JVA - 14:00 Uhr
Jerry hatte Kevin auf der Dienststelle angerufen. Seine Stimme klang schon besser als noch vor einigen Wochen, als er müde von einer Blinddarm-OP wirkte, als sie sich trafen. Der junge Polizist besuchte seinen Freund aus alten Tagen regelmäßig, war er doch mit der Einzige der den Kontakt aufrecht erhielt. Vor allem aber, weil die Clique, die noch zusammen war, sich weigerte ins Gefängnis zu gehen und sich von Bullen durchsuchen zu lassen. Jerry verstand das, und nahm es niemandem übel. Er wusste, sie würden auf ihn warten.
"Ich bin auf Arbeit, kannst du mir nicht am Telefon sagen, was los ist?", schnarrte Kevin etwas genervt in seinen Apparat. "Pass mal auf, ich vergeude hier grade mein letztes Kleingeld fürs Telefonat. Also schwing deine Haxen hierher, ich hab was zu erzählen.", kam Jerrys Stimme durch den Apparat, und unwillkürlich musste der junge Polizist ob Jerrys typischer Wortwahl grinsen. Er konnte das Verhältnis zu ihm nur schwer beschreiben. Obwohl sie sich nach Janines Tod bis zu Kevins Gefängnisaufenthalt fast 10 Jahre nicht sahen, war sofort ein tiefes Vertrauensverhältnis da. Nicht mehr das, des "Mentors" oder "Ersatz-Papas" und der kleine Junge wie früher, sondern Freunde auf Augenhöhe.
Kevin gab kurz Semir und Ben Bescheid, dann nahm er sich die Autoschlüssel des 2er BMWs, den er vor einigen Tagen erst zugeteilt bekam, und fuhr zur JVA. Die schweren Eisentüren öffneten sich mit dem gleichen quietschend knarrenden Geräusch wie damals, als er hier eingefahren ist. Und immer wieder tauchten in seinem Inneren die Erinnerungsbilder auf. Jerry wartete schon im Besucherraum, hatte mehr Farbe im Gesicht und leuchtende, wache Augen. Und er sah sofort die schlechte Laune seines Freundes.
"Ach du große Güte. Wer mit so einem Gesicht kommt, kann gleich wieder gehen.", meinte er, nun gespielt ebenfalls missmutig und verschränkte die Arme vor der Brust. Ohne auf die Frozzelei einzugehen, setzte sich Kevin auf den Stuhl gegenüber und blickte seinen Freund aus den hellblauen Augen an. "Was gibts?" "Erstmal will ich wissen, was mit dir los ist? Du bist doch nicht umsonst so schlecht gelaunt." Und mit einem Blick auf Kevins Unterarm bemerkte er: "Immerhin ist noch kein dritter Strich da... bleibst mir hier also noch ne Weile erspart." Das genervte Ausatmen seines Gegenübers kannte Jerry schon, genauso wusste er dass Kevin kein Freund von großen Erzählungen ist. Er zog sich eine Kippe aus der Schachtel und steckte sie an: "Na, was hat er denn? Oder darf der Papa das nicht wissen?"
Der junge Polizist wusste, dass Jerry nicht locker lassen würde. Und er hatte zu ihm ein besonderes Vertrauensverhältnis, das sich irgendwie nicht erklären ließ. Anders als zu Semir und Ben, anders als zu Jenny. "Ich hab heute meinen Kollegen beichten müssen, dass ich bis vor zwei Jahren hin und wieder Informationen für Drogen weitergegeben hab." Für den JVA-Insasse war diese Information neu, es verwunderte ihn aber auch nicht. Kevin war kein Polizist aus Idealismus oder Treue zum deutschen Staat. In gewisser Weise war er egoistisch, wenn es ihm damals um Drogen ging, andererseits war er Polizist um Menschen in Not zu helfen. "Und? Wie haben sie reagiert?" Kevin sah kurz zur Tischplatte, auf die er seine verschränkten Arme gestützt hatte. "So wie immer. Warum ich nicht früher was sage, warum ich ihnen nicht vertraue... ja, und sie behalten es für sich. Begeistert waren sie nicht. Und ob sie mir glauben, dass ich es niemals getan habe, seit ich bei ihrer Dienststelle bin, weiß ich nicht." Jerry zog die Augenbrauen hoch: "Wundert dich das, dass sie dir das nicht sofort glauben? Ach, Kevin... du bist ein Vollidiot manchmal." Den Vorwurf in seiner Stimme versuchte der ehemalige Punk gar nicht erst zu verstecken und sein Blick wirkte missbilligend.
Jerry schüttelte den Kopf. "Ich versteh dich nicht. Andere Leute gehen morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit. Weil die Arbeit scheisse ist, weil sie gemobbt werden oder nur mit Vollidioten zusammenarbeiten. Und du hast Kollegen, die, wenn ich deinen bisherigen Erzählungen so glaube, für dich durchs Feuer gehen würden. Und trotzdem verheimlichst du hier was, und da was und wunderst dich dann, wenn sie sich über mangelndes Vertrauen beschweren. Du musst ihnen doch erst selbst mal vertrauen, bevor sie dir wieder vertrauen können... nach allem, was passiert ist.", hielt er Kevin eine Standpauke, die dieser stumm mit dem Blick auf den Tisch über sich ergehen ließ. Weil er spürte, dass sein Freund mit allem, was er sagte, Recht hatte. Er konnte im Kopf aber nicht einfach umschalten. Er war nicht der Typ, der sofort mit allem rausrückte. "Du musst doch Personen in deinem Leben haben, die nicht gerade im Knast sitzen, bei denen du nicht erst nachdenken musst: Kann ich ihm das jetzt erzählen oder nicht.", endete Jerry und klammerte sich damit selbst aus. Nun blickte Kevin sein Gegenüber wieder an, ohne die Miene zu verziehen. "Habe ich doch. Aber das hab ich mir selbst zerstört." Und den Blick wieder zum Tisch gesenkt sagte er leise: "Ich vermisse Jenny in meinem Leben so sehr. Und je mehr ich mit ihr zusammenarbeite, desto mehr tut es weh. Weils mir jeden Tag vor Augen geführt wird, was ich verloren hab."
Der Knasti sah seinen damaligen Schützling an, und hatte diese Geständnis nicht unbedingt erwartet. Er konnte ihm aber auch keine Ratschläge geben, denn er wusste was zwischen den beiden vorgefallen war. Vertrauen aufbauen, abwarten... es wären nur Phrasen gewesen. Jerry zog die Uhr von seinem Handgelenk und schob sie über den Tisch zu Kevin herüber. "Wenn du jetzt die Zeit zurückdrehen könntest, bis wohin würdest du sie drehen?" Kevin sah auf die altmodische Armbanduhr, was natürlich nur eine symbolische Geste war. Obwohl er Semir gerne den Horror mit den Nazis oder seiner Tochter im Koma erspart hätte, sagte er: "Vermutlich bis kurz vor dem Zeitpunkt, als ich nach Kolumbien geflogen bin." Jerry nickte: "Und dann wärst du nicht geflogen?" Kevins Dämon hätte ihn auch beim zweiten und dritten Versuch gezwungen, Annie zu retten. "Doch... aber ich hätte es Semir erklärt. Ihm vertraut, dass er damit umgeht. Er ist damals nur ausgeflippt, weil ich es verheimlicht habe. Ich hätte es Ben und auch Jenny vorher gesagt." Er atmete kurz hörbar aus. Leider konnte er die Zeit nicht zurückdrehen. Jerry nahm sich die Uhr wieder: "Dann mach, verdammt nochmal, nicht den gleichen Fehler nochmal. Egal, was Ben und Semir... und auch Jenny in dir sehen. Irgendwann werden sie dir nicht mehr verzeihen. Und entschuldige, wenn ich das so hart sage: Die drei sind die einzige Familie, die du noch hast." Jerrys Worte saßen eindrücklich, und Kevin war ihm dankbar dafür.
Der Mann lehnte sich zurück und zog an dem Rest seiner Zigarette. "So... und nun, warum ich dich eigentlich hergebeten habe. Du weißt doch, dass ich dir erzählt habe, dass ich hier im Knast die Jungs bisschen trainiere. Und das mir das Spaß macht. Viele haben schon bedauert, dass das nicht mehr drin ist, wenn sie demnächst entlassen werden.", erzählte er und Kevin hörte aufmerksam zu. "Wenn ich hier rauskomme, muss ich ja auch was essen. Ich hab mir überlegt, ne Boxschule oder sowas ähnliches aufzumachen. Der Staat lässt doch für solche Maßnahmen mit Jungs von der Straße immer mal was springen, und wenn man ne gute Location hat, kann man da auch was mit Vermietung und so anstellen." Mit den Händen gestikulierte er dabei wie ein Verkäufer. "Klingt gut. Das wäre echt was für dich.", meinte Kevin mit ehrlicher Stimme. "Aber das hättest du mir doch am Telefon sagen können." Jerry winkte den, in seinen Augen unwichtigen Einwurf ab. "Du sollst für mich auf Locationsuche gehen. Kleiner Klub oder so, den wir zusammen renovieren können. Ich hab noch bisschen was Flüssiges von früher, du beteiligst dich ein wenig und dann bringen wir das zum Laufen." "Ich arbeite aber noch so bisschen nebenbei.", warf Kevin leicht sarkastisch ein. "Geht ja nicht um ne Vollzeitstelle, Mann. Also, guckst dich um und machst das klar, damit wir die Bude haben, wenn ich rauskomme. Ich verlasse mich da auf dein Auge für solche Clubs."
Kevin setzte eine verwirrte Miene auf: "Moment Mal. Warum soll ich da jetzt schon was suchen. Ich dachte, du sitzt bis nächsten Sommer noch." Jetzt grinste Jerry, und genau aus diesem Grund wollte er, dass sein Freund persönlich bei ihn kam... weil er dessen Gesicht sehen wollte. Aus der Hoschentasche holte er ein gefaltetes Schreiben. Während Kevins Augen das Beamtendeutsch durchlasen, wurde Jerry klarer: "Wegen der Hilfe in der ganzen Drogengeschichte damals und guter Führung, werde ich in zwei Wochen entlassen.", meinte grinsend und sah auf den halboffenen Mund seines Gegenüber. Dabei lachte er: "Da guckste doof, was?" "Ja...", gab der junge Polizist zu, wobei er sich aber ehrlich freute. "Allerdings..."