine Hand gestreichelt und war im ewigen Gefühlschaos gewesen. Sorge um Timo, Trennung von Kevin, Wut auf Kevin, Sehnsucht nach Kevin und wieder Sorge um Timo. Heute kamen ihre Gefühle nochmal kurz, als sie den hellen Sarg im Boden verschwinden sah, und Bens Arm um ihre Schulter vermittelte soviel Trost und Sicherheit, die ihr in den letzten Tagen gefehlt hatte. "Ich kann verstehen, wenn es dir momentan sehr schwierig erscheint, nochmal mit Kevin zusammen... also... zu arbeiten.", sagte Semir vorsichtig. "Aber du weißt, dass dein Platz bei uns immer frei sein wird. Die Chefin wird das genauso sehen." Jenny nickte dankbar und lächelte...


    Um die gleiche Zeit schob in Köln ein junger Mann mit tättowiertem Unterarm eine Kiste unter den Tisch. Das Tattoo war neu, noch leicht gerötet und recht simpel. Es waren zwei Striche, nebeneinander, leicht wackelig und nicht ganz gerade... wie eine Aufzählung, bei der man nach vier Strichen einen Schrägstrich zog. Semir hatte das Werk regestriert, Ben dagegen neugierig nachgefragt... doch die Bedeutung behielt der junge Polizist für sich. "Jetzt bin ich schon das zweite Mal hier...", sagte er mit leicht schief angelegtem Kopf wobei seine abstehenden Haare sich leicht mit bewegten. Ben beäugte die Antwort misstrauisch, denn er wusste, dass es je nach Zählweise bereits das dritte oder vierte Mal war... und dass sich Kevin so etwas Triviales wie die Aufenthalte bei einer Dienststelle sicher nicht auf den Arm tätowieren würde.
    Kevin wäre gerne auch mit nach Hamburg gefahren und wollte zeigen, wie leid ihm die Sache um Timo tat. Aber weder Ben noch Semir hielten es für eine gute Idee, wenn der Mann bei der Beerdigung auftauchte, der den Tod des jungen Polizisten hätte verhindern können. Auch wollten sie Jenny eine neue Konfrontation ersparen und die Chefin verhängte Sonderschichten für den jungen Polizisten... Urlaub oder Krankmeldung nicht akzeptabel. Und er hielt sich daran... vor allem aber um Jennys Willen, obwohl er die Frau, mit der er vor seinem unseeligen Kolumbientrip glücklich zusammen war, bitterlich vermisste. Und genau an sie dachte er in diesem Moment, als er in seinem neuen Büro im kurzärmeligen Shirt am Schreibtisch saß, die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Fäuste gestützt, während mein sein Strich-Tattoo gut sehen konnte... als warte es darauf, bald einen dritten Strich zu bekommen...

    Aus dem Titel „Die verlorenen Kinder“ könnte man meiner Ansicht nach ein starkes Drehbuch mit viel Dramatik und einem neuen Psychopathen machen - Stand 2015.

    Aus dem Titel „Die verlorenen Kinder“ kann man meiner Ansicht nach ein 0815-Drehbuch machen, in dem eine Frau ihr durch ein Verbrechen verstorbenes Kind rächen will, aber sich im Finale von Semir bequatschen lässt - Stand 2017.


    Paul bequatscht sie. Semir schiesst oder schlägt sie nieder...

    Hi @Eye

    schön, dass du dabei bist... freut mich :) . Ich werde dir morgen, wenn du magst, eine Zusammenfassung meiner Storys zukommen lassen. Da sind zwar alle Spoiler der vorherigen Storys drin und nehmen den Anreiz die noch nachzulesen, aber zumindest weißt du dann die Beziehung der Charaktere untereinander.

    Bzgl des Klischees, da hast du Recht. Aber ich hab das bewusst gewählt. Ich bin selbst Spieler und ich weiß auch, dass kein Ballerspiel wirklich einen Amoklauf auslöst. Um sowas zu tun, muss man vorher psychisch schon beeinträchtigt sein, der Trigger muss durch andere Dinge ausgelöst werden. ABER es ist auch so, dass bei manchen Menschen, vielleicht ein Bruchteil der Ballerspieler diese Spiele zumindest ermutigen, oder es erleichtern. Darüber habe ich bereits einige Artikel gelesen. Und auffällig zumindest, dass jene Spiele bei beiden Amokläufern in Deutschland, Winnenden und Erfurt gefunden wurden. Aber wie gesagt, dass Zeut spielt jeder zweite Jugendliche, wenn nicht noch mehr. In meinem Falle ist aber zb nochmal ne andere Dimension in dem er sich von seinem Freund das Gesicht von Mitschülern ins Spiel basteln ließ.

    Mit dem Namen ist allerdings ein ganz ganz peinlicher Fehler meinerseits... || den ich schnell abändere, und den Namen des ersten Opfers verändere... sorry.

    Köln - 13:00 Uhr


    Tobias schwitzte. Seine Stirn war feucht, seine Handflächen schwitzten, während er sich schnell durch das Gebäude bewegte. Angespannt, immer auf der Hut und immer bereit, schnell und präzise den Abzug zu drücken. Nur noch wenig Munition... Sein Herzschlag beschleunigte. Mit einer schnellen Handbewegung wechselte der Jugendliche das Magazin und ging weiter. Hatte er dort aus dem Nebenraum etwas gehört? Sein Herz pochte bis zum Hals, als er sich der Türöffnung langsam näherte, und das Geräusch lauter wurde, je näher er kam. Er wusste, es gibt nur ihn oder mich, einer von ihnen würde jetzt gleich das Zeitliche segnen.
    Aber der 17jährige war geübt. Er ging in den Raum und hatte die Waffe schneller oben als sein Gegner. Zwei schnelle Schüsse aus seiner Pistole, die im Kopf des Jungens einschlugen, der hinter einem Schreibtisch kauerte und dort leblos zusammensackte. Hinter ihm spritzte das Blut an die Wand. Er erkannte das Gesicht, der 18jährige Christians aus der Paralellklasse, der beste Fussballer der Schule. In Tobias stieg eine wohlige Wärme, ein Gefühl der Zufriedenheit auf. "Na, wie ist es dort am Boden?", fragte er laut, bevor er den Abzug ein paar Mal betätigte und den leblosen Körper aufzucken ließ. Er drehte sich weg, verließ den Raum und lief weiter. Nur noch 5 Minuten, und er musste noch zwei von den Schweinen finden, die es auf ihn abgesehen hatten.


    Aus dem Zimmer heraus trat Tobias auf den Flur, lief dort an den großen Fenstern vorbei zur Toilette. Hier war Achmed aus der 12ten, ein gebürtiger Tunesier, aber seit seiner Kindheit schon in Deutschland. Tobias wusste, dass er an der Schule Drogen verkaufte und von kleineren Schülern Schutzgeld erpresste. Auch von ihm... doch damit war jetzt Schluß. Der Tunesier war nicht so schnell wie der junge Schüler, und das Waschbecken, an dem er zusammenbrach war blutbesuddelt. "Du mieser Wixxer. Mich hast du zum letzten Mal ausgenommen.", dachte Tobias als er mit weiteren Salven das Magazin in den leblosen Körper entleerte. Wieder stieg Zufriedenheit und eine merkwürdige Befriedigung, beinahe eine Befreiung in ihm auf, je länger er sich den Jungen am Boden besah.
    Er war völlig vertieft, als er den Raum verließ, dass er nicht merkte, dass jemand hinter ihm stand. Er war in einem Tunnel, in einem Rausch und in seiner eigenen Welt mit sich und seinen Widersachern. Erst als sich eine Hand auf seine rechte Schulter legte, schrak der junge Schüler auf.


    "Mama!! Musst du mich so erschrecken?", rief er und fuhr herum. Seine Mutter stand mit vorwurfsvoller Miene hinter ihm, und zog ihm mit einer Hand die dick gepolsterten Kopfhörer von den Ohren. "Kein Wunder, dass ich mir unten die Lunge aus dem Hals schreie, wenn du diese Dinger auf den Ohren hast.", sagte sie und legte den teuren Kopfhörer auf den Schreibtisch neben die Maus, auf der Tobias' feuchte Hand ruhte, beinahe verkampft das Spielgerät umklammert, den Finger am Abzug. "Ich wollte dir nur sagen, dass das Mittagessen fertig ist... glaubst du, du kannst dein Spiel mal für eine halbe Stunde zur Nahrungsaufnahme unterbrechen?" "Ja... ja, sorry... ich hab dich nicht gehört. Ich komm gleich runter." Mit zwei Klicks beendete er das Ballerspiel an seinem PC und atmete, unbemerkt von der Mutter die kopfschüttelnd zwei leere Flaschen neben seinem Tisch mit in die Küche nahm, einmal durch.
    Es war ihm immer etwas unangenehm, von seiner Mutter so überrascht zu werden. Nicht, dass er was peinliches tat... er spielte Ballerspiele wie vermutlich jeder zweite Jugendliche in seinem Alter auch. Unangenehm war ihm eher, wie ernst er dieses Spiel nahm, wie sehr er sich reinsteigerte... und die Tatsache, dass ihm sein Freund Niklas das Spiel umprogrammiert hatte. Statt vermummter Geiselnehmer, die seine Gegenspieler waren, waren es Leute, die er kannte, aus seiner Schule... die er hasste wie die Pest. Sollten seine Eltern das mal wissen, würde er sich wohl unangenehme Fragen gefallen lassen.


    Am Tisch saß bereits Tobias Vater, während die Mutter dem Mittagessen den letzten Schliff gab und dann mit zwei Töpfen zum Essenstisch kam. "So früh schon Schluß heute, Sohn?", fragte er und legte die Zeitung, die er heute morgen nicht zu Ende gelesen hatte, zur Seite. Er arbeitete bei einem Versicherungsunternehmen in verantwortlicher Position, verdiente gut und konnte es sich wegen seines kurzen Arbeitsweges fast jeden Tag erlauben, mittags daheim zu essen. Dass sein einziges Kind mit am Tisch saß war eine Seltenheit, meistens hatte er bis in den Nachmittag Unterricht, er war auf dem Weg zum Abitur. "Ja... weißt doch wie das ist am Ende des Schuljahres, wenn alle Arbeiten geschrieben sind, fällt hin und wieder mal ne Stunde aus.", sagte er und klang eher desinteressiert, als gäbe es für ihn nichts langweiligeres als sich mit seinem Vater über die Schule zu unterhalten.
    Und so verlief das Mittagessen von Tobias aus sehr schweigend, er hörte mit wenig Interesse dem Gespräch seiner Eltern zu und gab eher einsilbig Antwort, wenn sein Vater ihm ein paar Worte entlocken wollte... wenn man schon mal zusammen zu Mittag aß. Irgendwann wurde es aber auch dem Erwachsenen zu dumm, und er gab die Versuche schnell wieder auf, und sein Sohn dankte es ihm schweigend.


    Nach dem Mittagessen klingelte Tobias' Smartphone, gerade als er das Geschirr in die Spülmaschine räumte. Als Marvins Name darauf ließ, entschuldigte er sich bei seiner Mutter, da müsse er dran gehen. "Ja, geh nur. Ich schaff das hier alleine.", sagte die Frau und trocknete das restliche Geschirr selbst ab. Da ihr Mann so gut verdiente, konnte sie es sich leisten nur halbtags in ihrem Job als Buchhalterin zu arbeiten. "Hi Tobias, hier ist Marvin.", hörte er die aufgeregte Stimme seines besten Freundes am Telefon. "Ja, das hab ich auf dem Display gesehen. Was gibts denn?" "Ich hab den Schlüssel gefunden... ich weiß, wo mein Vater ihn aufbewahrt... wir können an die Sachen ran." Tobias sah sich kurz um... natürlich war seine Mutter weit genug weg, als dass sie Marvins aufgeregte Stimme hätte hören können. Damit aber auch er ungestört reden konnte, verschwand er mit schnellen Schritten in seinem Zimmer.
    "Das ist ja der Hammer. Und ist auch alles da, was wir brauchen?" "Auf jeden Fall. Für jeden eine und genügend Munition. Aber wir können nicht vorher üben... Papa guckt da jeden Tag rein und er würde sofort merken, wenn etwas fehlt oder weggenommen wurde. Wir können es erst holen, an dem Tag, wenn wir es machen." Tobias nickte unmerklich während er gedankenverloren auf der Tastatur drückte und mit einem Leuchten in den Augen sagte: "Und das wird bald sein..."

    Hier der Trailer zur neuen Story, die für mich mehr ein Versuch ist, weil sie anders ist als das, was ich bisher geschrieben habe.

    Natürlich enthält der Trailer Spoiler zur Story... ihr seid gewarnt ;)


    Musik etwa ab 0:10:

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    Man sieht Ben und Semir im Büro, mit misstrauischen Gesichtern im Büro stehen, Szene aus dem Ende von "Vergiss mein Nicht." - eine Stimme aus dem Off: "Aus zuviel Misstrauen..."


    *Schnitt*


    Kevins Gesicht ist zu sehen, mit kaltem Blick, Szene aus dem Keller von "Vergiss mein Nicht", dazu Semirs Stimme: "Kevin hat meine Tochter entführt."


    *Schnitt*


    Eine vermummte Gestalt mit einer Waffe in der Hand dreht sich in Zeitlupe auf einem Korridor zur Kamera um.


    *Schnitt*


    Kevin schaut vorsichtig hinter einer Deckung hervor, atmet schwer. Stimme aus dem Off: "... entsteht ein gefährlicher Irrtum."


    *Schnitt*


    Ein Mann in Polizeiuniform greift zum Telefonhörer und sagt mit ernster Stimme: "Wir haben eine Amoklage."


    *Schnitt*


    Der vermummte Mann schießt ein junges Mädchen in einem Korridor nieder und blickt zu Boden, die gleiche Stimme des Polizisten: "Alle verfügbaren Einheiten zum Montessori-Gymnasium!"


    *Schnitt*


    Ben redet auf Kalle, Kevins Ziehmutter, ein: "Wo hat er sich versteckt?"


    *Schnitt*


    Man sieht Schüler am Boden kauern, kniend und die Hände hinter dem Kopf, vor ihnen sieht man nur die Beine einer Gestalt gehen


    *Schnitt*


    Semir im Auto zu Ben: "Das ist ein Alptraum..."


    *Schnitt*


    Kevin wird aus dem Off eine Waffe an den Kopf gehalten.


    *Schnitt*


    Während man einen Jungen völlig gefesselt am PC sitzen sieht, der heftig klickt, hört man eine Stimme: "Es geht ganz einfach. Du drückst einfach ab. Immer und immer wieder."


    *Schnitt*


    Kevin sitzt an einer Wand, wie die Schüler vorher, steht mit einem lauten "Nein" ruckartig auf und wird niedergeschlagen.


    *Schnitt*


    Eine vermummte Gestalt zieht langsam seine Maske vom Kopf, ein sehr junger Mann kommt zum Vorschein. Dazu eine Stimme im Hintergrund: "Das wird unsere Bluttat." *Musik verstummt*


    Die Story beginnt vorraussichtlich morgen. Viel Spaß

    Ich finde, dass sich das Konzept des unangepassten Lehrers mittlerweile "tot" erzählt hat, weil eben jenes, der Unterricht, mittlerweile komplett aus dem Blickpunkt ist.

    Der letzte Bulle, dessen Serie ein ähnliches Konzept hatte, hat den Absprung rechtzeitig geschafft.

    Autobahn bei Köln - 4:00 Uhr


    Eigentlich wollte Kevin in Hamburg übernachten und erst morgen früh nach Köln zurückfahren, doch nach dem mentalen Tiefschlag am Abend vor Jennys Haustür wusste er, dass er sowieso kein Auge zu machen würde. Das Geld für eine Pension konnte er sich auch sparen, und so machte er sich sofort wieder zurück auf den Weg. Er weinte nicht, er brach nicht zusammen... er stand noch für einige Minuten vor Jennys Haustür und überlegte ob er nochmal klingeln sollte oder einfach gehen sollte. Ihre Sätze waren unmissverständlich und es gab keinerlei Interpretationsspielraum. Es war vorbei. Und ihr gemeinsames Kind gab es nicht mehr. Die Babyschreie, die Kevin in den Drogentrips vernommen hatte, waren ein unheilvoller Vorbote.
    Er hätte gerne gewusst, was passiert war... hatte sie es verloren, aus Kummer um Kevin? Hatte sie es abtreiben lassen, weil das Kind nicht unbedingt gewollt war, dazu auch noch der Vater tot war? Als der junge Polizist sich wieder in sein Auto setzte, wurde ihm klar, dass es allein Jennys Entscheidung war, falls sie es selbst aktiv entschieden hatte. Und er musste das wohl oder übel akzeptieren. Was würde es bringen jetzt Jenny Vorwürfe zu machen... er war dazu weder in der Lage noch in der Position.


    Wie betäubt saß er im Auto und fuhr über die menschenleere Autobahn. Bilder waren in seinem Kopf... Semir, Ben, Jenny, ein kleines Kind von dem er nicht wusste wie es aussah und er würde es auch nie erfahren. Er hatte ganz klar das Ultraschallbild auf seinem Handy vor Augen und das zerissene Gefühl in diesem Moment. Unglaubliche Freude, das Gefühl endlich eine kleine Familie zu haben und trotzdem dazu die Schuldgefühle seine Freundin gerade alleine zu lassen um seinem Herzen zu folgen und Annie zu helfen. Der kurze Moment, alles hinwerfen zu wollen und am anderen Morgen zu Juan zu sagen: "Die Sache läuft nicht. Es hat sich was geändert. Fahr mich zum Flughafen, ich fliege nach Hause." Hätte er es nur getan... aber hätte er damit leben können?
    An einer Tankstelle hielt Kevin kurz an, kaufte sich einen Sechserpack Bier in Dosen und ein Päckchen Zigaretten. Danach fuhr er weiter. Die Autobahn war komplett leer, bis auf den ein oder anderen Sattelschlepper, es war mittlerweile kurz vor Vier und die Kilometerzahl bis Köln wurde von Schild zu Schild niedriger. Irgendwann setzte der junge Polizist den Blinker und hielt auf dem Seitenstreifen, wo er das Auto abstellte. Zischend öffnete er die erste Dose Bier und nahm einen tiefen Schluck, bevor er die Tür öffnete.


    Die Nacht war tiefschwarz und es war kein einziger Stern am Himmel zu sehen, als würden sie sich vor Kevin verstecken, als hätten sie Angst vor ihm. Der Polizist lief auf der Linie entlang, die die Fahrspur vom Seitenstreifen trennte, die Dose in der Hand und eine Zigarette im Mund. Er ging sie rauf in Fahrtrichtung, den Weg zurück nahm er auf dem Mittelstreifen, wo die Linie gestrichelt war. Würde ein Sattelschlepper ihn rechtzeitig erkennen, nur mit den Scheinwerfern? Und wenn ja, könnte er noch ausweichen? Immer wieder sah der Polizist, nachdem er die zweite Dose Bier geöffnet hatte nach oben zum Himmel, als wartete er darauf, etwas erkennen zu können, doch nichts tat sich. Als er für einen Moment auf der Überholspur stand, donnerte ein LKW auf der rechten Spur an ihm vorbei.
    War das Janines Rache?, dachte er bei sich. Dass er ihr nicht geholfen hatte in der Nacht, als sie umgebracht wurde? Dass er noch nicht alle ihre Mörder zur Strecke gebracht hatte? Nach Peter Becker und Patrick war noch einer übrig... würde sie ihn dann endlich in Ruhe lassen? So schön manche Erinnerung an seine Schwester war, so grausam hatte sie sich mittlerweile tief in seinem Kopf festgesetzt und bestimmte sein Leben. Nur durch diese Schuldgefühle hatte er den selbstmörderischen Trip nach Kolumbien auf sich genommen, weil sie ihn zwang nicht den gleichen Fehler zu tun.


    Er hatte alles gehabt... endlich angekommen auf der Autobahnpolizeidienststelle. Er war mit Jenny zusammen, sie liebten, sie wohnten zusammen und Kevin schaffte es, sich endlich einem Menschen ohne Kompromisse zu öffnen. Er war glücklich... so glücklich wie zuletzt auf seinem 18. Geburtstag. Alle anderen kurzzeitigen Hochs waren niemals so eindrucksvoll wie diese Wochen mit Jenny als Freundin, mit Ben und Semir als Partner. Er hatte alles verloren. Ben und Semir würden ihm nie wieder vertrauen... wenn sie ihn überhaupt noch als Partner wollten. Eine Beziehung mit Jenny war unmöglich... er war in Köln, sie in Hamburg und sie hatte ihm nun unmissverständlich gesagt, dass es nach dieser Sache nicht mehr ging. Der nächste Sattelschlepper donnerte dicht an seinen Füßen vorbei, als er jetzt mit dem Rücken an der Fahrertür saß, zwischen Straße und Auto. Erst jetzt, nachdem er lange dort saß, umherging und nicht wusste, ob es mehr Sinn machte morgen ganz normal zur Arbeit zu gehen, seine Sachen zu packen und wegzufahren oder sich doch vor einen Sattelschlepper zu werfen, begann er zu weinen. Er weinte genauso hemmungslos, wie damals in Kolumbien, als Jennys Foto vom Ultraschall bekommen und gesehen hatte. Nur dass es diesmal keine Mischung aus Freude und Wut war, sondern ausschließlich Wut darüber, alles kaputt gemacht zu haben.


    Als drei Stunden später die Sonne aufging, stand der Wagen immer noch auf dem Seitenstreifen. Von Kevin war auf dem Seitenstreifen nichts zu sehen, er saß nicht im Auto, nicht am Auto oder stand auf der Straße herum. Der Verkehr nahm zu und bei der Autobahnpolizei ging von mehreren Autofahrern die Meldung von einer Person auf der Autobahn ein, die scheinbar entweder verwirrt oder betrunken an der Mittelleitplanke sich befand. Es war der erste Einsatz des Tages für Semir und Ben, die die Stelle anfuhren, von der sie die Mitteilung bekamen. Als erstes sahen sie das Auto, das ihnen bekannt vorkam, am Seitenstreifen stehen. "Das kann jetzt nicht wahr sein...", murmelte Ben, als Semir den BMW vor Kevins Wagen auf dem Seitenstreifen parkte, und die beiden Männer ausstiegen, um herüber zu blicken.
    Stocksteif saß er da. Unter ihm lagen unzählige Zigarettenstummel und 5 zerquetschte Dosen Bier, die letzte setzte er gerade an den Mund an, zwischen Mittel- und Zeigefinger hielt er eine weitere glimmende Zigarette. Seine Haare waren so abstehend wie früher und sie hoben sich von der Silhouette des jungen Mannes mit dem orangenen Morgenhimmel im Hintergrund ab. Er saß auf den Stahlquerrippen der beiden Mittelleitplanken im Schneidersitz... unbequem aber für den Hauptverkehr völlig ungefährlich, ausse es würde einen Unfall geben. Er tat nichts, ausser da sitzen und zu warten. Er wartete auf den Sonnenaufgang... er wartete auf einen neuen Anfang.


    ENDE

    Lest euch den Abschnitt nochmal durch:


    Er stand vom Stuhl auf, drehte sich schon von der Chefin weg und blickte durch die Glasscheibe direkt zu Ben und Semir, die scheinbar von ihrer Tour kamen und nun an Andrea's Tisch standen, mit Blick in Richtung Kevin. Für eine, vielleicht zwei Sekunden blickten sich die drei Männer an, Ben und Semir in Richtung Kevin, und der junge Polizist konnte bei seinen beiden Kollegen Unsicherheit, Kälte und Skepsis im Gesicht ablesen. Er kannte dieses Gefühl, denn genau diese unbewusste Ablehnung und Kälte erfuhr er über seine komplette Ausbildung hinweg wegen den Vorurteilen seiner Vergangenheit, und führten dazu, dass er um sich herum eine Mauer der Arroganz aufbaute und niemanden in sein Herz blicken ließ. Und obwohl er sich gerade der Chefin, unüblich für ihn, geöffnet hatte, hatte er das Gefühl er müsse genauso reagieren wie damals. Bevor er das Büro verließ, drehte er sich nochmal zur Chefin und meinte leise: "Ich kann die beiden verstehen... ich würde mit mir auch nicht mehr arbeiten wollen."


    Glaubt ihr wirklich, Kevin wäre jetzt offener?

    Dienststelle - 14:00 Uhr


    Sie hatten nur wenige Worte miteinander gewechselt... ein kurzes "Hallo, wie gehts?" "Geht so... muss weitergehen."... Sie fühlten sich wie Fremde, denen ein Gespräch unangenehm war, bevor Kevin sich mit den Worten "Ich hab noch was vor." verabschiedete und Semir ausser einem "Hallo" und "Tschüss" gar kein Wort rausgebracht hatte. Sogar anderen im Raum fiel diese fremdartige Atmosphäre auf. Von Vertrautheit war nichts mehr zu spüren und genau das war auch das Gefühl, was in Ben übrig blieb, als Kevin den Raum verlassen hatte. Die Chefin winkte ihre beiden besten Mitarbeiter in ihr Büro, die beiden konnten das durch die Glastrennscheibe sehen.
    Die Chefin sah die beiden an und konnte ihre Erwartungen in den Gesichtern ablesen. Nachdem Ben eben noch verschwunden war, war er eine halbe Stunde später, wesentlich beruhigter, wieder aufgetaucht. Manchmal brauchte er das eben, bevor er unsachlich wurde... da war eine Flucht und ein kurzes Abkühlen besser. Danach brauchten die beiden Freunde auch keine Aussprache oder Versöhnung. "Und? Was hat er gesagt?", fragte Ben als Erstes, nachdem sie sich auf den Stühlen niedergelassen hatten. "Er war sehr auskunftsfreudig, das hat mich überrascht. Und ich hatte das Gefühl, dass ihm die ganze Sache sehr ehrlich leid tut, und er selbst nicht begreifen kann, wie ihm das passieren konnte. Ich hege keinen Zweifel daran, dass diese Situation einzig wegen seines Gedächtnisverlustes so eskaliert ist.", erzählte die Chefin von ihren Gedanken.


    Für Ben war das eine Bestätigung, Semir nickte leicht. Der erfahrene Polizist wollte so gerne Kevin anblicken und den Kevin von früher sehen... den Kevin, der sich leichtsinnig vor eine geladene Waffe stellte, um ihn zu schützen. Den Kevin, der Semir half, seine Tochter aus den Fängen eines Entführers zu befreien und den Kevin, der ihn gemeinsam mit Ben vor Neo-Nazis rettete. Wenn er in seinen Gedanken war, sah er zur Zeit nur den Kevin, der ihn gegenüber Annie verraten hatte und der versucht hatte, seinen besten Freund umzubringen. "Wird er hier bleiben?", fragte Ben. Die Chefin seufzte kurz: "Ich habe das Gefühl, dass er hier bleiben will. Er hat sich nicht klar geäussert, nur Andeutungen gemacht. Ich kann aber auch verstehen, dass das eine schwierige Situation ist. Aber in erster Linie müssen sie mit ihm zusammenarbeiten.", verwies Anna Engelhardt und betonte das "Sie" auf die beiden Polizisten. Damit meinte sie, dass sie die Entscheidung von ihren beiden besten Beamten abhängig macht.
    Semir sah Ben von der Seite und biss sich auf die Lippen. "Du bist in erster Linie betroffen... du hattest direkte Konfrontation mit ihm.", sagte der erfahrene Polizist, und Ben nahm den Blick seines Partners auf. "Ich will das nicht alleine entscheiden.", war dessen Antwort, denn er spürte sofort, dass eine Entscheidung ihm schwer fallen würde. Er wollte mit Kevin zusammenarbeiten und er wollte, dass alles wieder so wie früher wurde. Aber er hatte Angst... Angst vor Rückschlägen, Angst davor, die falsche Entscheidung zu treffen. "Du entscheidest das nicht alleine, Ben. Aber es betrifft dich einfach eher. Und wenn du mit Kevin weiterhin zusammenarbeiten kannst... dann kann ich das auch."


    Hamburg - 21:00 Uhr


    Übelkeit war es, was Kevins Magen bestimmte. Er war den ganzen Tag unterwegs, war nach dem Gespräch sofort Richtung Hamburg aufgebrochen. Jetzt war es eine Mischung aus Hunger und Nervosität, die Kevins Finger zittern ließ, als er das Klingelschild drückte, auf dem "Dorn" stand, und der ihre Stimme an der Sprechanlage ertönte. "Ja?" "Hier ist Kevin." Kurze Stille, ein Räuspern. "Was willst du?" Die Kälte in ihrer Stimme nahm Kevin den Atem, und für einen Moment überlegte er, sich umzudrehen und zu gehen... nicht weil er beleidigt war, sondern weil der Ton ihn mitten ins Herz stach. "Ich will mit dir reden." Wo Kevin früher in solchen Situationen selbst distanziert und kühl war, hörte man jetzt bereits aus seiner Stimme, wie es ihm wirklich ging. Als müsse Jenny nachdenken, dauerte es einige Sekunden bis der Summer ertönte.
    Die junge Frau hatte eine Abwehrhaltung eingenommen, als sie im Türrahmen lehnte, die Hände vor der Brust verschränkt. Doch auch ihr ging es im Inneren nicht gut, sie spürte diese Zerissenheit... zu Kevin hin, sich Timo verpflichtet, in Erinnerung an Kevin als er sie schützte, in Erinnerung daran, wie er vor ihr stand und mit der Waffe auf ihren Kopf zielte, um Minuten danach einen Menschen eiskalt zu erschiessen. Jetzt, wo sie den Mann sah, den sie liebte, wollte sie ebenfalls am liebsten weglaufen.


    Kevin blieb vor ihr stehen und Jenny machte keine Anstalten, ihn herein zu bitten. "Wie soll das jetzt weitergehen zwischen uns?", fragte der Polizist mit trauriger Miene. Die letzte Begegnung war jene im Krankenhaus, als Jenny den jungen Mann aufs Heftigste beschimpfte. Kevin nahm es ihr nicht krumm, es war eine mentale Ausnahmesituation, aber er vermisste die junge Frau sehr. Und er wollte Klarheit. "Was denkst du denn? Wie es weitergeht?", fragte sie als Gegenfrage, weil sie auf die Frage keine Antwort parat hatte. "Wir waren ein Paar, bevor ich nach Kolumbien gefahren bin. Und was passiert ist... und was du von mir vor einigen Tagen gesehen hast und dass das nicht einfach so wegzustecken ist." Jenny musste sarkastisch kurz auflachen und sah kurz zu Boden. Es sollte Kevin nicht verhöhnen, und doch fühlte er genau das.
    "Wenn du das Buch nicht gefunden hättest... was hättest du getan?", fragte sie knallhart und traf wieder Kevins Nervenzentrum. "Hättest du abgedrückt?" Sie blickten sich an wie zwei Raubtiere, die sich nicht verletzen wollten, aber nicht drumherum kamen, weil es ihr Naturell war. Die Frage verursachte bei dem jungen Polizisten Horrorqualen. "Jenny... ich... was soll ich dir darauf antworten? Ja, ich hätte abgedrückt? Ich war nicht ich selbst... ich konnte mich an nichts erinnern."


    Sie spürte, dass sich eine Klammer um ihre Brust legte. Es tat ihr selbst weh, so herzlos zu Kevin zu sein, und doch konnte sie sich nicht überwinden, einfach alles ungeschehen zu lassen. Sie hätte sich so sehr seine Schulter gewünscht, als ihr gemeinsames Baby starb und jetzt wies sie ihn ab. "Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich weiß nicht, wann du du selbst bist... jetzt oder im Keller. Was ist dein wahres Gesicht?", sagte sie leise und sah ihn an. Ein fassungsloses Kopfschütteln war die Antwort: "Das kann nicht dein Ernst sein...", antwortete er in ebenso leiser Lautstärke. Ein Mann, der auch unter Gedächtnisverlust eiskalt einen Menschen erschoss... dazu musste man generell einfach skrupellos sein. Nur weil man sich an Dinge erinnerte, ändert das nicht den Charakter.
    "Du hättest auch einen Menschen getötet, wenn du klar bei Verstand gewesen wärst. Das hast du selbst gesagt, dass du Peter Becker erschossen hättest... damals.", sagte sie. Kevin schluckte. "Das hast du aber schon gewusst, bevor du die Beziehung mit mir eingegangen bist, Jenny." "Ich weiß...", meinte sie tonlos. "Aber da war ich nicht dabei. Etwas erzählt bekommen und mit eigenen Augen etwas sehen... das ist ein Unterschied." Jetzt spürte sie, dass sie das Wasser nicht mehr halten konnte. Ihre Augen wurden feucht, sie brach nicht in Tränen aus, aber Kevin konnte das Glitzern deutlich sehen.


    Auch der junge Polizist schluckte und sah kurz zu Boden. Den Blickkontakt aufrecht erhalten fiel ihm in dieser Situation unglaublich schwer. "Ich war so wütend auf dich, als du nach Kolumbien gefahren bist, um Annie zu suchen.", begann Jenny wieder mit leiser Stimme. "Aber ich habe irgendwann gewusst, dass du das tun musst. Und ich war der unglücklichste Mensch, als diese Frau mit Juan bei mir aufgetaucht ist um mir zu sagen, dass du in einem Fluss ertrunken bist." Er blickte wieder auf und hatte sofort eine Entschuldigung für diesen Kummer auf den Lippen, aber Jenny sprach einfach weiter, ließ ihn nicht zu Wort kommen: "Dann habe ich dich auf der Couch gesehen... du warst da, du warst lebendig, und du hast mir nicht geholfen. Und irgendwann stehst du vor mir, zielst auf mich... um dann vor meinen Augen einen Mann zu erschiessen... und ich höre dass du zugelassen hast, dass ein Freund von mir... ein Kollege von uns... angeschossen wird." Sie schüttelte langsam den Kopf und eine Träne tropfte von ihrem rechten Auge auf ihre Wange. "Kevin... es kann jetzt nicht einfach so weitergehen, als wäre nichts passiert. Das geht nicht..."
    Was würde es bringen, wenn er sich rechtfertigte... eigentlich wusste Jenny alles. Er konnte nichts dafür, dass man ihn irrtümlich für tot gehalten hat. Er hatte sein Gedächtnis verloren, und als er Patrick erschoss, hatte die Wut und die Rache Kontrolle für ihn ergriffen. An Timos Unglück konnte er nichts tun. Aber alle Worte, jede Rechtfertigung, wäre in diesem Moment verhallt und nichts wert gewesen. Diese Geschichte, dieses Unglück, stand zwischen ihnen, und auch Kevin wusste schon vor diesem Gespräch, dass er und Jenny nicht einfach wieder zusammenleben könnten.


    Und obwohl ihm das schon vorher klar war, fielen ihm die eigenen Worte so schwer, und sie stachen beiden unbarmherzig in die Seele. "Also... ist es vorbei?", fragte er stockend mit traurigem Blick, und mit ebenso traurigem Blick nickte die junge Frau. "Ja... ich... ich denke schon." Es war eine Endgültigkeit in ihren Worten, die zentnerschwer waren, und die beiden noch lange auf der Seele lasten würden. Der junge Polizist nickte tonlos, und wollte sich schon zum Gehen wenden.
    Aber etwas brannte Kevin noch auf der Seele, und er musste es fragen. Es war das, was in seiner Erinnerung noch offen war, und was er sich während beiden schlimmen Drogentrips nicht erklären konnte. Er drehte sich nochmal zu Jenny um, die ihn darauf eigentlich nicht ansprechen wollte. Es würde ihn und sie noch mehr belasten und beinahe hoffte sie, dass er es vergessen hatte. "Jenny... entschuldige die Frage aber...", begann er vorsichtig. "Bist du... also..." Plötzlich kam die Erinnerung, jetzt wo er Jenny sah und er intensiv drüber nachdachte... und die böse Ahnung überfiel ihn, warum sie ihn nicht darauf angesprochen hatte. "Was... was ist mit unserem Kind?" Plötzlich war das Ultraschallbild ganz klar vor seinen Augen und die Situation, sitzend an der Wand in dem kleinen Zimmer in Kolumbien, ganz real. Genauso real, wie das traurige Kopfschütteln seiner ehemaligen Lebensgefährtin, als sie leise flüsterte: "Es gibt kein Kind mehr...". Das leise "Machs gut...", als sie die Tür langsam schloß, nahm Kevin nicht mehr wahr...

    Dienststelle - 13:00 Uhr


    Ben hatte Kevin angerufen, und auf die Dienststelle gebeten. Ihm wurde gesagt, er solle sich ein paar Tage ausruhen, sich sammeln, wieder ankommen und Kevin hatte die zwei Tage genutzt. Er hatte viel geschlafen, hatte zumindest die Pillen durch harmlosere Joints ersetzt, die ihm beim Einschlafen halfen. Er ging wieder zum Sport, zumindest joggte er in der Frühlingssonne zweimal am Tag am Rhein vorbei. Und er blätterte viel in dem Bilderalbum, das er aus Patricks Wohnung hat mitgehen lassen, denn es half ihm die Erinnerung weiter zu ordnen. Ihm wurde immer klarer, welch abartiges und durchtriebenes Spiel der Verbrecher mit ihm gespielt hatte. Für alles, was Kevin fragte hatte Patrick eine Antwort und vermengte geschickt Kevins Vergangenheit, an die sich der junge Polizist erinnerte mit verlorener Erinnerung. So baute er für ihn eine eigene Geschichte, dass Kevin erst vor kurzem im Knast saß wegen Einbrüchen, und weckte somit nur dunkle Erinnerung an den Gefängnisaufenthalt wegen mutmaßlichem Mordes, was sich später nicht bewahrheitete.
    Allerdings brannten Kevin noch einige Fragen auf der Seele, Dinge die er gesehen und gespürt hatte. Eine Frage musste noch warten, die andere beantwortete er sich durch einen kurzen Anruf im Gefängnis selbst. Mit Erleichterung stellte er fest, dass Patrick zumindest hinsichtlich Jerrys Tod gelogen hatte.


    Im Inneren fühlte Kevin sich unwohl, als er die Tür zur Dienststelle aufdrückte und es im Großraumbüro ein wenig stiller wurde. Man hatte sich abgesprochen über die Vorkommnisse erst einmal Stillschweigen zu bewahren, und so waren nur die engsten Kollegen eingeweiht... Andrea wusste natürlich Bescheid und drückte dem Auferstandenen nur kurz und kühl die Hand. Der Abschied der beiden vor einigen Monaten war ebenso feindselig, nachdem herauskam, dass Kevin ausgerechnet der Frau helfen wollte, die mitschuldig an dem damaligen schlechten psychischen Zustand von Semir war. Auch Bonrath und Hotte wussten Bescheid. Der baumlange Polizist war sich unschlüssig, wie er darauf reagieren sollte und schüttelte Kevin ebenfalls nur die Hand, jedoch ohne den kühlen abweisenden Blick wie Andrea. Hotte, dessen Herz schon zu Beginn für Kevin und dessen schwerer Jugend und Vorgeschichte geöffnet war, war schockiert über die Erzählung von Ben... einerseits aufgrund Kevins Brutalität, die das Vertrauen der beiden Kommissare so schwer geschädigt hat, andererseits aber auch aus Mitleid. Kevin war dahingehend ein leichtes Opfer und in Hottes Augen wurde er für etwas Gutes bestraft... nämlich einem Menschen in Not zu helfen. Er hatte, nach Kevins Verschwinden, darüber auch mit Andrea eine Zeitlang geredet. Ein Menschenleben war ein Menschenleben und Kevin hatte mit seiner Reise nach Kolumbien in erster Linie etwas Gutes im Sinn, nämlich Annie zu helfen. Wäre er nicht gefahren, hätte er sie einfach ihrem Schicksal überlassen, hätte er sich mit der Annie, die Andrea und Semir damals verfluchten, auf eine Stufe gestellt. Für Andrea war es schwer zu akzeptieren, sie musste aber zugeben dass der lebenserfahrene Herzberger irgendwo Recht hatte. Und dieser war auch der Einzige, der ein "Schön, dass es dir gut geht", für Kevin übrig hatte.


    Ben und Semir waren zu dem Zeitpunkt unterwegs auf Streife, ihr Büro leer, und so beschloß der junge Polizist die unangenehme Sache gleich hinter sich zu bringen. Das klirrende Klopfen an der Glastür der Chefin wurde mit einem "Herein" beantwortet. Oft schon saß er auf diesem Stuhl vor den meist kritischen Augen seiner Vorgesetzten, obwohl er noch nicht so lange bei der Autobahnpolizei war. Diesmal fühlte es sich fremd an. Auch die Chefin reichte ihm die Hand, fragte nach seinem Wohlbefinden und der Polizist nickte: "Geht so.", bevor er sich setzte. "Semir und Ben haben mir schon einiges erzählt, Herr Peters. Aber es wäre vielleicht ganz gut, wenn sie das Ganze noch einmal aus ihrer Sicht erzählen. Ich möchte einfach... sagen wir, wissen was sie in der ein oder anderen Situation gefühlt haben." Und dann setzte sie nach einem kurzen Räuspern hinzu: "Denn es geht auch um ihre Zukunft bei uns."
    Anna Engelhardt hatte das Äussere des alten Kevins vor sich. In seiner verwaschenen, am Knie franseligen Jeans, seiner Lederjacke, die er noch bei Kalle hatte und seinen abstehenden Haaren sah er äusserlich aus, wie zu dem Zeitpunkt, als er Köln in Richtung Kolumbien verließ. Und so erwartete sie kurze Sätze, wenig Information und ein Einigeln hinter seine Schutzmauern. Doch Kevin erzählte, er redete und ließ nichts aus. Das, was er auch gegenüber Semir und Ben schon auf der Heimfahrt von Hamburg getan hatte. Es schien der Chefin, als wolle er etwas los werden, als könne er damit diese Geschichte von sich schütteln, als wolle er eine andere Strategie der Vergangenheitsbewältigung wählen, als früher.


    Der junge Polizist erzählte von dem Gefühl der Leere in seinem Kopf, der Qual sich an nichts erinnern zu können, Gesichter zu sehen, und nicht zuordnen zu können. Von Patrick, der ihn manipulierte, von Ben und Semir die er für die Mörder seiner Schwester hielt. Davon, dass im Parkhaus plötzlich Timo aufgetaucht sei, ihn festnehmen wollte und Patrick aus dem Hinterhalt auf Timo schoss. Nur bei der Szene im Keller log er. Er erzählte, dass Patrick zur Waffe greifen wollte, und Kevin ihn in Notwehr erschoss. Nur Jenny und er kannten die Wahrheit, und während er erzählte, sah er die Chefin mit festem Blick an. Er schäme sich für das, was er getan hatte, es tat ihm Leid... und er gab offen zu, dass er nicht genau wusste, wie er mit allem umgehen sollte.
    "Wollen sie die Hilfe eines Psychologen hinzuziehen?", fragte die Chefin, als Kevin mit seiner Erzählung fertig war. "Ich... ich weiß nicht, ob das etwas bringt.", sagte er leise und blickte wieder zu Anna Engelhardt. "Ich bin nicht so gut im Reden. Und bei einem Psychologen muss man viel reden." "Nun, sie haben schon mehr erzählt, als ich es vermutet habe.", nickte sie anerkennend, blickte auf die Kritzeleien, die sie sich während des Gespräches gemacht hatte. "Ich kann ihnen nicht sagen, was die Innere jetzt gegen sie entscheidet, aber sie wurden nicht beanzeigt. Ich gehe davon aus, dass sie weiter im Polizeidienst bleiben können." Der junge Mann nickte mechanisch und hatte kein Gefühl für diesen Satz. Kein positives, kein negatives. "Ob sie hier bleiben können...", die Chefin räusperte sich: "Das kann ich noch nicht sagen. Ich werde eine Entscheidung zusammen mit Semir fällen." Dieser Satz ließ Kevin aufblicken, und ein untrügerliches Gefühl beschlich ihn. Natürlich konnte er sich denken, dass die Chefin schon mit Semir geredet hatte. "Die beiden wollen nicht mehr mit mir zusammenarbeiten, nicht wahr?" Seine Stimme klang dabei komisch, resigniert und traurig. "Nein, das stimmt so nicht. Aber die Situation ist nicht einfach, das können sie sich vorstellen. Auch für die beiden nicht. Geben sie uns etwas Zeit, machen sie noch ein, zwei Tage frei."


    Eine tiefe Niedergeschlagenheit machte sich in Kevin breit, und er konnte selbst nicht erklären, warum er dieses Gefühl gerade hatte. Würde er sich besser fühlen, wenn die Chefin sofort gesagt hätte, er könne wieder arbeiten. Keine Ahnung. Würde er sich besser fühlen, wenn Semir und Ben ihn sofort in die Arme schließen würde, sagen würden dass alles wieder gut sei, und zu Hause Jenny auf ihn wartete... Definitiv. In seinem Innersten wünschte er sich genau das... die Zeit zurückdrehen zu können bis zu dem Zeitpunkt der Beerdigung von dem jungen Punk Sammy. Als Kevin sich für Semir entschied und Annie, die um Verzeihung bat, einfach stehenließ. Wie er Semir und Ben um Verzeihung bat. So wie er jetzt um Verzeihung bat, und von Jenny im Krankenhaus stehen gelassen wurde. Er würde seine Jugendliebe in den Arm nehmen, verzeihen und sagen, dass er für sie da ist. Annie würde nicht nach Kolumbien fliehen und Kevin wäre immer noch glücklick mit Jenny. Er stand vom Stuhl auf, drehte sich schon von der Chefin weg und blickte durch die Glasscheibe direkt zu Ben und Semir, die scheinbar von ihrer Tour kamen und nun an Andrea's Tisch standen, mit Blick in Richtung Kevin. Für eine, vielleicht zwei Sekunden blickten sich die drei Männer an, Ben und Semir in Richtung Kevin, und der junge Polizist konnte bei seinen beiden Kollegen Unsicherheit, Kälte und Skepsis im Gesicht ablesen. Er kannte dieses Gefühl, denn genau diese unbewusste Ablehnung und Kälte erfuhr er über seine komplette Ausbildung hinweg wegen den Vorurteilen seiner Vergangenheit, und führten dazu, dass er um sich herum eine Mauer der Arroganz aufbaute und niemanden in sein Herz blicken ließ. Und obwohl er sich gerade der Chefin, unüblich für ihn, geöffnet hatte, hatte er das Gefühl er müsse genauso reagieren wie damals. Bevor er das Büro verließ, drehte er sich nochmal zur Chefin und meinte leise: "Ich kann die beiden verstehen... ich würde mit mir auch nicht mehr arbeiten wollen."