Rastplatz - 03:10 Uhr
Die Minuten zogen sich zu Stunden. Passierte nichts, konnte so eine Observation verdammt lange dauern, zumindest gefühlt. Doch die Polizisten von der Autobahnpolizei sollten für ihre Geduld belohnt werden, als sich von der Rastplatzauffahrt eine dunkler SUV näherte und schon, bevor er überhaupt anhielt, die Lichter ausschaltete. Er fuhr an den ersten Zivilfahrzeugen, die aussahen wie ganz normale parkende Autos, vorbei und hielt direkt hinter einem der LKW-Auflieger. Kevin beobachtete den Wagen sofort konzentriert und nahm dabei das Fernglas mit Nachtsicht zur Hilfe. Jenny bemerkte sofort die ernste, konzentrierte Haltung ihres Kollegens und nahm das Funkgerät zur Hand. "Achtung, da scheint sich etwas zu tun.", sagte sie leise, als hätte sie Angst dass die fremden Männer sie hören könnte.
Aus dem SUV stiegen zwei Männer aus, einer vom Beifahrersitz, einer von hinten. Der Fahrer blieb sitzen. Jenny hörte Kevins monotone Stimme: "Das sind sie...". Kevin hatte bereits während den Ermittlungen festgestellt, dass es sich scheinbar um eine Gruppe im organisierten Verbrechen handelte, die er von früher kannte... so sagte er es jedenfalls. Konkret, woher und aus welcher Beziehung, sagte er nicht. Das brauchte auch niemand so wissen, dachte er und hoffte, beim Abschlussbericht mit einigen Standardfloskeln als Begründung hin zu kommen.
Kevin sollte, wenn er die Männer erkannt hatte, das Startsignal geben, doch noch zögerte er. Die zweite Partei fehlte noch, nämlich die, die die Waffen schließlich kaufen sollten. Die Plane des LKW-Anhängers, der ganz in der Nähe stand, bewegte sich leicht und wackelte, was nur Kevin durch das Fernglas sehen konnte. Semir, der ebenfalls durch ein solches blickte, konnte das aus seiner Perspektive schlecht sehen. Es dauerte einige Sekunden, bis der junge Polizist realisierte, dass der Mann sich durch die Plane mit jemandem unterhielt. Scheinbar saß der Käufer im LKW-Anhänger. Als Kevin einen Kopf erkennen konnte, der sich durch den Schlitz der Plane ins Freie wagte, rief er über Funk: "Es geht los! Zugriff!!"
Gleichzeitig wurden Lichter, Blaulicht, Sirene und Motoren angeschaltet, und mehrere Männer bekamen einen gehörigen Schreck, bevor sie sich in Bewegung setzten. Der SUV war bereits auf Flucht gepolt, so wie er sich positioniert hatte und gab direkt Vollgas. "Wir schnappen uns den SUV!", rief Ben sofort über Funk, den in Richtung Ausfahrt waren sie am ehesten dran. Hartmut klappte auf dem Rücksitz bereits den Laptop zu und verstaute ihn in der sicheren Tasche, denn er kannte Semirs Fahrweise bei Verfolgungsjagden.
Die beiden Männer, die hinterm LKW standen, flüchteten zu Fuß. Während einer verschwand für Kevin und Jenny in Richtung der Bäume, der andere kam fast auf die zu, denn viel Ausweg gab es nicht, weil von allen Richtungen Blaulichter angerauscht kamen. Der junge Polizist bremste hart ab und kaum dass das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war, rissen beide die Türen auf. Jenny verfiel sofort in einen Sprint und verfolgte den Mann, der Richtung Bäume abgehauen war während Kevin sich dem Zweiten annahm. Der lief ihm quasi fast vor den Dienstwagen, schlug einen Haken um nicht überfahren zu werden, wurde aber von dem Nahkampfexperten ganz unsportlich einfach mit Wucht über den Haufen gerannt. Beide Männer fielen nach dem Zusammenprall auf den harten Asphalt, Kevin rollte sich aber kontrolliert und elegant ab, so dass er schon wieder auf den Füßen stand, als der Flüchtige sich noch am Boden orientierte.
Die Männer des MEK umstellten den LKW-Anhänger von allen Seiten, da bereits einige Taschenmesser versuchten die Plane aufzuschneiden um unerkannt zu entkommen. "Hier, übernehmt den mal!", rief Kevin einen der maskierten Männer heran, der mit einem Kollegen verstärkt sich um den Verbrecher kümmerten. Dann verfiel auch Kevin in einen schnellen Sprint und lief in die gleiche Richtung, wie seine Kollegin. Er konnte den Lichtschein ihrer Taschenlampe zwischen den Bäumen erkennen, sprang über die Leitplanke und verschwand ebenfalls im Wald.
Jenny hatte bereits in Hamburg wieder mit ihrem Sportprogramm begonnen, nachdem sie vom Arzt grünes Licht bekommen hatte. Ein wenig Kampfsport, viel Ausdauer und Laufen. Beim Joggen hatte selbst Kevin, den Ben mal als Konditionswunder bezeichnete, gegen sie das Nachsehen. Das bemerkte auch der flüchtende Verbrecher, als er hinter sich bemerkte wie das Licht der Taschenlampe immer näher kam, die laute Stimme immer dichter hinter ihm war, die ständig rief: "Stehenbleiben! Polizei!!". Der Weg im Wald wurde tükisch, Sträuche und Äste streiften den Mann am Gesicht und am Körper. Er versuchte hinter einer dichten Reihe an Gebäuschen dem Lichtschein zu entfliehen, kroch ins Unterholz und hielt die Luft an. Plötzlich war alles still, nur weit entfernte Stimmen und Sirenen waren noch zu hören.
Auch Jenny ergriff die Stille. Das Geraschel vor ihr, dem sie gefolgt war, war plötzlich verstummt. Sie bremste, stand und drehte sich um die eigene Achse. Der weite und helle Lichtschein ihrer Taschenlampe striff an Bäumen vorbei, an Sträuchern und Büschen. Jeder Schritt knackte unter ihren Füßen und plötzlich fühlte sie sich komplett unwohl. Sie hatte den Mann verloren und konnte nicht mal sagen, ob er in ihrer Nähe war. Sie spürte, wie das Herz fest gegen ihren Brustkorb schlug, und ihr erster Reflex war: "Kehr um..."
Doch diesem Reflex konnte sie nicht mehr nachgeben, und der Verbrecher nutzte die Orientierungslosigkeit der jungen Polizisten aus. Mit einem kräftigen Stoß beförderte er Jenny zu Boden, die Waffe flog auf den dunklen Waldboden. Doch die junge Frau war gewandt, drehte sich auf den Rücken und ihre Hand klammerte sich fest an die Taschenlampe, die nun eine Pistolenmündung anleuchtete. Jenny riss geistesgegenwärtig einen Fuß hoch, und traf den Angreifer unterhalb der Hand, der abgefeuerte Schuss traf nur Äste in den oberen Baumetagen, bevor auch die zweite Waffe verlorenging. Knurrend stürzte sich der Mann auf Jenny, die versuchte schnell aufzustehen und es schaffte, dem Mann mit der Faust einen Schlag zu verpassen.
Doch so gewandt und geübt im Nahkampf Jenny auch war, sie war eben auch recht schlank und zierlich. Gegen einen breiten, ebenfalls im Zweikampf nicht unerprobten Mann, hatte sie einen Stärkenachteil. Sie spürte seinen Griff an ihrer dünnen Lederjacke, der sie unsanft vom Boden riss und sie zurück in die Senkrechte holte. Der Schmerz des ersten Trittes in ihre Magengrube raubte ihr fast den Atem, doch sie blieb auf den Beinen, als sie erneut zurückgestoßen wurde. Mit einem gezielten Tritt auf die Niere hatte der Angreifer nicht gerechnet, doch er blieb hart im Nehmen. Wieder packte er grob und mit unglaublich viel Kraft Jennys Jacke, die junge Frau verlor Halt und Gewalt über ihren Körper. Der Sturz endete mit einer schmerzhaften Begegnung mit ihrem Kopf an einem Baumstumpf, so dass ihr für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Sie konnte nur noch grob erkennen, wie der Mann drohend auf sie zu kam, als sie hilflos am kalten Boden saß.
Kevin konnte so lange folgen, wie er den Lichtschein sehen konnte. Als der Zweikampf begann, begann er zu rennen, denn die Taschenlampe machte auf einmal komische Begegnungen. Er selbst war im Dunkeln unterwegs, die Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, trotzdem übersah er die Baumwurzel am Boden und knallte der Länge nach hin. "Fuck...", murmelte er, bevor er sich wieder aufrappelte. Er sah gerade noch als Silhouette den breiten Kerl, wie er zu Boden sah und sich aufbaute. Noch bevor Kevin den Zustand von Jenny überprüfen konnte, nutzte er den Überraschungsmoment und trat dem Kerl gezielt in die Kniekehle, was diesen aufheulen ließ. Für einen Moment schien es, als würde der Kerl zu Boden fallen, doch der Tritt schien ihn nur noch wütender zu machen.
"Peters! Diese linken Dinger kenne ich doch.", rief er wütend, als er Kevin im Mondlicht scheinbar erkannt hatte, jetzt aber mit dem Rücken zu ihm am Boden kniete. "Quatsch keine Opern. Hände hinter den Kopf!", sagte der junge Polizist und zielte mit der gezogenen Dienstwaffe auf den Kerl. Den wuchtigen Stock, den der Kerl aus dem Unterholz zog sah Kevin ebenso wenig, wie den Schlag mit jenem Stock, der ihn mit solcher Wucht auf den Unterarm traf, dass seine Hände einen Moment nicht mehr dem Gehirn gehorchten, und auch seine Waffe zu Boden fiel und er selbst kurz auch auf die Knie sank.
Der Gangster hatte sich in dieser Zeit wieder aufgerichtet und der Stock, fast schon ein massiver Ast, sauste erneut in Kevins Richtung. Schnell ließ dieser sich komplett auf den Waldboden fallen und rollte sich unter dem schwingenden Ast hinweg, gleichzeitig suchten seine Hände über den Waldboden nach seiner Waffe. "Komm, steh auf!", knurrte der Mann und ließ es zu, dass der Polizist wieder auf die Beine kam. Dem nächsten Schlag konnte Kevin ausweichen und durch eine Körpertäuschung kam er dicht an seinen Gegner ran. Mit einem kurzen Zucken holte er aus und rammte diesem einmal, zweimal, dreimal die Faust in den Magen. Dabei spürte Kevin schon, wie sehr sein Gegner die Bauchmuskulatur anspannte, und die war nicht von schlechten Eltern. Zwar verspürte der Verbrecher Schmerzen und leichte Atemnot, doch wirklich aus der Fassung brachte es ihn nicht. Erst der Karatetritt gegen die Schläfe ließ ihn wanken.
Doch Kevin begang einen Fehler. Ein Glitzern am Boden ließ ihn glauben, neben einer der Waffen zustehen, und sein Widersacher erholte sich schneller als gedacht. Das ganze passierte innerhalb Sekundenbruchteilen. Ein Hieb mit dem Ast auf Kevins Körperseite, den er nicht abblocken konnte, ließ ihn auf die Knie gehen und der Verbrecher packte den Polizisten von hinten, den Ast gegen Kevins Kehlkopf gepresst. Der Polizist bekam Atemnot, er war in einem effektiven, schmerzhaften Schwitzkasten gefangen, gegen einen Gegner mit unglaublicher Kraft, der den Ast von hinten zu sich, und damit gegen Kevins Kehlkopf drückte. Beide Männer sahen jetzt in eine Pistolenmündung... Jenny hatte eine Waffe am Boden gefunden und zielte auf den Verbrecher... doch der platzierte sich so geschickt hinter Kevin, dass die junge Frau in diesem Moment eigentlich auf ihren Ex-Freund zielte...