Köln - 15:10 Uhr
Eine Heimat, festen Wohnsitz, das Gefühl nach Hause zu kommen. Ben konnte nachfühlen, dass Kevin dieses Gefühl lange nicht hatte als sie vor dem Altbauhaus am Kölner Stadtrand ausstiegen. Als sie den jungen Polizisten kennengelernt hatten, wohnte er in einem heruntergekommenen Wohnsilo, für sich isoliert. Es war ein schreckliches Gefühl zum ersten Mal seine Wohnung zu betreten. Sie war vermutlich die sauberste im ganzen Block, Kevin lebte nicht im Mief, aber die Atmosphäre drum herum war einfach nur bedrückend. Danach zog er zu seiner Ziehmutter Kalle. Sie war ein Transvestit-Künstler rund um die Uhr, zog ihn auf weil sie Kevins Vater, der sich nicht um den Jungen kümmerte, aus dem Rotlichtbezirk kannte. Auch seine Schwester nahm sie bei sich auf.
Kalle war aber weder Mama noch Papa... sie war keine Bezugsperson, sondern Ansprechpartnerin. Sie bot den beiden Kindern das bisschen Liebe, was zum Leben nötig war und eine raue Herzlichkeit, die sie nie abgelegt hatte. Dass Kevin auf die schiefe Bahn geriet, konnte auch sie nicht verhindern... sie sah es als "vorprogrammiert" an, bei seinem Hintergrund.
Als Kevin mit Jenny zusammen kam, zog er aus und zu der jungen Polizisten. Zum ersten Mal fühlte er sich richtig zu Hause, wenn er von der Arbeit heimkam. Zum ersten Mal Dazugehörigkeit, Wärme und Geborgenheit. Er setzte es aufs Spiel und verlor. Nach seiner Rückkehr aus Kolumbien kam er wieder bei Kalle unter.
"Mal hier, mal dort... das ist für einen Menschen auch nicht gut.", murmelte Ben mehr für sich, als sie vor dem Haus ausstiegen und den Klingelknopf drückten. "Er hat sich das selbst ausgesucht." Semirs Antwort klang in Bens Ohren ungewohnt kaltherzig, und er stellte mit Erschrecken fest, dass er das Gleiche gedacht hatte. Als müsse er sein eigenes Gewissen beruhigen fragte er schnippisch: "Hat er das?" Der junge Polizist spürte bei seinem erfahrenen Partner die Unsicherheit und Dünnhäutigkeit. Die Anrufversuche hatte er mittlerweile aufgegeben und je mehr Zeit verstrich ohne dass sein Handy klingelte und sich Ayda endlich meldete, desto mehr wurde die Befürchtung greifbar, es sei etwas Schlimmes passiert.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die mächtige Erscheinung von Kalle an der Tür auftauchte und misstrauisch auf die beiden Beamten sah. Polizisten gehörten nicht zu ihrer Lieblingsspezies und ausser Kevin (der in ihren Augen nie ein richtiger Polizist war, eher ein Verfechter für Gerechtigkeit) hatte sie noch keinen sympathischen Polizisten kennengelernt. Auch sah sie manche Erzählung von Kevin über Ben und Semir kritischer, als sie die lobenden Worte ihres Ziehsohns auf der Plusseite verbuchte.
"Ja?", fragte sie schnippisch. "Ist Kevin zu Hause?" Semir sah ernsthaft drein und hielt es nicht für nötig, seinen Ausweis zu zeigen. Erstens kannte Kalle die beiden Polizisten und zweitens konnte die Nachfrage auch rein privater Natur sein. "Nein, der arbeitet. Das müsstet ihr doch wissen." "Er ist übers Handy nicht erreichbar. Hat er gesagt, dass er noch irgendetwas erledigen will?" Ben und Semir spürten die Ablehnung in Kalles Gestik und Mimik. Scheinbar hatte Kevin von den letzten Vorkommnissen mit den beiden Polizisten und ihr gestörtes Verhältnis untereinander erzählt, und die Ziehmutter hatte klar Stellung bezogen. "Wenn ihr das hättet erfahren sollen, hätte er es euch erzählt."
Mit diesem Satz wollte sie eigentlich die Tür schließen, aber Semir stellte seinen Schuh zwischen Rahmen und Tür. "Was soll das?", zischte Kalle. "Hören sie! Er sollte meine Tochter von der Schule abholen, und nun sind beide spurlos verschwunden. Wir haben die Vermutung, dass Kevin...", Semir stockte. Er wollte es schon wieder sagen. Er wollte Kevin schon wieder vorverurteilen, wie er es eben bei Hartmut gemacht hatte. "Wir haben die Befürchtung dass beiden etwas passiert sein könnte.", kam sein Partner ihm zur Hilfe.
Kalle sah abwechselnd von einem zu dem anderen Kollegen. "Ihr glaubt, er hat der Kleinen was angetan?" Es war eine Mischung aus Fassungslosigkeit in ihren Augen und Arroganz in der Stimme. Semirs Mund war staubtrocken und seine Gedanken in seinem Kopf liessen mögliche Antwortmöglichkeiten durcheinander purzeln. "Wir glauben gar nichts.", stellte Ben klar. "Wir suchen ihn, weil wir uns Sorgen um ihn machen. Und vor allem um Ayda. Also helfen sie uns, wenn sie etwas wissen."
Kalle bewegte die Lippen, als würde sie etwas kauen. Sie sah auf den Boden und dachte nach, für die beiden Polizisten war dieses Schweigen schwer zu ertragen. Denn es schien fast, als sei es ein Schuldeingeständnis. "Wo hat er sich versteckt?", rutschte es Ben raus, und diesmal verurteilte er Kevin vor. "Er hat sich nirgends versteckt!", fauchte Kalle. "Er hat schon Recht, wenn er euch nicht vertraut, und nicht erzählt wo er zur Mittagspause war. Sein ganzes Leben lang wurde er von seinen sogenannten Kollegen..." sie spuckte das Wort fast schon verächtlich aus... "... als Krimineller gebrandtmarkt. Nicht als einer von ihnen. Der Junge, der von der Straße kam und in den Polizeidienst wollte. Zuhälter-Vater, Ziehmutter aus dem Gewerbe... pah. Dabei wart ihr die Ersten, über die er auch mal gut gesprochen hatte."
Kalles Worte drangen vor allem in Bens Seele ein, und die beiden Polizisten standen recht hilflos an der Tür. Aber Kalle verstand immerhin eines: Semir machte sich ernsthaft Sorgen um seine Tochter, und das erweichte ihr Herz. Sie war sich ganz sicher, dass Kevin ihr nichts angetan hatte... und dass es eine Erklärung für das Verschwinden geben musste. "Er wollte in der Mittagspause zu Jerry. Mehr weiß ich nicht. Und jetzt lassen sie mich zufrieden.", sagte sie missmutig und zog nun endgültig die Tür zu, nachdem Semir den Fuß aus der Tür genommen hatte.
Beide Polizisten gingen niedergeschlagen zu ihrem Dienstwagen. Es fühlte sich beschissen an, dachte Ben... wenn man so den Spiegel vorgehalten bekommt. Sie dachten wie die Kollegen von Kevin, über die er sich immer beklagt hatte, in seinen alten Abteilungen. Vorurteile gegenüber seiner Vergangenheit. Einmal Krimineller, immer Krimineller. Semir dachte in diesem Moment, als er leise zu Ben sagte: "Das ist ein Alptraum...", vor allem an seine Tochter Ayda...