Beiträge von Campino

    JVA - 14:00 Uhr


    Jerry hatte Kevin auf der Dienststelle angerufen. Seine Stimme klang schon besser als noch vor einigen Wochen, als er müde von einer Blinddarm-OP wirkte, als sie sich trafen. Der junge Polizist besuchte seinen Freund aus alten Tagen regelmäßig, war er doch mit der Einzige der den Kontakt aufrecht erhielt. Vor allem aber, weil die Clique, die noch zusammen war, sich weigerte ins Gefängnis zu gehen und sich von Bullen durchsuchen zu lassen. Jerry verstand das, und nahm es niemandem übel. Er wusste, sie würden auf ihn warten.
    "Ich bin auf Arbeit, kannst du mir nicht am Telefon sagen, was los ist?", schnarrte Kevin etwas genervt in seinen Apparat. "Pass mal auf, ich vergeude hier grade mein letztes Kleingeld fürs Telefonat. Also schwing deine Haxen hierher, ich hab was zu erzählen.", kam Jerrys Stimme durch den Apparat, und unwillkürlich musste der junge Polizist ob Jerrys typischer Wortwahl grinsen. Er konnte das Verhältnis zu ihm nur schwer beschreiben. Obwohl sie sich nach Janines Tod bis zu Kevins Gefängnisaufenthalt fast 10 Jahre nicht sahen, war sofort ein tiefes Vertrauensverhältnis da. Nicht mehr das, des "Mentors" oder "Ersatz-Papas" und der kleine Junge wie früher, sondern Freunde auf Augenhöhe.


    Kevin gab kurz Semir und Ben Bescheid, dann nahm er sich die Autoschlüssel des 2er BMWs, den er vor einigen Tagen erst zugeteilt bekam, und fuhr zur JVA. Die schweren Eisentüren öffneten sich mit dem gleichen quietschend knarrenden Geräusch wie damals, als er hier eingefahren ist. Und immer wieder tauchten in seinem Inneren die Erinnerungsbilder auf. Jerry wartete schon im Besucherraum, hatte mehr Farbe im Gesicht und leuchtende, wache Augen. Und er sah sofort die schlechte Laune seines Freundes.
    "Ach du große Güte. Wer mit so einem Gesicht kommt, kann gleich wieder gehen.", meinte er, nun gespielt ebenfalls missmutig und verschränkte die Arme vor der Brust. Ohne auf die Frozzelei einzugehen, setzte sich Kevin auf den Stuhl gegenüber und blickte seinen Freund aus den hellblauen Augen an. "Was gibts?" "Erstmal will ich wissen, was mit dir los ist? Du bist doch nicht umsonst so schlecht gelaunt." Und mit einem Blick auf Kevins Unterarm bemerkte er: "Immerhin ist noch kein dritter Strich da... bleibst mir hier also noch ne Weile erspart." Das genervte Ausatmen seines Gegenübers kannte Jerry schon, genauso wusste er dass Kevin kein Freund von großen Erzählungen ist. Er zog sich eine Kippe aus der Schachtel und steckte sie an: "Na, was hat er denn? Oder darf der Papa das nicht wissen?"


    Der junge Polizist wusste, dass Jerry nicht locker lassen würde. Und er hatte zu ihm ein besonderes Vertrauensverhältnis, das sich irgendwie nicht erklären ließ. Anders als zu Semir und Ben, anders als zu Jenny. "Ich hab heute meinen Kollegen beichten müssen, dass ich bis vor zwei Jahren hin und wieder Informationen für Drogen weitergegeben hab." Für den JVA-Insasse war diese Information neu, es verwunderte ihn aber auch nicht. Kevin war kein Polizist aus Idealismus oder Treue zum deutschen Staat. In gewisser Weise war er egoistisch, wenn es ihm damals um Drogen ging, andererseits war er Polizist um Menschen in Not zu helfen. "Und? Wie haben sie reagiert?" Kevin sah kurz zur Tischplatte, auf die er seine verschränkten Arme gestützt hatte. "So wie immer. Warum ich nicht früher was sage, warum ich ihnen nicht vertraue... ja, und sie behalten es für sich. Begeistert waren sie nicht. Und ob sie mir glauben, dass ich es niemals getan habe, seit ich bei ihrer Dienststelle bin, weiß ich nicht." Jerry zog die Augenbrauen hoch: "Wundert dich das, dass sie dir das nicht sofort glauben? Ach, Kevin... du bist ein Vollidiot manchmal." Den Vorwurf in seiner Stimme versuchte der ehemalige Punk gar nicht erst zu verstecken und sein Blick wirkte missbilligend.


    Jerry schüttelte den Kopf. "Ich versteh dich nicht. Andere Leute gehen morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit. Weil die Arbeit scheisse ist, weil sie gemobbt werden oder nur mit Vollidioten zusammenarbeiten. Und du hast Kollegen, die, wenn ich deinen bisherigen Erzählungen so glaube, für dich durchs Feuer gehen würden. Und trotzdem verheimlichst du hier was, und da was und wunderst dich dann, wenn sie sich über mangelndes Vertrauen beschweren. Du musst ihnen doch erst selbst mal vertrauen, bevor sie dir wieder vertrauen können... nach allem, was passiert ist.", hielt er Kevin eine Standpauke, die dieser stumm mit dem Blick auf den Tisch über sich ergehen ließ. Weil er spürte, dass sein Freund mit allem, was er sagte, Recht hatte. Er konnte im Kopf aber nicht einfach umschalten. Er war nicht der Typ, der sofort mit allem rausrückte. "Du musst doch Personen in deinem Leben haben, die nicht gerade im Knast sitzen, bei denen du nicht erst nachdenken musst: Kann ich ihm das jetzt erzählen oder nicht.", endete Jerry und klammerte sich damit selbst aus. Nun blickte Kevin sein Gegenüber wieder an, ohne die Miene zu verziehen. "Habe ich doch. Aber das hab ich mir selbst zerstört." Und den Blick wieder zum Tisch gesenkt sagte er leise: "Ich vermisse Jenny in meinem Leben so sehr. Und je mehr ich mit ihr zusammenarbeite, desto mehr tut es weh. Weils mir jeden Tag vor Augen geführt wird, was ich verloren hab."


    Der Knasti sah seinen damaligen Schützling an, und hatte diese Geständnis nicht unbedingt erwartet. Er konnte ihm aber auch keine Ratschläge geben, denn er wusste was zwischen den beiden vorgefallen war. Vertrauen aufbauen, abwarten... es wären nur Phrasen gewesen. Jerry zog die Uhr von seinem Handgelenk und schob sie über den Tisch zu Kevin herüber. "Wenn du jetzt die Zeit zurückdrehen könntest, bis wohin würdest du sie drehen?" Kevin sah auf die altmodische Armbanduhr, was natürlich nur eine symbolische Geste war. Obwohl er Semir gerne den Horror mit den Nazis oder seiner Tochter im Koma erspart hätte, sagte er: "Vermutlich bis kurz vor dem Zeitpunkt, als ich nach Kolumbien geflogen bin." Jerry nickte: "Und dann wärst du nicht geflogen?" Kevins Dämon hätte ihn auch beim zweiten und dritten Versuch gezwungen, Annie zu retten. "Doch... aber ich hätte es Semir erklärt. Ihm vertraut, dass er damit umgeht. Er ist damals nur ausgeflippt, weil ich es verheimlicht habe. Ich hätte es Ben und auch Jenny vorher gesagt." Er atmete kurz hörbar aus. Leider konnte er die Zeit nicht zurückdrehen. Jerry nahm sich die Uhr wieder: "Dann mach, verdammt nochmal, nicht den gleichen Fehler nochmal. Egal, was Ben und Semir... und auch Jenny in dir sehen. Irgendwann werden sie dir nicht mehr verzeihen. Und entschuldige, wenn ich das so hart sage: Die drei sind die einzige Familie, die du noch hast." Jerrys Worte saßen eindrücklich, und Kevin war ihm dankbar dafür.


    Der Mann lehnte sich zurück und zog an dem Rest seiner Zigarette. "So... und nun, warum ich dich eigentlich hergebeten habe. Du weißt doch, dass ich dir erzählt habe, dass ich hier im Knast die Jungs bisschen trainiere. Und das mir das Spaß macht. Viele haben schon bedauert, dass das nicht mehr drin ist, wenn sie demnächst entlassen werden.", erzählte er und Kevin hörte aufmerksam zu. "Wenn ich hier rauskomme, muss ich ja auch was essen. Ich hab mir überlegt, ne Boxschule oder sowas ähnliches aufzumachen. Der Staat lässt doch für solche Maßnahmen mit Jungs von der Straße immer mal was springen, und wenn man ne gute Location hat, kann man da auch was mit Vermietung und so anstellen." Mit den Händen gestikulierte er dabei wie ein Verkäufer. "Klingt gut. Das wäre echt was für dich.", meinte Kevin mit ehrlicher Stimme. "Aber das hättest du mir doch am Telefon sagen können." Jerry winkte den, in seinen Augen unwichtigen Einwurf ab. "Du sollst für mich auf Locationsuche gehen. Kleiner Klub oder so, den wir zusammen renovieren können. Ich hab noch bisschen was Flüssiges von früher, du beteiligst dich ein wenig und dann bringen wir das zum Laufen." "Ich arbeite aber noch so bisschen nebenbei.", warf Kevin leicht sarkastisch ein. "Geht ja nicht um ne Vollzeitstelle, Mann. Also, guckst dich um und machst das klar, damit wir die Bude haben, wenn ich rauskomme. Ich verlasse mich da auf dein Auge für solche Clubs."


    Kevin setzte eine verwirrte Miene auf: "Moment Mal. Warum soll ich da jetzt schon was suchen. Ich dachte, du sitzt bis nächsten Sommer noch." Jetzt grinste Jerry, und genau aus diesem Grund wollte er, dass sein Freund persönlich bei ihn kam... weil er dessen Gesicht sehen wollte. Aus der Hoschentasche holte er ein gefaltetes Schreiben. Während Kevins Augen das Beamtendeutsch durchlasen, wurde Jerry klarer: "Wegen der Hilfe in der ganzen Drogengeschichte damals und guter Führung, werde ich in zwei Wochen entlassen.", meinte grinsend und sah auf den halboffenen Mund seines Gegenüber. Dabei lachte er: "Da guckste doof, was?" "Ja...", gab der junge Polizist zu, wobei er sich aber ehrlich freute. "Allerdings..."

    Dienststelle - 11:45 Uhr


    Kevin war ein Mensch, der sich oftmals nicht einfach aus der Reserve locken ließ. Wenn er sein Gegenüber provozieren oder nervös machen wollte, ließ er sich mit Antworten Zeit. Wenn er selbst unter Druck stand, überlegte er manchmal länger als nötig. Diesmal nicht. Diesmal kam die Antwort auf die Frage seines erfahrenen Partners wie aus der Pistole geschossen, ohne Bedenkzeit. Denn er wusste, auf was die Frage abzielte. "Nein!", sagte er sofort und sah nacheinander Semir, Jenny und Ben an. Und er bildete sich ein in zweifelnde Gesichter zu blicken. In Gesichter, die in den hellblauen Augen zu suchen schienen, ob sie die Wahrheit darin finden würden.
    "Bitte, das müsst ihr mir glauben.", sagte Kevin und seine Stimme klang beinahe flehentlich. In diesem Moment glaubte Jenny ihrem Ex-Freund. Er war nämlich nicht der Typ, der darum bettelte, dass man ihm glaubte. Eigentlich war ihm das sonst ziemlich egal, aber hier fühlte die junge Frau, dass es ihm ernst war. Dass er Wert darauf legte, dass man ihm glaubte und dass Semir und Ben nicht den Verdacht hatten, von ihrem Kollegen hintergangen worden zu sein.


    Ben schluckte und sah zu Semir, der langsam nickte. Beide hatten soviele Verhöre geführt, Semir doppelt zu viele wie sein bester Freund. Er fand seine Quote, wann er einem Gesprächspartner glaubte und wann nicht, eigentlich ganz okay. Nicht so gut wie die seines erfahrenen Partners, aber ok. Aber er bewunderte Semir für dessen Intuition bei Verhören, wann er überzeugt war von Lüge und Wahrheit, und wann nicht, weswegen er sich oftmals an seinem erfahrenen Partner orientierte. Hier war sich Ben selbst nicht sicher. Kevin war undurchdringbar, aber in diesem Moment legte er eine ganze Menge Emotion bloß, als er darum bat, dass man ihm glaubte. Als Semir dann nickte, war für Ben klar dass sein Freund von der Wahrheit ausging, und beinahe schämte er sich selbst für seine Zweifel.
    "Okay, wir glauben dir.", sagte Semir stellvertretend für Ben und Jenny, die beide zustimmend nickten. "Aber du musst uns, auch in Zukunft, stärker vertrauen. Vor allem wenn es um dienstliche Sachen geht, okay? Wir müssen alle mit offenen Karten spielen." Er hörte sich an wie eine Drehleier, eine Schallplatte mit Sprung. Wie oft hatte er diese Worte schon an Kevin gerichtet, wie oft hatte er das Gefühl, der junge Mann hätte endlich begriffen dass man ihm nichts Schlechtes wollte und er endlich Vertrauen fasste... und wie oft wurde Semir wieder vor den Kopf gestoßen, als sich eine neue Situation auftat, Kevin in eine neue Extremsituation geriet und all das Gesagte wieder vergaß. Ja, er war ein besonderer Charakter, und hatte sicher in seiner Vergangenheit weitaus mehr Dinge erlebt, die nicht schön waren, als Ben und Semir. Aber verdammt... irgendwann musste doch mal der Groschen fallen, dass er sich auch in höchster Not an seine Freunde wandte.


    Kevins Nicken war unmerklich, er schien weit in seine Gedankenwelt abgerückt. Semir konnte es nicht deuten, wie ehrlich es gemeint war. Aber es passte wiederum zu diesem stillen Kerl. Ein "Ja, ich schwöre." oder eine herzliche Umarmung hätte dagegen nicht zu Kevin gepasst. Und so lenkte der erfahrene Kommissar die Aufmerksamkeit wieder eher auf den Fall, als auf Kevins Vergangenheit. "Wir müssen die Engelhardt einweihen.", sagte er, und mit einem Mal war der junge Polizist am Schreibtisch wieder in der Wirklichkeit. "Nein, Semir. Bitte... das ist keine Sache, die ich in meiner Jugendzeit verbrochen habe. Das letzte Mal ist vielleicht zwei Jahre her." "Kevin, du weißt doch dass die Chefin in erster Linie auf unserer Seite steht.", sagte Ben mit ruhiger Stimme. Kevin drehte sich zu ihm um: "Ich weiß aber auch, dass die Chefin sich an die Regeln halten wird. Eine zweite interne Untersuchung in so kurzer Zeit, dazu ein Vergehen was noch lange nicht verjährt ist..." Er schüttelte den Kopf. Es wäre das Ende von Kevins Polizeikarriere. Die Chefin hatte damals seine kriminelle Vergangenheit gemeldet, nachdem er sie gestanden hatte. Er hatte sich damals nicht dagegen gewehrt, hatte innerlich mit der Polizei abgeschlossen. Mittlerweile wusste er, wie sehr er seine Arbeit brauchte. Semir war dagegen überzeugt, dass die Chefin dieses Mal keine Meldung machen würde.


    "Warum müssen wir es der Engelhardt überhaupt sagen?", fragte Jenny. "Weil Fragen aufkommen werden, wie Anis darauf kommt, dass Kevin ihm helfen würde Benny zu befreien.", meinte der erfahrene Kommissar nachdenklich. "Dann sagen wir einfach, weil Anis ihn von früher kennt. Und fertig.", sagte die Polizistin. "Ja, Semir. Das Faß müssen wir nicht aufmachen. Kevin hat Recht. Die Chefin ist zwar loyal und schützt uns, aber bei so einer Sache geht es auch um ihren Kopf. Es wäre besser, sie nicht einzuweihen.", sagte auch Ben. Semir hatte immer ein schlechtes Gefühl, die Chefin zu belügen. Sie machte sich oftmals krumm für ihre Mitarbeiter, setzte Himmel und Hölle in Bewegung und nahm zuletzt sogar ein Disziplinarverfahren auf sich um ihre Mitarbeiter zu schützen. In Semirs Augen verdiente sie es einfach, die Wahrheit zu erfahren. Er spürte den Blick von Kevin auf sich.
    "Bitte, Semir. Ohne der Chefin zu nahe zu treten... aber sie wird sich an die Gesetze halten.", sagte nun auch Kevin nochmal, und Semir gab schweren Herzens nach. "Na schön. Hoffentlich erfährt sie es nicht auf anderem Weg, wenn Anis mal im Verhörraum sitzt."


    "Wie gehen wir jetzt weiter vor?", fragte Jenny, als es im Büro während dieser sehr emotionalen Unterredung zu einer kurzen Pause gekommen war. "Benny ist der Schlüssel. Wenn wir wirklich Anis drankriegen wollen, dann geht das nur über Benny. Warum braucht Anis ihn unbedingt, und was wird der sich noch ausdenken, um dich dazu zu überreden, ihm zu helfen.", sagte der Mann mit der Wuschelfrisur und fuhr sich mit einer Hand durch ebendiese. "Aus Benny werden wir nichts rauskriegen. Und Anis ist auch zu abgebrüht.", sagte Semir und blickte zu Kevin: "Oder was meinst du?"
    "Vielleicht kriegen wir Anis auch anders dran.", sagte der nun mit seiner monoton wirkenden Stimme. "Der Drogenfahnder, der mich im Nachtclub meines Vaters gesehn hat... das war kein Zufall dass der ausnahmsweise dort war. Er hat absichtlich mit einem Kollegen getauscht und ist sonst in Anis Club, wo wie durch ein Wunder nicht ein einziger Fisch ins Netz geht.", sagte er das, was er über Bienert herausgefunden hat. "Hat der nicht nen erkrankten Kollegen ersetzt?", fragte Jenny, die das Gespräch mit Bienert ja mitbekommen hatte. "Einem Kollegen Rizinusöl in den Kaffee zu kippen ist jetzt keine Schwierigkeit.", meinte Kevin und Ben setzte ruckartig die Kaffeetasse ab, die er eben von Semir bekommen hatte. Semir grinste. Wenn auf eines Verlass war, dann auf Bens Sinn für Humor.


    "Jedenfalls wird Bienert heute höchstpersönlich ins Charmin gehen, um sich die Sache mal anzusehen. Heute wäre dort eigentlich kein Zivilfahnder, so dass sein geschmierter Mitarbeiter Anis nicht warnen kann." Ben bekam ein Magenstechen, als Kevin vom "geschmierten Mitarbeiter" sprach, nachdem sie vor 5 Minuten hörten, dass Kevin selbst auch mal ein "geschmierter Mitarbeiter" war. Und Semir klangen die Worte eines Polizisten, der selbst korrupt war, noch nach: "Korrupte Kollegen sind das Widerwärtigste was es gibt." "Wenn Bienert auch nur drei oder vier Kunden von Anis abgreift, und diese zum Reden bringt, kriegen wir ihn wegen Drogenhandels dran. Und dann werden wir auch sicher etwas zu den Waffen finden." Ben und Semir nickten zustimmend...

    Dienststelle - 11:30 Uhr


    Eigentlich ging es keinem der Beteiligten in dem kleinen Büro wirklich gut, nachdem Semir und Ben zurück zur Dienststelle kamen und Kevin sofort zu sich baten. Er und Jenny waren noch aufgewühlt von dem persönlichen emotionalen Gespräch, das sie gerade geführt hatten. Semir und Ben dagegen lag das vorliegende Gespräch bereits im Magen und drückte auf die Stimmung. Sie wollten ihren Partner damit konfrontieren, was dessen Vater gerade gesagt hatte. Aber zuerst wollte der erfahrene Polizist ein paar Details zur Durchsuchung. "Sie haben nichts gefunden. Ausser ein Döschen mit pinken Smarties." Ben war sich erst unsicher, ob das nun nur ein lustig gemeinter Spruch von Kevin war, oder er mit den Smarties tatsächlich Smarties meinte... oder doch Drogen. "Wie jetzt?", fragte er und beendete das Kaffee-Ausschütten für einen Moment.
    Jenny blickte Kevin von der Seite an, und ein wenig wunderte sie sich über dessen Ehrlichkeit. "Derjenige, der mir diese Durchsuchung eingebrockt hat, scheint mir etwas untergeschoben zu haben. Aber nur Schokolinsen, die jedoch verdächtig aussahen wie die Drogen die ich damals genommen hatte.", erzählte er mit ernster Miene. "Machtgehabe... Ich kann, wenn ich will, auch anders, sozusagen. Denke ich mal." "Anis?", fragte Semir, denn er wurde von Kevin ja schon ein wenig eingeweiht. "Sie ganz so aus.", bestätigte Kevin knapp.


    "Du hast mir heute morgen auf die Frage keine Antwort gegeben.", sagte Semir nach einem kurzen Moment des Schweigens, und Bens Magengrummeln wurde stärker... und es war diesmal kein Hungergefühl. "Was will Anis von dir?" Dabei sah er Kevin aus seinen braunen Augen fest an, als wolle er ihn damit an seinen Drehstuhl fesseln. Doch der ließ sich auf dieses Augenspielchen nicht ein, schüttelte den Kopf und sagte: "Ich habe keine Ahnung. Vielleicht will er verhindern, dass ich meinem Vater helfe, weil er Schutzgeld von ihm erpresst. Aber das hatte ich nie vor." Ben sah zu Semir, der dessen Blick auffang. Stummes Verständnis zwischen den beiden Freunden, die ohne Worte soviel sagen konnten, während Kevin offenbar in einer ganzen anderen Sprache kommunizierte. Ein Blick genügte und beide wussten, was der andere dachte... "War ja klar, dass er nichts von sich aus sagen würden."
    "Was hattest du mit Anis in deiner Vergangenheit zu tun?", fragte Ben dann irgendwann. "Was hat das damit zu tun?" "Es interessiert mich einfach. Vielleicht hilft es uns.", zuckte der Mann mit der Wuschelmähne mit den Schultern und gab sich interessiert-neugierig. "Anis gehörte damals einer anderen Jugendgruppe an. Wir machten Punk, sie rappten. Wir trugen Iro, sie Goldkettchen. Und sie dealten mit Drogen, so wie einige von uns auch." "Konkurrenz?", fragte Jenny. Sie schaffte es, ihre Gefühle zu unterdrücken und völlig neutral zu klingen. Kevin schüttelte den Kopf: "Nicht direkt. Aber wir sind ein paar Mal aneinandergeraten. Anis war schon immer ein Alphatier. Hatte in der Gruppe schnell die Führung übernommen durch sein Charisma und sein Durchsetzungsvermögen. Aber vor allem seine Skrupellosigkeit. Kurze Zündschnur und dann ziemlich gewalttätig."


    "Und wie ging das weiter? Gabs mal besondere Aufeinandertreffen?", fragte Ben und trank einen Schluck Kaffee. Kevin suchte in seinen Schubladen im Kopf. Schlägereien, die blutig endeten kamen vor, alles noch vor Janines Tod. Kevin hatte damals fast einen Bandenkrieg angezettelt, als Anis Cousin Janine angefasst hatte, und ihr Bruder den Jungen ins Krankenhaus geprügelt hatte. Jerry musste damals alle verbalen Geschütze gegen Anis auffahren, damit die Sache nicht eskalierte. "Nicht dass ich wüsste.", sagte er schließlich. "Und danach? Was hattest du nach deiner Gangzeit mit Anis zu tun?", fragte Semir und diesmal sahen sich die beiden Männer intensiver in die Augen. Als wüsste Kevin genau, warum Semir diese Frage stellte... und dass er die Antwort schon kannte. "Nichts mehr. Nach Janines Tod habe ich ihn nicht mehr gesehen."
    Eigentlich hätte der erfahrene Kommissar nun auch denken können, dass Kevins Vater gelogen hatte. Doch diese angebliche Lüge würde Erik Peters nichts bringen. Und seine Geschichte passte ins Bild. "Kevin...", sagte Semir etwas leiser und sah einen Moment zu Boden, bevor er seinen Blick wieder auf die hellblauen Augen seines Gegenüber richtete. Ben hielt den Atem an und Jenny spürte ebenfalls ein unbehagliches Gefühl. "Was müssen wir eigentlich tun, damit du uns endlich vertraust?"


    Man hätte in diesem Moment eine Stecknadel fallen lassen können, es wäre jeder zusammengezuckt. So still kam es Jenny in diesem Moment vor, man konnte nicht mal das allgemeine Gesummse aus dem Großraumbüro richtig hören. Kevins Blick ging kurz zu Ben, der seinen Freund ebenfalls fixiert hatte und sein Blick verriet eine Erwartungshaltung. Sag endlich die Wahrheit, vertrau uns! war der Ausdruck in Bens Augen. Sein Partner fand als erstes die Stimme wieder. "Du hast uns erzählt, dass du gedealt hast, eingebrochen hast und Drogen genommen hast... davon hat niemand etwas erfahren... zumindest nicht absichtlich.", sagte er mit aller Ruhe in der Stimme. "Wir haben dir geglaubt, dass du den Polizeianwärter nicht totgeschlagen hast. Wir haben vor der Chefin dichtgehalten, dass du eine tatverdächtige Geiselnehmerin schützen wolltest. Und was im Keller mit diesem Patrick wirklich geschehen ist, möchte ich ehrlich gesagt gar nicht wissen." Semir und Ben hatten die Exekution des Verbrechers durch Kevin nicht mitbekommen. Aber sie glaubten Jenny und Kevin, dass es sich um Notwehr gehandelt hatte. Jenny wusste es besser... "Was sollen wir noch tun? Wir sind deine Kollegen. Wir sind deine Freunde. Aber dafür musst du etwas tun! Du musst uns vertrauen und du musst ehrlich zu uns sein. Ich kenne fast alle Geheimnisse von Ben und er kennt alle von mir, nur so können wir uns helfen.", redete der erfahrene Mann auf Kevin ein, der nun schwieg... und Semir auch nicht mehr in die Augen blicken konnte. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt... obwohl er wusste, dass Semir, wie so oft, recht hatte. "Wir haben alle Fehler gemacht, Kevin.", sagte Ben nun. Auf ihm lastete immer noch, dass er unabsichtlich dafür verantwortlich war, dass Kevin wegen seiner Vergangenheit kurzzeitig suspendiert wurde. Semir hatte zuletzt vermutet, dass Kevin dessen Tochter entführt habe.


    "Dein Vater hat gesagt, dass du Anis von früher kanntest.", sagte Ben nun, um Kevin vielleicht das "Geständnis" etwas zu erleichtern... wenn er wusste, was Ben und Semir wussten. "Und dass Anis deinen Vater verschont hatte mit Schutzgelderpressungen, weil er wusste dass du Polizist bist." Jenny regestrierte bei ihrem Ex-Freund ein kaum merkliches Nicken. "Aber jetzt nicht mehr. Weil du die Geschäftsbeziehung zu Anis beendet hättest, sagte dein Vater." Der junge Polizist sah zu Boden. Sein Vater hatte das verraten, was er versuchte vor seinen Freunden geheimzuhalten. "Welche Beziehungen sind das gewesen? Was hattest du mit Anis zu tun, und was will er jetzt von dir, zum Teufel?", fragte Ben ebenso wie Semir, nur mit etwas lauterer, bestimmterer Stimme.
    "Kevin...", hörte der junge Polizist plötzlich die ruhige, weibliche Stimme schräg neben sich. "Bitte sag uns, was zwischen dir uns Anis ist." Nun trafen die blauen Augen Jenny. Sie konnte in sie hineinsehen, wie in den Spiegel von Kevins Seele. Dass sie nun gefragt hatte, zwang ihn zu einer Antwort. Er hatte Jenny nie belogen, und er würde ihr jeden Winkel seines Lebens ausbreiten, wenn sie danach fragte, eintreten zu dürfen. Wäre sie nicht im Raum gewesen, hätte er vielleicht, auch nach dem guten Gespräch mit Semir, wieder geflunkert. Wieder Dinge verschwiegen. Aber sie war da, und sie hing jetzt an seinen Lippen.


    "Ok...", sagte er tonlos. "Es stimmt, was mein Vater sagt. Ich hatte nach Janines Tod Kontakt zu Anis, weil ich mir bei ihm einen Teil der Drogen besorgt hatte, die ich damals genommen hatte. Auch noch, als ich bereits bei der Polizei war." Kevin verzichtete darauf zu sagen, dass die drei Anwesenden das bitte für sich behalten sollen... er konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen nun zur Chefin marschieren würde. Trotzdem fiel es ihm so schwer, ihnen das einfach anzuvertrauen. "Einen Teil der Drogen habe ich bezahlt... einen Teil habe ich mir durch Informationen, die ich über meine Arbeit erfahren habe, erkauft." Drei Augenpaare schauten zu Kevin. Das heißt, es waren nur zwei. Ben ging seiner Angewohnheit nach, herumzutigern, wenn er Dinge hörte, die ihn tief trafen, aus dem Fenster zu sehen oder zu Boden zu blicken. Ausser er sagte etwas: "Was für Informationen?" "Bevorstehende Razzien, Straßenkontrollen oder wenn ein geplanter Deal eventuell bei uns bekannt war. Die Mordkommission arbeitete damals eng mit dem Drogendezernat zusammen, von daher kannte mich auch Bienert." Nach einer kurzen Pause setzte er aber hinzu: "Ich habe nie etwas verraten, was Kollegen in Gefahr gebracht hätte. Verdeckte Ermittler auffliegen lassen oder so, das müsst ihr mir glauben." Semir sah kurz zu Ben, während Jenny die ganze Zeit über Kevin fixiert hatte. Sie wusste nicht mehr, was sie in dem Mann sah, der vor ihr saß. Ein geheimnisvoller Polizist, der zwar eine kriminelle Ader hatte und wenig Skrupel, dafür aber das Herz am rechten Fleck besaß und für Gerechtigkeit einstand? Oder nur eine Laus im Pelz, ein Egoist der alles zu seinem Vorteil tat... selbst das zu verraten, woran er glaubte. Sie hätte am liebsten geheult.


    "Und jetzt? Was ist jetzt passiert?", fragte Semir. Kevin leckte sich kurz über die Lippen, sein Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an. "Anis hat sich bei mir gemeldet nachdem wir Benny festgenommen haben. Er wollte... er wollte mich.... überreden... dass Benny nicht alzu lange in der U-Haft bleibt." "Deswegen Bennys Spruch, von wegen... "Das wird ihm nicht gefallen." Damit war Anis gemeint?", ging Ben plötzlich ein Licht auf nach der Vernehmung und Kevins Ausweichen. Schon dort hatte Kevin ihn belogen, oder war zumindest nicht ehrlich. Kevin nickte: "Ich habe ihm gesagt, dass er sich einen anderen suchen soll. Ich brauche seine Drogen nicht mehr, und selbst wenn...", und endlich schaffte es der junge Polizist seinen Kollegen kurz in die Augen zu blicken. Aber auf Jennys leicht glitzernden Augen blieb sein Blick haften als er sagte: "Die Sache ist vorbei. Ich will mit dem Typ nichts mehr zu tun haben, und ich gebe von meiner Arbeit nichts mehr preis. Ehrlich." "Warum will Anis Benny so schnell aus der Haft haben?", fragte Ben und diesmal antwortete sein Freund wahrheitsgemäß: "Ich habe keine Ahnung."
    Semir brannte nur noch eine Frage auf der Lippe. Er war nun 20 Jahre bei der Autobahnpolizei, und Polizist aus Leidenschaft. Er würde nicht gutheißen, verstehen oder nachvollziehen, was Kevin in seinem Leben schon alles verbrochen hatte, aber er war immer der Meinung, dass jeder eine zweite, manchmal auch dritte Chance verdient hatte. Aber eines wollte er wissen... und es würde ihn sehr tief in seiner Ehre treffen, wenn Kevin diese Frage positiv beantworten würde: "Sag mir nur eines Kevin... und sei ehrlich: Hast du in den letzten anderthalb Jahren nur einmal an Anis... oder jemand anderen gegen eine Gegenleistung, Informationen weitergegeben?" Seit anderthalb Jahren arbeitete er nämlich mit Ben und Semir bei der Cobra zusammen...

    Dienststelle - 11:00 Uhr


    Als Kevin und Jenny auf die Dienststelle zurückkehrten, war Hotte der Erste der den jungen Polizisten in Empfang nahm. Natürlich hatte sich zumindest bis Hotte, Dieter und Andrea rundgesprochen, was da gerade passiert war. Kevins Vorgeschichte mit den Drogen, drei Drogenfahnder die dann erst Kevins Büro auf den Kopf stellten und ihn dann mitnahmen. Da konnte ja nur wieder etwas im Busch sein. "Und?", fragte der dicke Polizist fürsorglich und besorgt, ohne viele Worte zu verlieren, die ein Kollege, der nicht so tief in der Cobra-Familie steckte, etwas mitbekommen konnte. "Ist alles in Ordnung.", nickte Kevin nur beruhigend, was sich aber nach Abwiegeln anhörte und Hotte etwas vor den Kopf stoßen konnte. Doch der kannte Kevin nun schon etwas besser, und wusste, dass es nicht so gemeint war. Als Bestätigung sagte aber auch Jenny: "Es ist wirklich alles okay, Hotte. Ehrlich." Das ließ ihn Aufatmen. Egal, wer dem jungen Polizisten da etwas Böses wollte, er schien keinen Erfolg gehabt zu haben.
    Auch die Chefin hatte von Bienert schon gehört, dass die Durchsuchung zum Glück erfolglos war. Die Sache mit den Smarties verschwieg er, hatte Kevin aber angehalten, mit seiner Chefin reinen Tisch zu machen und nichts zu verschweigen. Kevin nickte ohne ein Wort dazu zu sagen. Jetzt war das Büro der Chefin leer und eine Aussprache verschob sich nach hinten.


    Jenny hatte Kevin die ganze Fahrt über beobachtet. In ihr steckten noch die Bilder von heute morgen und in ihrer Seele brannte es, ihn darauf anzusprechen. Sie konnte sich nicht entscheiden, was sie tun sollte. Einerseits war sie empört, aber auch eifersüchtig. Andererseits ging es sie nichts an... sie hatte die Beziehung zu dem jungen Polizisten, aus ihrer Sicht nachvollziehbaren Gründen, beendet. Er konnte tun was er will. Aber war er wirklich ein Typ, der sich sofort auf die Ex stürzt? Hatte er daran etwa schon während des damaligen Falles gedacht, als er sie wiedergefunden hatte, bevor sie ihn verriet? Auf der einen Seite war sie angriffslustig, auf der anderen Seite tat er ihr nach dieser sehr unangenehmen Geschichte auch leid. Und es war wohl ein schlechter Zeitpunkt, das Thema jetzt anzuschneiden.
    Sie ließ sich in ihren Stuhl fallen und atmete tief durch. "Kein angenehmes Gefühl, wenn die so in ein Privatleben reingucken, hmm? Da denkt man gar nicht so dran, wenn man es selbst tut." Kevin nickte. "Noch unangenehmer, wenn sie plötzlich etwas finden, womit du nicht rechnest.", meinte er leise und setzte sich ebenfalls an seinen Platz. Er spürte, dass die Stimmung zwischen den beiden plötzlich eine ganz andere war, als heute morgen am Rheinufer oder die letzten Tage. Kühler, distanzierter. Und natürlich wusste er, warum.


    "Jenny, es tut mir leid." Sie blickte überrascht auf. Nicht nur, weil sie nicht wusste was er meinte, sondern dass er sich entschuldigte. "Was meinst du?" "Dass ich dir die Bilder einfach so gezeigt habe. Das war unfair von mir. Ich hätte dir das vorher sagen sollen." Kevin nahm der jungen Polizistin die Entscheidung ab, ob sie das Thema jetzt anschneiden sollte, oder nicht. Jetzt schlug ihr Herz gegen die Rippen, denn jetzt war die Chance, Fragen zu stellen, die sie eben im Kopf formuliert hatte. "Ja... das war... nicht so angenehm." Und schnell fügte sie das hinzu, was auch Kevin damals gesagt hatte, als sie mit Ben im Bett landete, bevor sie fest mit Kevin zusammen war. "Aber das ist deine Sache. Ich finde... finde es nur verwunderlich dass du so schnell wieder... naja... wieder etwas mit ihr eingehst. So hätte ich dich nicht eingeschätzt." Der Vorwurf war herrlich versteckt und das fiel natürlich auch Kevin auf.
    "Ich bin mit ihr nichts eingegangen, wenn du das glaubst. Wir sind nicht zusammen." Das wiederrum war eine Überraschung für Jenny, denn die Fotos sahen doch recht eindeutig aus. "Oh, entschuldige. Das sah auf den Fotos... so vertraut aus." "Ja, das war es auch. Es war so ähnlich wie mit dir und Ben. Wir haben uns gegenseitig gebraucht und uns gegenseitig getröstet. Annie war alleine in England und hat immer noch gedacht, ich sei tot. Und ich kam alleine aus Deutschland nach einem stressigen Einsatz, und nach dem du..." Er musste kurz durchatmen, denn beim letzten Wort richteten sich Jennys grüne Augen direkt auf ihn, als würde sie eine Waffe auf ihn richten. "Nachdem du einen Schlussstrich unter uns gezogen hast."


    Dies empfand Jenny nun als Vorwurf. Zumindest einen Hauch davon. "Ja, das habe ich. Aber das heißt ja nicht, dass..." sie stockte. Dass ich einfach aufhöre, dich zu lieben, wollte sie den Satz fortsetzen. Ja, in diesem Moment spürte sie, dass da noch ganz viel Gefühl für den schweigsamen geheimnisvollen Polizisten war. Dass die Lust sich auf einen so undurchsichtig wirkenden Mann einzulassen, immer noch brannte, auch wenn sie sich an diesem Feuer beinahe verbrannt hatte. Aber die Bilder aus dem Keller gingen ihr nicht durch den Kopf. Wie er auf sie gezielt hatte. Wie er ohne Zögern einen Mann eiskalt hinrichtete. "Dass was?", fragte Kevin, doch Jenny wollte den Satz nicht fortsetzen. "Ich konnte einfach nicht weitermachen, als wäre nichts passiert. Du hattest mich fast umgebracht." Ihre Stimme wurde leiser, sie redeten normal, aber mit Emotionen. "Und du hast einen Mann einfach erschossen. Ich hätte jedesmal, wenn wir zusammen wären, diese Bilder im Kopf." Sie bemerkte, wie sich ein Panzer um ihre Brust legte, und ihr die Tränen in die Augen trieb. "Kannst du das nicht verstehen?"
    Kevin senkte den Blick auf die Tischplatte, als seien dort Worte und Buchstaben geschrieben. "Doch, das verstehe ich.", sagte er mit leiser Stimme, denn er hatte das Trauma selbst noch nicht wirklich verarbeitet, was dort geschehen war. Und ja, er wusste auch dass eine Fortsetzung der Beziehung schwierig geworden wäre.


    "Ich hatte mein Gedächtnis verloren. Aber nicht die Liebe zu dir." Die beiden sahen sich für einen Moment an und Kevins hellblaue Augen drangen bis in Jennys Seele, die scheinbar den Atem anhielt. "Ich wusste die ganze Zeit, dass da etwas ist, was nicht mehr an seinem Platz ist. Ich habe im Drogenrausch von dir geträumt... meine Augen haben dich gesehen, aber mein Herz in diesem Moment nicht erkannt. Ich hab unser Baby weinen gehört, als hätte ich gewusst dass etwas Schlimmes passiert ist." Bei diesem Satz konnte Jenny die Tränen nicht zurückhalten, wischte sie aber schnell weg. "Und ich weiß auch, was ich dir zu verdanken habe. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mich vielleicht längst...", und er dachte dabei an die Situation in seiner Wohnung, als Jenny die Waffe und die Drogen in der Dusche gefunden hatte. Sie fiel ihm ins Wort. "Hör auf, bitte...", flüsterte sie.
    Für einen Moment schwiegen die beiden sich an und es gab Jenny Gelegenheit, ihre Emotionen wieder etwas in den Griff zu bekommen. Die Worte von Kevin hatten sie berührt... aber aus irgendeinem Grund konnte sie mit seiner Ehrlichkeit nicht umgehen. Seine Ehrlichkeit... er, der verschwiegene Kevin der versuchte möglichst jeden aus seinem Seelenleben zu verbannen... Jenny ließ er ein. Er sprach offen über seine Gefühle. Er verschwieg ihr nichts zu Annie. Sie war die einzige Person, mit der er jeden Gedanken teilte... auch jetzt, wo sie kein Paar mehr waren. Aber das sah Jenny in diesem Moment nicht.


    "Und warum hast du nicht nochmal mit mir darüber geredet, statt Trost bei Annie zu suchen?", sagte sie nun angriffslustig, was Kevin völlig überraschte, nachdem er sein Seelenleben geöffnet hatte. Doch Jenny konnte in diesem Moment nicht damit umgehen, ihre Gefühle fuhren Achterbahn und sie wählte die falschen Worte in der falschen Tonlage. "Ich stand vor deiner Tür... und wollte reden. Du hast mich abgewiesen und gesagt, dass es vorbei sei. Du hast mir nicht mal genauer gesagt, was mit unserm Kind passiert war... nur dass es nicht mehr da war.", rechtfertigte sich der junge Polizist, ohne lauter zu werden. "Das war einen Tag nach der Sache im Keller. Aber ich meine danach... die Wochen danach, bevor du nach England gefahren bist. Wenn du wirklich noch Gefühle für mich hattest..."
    Kevin schluckte und blickte zu Jenny. Sie hatte ihm gerade einen Dolch in die Brust gerammt, und hielt den Griff noch in der Hand. Bereit, ihn nochmal umzudrehen. "Du stellst das, was ich gerade eben gesagt habe, in Frage?", fragte er beinahe tonlos und man konnte seine Betroffenheit deutlich heraushören. Jenny stand vom Schreibtisch auf, weil sie das Gefühl hatte, sie würde im Büro ersticken. Und sie drehte den Dolch in Kevins Brust noch einmal um, in dem sie beim Vorbeigehen sagte: "Der Weg zu Annie war scheinbar leichter, als der Weg zu mir." Danach war Kevin nicht einmal im Stande, ihr nachzusehen oder zurück zu rufen. Er saß völlig geschockt mich pochendem Kopf am Schreibtisch, und sah die weiße Wand an.

    Erik Peters Wohnung - 10:30 Uhr


    Der Satz war bereits ein halbes Geständnis. Bens Bluff mit dem Handy hatte Erik Peters dazu verleiten lassen, einen Satz zu sagen, als wolle er Kevin die Schuld für den Schlamassel geben. Innerlich tat sein egoistischer Teil dies vermutlich sogar. Hätte sein Sohn Anis die Partnerschaft nicht gekündigt, oder was er sonst mit dem Verbrecher am Laufen hatte, wäre der nicht plötzlich auf die Idee gekommen, Schutzgeld zu erpressen. Gestern Nacht hatte Anis ihn dann angerufen. Er klang erschüttert, beinahe fürsorglich als er erfahren hatte, dass Kevin den Hilferuf des Vaters ignorierte. Erik hatte den Halb-Tunesier am Telefon verflucht. Stattdessen bot der selbst einen Freifahrtschein an, wenn Erik diese Aussage zu Protokoll gibt.
    "Was hast du vor? Was soll das?", fragte Erik noch am Telefon, obwohl ihn längst der Mut verlassen hatte. Anis Forderungen waren horrend, und obwohl sein Laden gut ging würde es massiv in den Gewinn einschlagen. Sein Sohn wollte nichts von ihm wissen, ihm nicht mal in dieser Extremsituation helfen... warum sollte er Kevin über sein Geschäft stellen. "Das ist eine private Sache. Bist du dabei, oder zahlst du morgen die erste Rate?", hatte Anis ihn vor die Wahl gestellt. Er gab ihm ein Alibi, dass er gestern, als Kevin von dem korrupten Drogenfahnder fotografiert wurde, bei Anis im Charmin war. Und Erik sagte zu.


    "Sie werden also erpresst, habe ich recht? Wieviel verlangt Anis? Ist es soviel, dass es das wert ist, seinen Sohn zu verraten?", fragte Ben provokant und stemmte die Hände in die Hüfte. Eine typische Geste des jungen Polizisten, wenn er über etwas empört war. "Sie haben keine Ahnung.", zischte Erik und schüttelte den Kopf. "Worüber sollen wir keine Ahnung haben? Glauben sie, sie sind das erste Opfer von Schutzgelderpressung, das wir kennenlernen?", meinte Semir der diese Art von Fall wirklich nicht zum ersten Mal auf dem Schreibtisch hatte. "Anis ist nicht einfach ein dahergelaufener Hühnerdieb. Der Typ hat sich durch Gewalt und Skrupellosigkeit seinen Platz in der Kölner Unterwelt erkämpft. Vom kleinen Sprayer zum Gangsterboss. Wer ihm in die Quere kommt...", und er endete den Satz mit einer Geste, in dem er den Finger an der Kehle entlang trieb.
    Ben blickte kurz zu seinem Partner und merkte, dass auch ihn diese martialische Beschreibung nicht schockte. Mit solchen Gangstern hatten sie alle Nase lang zu tun. "Wenn Anis verlangt, dann fragt man nicht... dann zahlt man." "Und warum sollen sie erst jetzt zahlen?", fragte Ben und in seinem Magen breitete sich plötzlich ein ungutes Gefühl aus. Er erinnerte sich an Kevins Vergangenheit. Und an Semirs Satz, dass es Anis vielleicht um eine alte Rechnung ging. Mit einer Hand fuhr er sich durch die Haare.


    "Ich weiß es nicht genau. Ich wusste, dass Kevin und Anis sich von früher kannten. Und damals... als Anis zum ersten Mal auf mich zukam, habe ich ihm gesagt, wer mein Sohn ist. Anis wusste damals schon, dass Kevin Polizist ist und... naja..." Erik druckste herum. Engelchen und Teufelchen saßen auf seinen Schultern, und während der Engel ihn an seine Vatergefühlte erinnerte, lachte ihm der Teufel ins Gesicht. "Dein Sohn hätte dich am langen Arm verhungern lassen. Was juckt es dich, wenn du ihn jetzt in die Pfanne haust.", sagte er Eriks Unterbewusstsein, während er dem Engelchen die Gurgel abdrückte. "Anis hat damals gesagt, dass das dann geregelt wäre. Er hat nie Schutzgeld von mir verlangt." Semir zog die Stirn in Falten, während Ben sich mit den Fingern durch die Augen rieb, und typischerweise ein paar Schritte durch den Raum ging.
    "Was bedeutet das? Hatte Anis Angst vor Kevin, weil er Polizist war?", fragte Semir verständnislos, der zwar auch einen Verdacht in seinem kriminalistischen Hirn hatte, diesen aber einfach nicht zu Ende denken wollte... nicht, nachdem er gerade wieder dabei war, so etwas wie Vertrauen zu Kevin zu fassen. Seine Frage klang deshalb naiv, so dass Erik kurz auflachte. "Angst kennt Anis nicht. Ich habe damals auch nicht nachgefragt, weil ich froh war dass Anis mich in Ruhe ließ, und Kevin nie darauf angesprochen. Weil ich weiß, dass er mich... dass er mich nicht schützen würde, wie auch immer." Nachdem, was Semir und Ben von ihrem jungen Partner erfahren hatten, was dessen Vater anging, konnten sie diese Haltung zumindest ansatzweise nachvollziehen. Auch wenn die beiden Polizisten wohl im Extremfall ihrem Vater immer helfen würden.


    "Was dann?" Erik sah zu Semir. Plötzlich schien sein Blick ganz sicher. Der erfahrene Beamte konnte nicht genau sagen, ob das Zögern nur gespielt, oder echt war. "Anis hat erwähnt, dass Kevin die... die Geschäftsbeziehung zu ihm beendet hätte. Und er nun deswegen Schutzgeld verlange." Bens Unwohlsein hatte sich zu einem gefühlten Magengeschwür entwickelt. "Das darf doch nicht wahr sein.", murmelte er leise. Sein Verdacht, dass es noch eine Verbindung auf krimineller Basis zwischen Kevin und Anis gab, nur ein bloßer, dummer kurzer Gedanke schien wahr zu sein. "Geschäftsbeziehung?" "Näher hat Anis sich nicht ausgedrückt. Aber es scheint etwas zwischen Kevin und Anis vorgefallen zu sein, weswegen dieser nun mich erpressen will... wie gesagt. Wegen der beendeten Geschäftsbeziehung."
    Semir sah Erik Peters an. Ein Geschäftsmann, der sein Geschäft über allem ansah. Sogar über seinem Sohn. Zuerst tätigte er eine Falschaussage, die seinen Sohn belastete und auch diese Aussage ließ Kevin in einem schlechten Licht dar stehen. Semir war Vater von drei Töchtern... niemals würde er eine davon dermaßen hintergehen. Auf der anderen Seite wusste er um Kevins Einstellung zu seinem Vater. Und egal wie skrupellos ein Mann wie Erik war, es war sicher belastend, wenn dessen eigener Sohn Dinge sagte wie: "Es interessiert mich nicht, welche Probleme mein Vater hat. Selbst wenn eine Gruppe Schläger von Anis seinen Laden verwüsten würden..." Und Semir war sicher dass Kevin kein Problem hatte, diesen Satz genauso seinem Vater ins Gesicht zu sagen. Doch was zuerst da war, die Abneigung Kevins oder die Skrupellosigkeit des Vaters, war für Semir klar... Kevins Hass hatte eine Ursache. "Für die Falschaussage werden sie eine Anzeige bekommen. Und sollte Kevin irgendwelche Probleme bekommen, kriegen wir sie auch noch wegen Vortäuschung einer Straftat dran, verlassen sie sich drauf.", sagte er streng und bedeutete Ben mit einem Kopfnicken, dass es Zeit war zu gehen. Immerhin hatten sie selbst die Gewissheit, dass ihr junger Partner ihnen die Wahrheit sagte. Würden sie in Kevins Wohnung Drogen finden, würde ihm das aber nichts nutzen. Anis hätte sein Ziel erreicht.


    Im Wagen war für einen Moment die Stimmung gedrückt, bevor Semir versuchte, sachlich zu bleiben: "Aus irgendeinem Grund nimmt Kevin Kontakt mit Anis auf, um ihm mitzuteilen, dass diese...", er stockte kurz, "... Geschäftsbeziehungen beendet sind. Daraufhin erpresst Anis Kevins Vater, weil der, für Kevin unwissentlich, unter dessen Schutz stand.", rekapitulierte er. Ben sah für einen Moment länger aus dem Seitenfenster, so dass sein bester Freund kurz den Eindruck hatte, er höre nicht zu. "Hörst du mir zu?" "Ja..." Semir blickte besorgt und konnte die Gedanken von Ben erraten. Kevin stand mal wieder in einem schlechten Licht, die Schatten der Vergangenheit waren gerade wieder dabei, ihn einzuholen und zum undurchsichtigen, zwielichtigen Polizisten zu maskieren. "Welche Geschäftsbeziehung soll Kevin zu Anis gehabt haben...", überlegte er laut und sah Semir dabei nicht an. "Ich glaube, wir denken beide das Gleiche. Kevin ist, seitdem er Polizist ist, nur in einer Richtung weiter mit der Unterwelt in Verbindung geblieben. Sein Drogenkonsum." Ben nickte: "Und wenn er für die Drogen einfach bezahlt hat, dann bräuchte man keine Geschäftsbeziehung. Ich glaube kaum, dass Anis auf Kevins Geld angewiesen ist." Sein Partner sah das genauso. "Also hat er mit anderen Gegenleistungen gezahlt. Tipps, Zeitpunkte für Razzien, vielleicht auch Wiederbeschaffung von Drogen aus der Asservatenkammer." Bei Semirs Aufzählung schüttelte Ben nur fassungslos mit dem Kopf. "Ich will das einfach nicht glauben.", sagte er leise. Es war mittlerweile aber so viel geschehen... er traute es seinem jungen Freund zu. Sucht trieb jemanden manchmal auch zu solchen Dingen.


    "Aber warum beendet Kevin jetzt plötzlich diese Beziehung?", fragte der erfahrene Kommissar. "Weil er vernünftig ist? Weil er endlich angekommen ist in seinem Leben, weil er mal nachgedacht hat nach der ganzen Scheisse die seit Kolumbien passiert ist?", war die Vermutung des Mannes auf dem Beifahrersitz. Semir wollte das gerne glauben. Aber sein Gedanke war ein anderer: "Warum macht er dieses Fass ausgerechnet jetzt auf, nachdem wir einen von Anis' Leuten in unserer Zelle sitzen haben? Das ist doch ein Riesenzufall." Jetzt erst sah Ben herüber zu seinem Kollegen. "Du hast Recht. Daran habe ich gar nicht gedacht. Dann hat es doch etwas mit Benny zu tun." "Und Anis ist damit gar nicht einverstanden. Er braucht Kevin für irgendwas und erpresst ihn ruckzuck mit der Schutzgeldforderung gegenüber Kevins Vater.", setzte Semir die Puzzleteile zusammen... so schnell, dass er zweifelte, ob alles stimmte. "Er hat aber nicht damit gerechnet dass das Verhältnis so schlecht ist, dass Kevin seinen Vater verhungern lässt. Die Erpressung ist wirkungslos. Also hetzt er ihm auch noch seinen geschmierten Drogenfahnder auf den Hals.", sponn Ben den Faden weiter. "Zumindest können wir uns sicher sein, dass er nichts in der Wohnung versteckt hat. Suspendiert nützt Kevin Anis nichts." "Es passt alles zusammen.", meinte der junge Polizist verblüfft. "Ja... aber uns fehlt noch die Bestätigung der Hauptperson." Und die zu bekommen war der schwierigste Teil der Sache. Semir wählte Kevins Nummer. "Kevin, hier ist Semir? Wie lief die Untersuchung?" "Es ist alles okay. Ich bin wieder auf dem Weg zur Dienststelle.", kam die Antwort über die Freisprecheinrichtung. "Wie liefs bei euch?" "Erklären wir dir im Büro. Wir mussen etwas wichtiges mit dir besprechen..."

    Kevins Wohnung - gleiche Zeit


    Hausdurchsuchungen hatte Kevin oft mitgemacht. Als Polizist der Mordkommission hatte er ständig damit zu tun und es war ihm immer unangenehm, vor allem wenn er selbst vermutete, dass die Person dessen Hab und Gut gerade durchwühlt wurde, unschuldig war. Als junger Punk gab es in der alten Halle nie viel zu durchsuchen... mit den Punks machte die Polizei sowieso kürzeren Prozess... mit Schlagstock und Pfefferspray. Was sie dann an Pillen nicht freiwillig herausrückten, durften sie ihretwegen behalten. Doch jetzt fühlte er sich furchtbar, was er nach aussen nicht preisgab. Bewegungslos lehnte er an der Küchenanrichte und sah zu, wie die beiden Mitarbeiter von Bienert hinter Tassen und unter Teller im Schrank sahen, wie sie die Regale filzten in denen Kalles Krimis standen und hilflos betrachtete er, wie einer der beiden Kevins Kiste aus dem Zimmer trug, das Kevin als Schlafzimmer nutzte.
    "Kannst du die Kiste bitte durchsuchen?", sagte Kevin mit seiner oftmals monotonen Stimme in Richtung Thomas, der wie Jenny erstaunt aufblickte. Es unterstrich ein wenig, dass der junge Polizist zu Bienert ein besonderes Verhältnis hatte, weil sie schon manches erlebt hatten gemeinsam. Wären Semir oder Ben da gewesen, oder Jenny hätte die Erlaubnis gehabt, die Durchsuchung durchzuführen, hätte er sie gebeten. So nahm Thomas einen Blick in Kevins besondere Vergangenheit, vor allem das Foto mit seinen bunten Haaren und seiner jungen Schwester betrachtete er kurz.


    Jenny beobachtete ihren Ex-Freund. Sie sah, wie er mit flinken Augen jeden Griff der Beamten verfolgte, immer abwechselnd zwischen den beiden hin und her. Er tat ihr leid, und sie war sich fast sicher, dass die Beamten hier nichts finden würden. Sie vertraute Kevin... doch eine kleine Restskepsis konnte sie nicht unterdrücken. Immer, wenn einer der Beamten eine neue Schranktür öffnete, wo sich etwas verbergen könnte, hielt sie die Luft an. Sie bemerkte auch, wie Kevin das erniedrigende Schauspiel mit eiskalt erstarrter Miene verfolgte. Die junge Frau kannte den besonderen Polizisten mittlerweile und wusste, dass diese gleichgültige Fassade sein arroganter Schutzwall vor jeglichen Einflüssen in seine Seele war. Er spielte diese Rolle perfekt. Doch sie spürte, dass er sich dabei hundeelend fühlte. Der einzige lockere Moment für sie war, als Kalle mit ihrer ungehaltenen Art den Beamten Backpfeifen im Dutzend versprach, wenn eines ihrer Kleider im Schrank, den sie ebenfalls durchsuchten, beschädtigt werden würde.
    Er selbst bemerkte aber durchaus, dass Bienert nicht gelogen hatte. Hin und wieder merkte er an seine beiden jungen Mitarbeiter an, dass sie diesen Schrank nun genug durchsucht hatten, oder auch mal noch das nächste Zimmer ansehen sollten. Das ein oder andere typische Drogenversteck, die Kevin alle kannte, blieben undurchsucht. Bienert war der Überzeugung, dass der junge Kommissar soviel Schneid und Courage hatte, dass er zum jetzigen oder späteren Zeitpunkt, wenn sie alleine waren, er zugeben würde dass sie etwas übersehen hatten... oder von vorneherein sagen würde, dass er was hat. Das tat er aber nicht.


    Doch auch ein genialer Polizist wie Thomas Bienert konnte sich täuschen. Und ein Bauchschmerz der Enttäuschung ergriff von ihm Besitz als sein Mitarbeiter aus dem Zwischenraum der Couch plötzlich ein Pillendöschen hervorzauberte. "Schauen sie mal, Chef.", sagte er und hielt es ein wenig nach oben, um es Bienert zu übergeben. "Was ist das?", fragte er in Kevins Richtung, dessen Herz nun bis zum Hals schlug, was er sich aber ebenfalls nicht anmerken ließ. Jennys Augen wurden groß, und auch in ihr machte sich eine gigantische Enttäuschung breit. Die Pillen sahen exakt so aus, wie das Döschen, das sie damals bei Kevin in der Dusche gefunden hat, als er vor ihr zusammenbrach und zugab, noch Drogen zu nehmen. Sie drehte den Kopf zu Kevin, dessen Blick ein wenig Souveränität verloren hatte, doch sie hielt dem Blick nicht lange stand. Eine Klammer legte sich um ihre Brust, als hätte sie nun die Gewissheit, dass er immer noch abhängig war. Das Döschen war nur zu einem Drittel gefüllt.
    "Ich hab keine Ahnung.", sagte Kevin ohne den Blick von dem Döschen abzuwenden oder sich von seinem Platz wegzubewegen. Nur in seinem Kopf arbeitete es auf Hochtouren. Er war sich sicher, dass er nichts mehr hatte. Seit dem Gedächtnisverlust hatte er jeglichem Konsum widerstanden und er war sicher, alles was er hatte, entsorgt zu haben. Selbst Gras, was sicher zu weniger Problemen geführt hätte, hatte er das letzte vor drei Tagen geraucht. Hatte er das Döschen vergessen? Im Zwischenraum der Couch? Oder legte Anis ihn nun endgültig rein? Aber wozu... es brachte dem Typen nichts, wenn Kevin kein Bulle mehr war.


    Bienert schien mit der Antwort nicht zufrieden. In seiner Emotionslosigkeit war Kevin schwer zu durchschauen, er zeigte keinerlei Anzeichen, ob er ernsthaft erschüttert war, dass man etwas fand oder enttäuscht, dass man sein Versteck aufdeckte. Oder empört, dass man ihm etwas unterschob. Ein weiterer Blick auf das Pillendöschen ließ ihn stutzen. "Hendrik, geben sie mir mal ein Messer aus der Schublade." Der Drogenkommissar sah etwas irritiert aus, folgte aber dem Befehl seines Vorgesetzten und öffnete die Schublade, die er eben noch durchsucht hatte. "Hier, Chef... aber was haben sie vor?"
    Der erfahrene Drogenfahnder kannte die Pillen. Sie überschwemmten den Markt, auch nach der Aushebung des großen Drogenrings, an dem Kevin beteiligt war. Aber alle Exemplare, die er bisher zu Gesicht bekam, glänzten im Schein einer Lampe, den ihre überzogene Oberfläche war glatt. Diese glänzten nicht, als er sie ans Licht hielt... sie waren matt und ihre Oberfläche leicht angeraut. Er öffnete das Röhrchen und kippte die restlichen Pillen, vielleicht 8 oder 9 auf die Anrichte. Eine hielt er fest und versuchte sie mit dem Messer zu durchtrennen, was schwierig war. Einen glatten Schnitt bekam er nicht hin, aber das war auch nicht nötig. Als er auf die Pille drückte, zersprang sie und ihr braunes Inneres kam zum Vorschein. Das gleiche tat er mit der zweiten und dritten Pille ebenso. Dann nahm er ein Teilchen einer Pille in die Hand, besah es und steckte es in den Mund, was seine beiden Mitarbeiter kurz zusammenzucken ließ. "Bewahrst du deine Smarties immer in der Sofaritze auf?", fragte er dann in Kevins Richtung, der nun erstmals eine Gefühlsregung zeigte... Verständnislosigkeit.


    Die beiden Mitarbeiter der Drogenabteilung testeten die süßen Pillen ebenfalls, und Jenny fiel ein Stein vom Herzen. "Was wird hier gespielt, Kevin? Zuerst die angebliche Falschaussage deines Vaters, und dann finden wir zufälligerweise rosa Smarties in deiner Couch?", sagte Bienert mit eindringlicher Stimme. Dass der junge Kommissar unschuldig war, davon war er jetzt endgültig überzeugt, und so folgte er der leisen Bitte, dass sie kurz allein reden konnten. Unter einem Vorwand, das Material ins Auto zu bringen, ließ er die beiden Mitarbeiter die Wohnung verlassen. Jenny wollte sich ihnen anschließen und wurde von Kevin zurückgehalten. "Wo willst du hin?" "Du hast doch gesagt, du willst alleine mit ihm reden.", sagte sie und in ihrer Stimme schwang ein wenig Trotz mit. "Damit warst du aber doch nicht gemeint.", sagte er lächelnd. Jenny hätte ihn in diesem Moment am liebsten umarmt und geküsst. Er vertraute ihr... sie durfte alles wissen. Und das hielt sie nicht für selbstverständlich nach der Szene von vorhin.
    "Also?", forderte Bienert zu Informationen auf. "Mir will jemand eine auswischen. Und zwar der Besitzer des Charmins. Er hat meinen Vater unter Druck gesetzt und zur Falschaussage gezwungen. Und er hat mir dieses Präsent hier hinterlassen." "Hast du dafür Beweise?" Kevin schüttelte den Kopf: "Nein. Es ist eine reine Vermutung. Aber wie du selbst sagst, bewahre ich meine Smarties nicht im Sofa auf. Und meine Kollegen versuchen einen Beweis für die Lüge meines Vaters zu finden."


    Bienert dachte nach. Er schätzte den Polizisten und seine Art und Weise zu arbeiten. Und wenn dieser solch einen Verdacht äusserte, würde er ihn ernstnehmen. "Was hat der Typ gegen dich?" Diese Info wollte Kevin nicht rausrücken... denn das wusste noch niemand. "Keine Ahnung. Vielleicht eine offene Rechnung." "Aber wieso geht er das Risiko eines Einbruchs ein, und versteckt dann nur Smarties? Was hat er davon?" Der junge Polizist zuckte mit den Schultern: "Vielleicht will er nur zeigen, wo zu er fähig ist." Wieder ein kurzes Schweigen der beiden Männer. "Aber er hätte sich darauf verlassen müssen, dass unser Zivilfahnder dich ins Visier nimmt." "Vielleicht wusste er das vorher schon." Bienert kniff die Augen zusammen: "Willst du damit sagen, dass mein Kollege sich hat bestechen lassen?" Es klang angriffslustig, aber auch zweifelnd. "Keine Ahnung. DU sagst doch selbst, dass es ein großer Zufall war, auf den der Besitzer des Charmins sich verlassen hat."
    Jenny hatte die ganze Zeit stumm nachgedacht, und schaltete sich jetzt ein: "Sind eure Zivilfahnder immer in den gleichen Kneipen?" "Ja. Als Stammgäste kommen sie besser auch mal ins Gespräch mit dem Personal. Da ergibt sich oft mal eine Information.", antwortete Bienert schon wieder etwas versöhnlicher. Dann stockte er kurz und ihm entfuhr ein kurzer Fluch: "Verdammt..." "Was ist?" "Schlappner. Normalerweise ist er im Charmin... aber gestern ist er für einen erkrankten Kollegen kurzzeitig in der Bar deines Vaters eingesprungen." Plötzlich schien ihm eine Bestechung durch Anis nicht mehr unmöglich.


    "Lass mich raten... und im Charmin wird natürlich nicht gedealt?", schlussfolgerte Kevin, dem langsam einiges klar wurde. Ein Zivilfahnder bei Anis auf der Gehaltsliste übersah so manchen Kunden in dessen Hinterzimmer. Für ein paar Scheine extra tauscht er für einen Abend die Schicht, nachdem Anis Kevins Vater unter Druck setzt und darauf wettet, dass dessen Sohn dann doch zum Gespräch erscheint... und natürlich ins Hinterzimmer geht. "Sehr wenig...", gab Bienert zu. Es würde einen immensen Schaden für seine Abteilung geben, wenn er einen korrupten Kollegen beschäftigte und ihm war die ganze Sache furchtbar peinlich. "Es... es tut mir leid. Wir haben dich zu Unrecht verdächtigt.", sagte er und hielt kurz inne, als die beiden Kollegen die nächsten Kisten nach unten trugen.
    "Pass auf... du kannst nichts dafür. Aber du kannst es wieder gutmachen.", sagte Kevin leise. "Lass uns beide heute abend ins Charmin gehen, statt deines Zivilfahnders. Und ich verspreche dir dass du mehr Kunden auf dem Zettel hast, als in einem Monat bei meinem Vater." Bienert sah den jungen Polizisten an: "Und was bringt dir das in deinem Fall?" Kevins Antwort war nichts, ausser ein spitzbübiges Grinsen wie das eines Jungen, der gerade einen genialen Streich ausgeheckt hatte.

    Innenstadt - 10:00 Uhr


    "Was soll das, wieso sind wir nicht mit Kevin in seine Wohnung gefahren?", polterte Ben in Richtung seines Partners. Er protestierte auf den ersten Kilometern, als sie von der Dienststelle aus bereits die erste Abfahrt Richtung Innenstadt nahmen und Semir noch nicht mit der Sprache rausgerückt hatte, wo sie überhaupt hinwollten. "Behalt doch mal die Nerven.", mahnte der erfahrene Kommissar und tätschelte Ben fast liebevoll auf den Oberschenkel, um ihn zu beruhigen. "Wir helfen Kevin auch so. Er hat mir glaubhaft versichert, dass er gestern bei seinem Vater war, nachdem ich ihm von der Sache mit dem Gruß erzählt habe. Also befragen wir seinen Vater jetzt selbst."
    Die Aussicht, Kevin so zu helfen, beruhigte Ben in der Tat. Er ließ sich von Semir berichten, was Kevin eben erzählt hat. Die Schutzgelderpressung durch Anis und dadurch die Falschaussage von Erik Peters. "Aber das "Warum?" steht immer noch im Raum.", überlegte Semir laut, als er mit Erzählen fertig war, und Ben stimmte in seine Gedanken ein: "Für eine Rache wegen der Verhaftung Bennys ist der Aufwand ziemlich groß und das Ergebnis recht harmlos. Typen wie Anis greifen doch da zu Handfesterem... bzw seine Leute.", meinte der Polizist und schlug als Veranschaulichung der handfesteren Methode eine Faust in die offene Hand.


    "Deshalb. Ich glaube nicht, dass es mit diesem Benny zu tun hat. Oder dass dieser vielleicht nur der Auslöser war." sagte Semir und lenkte den silbernen BMW in Richtung Innenstadt. "Ich glaube eher, dass es da um etwas anderes geht. Vielleicht eine alte Rechnung aus Jugendzeiten zwischen Kevin und Anis, irgendwie so etwas." Als er den Wagen an einer Ampel anhielt, setzte er noch nachdenklich dazu: "Auf dieses Warum hat Kevin mir keine Antwort gegeben." Es war wieder so typisch für diesen undurchsichtigen Kerl. Er gab nie den Blick auf das große Ganze frei, ließ sich immer nur durch kleine Gucklöcher in seine Seele und seine Vergangenheit blicken.
    "Ich glaube, das wird auch nicht so leicht sein, von Kevin da eine Antwort zu bekommen.", vermutete Ben. "Dann hoffen wir mal, dass er in der Beziehung nicht von seinem Vater abstammt. Vielleicht ist der ein wenig redseliger." Der junge Polizist sah misstrauisch herüber. "Der muss ja erstmal eine Falschaussage zugeben... wenn er das überhaupt tut." Semir stoppte den Wagen vor dem Nachtclub, der um diese Uhrzeit natürlich geschlossen war.


    Deswegen gingen Semir und Ben in den engen Hausflur neben dem Eingang des Clubs und klingelten in der darüberliegenden Wohnung, wo Erik Peters wohnte... mit wechselnden Bekanntschaften. Ben hatte ein mulmiges Gefühl, als sich die Stimme am Lautsprecher meldete... schließlich kannte er Kevins Vater nur von kurzen Erzählungen. Und die waren allesamt nicht positiv. "Ja? Wer ist da?" Die Stimme klang verschlafen. "Autobahnpolizei. Machen sie bitte die Tür auf, wir haben ein paar Fragen?" Es dauerte einen Moment, bis der Summer erklang und Semir die Tür aufdrückte. Erik Peters hatte die Stimme nicht erkannt, es war nicht sein Sohn. Aber offenbar seine Kollegen.
    Er erwartete den Besuch im ersten Stock an der offenen Wohnungstür. Semir fielen sofort die hellblauen Augen auf... ein Merkmal, das Erik Peters seinem Sohn definitiv weitergegeben hat. Jetzt wirkten die Augen müde, die längeren Haare ein wenig zerzaust und der Mann stand in Shorts und T-Shirt in der Tür. Scheinbar hatte er noch geschlafen. "Was gibts?", fragte er missmutig mit kratziger Raucherstimme und die beiden Polizisten stellten fest, dass er äusserlich ausser der Augen nichts mit ihrem Kevin gemeinsam hatte.


    "Dürfen wir vielleicht kurz hereinkommen?", fragte Semir höflich nachdem sie beide die Dienstausweise gezeigt hatten und Erik gab etwas unverständlich murrend den Durchgang frei. Es war eine, etwas altmodisch auf Junggesellen eingerichtete Wohnung mit vielen Motorrad-Fotos und amerikanisch angehaucht. So stand im Wohnzimmer zum Beispiel eine alte amerikanische Zapfsäule zur Dekoration. Ohne den beiden Männern Sitzgelegenheit oder etwas zu Trinken anzubieten ließ Erik sich müde aufs Sofa fallen. Er hatte sich nach der noch früheren Störung durch die Drogenfahnder wieder hingelegt. "Sie haben der Drogenfahndung heute morgen zur Auskunft gegeben, dass sie gestern zwischen 18 und 21:30 Uhr im Charmin waren?", fragte Semir während Ben sich unauffällig in der Wohnung umsah, aber aufmerksam zuhörte. Ihm fiel sofort auf, dass es nirgends auch nur ein einziges Bild gab, das Erik Peters und seinen Sohn oder seine Tochter zeigten. Nicht mal aus frühesten Kindheitstagen, als die Welt noch in Ordnung schien. "Richtig, aber das habe ich heute morgen ihren Kollegen schon gesagt." "Unser Kollege behauptet dagegen, er hätte sie gegen 19 Uhr hier im Club getroffen." Semir hatte sich auf die Lehne des Sessels gesetzt und schaue den Mann an. "Das stimmt aber nicht. Um diese Uhrzeit war ich nicht da. Keine Ahnung, was Kevin im Hinterzimmer gemacht hat."


    Erik konnte Semir nicht in die Augen sehen. Immer wieder schwandt der Blick, was Semir im Glauben an Kevins Wahrheit bekräftigte. "Sie wissen, dass eine Falschaussage strafbar ist?" "Was? Wieso Falschaussage? Ich war im Charmin, dafür gibt es Zeugen." "Zeugen, denen es nutzt wenn Kevin Ärger bekommt. Nämlich den Inhaber des Charmins, der ihr Alibi bestätigt hat.", schaltete sich nun Ben ein und stellte sich neben Semir. "Das ist ein sehr dünnes Alibi." "Herr Peters, warum haben sie ihren Sohn um ein Treffen gebeten?", fragte Semir nun, denn im Gegensatz zu Bienert hatte er diese Information. Bienert bekam sie erst nach der Befragung. Erik leckte sich kurz über die Lippen. "Es ging um etwas Familiäres." "Und was genau?" Wieder eine Unterbrechung des Augenkontaktes. Er konnte seine Emotionen nicht verbergen wie Kevin, der äusserlich scheinbar seelenruhig blieb, wenn er innerlich aufgewühlt war. "Ich hatte von seinen Problemen vor einiger Zeit mitbekommen, die er auf der Arbeit hatte. Über Kalle. Und ich wollte ihm anbieten, dass er bei mir einsteigt um auch den Laden zu übernehmen, wenn ich mich zur Ruhe setze. Aber er hat das Gesprächsangebot nicht beantwortet." Ben verengte die Augen... wie konnte jemand nur so frech lügen. Aber Semir blieb noch ruhig, er blieb im Polizistenmodus und sah Erik als normalen Verhörpartner, nicht als Vater seines Partners.


    "Herr Peters, werden sie erpresst?" "Wie bitte?" "Ob sie erpresst werden? Zu dieser Aussage gezwungen?", wiederholte Semir und Erik Peters schüttelte erst zögerlich, dann energisch den Kopf. "Nein... nein! Was soll der Unsinn, warum sollte ich?" "Wir haben die Information dass Anis Schutzgeld von ihnen erpresst. Bekommen sie für diese Aussage einen Nachlass?" "Hat Kevin das behauptet?", fragte Erik und sein Ton wurde mit einem Mal schärfer. Er hätte nicht gedacht, dass sein Sohn mit seinen Kollegen über Privates spricht, wo Kevin gegenüber Kollegen doch oft verschlossen und unnahbar war. "Wir stellen hier die Fragen. Wo wir die Information her haben, ist irrelevant.", stellte Ben klar. Eriks Lippen bebten und wieder brach der Augenkontakt ab. "Ich glaube, es ist ihnen nicht ganz klar, was eine Falschaussage bedeutet. Nicht nur für sie, sondern auch für ihren Sohn!", erklärte Semir mit eindrücklicher Stimme. "Wenn dieser Anis ein Komplott gegen Kevin führt, und ihn nicht nur unter Verdacht des Drogenhandels stellt sondern vielleicht auch etwas in seiner Wohnung versteckt hat... dann kann ihn das seinen Job kosten. Und ich weiß nicht, ob sie wissen, was der Job für ihren Sohn bedeutet. Wollen sie das?" Im Normalfall hätte Erik Peters genickt, denn er war tatsächlich aus privaten Gründen schon immer dagegen gewesen dass Kevin Polizist war. Er wusste aber auch, wie sehr Kevin ihn hasste. Irgendwann wurde die Ablehnung zu dessen Job zur Gleichgültigkeit.


    Doch die Antwort blieb aus, nur ein ablehnendes Kopfschütteln von Erik kam als Reaktion. Als Reaktion, dass er bei seiner Aussage blieb. "Gut... okay.", sagte Ben zu Semir und klopfte ihm auf die Schultern. "Lass uns gehn. Hartmut wird durch die Einlogdaten seines Handys rausbekommen, wo er sich zur entsprechenden Uhrzeit aufgehalten hat. Den Beschluss hat er ja schon eine Stunde, vielleicht hat er schon ein Ergebnis." Dabei zog er das Handy aus der Tasche und beobachtete Eriks Reaktion. Diese kam prompt: "Ich hatte mein Handy im Büro gelassen." Ben beugte sich ein wenig zu Erik herunter, und seine Stimme klang drohend: "Dann hoffe ich mal für sie, dass sie nicht telefoniert haben oder auch nur eine Sekunde im Internet gesurft haben in der Zeit. Oder dürfen ihre Mitarbeiter etwa auch ihr Handy benutzen?" Eriks Herz schlug fest an den Rippenbogen. "Wenn sie uns jetzt die Wahrheit sagen, werden wir bei der Drogenfahndung klarstellen, dass sie zur Falschaussage gezwungen wurden.", sagte Semir und setzte hinzu: "Helfen sie ihrem Sohn!" Mit einer Hand fuhr sich der Clubbesitzer die Haare. Dann sagte er kryptisch: "Hätte Kevin mir geholfen, müsste ich mich von Anis nicht erpressen lassen..."

    Dienststelle - 9:00 Uhr


    Mittlerweile hatte sich eine Traube des Interesses im Großraumbüro versammelt, um zu verfolgen, was die Drogenfahnder mit einem ihrer Kollegen vorhatten. In vorderster Front stand Semir, der vorher noch aus dem Büro der Chefin "verwiesen" worden war. Er trat nun auch erneut an Bienert heran. "Könnt ihr uns mal aufklären, was hier los ist?", fragte er mit einem Blick, der Unverständnis ausdrückte, als die beiden Kollegen von Bienert schnurstracks in Kevins Büro gingen. Die Chefin verscheuchte alle übrigen Beamten, ausser Ben, mit einem "Habt ihr nichts zu tun?" wieder an die Arbeit, während der Drogenfahnder Semir ein Stück bei Seite nahm. Auch Ben konnte mithören. "Einer unserer Zivilbeamten haben Kevin in einem Club gesehen, wie er eines der Hinterzimmer betreten hat..." Mit kurzen Sätzen schilderte Bienert die Unterhaltung im Büro der Chefin, während Jenny im Büro lauter wurde: "Hey, was soll das? Was machen sie da?" Kevin war den beiden Beamten gefolgt und berührte Jenny nur kurz an der Schulter. "Ist schon okay.", sagte er nur ohne weitere Erklärung.
    "Aber Thomas... ihr könnt doch nicht einfach wegen eines wagen Verdachtes das Büro oder seine Wohnung durchsuchen.", protestierte Ben nun leise. "Kevin ist durch seine Geschichte vorbelastet. Egal ob das Verfahren damals eingestellt wurde oder nicht, sowas bleibt immer hängen.", erklärte Bienert und hob fast entschuldigend die Schultern: "Auch ich habe einen Vorgesetzten."


    "Das verstehen wir. Trotzdem... sofort durchsuchen?", sagte nun auch Semir und fügte hinzu: "Du solltest Kevin doch kennen mittlerweile." Der junge Polizist war für seine beiden Kollegen ausser Hörweite, er beobachtete mit Jenny stumm, wie die beiden Männer Schubladen öffneten, Ordner durchblätterten und die typischen Drogenverstecke, die Kevin selbst alle kannte, prüften. "Deswegen bin ich auch selbst hier. Ich vertraue Kevin soweit, und werde darauf achten, dass wir vor allem in seiner Wohnung nicht zu tief in seine Privatsphäre stoßen. Darauf habt ihr mein Wort. Aber die Staatsanwaltschaft ist sehr erpicht darauf, dass gerade bei uns nichts schief läuft. Und ganz ehrlich... Kevin hat mittlerweile einen Ruf. Bei der Staatsanwaltschaft und beim Polizeipräsident. Und der ist nicht gut."
    Beinahe hilflos blickten Semir und Ben dem erfahrenen Drogenfahnder hinterher, als dieser ebenfalls das Büro betrat, dann folgten sie ihm und schloßen die Tür. Immer wieder warfen Bonrath und Hotte Blicke durch das Großraumbüro in Richtung der Durchsuchung. "Was suchen die nur?", fragte der baumlange Streifenpolizist und bekam von seinem dicken Partner postwendend eine Antwort: "Egal was sie suchen... für Kevin hoffe ich, dass sie nichts finden." Er kannte die Vorgeschichte des Polizisten und wusste, dass Bienert bei der Drogenfahndung war.


    Semir beobachtete seinen jungen Partner, als wolle er ihn scannen. Als versuche er, mit seinem Blick in die Gedankenwelt des Polizisten einzutauchen. Er stand völlig ruhig, mit verschränkten Armen an die Fensterbank gelehnt da, und beobachtete mit wachen Augen die Durchsuchungsmaßnahme. Kein Protest, kein nervöses Zucken, wenn die Fahnder einen neuen Schrank oder Ordner öffneten. Kevin war nicht blöd... selbst wenn er noch Drogen nehmen würde, was Semir nicht glaubte, würde er sie nicht hier verstecken. Aber er war in einem Club, in dem es scheinbar Drogenverkäufe gab. Und Bienert hatte Semir auch gesagt, dass man sich mit Kevins Vater unterhalten hatte, der die Version von Kevin nicht bestätigte. Das bereitete dem erfahrenen Auobahnpolizist Kopfschmerzen.
    "Wo sind die Spinds?", fragte einer der Drogenfahnder, als sie scheinbar das komplette Büro einmal auf links gezogen hatten. "Es reicht doch jetzt so langsam, Kollegen.", sagte Ben mit lauter Stimme. Egal was zwischen ihm und Kevin vorgefallen war... er war immer noch ein Kollege. Sein Kollege... und Kollegen von der Dienststelle würde er immer verteidigen. Vor allem, wenn es ein enger Kollege wie Kevin war. "Ihr werdet hier nichts finden!" "Wo die Spinds sind, habe ich gefragt.", wiederholte der Polizist mit etwas mehr Schärfe in der Stimme. Bienert griff sofort ein: "Ben... wir machen nur unsere Arbeit. Zeig uns bitte die Spinde." Ein kurzer Blick auf Semir, der stumm nickte, und Ben beruhigte sich. "Na schön...", sagte er und ging aus dem Büro in Richtung Flur, wo es einen extra Raum gab, wo die Spinde in einer Reihe aufgestellt waren.


    Als Kevin den Raum als einer der Letzten verlassen wollte, wurde er von Semir am Arm festgehalten. "Was hast du gestern in dem Club gemacht?", fragte er ihn leise, als die Kollegen vorne weg gingen. "Semir, ich schwöre dir. Ich habe mit meinem Vater geredet. Er wollte, dass wir uns treffen, und ich bin hingegangen.", wiederholte er das, was er auch Bienert gesagt hatte. "Und warum lügt dein Vater dann? Warum behauptet er, dass du nicht da warst?" "Ich habe keine Ahnung." Kevins leise Stimme klang resigniernd. Er hasste es, wenn er gedanklich in einer Sackgasse saß. Für einen Augenblick sahen sich die beiden Polizisten an. Semir überlegte fieberhaft... sagte Kevin die Wahrheit? Nach dem wirklich guten, offenen Gespräch gestern, wollte er es glauben. Aber die Aussagen seines Partners saßen tief: "Du hast gesagt, dass es dich nicht interessiert, was dein Vater macht. Das waren gestern deine Worte! Warum bist du dann trotzdem hingefahren?" Im Nachhinein hätte Kevin sich für dieses Zeigen seiner Gefühle ohrfeigen können. Wieder mal wurde ihm seine Offenheit zum Bumerang. "Weil ich wissen wollte, was er mit Anis zu tun hat! Nachdem du mir den Gruß überbracht hast." Daran erinnerte sich Semir noch, das hatte er Kevin gestern abend vor Feierabend erzählt. Es schien logisch, dass Kevin danach bei seinem Vater ermittelte... im Sinne des Falls. "Und? Was hat er darauf gesagt?" Kevin biss sich auf die Lippen. "Kevin, rede mit mir! Was hat dein Vater mit Anis zu tun? Und warum sollte dein Vater lügen, dass du nicht da warst?"


    "Kevin? Wir brauchen deinen Schlüssel!", rief Bienert vom Flur aus in Richtung Semir und Kevin, als Kevin wie erstarrt seinen älteren Partner ansah. Anis, sein Vater, Schutzgelderpressung, der Gruß. Plötzlich schien das Gespräch vor seinem Auge zu sein. Und plötzlich lag ein Bild vor ihm, wo vorher nur eine Menge Puzzlestücke lagen. "Anis... er hat das Ganze eingefädelt.", sagte Kevin leise und Semir legte die Stirn in Falten. "Wie meinst du das?" "Anis erpresst Schutzgeld von meinem Vater. Sicher hat er ihn zu der Falschaussage gezwungen." "Aber warum? Was will dieser Typ von dir? Und wie soll er das gemacht haben, gesehen hat dich schließlich der Drogenfahnder, davon kann er nichts gewusst haben." "Dann steht der Fahnder auf seiner Gehaltsliste."
    "Kevin!!", ertönte Bienerts Stimme ein zweites Mal, und der junge Polizist kam dem Drängen nach. Er ließ Semir stehen, der seinem jungen Kollegen hinterher blickte. Es war so verdammt schwer, ihn zu durchschauen. Wann sagte er die Wahrheit, wann log er... und wann schwindelte er nur ein bisschen. Jenny war mit Ben ebenfalls in dem kleinen Raum, wo man nun Kevins Spind aufsperrte, und durchsuchte. Auch hier schien man nichts zu finden und Kevins Kollegen atmeten auf.


    "Woher wisst ihr überhaupt, dass Kevins Vater die Wahrheit gesagt hat? Wo soll er um die Zeit gewesen sein?", fragte Semir dann, der nach dem Gespräch mit Kevin ein wenig Durchblick hatte. Für die Frage erntete er einen kurzen Blick von Ben, der Unverständnis ausdrückte. "Laut seiner Aussage hat er sich bei einem Geschäftstermin in einem anderen Club befunden. Deren Geschäftsführer hat uns das bestätigt." "Lass mich raten: Im Charmin?", sagt Kevin, der Semir dankbar für diese Frage war. Hätte er sie gestellt, hätte Bienert vielleicht keine Antwort drauf gegeben. Jetzt sah er den jungen Polizisten mit hochgezogenen Augenbrauen an: "Wieso ausgerechnet dort?", fragte er misstrauisch und mit seinen hellblauen, kalten Augen schaute Kevin Bienert direkt ins Gesicht. Der Drogenfahnder hatte plötzlich eine Erwartung für eine interessante Antwort... und wurde enttäuscht. "Ich hab nur mal geraten." Er weihte Bienert nicht ein. Würde er die Wahrheit erzählen, würde das Kreise ziehen. Niemand durfte erfahren, dass Anis die alten Kontakte zu Kevin wieder aufleben lassen wollte, um Benny aus dem Gefängnis zu bekommen. Dieses Spielchen war ein weiteres "Unter-Druck-setzen", was mit der Schutzgelderpressung von Kevins Vater seinen Anfang nahm. Anis wollte das Spiel machen, wollte den jungen Polizisten so zur Zusammenarbeit zwingen. Das müsste er nur beweisen... und er würde den Spieß umdrehen. Der nächste Zug würde sein Zug werden.

    "Wir fahren jetzt zu deiner Wohnung, okay? Willst du von hier jemanden mitnehmen, der sich das Ganze anguckt. Es ist immer gut für dich, Zeugen zu haben... falls irgendwas ist.", bot Bienert an, als sie den Spind wieder verschlossen hatten. Kevin sah sich kurz um, als Ben vortrat: "Ich komm mit." Er wollte Kevin jetzt nicht alleine lassen und sah sich ein wenig in einer Verpflichtung. Er hoffte, so ein wenig Vertrauen wieder gut zu machen, was zuletzt durch die unglücklichen Umstände verloren ging. "Nein, Ben. Du hast doch noch genug mit Semir zu tun.", sagte Kevin fast schon zweideutig, was Ben verwirrte. "Würdest du mitkommen, bitte?", fragte der junge Polizist in Richtung Jenny, die sich kurz unsicher umblickte, aber dann sofort zustimmte. Der kurze Stich ins Herz, den sie heute morgen beim Anblick der Urlaubsbilder bekam, tat noch weh. Aber sie erinnerte sich an ihre Gedanken heute morgen... und an Kevins Geschichte. Sie wusste mehr als Semir, Kevins Verhältnis zu Anis. Aber sie blieb stumm... sie wollte nicht etwas sagen, was Kevin vielleicht nicht wollte. Sie müsste sich zuerst mit ihm absprechen.
    Die drei Drogenfahnder gingen voraus, Kevin und Jenny folgten ihnen. Kurz bevor sie die Dienststelle verließen, drehte sich Kevin zu Semir um: "Ihr müsst meinen Vater in die Mangel nehmen! Ihr müsst beweisen, dass er gestern abend im Club war!" Auf der Dienststelle wusste er, dass keine Drogen versteckt waren. Ob Anis ihm nicht etwas in seiner Wohnung hinterlassen hatte... darauf wollte er nicht wetten. Hätte Kevin aber einen Beweis dafür, dass sein Vater gelogen hatte, könnte er das Komplott gegen sich auffliegen lassen... Semir nickte und Ben begriff jetzt, warum Kevin lieber Jenny statt ihn dabeihaben wollte.

    Dienststelle - 8:30 Uhr


    Jenny biss sich innerlich auf die Lippen, als Kevin ins Büro zurückkehrte. Mit ihren grünen Augen schaute sie ihren Partner an, schien ihn mit ihren Blicken zu durchbohren. "Hübsche Fotos.", sagte sie, doch ihre Stimmlage hatte sich um 180 Grad gedreht... sie klang kühl, beinahe schnippisch. Und der junge Polizist wusste natürlich warum. Er war ja nicht dumm, und wusste genau welche Bilder unter denen waren, die sich Jenny angesehen hatte. Wortlos nahm er das Handy entgegen. "Ich wusste gar nicht, dass du Begleitung hattest." Innerlich wollte Jenny sich ohrfeigen, dass sie ihn so plump darauf ansprach. Eigentlich hätte sie sich den Satz "Ich bin eifersüchtig" auf die Stirn tättowieren können. "Hatte ich auch nicht. Annie lebt dort, und ich habe sie besucht.", stellte Kevin klar, ohne dass sich seine Klangfarbe zu vorher oder heute Morgen generell geändert hätte.
    Das Herz der jungen Frau pochte laut, und im Kopf hatte sie das Bild, auf dem sich die rothaarige Frau und der Polizist mit den abstehenden Haaren auf den Mund küssten und dabei lachten. Zusätzlich kam ihr das gemeinsame Jugendfoto in den Kopf. In ihrer Stimme hatte sich Vorwurf breitgemacht, ohne dass sie ihn nannte. Würde sie ihn jetzt nennen, klänge sie tatsächlich eifersüchtig. Jetzt saß Kevin aber auf seinem Platz und sah seine Ex-Freundin an, als erwarte er einen solchen Vorwurf, einen schnippischen Satz wie "Ich hoffe, ihr hattet viel Spaß." oder ähnliches.


    Kevin wollte Jenny nicht verletzen, als er ihr die Fotos gegeben hatte. Aber er spielte ihr auch kein Theater vor. Sie waren nicht mehr zusammen, so sehr er das auch bedauerte. Und was in England mit Annie passierte, würde immer in England bei Annie bleiben. Sie hatten sich gegenseitig getröstet, gegenseitig gut getan. Es waren, nach all den schrecklichen Ereignissen aus Kolumbien und dem Gedächtnisverlust, die zwei schönsten Wochen seit langem für den jungen Polizisten und er hatte sie genoßen. Und er war Jenny keine Rechenschaft mehr schuldig, genauso wenig wie er keine Rechenschaft eingefordert hatte, als Ben und Jenny zusammen im Bett waren. Er sah den England-Urlaub aber nicht als Gelegenheit, diese Sache zu begleichen... dafür war er nicht der Typ. Er hatte zwar an Jenny gedacht, wusste aber auch dass sie ihn nicht trösten würde... im Gegenteil. Er brauchte den Trost wegen Jenny. Und Annie war für ihn da... alles andere passierte wie im Traum. Und bevor er aus England abgereist war, stellten sie einander klar, was diese zwei Wochen für sie bedeuteten. Weder waren sie zusammen, noch waren sie getrennt. Sie lebten auch nicht in einer offenen Beziehung, mit der ein jeweiliger Partner klar kommen müsste. Sie hatten sich einander wiedergefunden und in zwei Wochen festgehalten... und hatte einer der beiden das Bedürfnis nach Halt und Trost, wäre der andere für sie da. Zumindest so lange derjenige keine feste Beziehung hatte, das stellten sie voreinander klar. Kevin hatte sich noch gewundert, wie sehr er und Annie in dieser Sache auf einer Wellenlänge funkte, und wie gut es tat zu wissen, dass jemand im Notfall für ihn da war. Das Gefühl, das er zu Annie hatte, war aber weder vergleichbar mit seiner Jugendliebe zu ihr, noch mit dem Gefühl zu Jenny.


    Einen Vorwurf konnte die junge Polizistin nicht mehr formulieren, sie hätte auch nicht gewusst wie, ohne dass sie sich blöd vorgekommen wäre. Das Telefon an Kevins Tisch unterbrach die Unterhaltung. "Peters, Autobahnpolizei?" "Kommen sie bitte sofort in mein Büro.", hörte er die Stimme der Chefin, die allerhöchste Warnstufe versprach, und anfügte: "Allein." Wahrscheinlich gab es den nächsten Anschiss, weil er das Verlustschreiben des Motorrads noch nicht aufgesetzt hatte, und innerlich verdrehte er die Augen. "Bin gleich wieder da.", sagte er beinahe tonlos, als er an Jennys Tisch vorbeiging.
    Als er freien Blick zum Büro der Chefin hatte, wurden seine Augen etwas größer. Thomas Bienert, Chef-Ermittler des Drogen-Dezernats stand mit zwei Kollegen bei der Chefin im Büro. Als Kevin eintrat, schüttelte er Hände und lächelte Bienert an. Die beiden waren nach dem Fall im Gefängnis im Guten ausgegangen, hatte Thomas mit seinem Einfluss doch dafür gesorgt, dass der junge Polizist weiter Polizist bleiben konnte. Semir war ebenfalls auf Bienert aufmerksam geworden, streckte den Kopf ins Büro und schüttelte ebenfalls herzlich Thomas' Hand. "Was gibts denn?", fragte er gutgelaunt, doch Anna Engelhard nahm Bienert die Antwort ab. "Nur eine Kleinigkeit." Ein eindeutiger Blick der Chefin, der nur verstanden werden konnte, wenn man bereits 18 Jahre mit Anna Engelhard zusammenarbeitete, und Semir verließ das Büro wieder. Sein Gute-Laune-Lächeln erstarb und er ging zu Hotte an den Schreibtisch, wo auch Ben gerade hinkam. "Was will Thomas denn hier?" "Keine Ahnung... aber wenn der Kollegen vom Drogen-Dezernat mitbringt, und die wollen alle zusammen mit Kevin reden, habe ich ein latent ungutes Gefühl.", offenbarte er.


    "Setzen sie sich, Peters.", sagte die Chefin, und ihre Tonlage verhieß nichts Gutes. Auch Bienerts Begrüßungslächeln war schnell einem analytischen Blick gewichen. "Wir haben erstmal nur ein paar Fragen. Warst du gestern abend im La Notte?" Der junge Polizist zog die Stirn in Falten. "Warum? Worum gehts?" "Du wurdest dort gesehen... und fotografiert.", antwortete Bienert und hielt Kevin sein Smartphone hin. Es zeigte verschiedene Bilder, Kevin an der Bar, wo er von Brandy umarmt wurde, ein weiteres als er mit Brandy zur Hinterzimmertür ging, ein drittes wo er sich, kurz vor dem Eintreten scheinbar noch einmal umsieht. Das Vierte zeigte ihn, als er den Club verlassen wollte, inklusive seines verärgerten Gesichtsausdrucks. Er nickte. "Ja, war ich. Warum?"
    Die Chefin kratzte sich am Handrücken und hörte stumm zu. Mittlerweile hatte Kevin das Gefühl, er würde verhört werden. "Was wolltest du dort?" "Ich habe mich mit meinem Vater getroffen. Ihm gehört der Laden." Bienerts Blick gefiel ihm nicht... er war nicht nickend zustimmend, sondern von Skepsis geprägt. Aber er kannte Kevin als einen Typ, der eigentlich ehrlich war und für Verfehlungen gerade stand. "Wir haben mit deinem Vater heute morgen schon gesprochen, nachdem wir von einem unserer Zivilbeamten in dem Laden die Bilder bekommen haben." "Zivilbeamte? Beschattet ihr mich?", fragte der junge Beamte, und der erfahrene Drogenfahnder schüttelte den Kopf. "Wir beschatten nicht dich, sondern observieren seit Wochen diesen und andere Clubs wegen möglicher Drogengeschäfte... und wenn jemand der Gäste nach nur wenigen Minuten an der Bar ins Hinterzimmer gebracht wird, werden wir hellhörig.", versuchte Bienert etwas zu beschwichtigen.


    Kevins Herz schlug ein bisschen schneller. Obwohl er eigentlich nichts zu befürchten hatte, zwickte es ihm im Magen. Ein untrügerliches Gefühl für Schwierigkeiten. "Wann genau warst du da?" "Das kann euch doch euer Beamter sagen." "Ich will es aber von dir wissen." Bienerts Stimme wurde nicht fordernd und lauter, er sprach mit Kevin ganz normal, weil er wusste, dass er bei dem jungen Mann keinen forscheren Ton anschlagen brauchte... dadurch würde er Kevin nicht aus der Ruhe bringen, wie manch unerfahrenen Kollegen. "Gegen 19 Uhr, vielleicht eine halbe Stunde oder so." Ein kurzer Blick auf Thomas' Notizzettel verriet, dass die Uhrzeiten mit den Angaben seines Beamten übereinstimmten. "Und du hast mit deinem Vater geredet?" Ein kurzes, stummes Nicken von Kevin. "Über was habt ihr gesprochen?" Was zum Teufel sollte das, fragte sich Kevin nun, und seine coole äussere Hülle bekam leichte Risse. "Privates... warum?"
    Bienert seufzte... er hatte gehofft, Kevin wäre kooperativ und es gäbe eine einfache Erklärung für das alles. "Kevin, dein Vater hat uns eben ausgesagt, dass er von 18 bis 21:30 Uhr nicht in seinem Club war. Und er dich ergo um 19 Uhr auch nicht getroffen hat." Der junge Polizist hatte das Gefühl, man hätte ihm gerade eine Holzlatte vor den Kopf geschlagen. "Wie bitte?", fragte er nur ungläubig und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Die Augen der Chefin taten das Gleiche, als sie Kevin ansah. "Also... was hast du in dem Club gemacht?", fragte Bienert nochmal in der Hoffnung, der junge Kollege würde nochmal die Kurve bekommen. "Das... das ist eine Lüge. Ich hab mich mit meinem Vater getroffen! Er hat mich mehrmals am Tag versucht anzurufen und hat mir auf die Mailbox geredet." "Das sagte er uns auch. Allerdings hättest du darauf nicht reagiert. Kann ich mal dein Handy haben?"


    Der junge Polizist fühlte sich furchtbar in die Ecke gedrängt, als er Bienert sein Handy gab, welches dieser an einen jungen Kollegen, den er mitgebracht hatte, weiterreichte. Der bat Kevin um Entsperrung, und sah sich dann die Anrufliste durch. "Ja, Chef. Erik Peters hat mehrmals angerufen, aber einige Anrufe wurden abgewiesen, andere nicht angenommen. Auch die Whatsapp-Nachricht wurde zwar gelesen, aber nicht beantwortet.", sagte er nach einigen Minuten. "Warum hast du nicht geantwortet, obwohl du zu ihm wolltest. Warum habt ihr keinen Termin ausgemacht?", fragte Bienert, und obwohl Kevin äusserlich weit entfernt vom nervös-sein war, pochte es doch laut in seinem Kopf. "Weil ich weiß, dass mein Vater abends immer im Club ist. Und die Entscheidung, dorthin zu fahren, spontan kam." "Dann sag mir doch einfach, was ihr so dringendes zu bereden hattet, wie er in der Nachricht schreibt." Für einen Sekundenbruchteil sah Kevin zu Anna Engelhard rüber, die ihn voller Erwartung ansah. Würde er die Wahrheit sagen, wären sie den Fall los... und Kevin einen weiteren roten Strich im Klassenbuch seiner Chefin. "Er hat mich um Hilfe gebeten in einer Sache, bei dem ich ihm nicht helfen kann und will. Ich habe nicht das beste Verhältnis zu meinem Vater.", presste er hervor. "Und mehr willst du dazu nicht sagen?" "Nein." Bienert spitze beinahe resigniert die Lippen. "Kevin, wir würden dich bitten, uns zu erlauben deinen Arbeitsplatz und deinen Spind zu durchsuchen. Genauso wie deine Wohnung. Freiwillig. Wenn nicht, brauchen wir nur eine Stunde für einen Durchsuchungsbeschluss, und dann werden wir noch genauer suchen. Ich bitte dich darum." Der junge Polizist meinte zu merken, dass es Thomas selbst nicht ganz einfach fiel, was er da tat. Und was er suchte, war mehr als eindeutig... Kevin wurde verdächtigt, im Laden seines Vaters Drogen gekauft zu haben. "Ihr lasst jeden durchsuchen, der in einem Club ins Hinterzimmer geht?", fragte er ungläubig. "Nicht jeden.", antwortete Bienert und sah den jungen Mann eindringlich an. "Aber vor allem die, die schon auffällig geworden sind. Und das weißt du." Kevin hielt seinem Blick stand, bis die Chefin sagte: "Herr Peters wird der Bitte freiwillig nachkommen." Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen, bis er nickte. Er hatte nichts zu verbergen, viel mehr fragte er sich, warum sein Vater log. War es Rache? "Komm mit.", sagte er beim Aufstehen und Bienert folgte ihm.

    Ben's Wohnung - 07:15 Uhr


    Wie immer im Sommer bekam Ben Schlafprobleme. Wenn es warm und schwül war, lag er ohne Decke in Boxer-Shorts, und wälzte sich verschwitzt quer durchs Bett. Er hasste diese Hitze und er war froh, wenn es wieder kälter wurde und der Herbst Einzug hielt. Diesen Sommer konnte er nicht mal ungestört quer durchs Bett rollen, weil er irgendwann auf Widerstand stieß. Dieser Widerstand hieß Carina und schlief so friedlich und tief wie ein Kätzchen, dass Ben sie beinahe beneidete. Trotzdem liebte er es, sie zu beobachten wie sie eingerollt im Bett lag, die blonden Haare um sie herum. Und obwohl es gefühlt noch wärmer wurde, kuschelte er sich dicht an seine Freundin, wenn er versuchte wieder einzuschlafen.
    Nach dem Erpressungsfall, in dem Carina beteiligt war und nach dem Tod ihrer Mutter, hatten sie und der Polizist zueinander gefunden. Es war für Ben nach langer Zeit und vielen Bettgeschichten endlich mal wieder eine ernsthafte und feste Beziehung, und er genoß jede Sekunde der Geborgenheit, des Nachhausekommens, der Normalität. Carina hatte das Elternhaus schweren Herzens verkauft, auch um viele schlimmere Erinnerungen an die Alzheimer-Krankheit ihrer Mutter los zu werden und zog bei Ben ein, der mehr als genügend Platz hatte.


    Doch in dieser Nacht dachte er vor allem über den gestrigen Einsatz und den Fall an sich nach. Vor allem über Kevin und Anis. Eine Bekanntschaft von früher, aus Kevins dunklen Zeiten hatte bereits in der Vergangenheit mehrfach Unheil über den jungen Polizisten gebracht. Ob im Knast oder bei seinem Gedächtnisverlust nach Kolumbien. Überhaupt fußte der ganze Alptraum in Kolumbien auf die Bekanntschaft zu Annie, seiner Ex-Freundin aus alten Zeiten. Jetzt schon wieder... es zog sich wie ein roter Faden durch Kevins Leben, immer wieder mit seinem alten Leben konfrontiert zu werden. Jetzt stand vor Bens innerer Tafel Kevins Name, der Name von Kevins Vater und Anis. Und der Polizist versuchte die Zusammenhänge zu ergründen, zu erraten als würde er gegen seinen Freund ermitteln. Dunkel hing ausserdem immer noch die Wolke der Vergangenheit über ihn, Kevins Hände an seinem Hals, die unbarmherzig zudrückten...
    Der Wecker riss den Polizisten aus dem Halbschlaf, er drückte ihn stumm und drehte sich noch einmal zu Carina, um ihren schlanken Hals zu küssen. Sie räkelte sich ein wenig, murmelte unverständliches und schlief weiter, während Ben aufstand, unter die Dusche ging und sich für den Dienst fertig machte.


    Semir war natürlich schon vorher da, er war stets der erste. Obwohl Ben diesmal pünktlich war, hatte er das Nachsehen. Zumindest der Kaffee war schon fertig, als der jüngere der beiden Polizisten einen Guten Morgen wünschte. "Morgen.", murmelte auch Semir und seine Stimme klang müde. "Oha, da hatte jemand aber eine Nacht...", meinte Ben und setzte sich mit der dampfenden Tasse Kaffee, die obligatorisch war, egal ob es draussen heiß oder kalt war, an seinen Schreibtisch. "Wenns ne Nacht gewesen wäre. Lilly hatte Zahnschmerzen und wir waren die ganze Nacht auf den Beinen." Ben regte den Kopf ein wenig, um durch die Glasscheibe nach draussen auf Andrea zu schauen. "Deine Frau scheint das besser wegzustecken, als du." Und kichert fügte er an: "Naja... ist ja auch jünger."
    Semir verdrehte nur die Augen, die Sprüche seines Partners hoben seine Laune aber wieder etwas. "Sieh mal einer an...", meinte Ben dann einige Minuten später, als er aus dem Fenster blickte. Aus Jennys Kleinwagen stiegen zwei Personen aus... Jenny und ihr Partner Kevin. Die beiden hatten sich, nachdem sie sich beim Joggen getroffen haben, verabredet heute gemeinsam zur Dienststelle zu fahren. Auch Semir guckte interessiert, aber nicht zu auffällig. "Ist doch gut, wenn sich die beiden wieder gut verstehen.", sagte der erfahrene Kommissar. "Ich hab ja auch nichts dagegen gesagt."


    Die beiden grüßten ins Großraumbüro und setzten sich an ihre Schreibtische. Jenny fuhr sich durch ihre langen Haare. "Du wolltest mir doch noch die Bilder aus deinem England-Urlaub zeigen.", sagte sie in Kevins Richtung, der zu ihr aufblickte. Der junge Polizist zog sein Handy aus der Tasche und legte es bei Jenny auf den Schreibtisch. "Da sind alle drauf. Ich geh mal noch kurz vor die Tür." Natürlich wollte er nicht bei Jenny im Auto rauchen, deshalb verschob er die Nikotinsucht, bis sie im Büro waren.
    Die junge Frau bedankte sich und nahm das Handy zur Hand, um es per USB-Kabel mit dem PC zu verbinden. Der Bilder-Ordner war nicht besonders voll, da Kevin im Allgemeinen keine Fotos mit der Kamera machte. Doch in seinem Urlaub hat er das Wunderwerk der Technik für einige Fotos bemüht. Jenny klickte sich durch herrliche Landschaftsbilder an der Küste von Cornwall, auf Bilder von kleinen Steinhäuschen und weiten Landstraßen. Als sie ein wirklich schönes Bild von Kevin auf dem Motorrad sah, stutzte sie kurz. Kevin war doch eigentlich nicht der Typ, der einen Passanten bat, ein Foto von ihm als Erinnerung zu machen. Für einen Moment biss sie sich auf die Lippen.


    Die nächsten Bilder brachten die Lösung ihrer Frage. Und sie versetzten Jenny einen Schlag in die Magengrube. Das erste Bild war nur ein Zwicken, denn sie konnte das nackte Fußpaar, neben denen von Kevin am Strand, nicht zuordnen. Erst das Selfie der beiden, die knallroten Haare, die in der Sonne glänzten und ihr Lachen, das Jenny so noch nie gesehen hatte... denn als sie die junge Frau in der Entzugsklinik besuchte, sah sie von ihr höchstens am Schluß des Gesprächs ein zaghaftes Lächeln. Jenny war damals mit Annie im Reinen... jetzt schluckte die junge Frau. Die Bilder zeigten nicht nur eine Urlaubsbekanntschaft, oder das Treffen von zwei Bekannten. Kevin lächelte, seine Augen strahlten und er sah auf den Bildern glücklich aus. Glücklich mit der Frau, die ihn an die Nazis verraten hatte, die Semir beinahe verrecken ließ, und die verantwortlich war für die schlimmen Ereignisse in Hamburg... zumindest im übertragenen Sinne. Auf einem Selfie küsste Annie Kevin auf die Wange, bei einem weiteren küssten sich beide, mehr lachend als romantisch, auf den Mund. Die Bilder zeigten zwei Menschen, die sich mochten, die eine tiefe Verbundenheit zeigten, so empfand es Jenny in diesem Moment. Der Schlag in den Magen hatte sich längst zu einem Brechreiz entwickelt, und ihre Lippen zitterten. War das wirklich nur die Empörung darüber, dass ihr Kollege tatsächlich eine Beziehung einzugehen schien mit der Frau, die mit ihrer Drogenflucht nach Kolumbien soviel Unheil ausgelöst hat? Oder war es Eifersucht...? Als Ben zur Tür hereinkam um einen Guten Morgen zu wünschen, klickte Jenny die Bilder schnell weg...

    Rheinufer - 7:00 Uhr


    Ihre Lungen brannten, Schweiß rann aus Jennys Haaren und ihr Puls pochte am oberen Limit. Die Sonne blitzte gerade zwischen den wenigen Hochhäusern Kölns auf und tauchten den Promenadenweg am Rheinufer in ein glänzendes hellorangenes Licht. Die junge Polizistin hielt sich am Geländer fest, es war noch kalt von der Nacht denn die Sonne hatte es noch nicht berührt. Es fühlte sich angenehm auf ihren verschwitzten Handflächen an, sie griff auch mit der zweiten Hand danach. Dann lehnte sie sich nach vorne und dehnte die Oberschenkelmuskulatur, wie sie es jeden zweiten Morgen nach einem Dauerlauf tat. In ihrem Ohr hämmerte der Beat eines der neuen Tophits, die auch tagsüber das Radio rauf und runter liefen. Langsam, während sie in die Sonnenstrahlen sah, beruhigte sich ihr Puls.
    Es war ihre Hausstrecke, die lief sie jeden Morgen. Nach ungefähr dreiviertel der Strecke kam sie an diesem Punkt, vorher hatte sie von den Intensität des Laufes her ihren Höhepunkt erreicht. Dann dehnte sie sich, schnaufte kurz durch und trabte dann langsam die letzten Kilometer zurück bis zu ihrer Wohnung. Danach duschte sie, frühstückte und machte sich fertig für den Dienst. Als sie noch mit Kevin zusammengewohnt hatte, waren sie oft gemeinsam zum Joggen gewesen, wobei sie oft den Eindruck hatte, ihr Freund würde absichtlich langsamer laufen als er konnte, und heftiger atmen als er musste, um sie nicht zu demotivieren.


    Als sie nun einen Moment über den Rhein blickte, in dessen Wasser sich langsam ebenfalls die Sonne spiegelte, dachte sie nach. Wie so oft überlegte sie, ob die Entscheidungen die sie in den letzten Wochen gefällt hatte, richtig waren. Ob es richtig war, Hamburg nach nur einigen Wochen den Rücken zuzukehren, nachdem was dort vorgefallen war. Ob es richtig war, nachdem sie vor Kevins Verlust geflohen war, nun auch vor Timos Verlust zu fliehen, ironischerweise zu Kevin zurück. Und ob es richtig war, wieder mit Kevin zu arbeiten, nach dem was in Hamburg vorgefallen war. Wenn sie nachts in einen Halbschlaf fiel, konnte sie manchmal immer noch das Bild sehen, wie er die Pistole auf sie richtete. Wie er Patrick eiskalt tötete. Seine Skrupellosigkeit schien sie manchmal am Morgen danach zu spüren, wenn er am Schreibtisch saß, und sie mit den hellblauen Augen anlächelte.
    Aber die Arbeit verdrängte viele Gedanken. Sie spürte, wie sie wieder ein Grundvertrauen zu ihm aufbaute, die manches negatives Gefühl sperrte. Und sie sah auch, wie Semir und Ben es schafften, ganz normal mit ihm zu arbeiten. Zumindest vordergründig taten sie das. Hin und wieder merkte die feinfühlige Jenny aber, dass die zwei Freunde sich, bewusst oder unbewusst, auch ein wenig von Kevin distanzierten, als würde eine unsichtbare Schranke zwischen ihnen stehen, als wäre er zwar dabei, würde aber nicht dazu gehören. Wie ein neuer Kollege, der erst ins Team finden musste. Aber das konnte sie sich auch nur einbilden, vielleicht.


    Das heftige Atmen, das näher kam, kannte sie sehr gut... schließlich hatte sie es beim gemeinsamen Joggen immer neben sich gehört, und manchmal auch beim gemeinsamen Teilen des Bettes. Jetzt schaute Jenny aber erstaunt auf, als ein verschwitzter Kevin in kurzer Hose nassem T-Shirt neben ihr auftauchte und ebenfalls verlangsamte. "Nanu... hast du dich verlaufen?", fragte sie lächelnd und legte eine Hand über die Augen um von der Sonne nicht geblendet zu werden. Kevin schüttelte den Kopf und sprach zwischen tiefen Atemzügen: "Ne... bin heute die große Runde gelaufen." Er hatte sich nach dem Aufwachen eingebildet, dass er unbedingt ein wenig mehr Flüssigkeit vor Dienstbeginn verlieren sollte, als sonst, nach gestrigem Abend. Der Kopf tat ihm zwar weh und er wurde nach 3 Kilometer bereits mit Seitenstechen gequält, hatte aber beim Sport eine eiserne Disziplin.
    Jenny lachte. "Wenn das deine große Runde ist, können wir die ja mal wieder zusammen laufen." Gerade hatte sie sich an den Gedanken erinnert, dass Kevin noch ein wenig ausgegrenzt wirkte, und das wollte sie spontan mit diesem Angebot ändern. Ihn wieder dazu holen, und vielleicht öfters etwas mit ihm unternehmen. Denn immer noch war der geheimnisvolle Mann für sie anziehend, der sich jetzt durch die platten, feuchten Haare fuhr. "Können wir machen.", sagte er lächelnd und in diesem Moment wirkten seine Augen überhaupt nicht skrupellos.


    Der junge Polizist lehnte sich genauso wie Jenny an das Geländer und schaute ebenfalls auf den Rhein. Er genoß immer noch ihre Anwesenheit, sowohl auf der Arbeit, als auch jetzt. Er würde lügen, wenn er behaupten würde, die Trennung, die von Jenny ausging, sei ihm egal. "Ich hab gestern noch mitbekommen von Ben, dass dieser... dieser Anis deinen Vater erwähnt hat?", sagte Jenny dann nach einigen Sekunden des Schweigens, als Kevin wieder zu Atem gekommen war. Er blickte herüber zu ihr. "Ja... scheinbar hatten die irgendwelche Geschäfte zusammen." Nach einer kurzen Pause sagte er: "Das ist mir aber egal. Du weißt ja, wie mein Verhältnis zu meinem Vater ist." Nach einem Streit mit seinem Vater hatte Kevin vor einigen Monaten einen Motorradunfall. Jenny hatte ihn verarztet, ihm Schutz geboten und hatte dabei eine der letzten emotionalen Grenzen bei Kevin überschritten.
    Damals hatte Kevin auch gesagt, warum er mit seinem Vater nichts mehr zu tun haben wollte, dass sein Vater ihn und seine Schwester im Stich ließ, quasi abschob. Jetzt sah sie ihn etwas mitleidvoll an. "Das tut dir nicht gut, dieses Verhältnis zu deinem Vater.", sagte sie vorsichtig, wie immer wenn sie mit Kevin über etwas aus seinem Privatleben besprach. Dann war es so, als durchquere sie ein Minenfeld, wo die Sprengkörper dichter zusammenlagen, als einem lieb war. "Das ist richtig.", bestätigte er mit mittlerweile beruhigtem Atem. "Aber daran wird sich nichts ändern... zumindest so lange er hier in der Gegend ist oder versucht, sich in mein Leben einzumischen."


    Der letzte Satz ließ Jenny aufhorchen. "Was hat er denn jetzt getan? Ich... ich hab nur das mit diesem Anis gehört." Kevin lief der Schweiß aus den Haaren, was aussenstehend vom Laufen sein konnte. Doch innerlich pochte es in seiner Stirn. Er hatte Semir und Ben nicht die ganze Wahrheit gesagt... jetzt spürte er Jenny neben sich, der Frau der er am liebsten alles anvertrauen würde... zumindest noch vor wenigen Wochen, als sie glücklich zusammen waren. Jetzt verursachte es ihm Schmerzen, sie anzuschwindeln. "Mein Vater wird von Anis erpresst... Schutzgeld.", sagte er und beobachtete erstmal die Reaktion seiner Ex-Freundin. Als diese ausblieb, sondern stumm aufforderte, weiterzuerzählen, kam er der Bitte nach. "Scheinbar hat Anis ihn... sagen wir, all die Jahre verschont davon, weil ich sein Sohn bin, und er mich von früher kennt. Jetzt scheint das nicht mehr zu zählen." "Weil wir Benny verhaftet haben?", schlussfolgerte Jenny und ihr Kollege nickte. "Scheint so, ja." Er legte alles in den Konjunktiv, alles als Vermutung, obwohl er die Gewissheit darüber hatte. So log er nicht... zumindest fühlte es sich nicht so an. "Und was wirst du tun?", fragte die junge Frau. "Nichts. Was soll ich tun?" Der Blick in Jennys Augen wurde ein wenig ungläubig. "Na... wenn du Anis von früher kennst..." "Was soll ich mit ihm reden? Ich hab mit ihm nichts mehr zu tun, ausserdem ermitteln wir gerade gegen ihn. Davon abgesehen...", und er zog die Mundwinkel verächtlich herunter "Warum sollte ich meinem Vater helfen?" Jennys Mund wurde trocken. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, und wäre ihr Vater oder ihre Mutter in Schwierigkeiten, würde sie alles tun, um ihnen zu helfen. "Und von polizeilichen Wegen her." "Müsste mein Vater Anzeige erstatten, und das wird er nicht. Dazu hat er zuviel Angst vor Anis."


    Für einen Moment waren die beiden Polizisten am Rheinufer stumm, aber Jenny starrte Kevin an. "Ich weiß, dass du das nicht nachvollziehen kannst.", sagte Kevin leise. "Nein, das kann ich wirklich nicht. Ich kenne nur deine Erzählungen, und ich kann mir vorstellen, dass du einen großen Groll auf deinen Vater hast..." sanft fasste Jenny ihren Ex-Freund am Unterarm, dort wo zwei Striche tättowiert waren, und sie spürte seine heiße, feuchte Haut. "Aber er ist doch immer noch dein Vater.", setzte sie leise hinzu.
    Kevins Blick konnte den Augen Jennys nicht mehr standhalten. Er sah zu Boden, sah kurz auf den Rhein, als müsste er sich sammeln, als müsste er die richtigen Worte zusammen suchen. Es schien, als würde er sich an etwas erinnern, etwas was weit in der Vergangenheit lag und tiefe Wunden in ihm hinterlassen hatte. Erst ein paar Sekunden später schien er die Worte gefunden zu haben, als er Jenny wieder anblickte. Ob der Glitzer in seinen Augen vom Schweiß und der Anstrengung war, oder ob er für einen Moment mit den Tränen kämpfte, konnte Jenny nicht sagen. "Mein Vater ist als Vater für mich in diesem Moment gestorben, als er drei Tage nach Janines Tod an meinem Krankenbett stand...", er musste kurz Luft holen. "... an meinem Krankenbett stand und mir sagte... dass Janine noch leben würde, wenn es mich nicht gab. Er hat mir die Schuld an Janines Tod gegeben... so oft und so lange, bis ich es selber geglaubt habe." Kevins Stimme und sein Blick, der auf der jungen Polizistin haftete, würde sie noch einige Tage im Gedächtnis herumtragen.

    Charmin - 19:20 Uhr


    Anis stand an diesem Abend selbst hinterm Tresen seines Clubs, zusammen mit Cassandra. Sein Club war gut besucht um diese Uhrzeit, er war ja kein reiner Nachtclub sondern eine Mischung aus Lounge-Bar und Nachtclub. Zu späterer Uhrzeit würde die Kleidung der Bedienungen immer knapper werden, und es würde auch Showeinlagen geben, um diese Zeit war eher das jüngere Publikum da um abzuhängen und Shisha zu rauchen. Viele davon waren Landsmänner von Anis, Deutsche verirrten sich nur selten hier rein... und wenn, dann innerhalb einer solchen Jugendgruppe. Im ganzen Raum lag ein angenehmer Geruch der Shisha-Pfeifen, die an jedem Rundtisch in der Mitte standen und in Betrieb waren.
    Als Kamil durch die Eingangstür kam und schnurstracks zur Bar stiefelte, sah Anis aus. Der Gesichtsausdruck eines Freundes war ähnlich dem heute morgen, als er erzählte dass der Waffendeal schief gelaufen war. "Anis... es... es ist was schlechtes passiert." Anis seufzte... er hasste es, wenn schlechte Vorausahnungen eintrafen. "Was ist denn jetzt schon wieder los, Alter? Du hast mir schon den Morgen versaut, tu's jetzt nicht auch noch mit dem Abend." "Könnte aber leicht passieren... es gab eine Razzia oder einen Einsatz im Ragnarök."


    Der Tunesier sah seinen Freund für einen Moment ausdruckslos an. "Eine Razzia?", fragte er verwirrt und erstaunt. Wie zum Teufel kamen die Bullen so plötzlich auf das Ragnaröck, einen Umschlag Platz für kriminelle Bestellungen, die Anis umsetzte. Etwas altmodisch, aber sicherer als das Darknet. In diese Drogenhölle traute sich doch sonst niemand rein. "Wieso? Was ist passiert?" Kamil sah aus wie ein geprügelter Hund und seufzte. "Ich weiß nicht warum. Alex hat mich angerufen, er konnte gerade so flüchten. Ein paar Jungs haben sie verhaftet, es hat eine Explosion gegeben und vielleicht haben die Bullen auch ein paar Unterlagen mitgehen lassen." Anis stellte das Glas, das er gerade in der Hand hatte, fester auf den Tresen, als er müsste. "Fuck, Alter. Diese Bastarde...", knurrte er. Sein Freund biss sich auf die Lippen, als hätte er noch eine unangenehme Info, die er jetzt vorsichtig an Anis heranbrachte. "Der... der Beschreibung nach war einer der Bullen... also... das scheint dein Freund gewesen zu sein." Wie in Zeitlupe sah Anis wieder zurück zu Kamil. "Kevin?" Sein Freund nickte niedergeschlagen und sah aus, als würde er jeden Moment eine Ohrfeige von seinem Jugendfreund fürchten.


    Das passte überhaupt nicht in Anis Plan. Nicht nur, dass sie ihren Umschlagplatz gerade verloren hatten, und die Polizei nun so etwas wie Hinweise in den Händen hielten, wenn sie auch vielleicht nicht viel damit anfangen konnten... nein, auch seinen ehemaligen "Geschäftspartner", wie Anis sagte, schien er unterschätzt zu haben. Statt einzulenken, und Anis behilflich zu sein, Benny aus dem Knast zu bekommen nachdem der Verbrecher Kevins Vater mit Schutzgelddrohungen unter Druck gesetzt hatte, drehte der einfach den Spieß um und versetzte Anis einen Nadelstich. "Ist der bescheuert? Ist dem sein Vater so sehr egal?", sagte er provokant und entschloß innerlich bereits, ein paar seiner härteren Jungs in Erik Peters Laden zu schicken.
    Kamil zuckte nur hilflos mit den Schultern. "Tut mir leid..." "Schon okay, kannst du ja nichts für. Ich glaube, ich muss mir bei Kevin ein paar andere Sachen ausdenken, um ihn wieder zur Zusammenarbeit zu überreden." "Wir müssen uns beeilen, Alter. Der Deal soll schon in ein paar Tagen sein, und vorher brauchen wir Benny.", sagte der kleinere Tunesier mit leichter Panik in der Stimme, was Anis im nicht verübeln konnte und ihn trotzdem beruhigte: "Keine Panik. Das kriegen wir schon hin." Ein paar Stunden später sollte seine Laune weitersinken, als Erik Peters ihm eine SMS schickte mit dem Inhalt, dass er mit Anis' Schutz gegen Geld einverstanden war.


    Eriks Club - gleiche Zeit


    Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen zwischen Erik Peters und seinem Sohn Kevin. Der ältere Mann konnte nicht recht glauben, was Kevin gerade gesagt hatte, doch er war überzeugt davon dass sein Sohn es noch einmal genauso wiederholen würde, wenn er fragte. Zuviel Entschlossenheit schwang in dessen Stimme mit und die Stimmung war zum Schneiden dicht. "Ist das dein letztes Wort?", fragte Erik Peters und auf seiner Stirn klitzerten Schweißperlen. Kevin schüttelte mit verkniffenen Augen den Kopf. "Nein, das war nicht mein letztes Wort. Ich habe deinen Namen auf einer Liste im Ragnarök gefunden. Du hättest zwei 16-jährige Mädchen "bestellt"", sagte er, wobei er das letzte Wort mit angeekeltem Gesicht beinahe ausspuckte.
    Diesmal bildete er sich ein, der Gesichtsausdruck seines Vaters war auf einmal viel weniger gestellt als vorher, als die Empörung in seine Mimik trat. "Das ist nicht wahr. Das musst du mir glauben. Was für eine Liste soll das gewesen sein." "Wir haben bei einer Razzia im Ragnarök Aufzeichnungen von Bestellungen, vermutlich im Zusammenhang mit Anis Geschäften, gefunden. Darauf stand dein Name und die Bestellung.", sagte er mit seiner monoton, aber ernst wirkenden Stimme.


    Erik Peters sah aus, als leide er Höllenqualen. "Ich hab damit nichts zu tun. Keine Ahnung, wie mein Name darauf kommt. Ich hab mit der Zuhälterei nichts mehr am Hut." Es hörte sich an, als wolle er sich rechtfertigen. "Es interessiert mich nicht, womit du dein Geld verdienst. Aber wenn ich rauskriege, dass du in deinem Schuppen hier Minderjährige anbietest, dann nehme ich dich höchstpersönlich fest, das schwöre ich dir.", zischte der Polizist drohend und wollte sich bereits zum Gehen abwenden.
    Kevins Vater stand ruckartig von seinem Stuhl auf, und wurde lauter. "Kevin, was soll ich tun? Mich für meine Fehler, die ich getan habe, entschuldigen? Dafür ist es doch längst zu spät und rückgängig macht es auch nichts. Wir leben beide unser Leben, und warum können wir uns nicht auf einer vernünftigen Ebene begegnen?" Die Worte machten Kevin beinahe rasend, wovon er sich aber zunächst, als er sich wieder zu Erik herumdrehte, nichts anmerken ließ. Erst seine zitternde Stimme verriet seine aufgestaute Wut. "Wir leben beide unser Leben?", fragte er erst leise, bevor er laut wurde. "Was weißt du von meinem scheiss Leben? Du weißt überhaupt nichts!! Du weißt weder was mir wichtig ist, noch was ich seit Janines Tod alles durchmache!! Einen Scheiss weißt du!", schrie er und würde die Musik im Saal nicht auf einer angemessenen Lautstärke laufen, würde Brandy jetzt vermutlich schauen, ob alles in Ordnung war. "Von mir aus, fahr zur Hölle! Aber lass mich, verdammt nochmal, in Ruhe!", schrie Kevin, bevor er zur Tür ging und diese hinter sich zuschlug. Langsam, beinahe wie in Zeitlupe, setzte sich Erik wieder an den Tisch und fasste sich an den Kopf, bevor er leise sagte, als sei Kevin noch da: "Aber du bist doch mein Sohn..."


    Ohne Verabschiedung an Brandy verließ Kevin den Club. Das war sie gewöhnt, denn der junge Polizist verließ den Club nach einem Gespräch mit seinem Vater immer in der gleichen Stimmung. Die Luft war noch warm, es war noch hell, aber Kevin nahm seine Umwelt wie durch einen Wattenschleier wahr. Es war selten, dass er so ausrastete und so laut wurde, wo er doch meistens alles in sich hineinfraß. Sein Vater hatte keine Ahnung, was er ihm angetan hatte. Der junge Polizist ging zwei Straßen weiter in eine Kneipe. Dort begann er zu trinken, bevor er um halb zwölf versuchte, den Heimweg zu finden...

    Nachtclub Innenstadt - 19:00 Uhr


    Aus dem Inneren des Nachtclubs drang ruhige, der Location angepasste Musik, als Kevin seinen Wagen auf dem Parkplatz neben dem Club abstellte. Erik Peters Club war eine der besseren Adressen im Kölner Nachtleben, entsprechend waren die Fahrzeugmarken auf dem Parkplatz sortiert. Reiche Männer, die nach Feierabend Entspannung bei einem Gläschen Bier, Sekt oder Schnaps wollten, dabei hübsche Frauen begaffen und vielleicht zu späterer Stunde mit aufs Zimmer nehmen. Kevin hatte niemals Sympathie für den Job seines Vaters, auch wenn er in jungen Jahren kein Kind von Traurigkeit war... natürlich waren er und seine Clique in solchen Clubs unterwegs, wenn auch eine Preiskategorie tiefer. Der junge Punk hatte sich aber zumindest bei der käuflichen Liebe immer ausgenommen. Durch sein hippes und damals offenes Wesen und der Tatsache, dass er mit 16 schon älter aussah, als er war, schaffte er es manchmal mancher jungen "Angestellten" den Kopf zu verdrehen, ohne dass es auf ein Geschäft hinauslief. Geld bezahlt dafür, hatte er nie.
    Die Verachtung für den Job seines Vaters, bevor er diesen Nachtclub aufgemacht hat, war ungleich größer. Erik Peters war davor ein Zuhälter, hatte nach alter Tradition seine Mitarbeiterinnen knapp gehalten und mehr mit Peitsche als Zuckerbrot im Griff. Was er an seiner Gewaltbereitschaft mal nicht an seinen Mädchen ausließ, steckte dafür Kevin als Junge ein, bevor er von zu Hause ausgerissen ist.


    Seit Janines Tod hatten Kevins Vater und er selbst nicht mehr viele Worte gewechselt, nachdem Erik Peters seinem Sohn vorgeworfen hatte, schuld am Tod seiner Schwester zu sein. Sie suchten sich nicht, Kevin mied den Kontakt und es kam nur zu zufälligen Begegnungen, die nicht selten in lauten, beinahe gewalttätigen Auseinandersetzungen endeten. Der junge Polizist würde sich nie wieder von seinem Vater schlagen lassen, er würde sich wehren, das schwor er sich. Doch Erik schien das selbst auch zu wissen, und wenn der Streit an der Kippe stand, war meistens Kalle da um zu schlichten, wobei das Schlichten eher darin gipfelte, dass sie die beiden Streithähne sinngemäß mit den Köpfen gegeneinanderschlug.
    Es war also das erste Mal seit über 14 Jahren, dass Kevin seinen Vater aus eigenem Antrieb aufsuchte. Wobei dieser Antrieb nun rein beruflicher Natur war... und natürlich dem Verlangen, Anis den Wind aus den Segeln zu nehmen falls er was mit der Sache zu tun hatte. Ausserdem würde er seinen Vater darauf ansprechen, warum ausgerechnet sein Name auf den Bestelllisten im Ragnarök auftauchte... der Name, der auf dem Blatt Papier stand das Kevin mitnehmen wollte und beim Sturz ins Hafenbecken verloren hatte.


    Als er zur Bar kam, begrüßte ihn eine junge Schönheit dahinter mit einem bezaubernden Lächeln, das wohl jeden Mann auf der Suche sofort in seinen Bann zog. "Hi! Möchtest du was trinken?", fragte sie mit Augenaufschlag und schneeweißen Zähnen. "Nein danke. Ich wollte eigentlich...", begann er um nach dem Geschäftsführer, seinem Vater, zu fragen als eine weitere Frauenstimme, die sich von der Seite näherte, ihn unterbrach. "Kevin. Das gibts ja nicht, das ist ja ewig her." Er drehte den Kopf und sah eine knapp bekleidete Frau auf sich zukommen. Brandy nannte sie sich, hieß in Wirklichkeit Birgit, doch der bürgerliche Name versprühte nicht so sehr den erotischen Esprit weshalb sie sich vor 20 Jahren diesen Künstlernamen für diese Arbeit gab. Sie war ehemals eine "Angestellte" von Erik, teilweise seine Liebschaft. Mittlerweile war sie bestimmt Mitte 40, was man ihr aber nicht ansah. Sie kümmerte sich hier als gute Seele um die Tänzerinnen und die Bar. Die Frau umarmte den jungen Polizisten, gab ihm ein Küsschen auf die Wange und sah ihn an. "Gut siehst du aus. Bist ja ein richtiger Kerl geworden.", grinste sie und griff dem Polizisten an den Unterbauch, um ihre Aussage quasi zu kontrollieren, was Kevin kurz zum Grinsen brachte. Dann fuhr Brandy ihm noch durch die Haare: "Und zum Glück sind diese bunten Haare weg. Du willst doch nicht etwa zu deinem alten Herrn?" Sie wusste von dem äusserst schwierigen Verhältnis zwischen Vater und Sohn, wenn auch in erster Linie aus dem Mund Eriks. Doch Brandy kannte Erik und konnte sich ausmalen, dass dieser die Wahrheit schönte, deshalb hatte sie keine Vorbehalte gegen Kevin. Der zog die Augenbrauen hoch und meinte ernüchternd: "Leider doch..."


    Brandy brachte Kevin zu Erik ins Büro, und hinter der Tür sah jeder Club gleich aus. Schummriges Licht, altes Haus, weil es in der Innenstadt von Köln stand und ein Büro der vor allem ausgestattet war mit Bildern, einem Tischchen mit Whiskey und einer dunklen Ledergarnitur. Erik Peters Arbeitsplatz erfüllte so jedes Klischee, ausser dass der Hausherr keine Zigarre im Mund hatte, sondern eine filterlose Zigarette, die er jetzt im Aschenbecher ausdrückte, als Brandy mit Kevin in der Tür erschien. "Schau mal, wen ich draussen verhaftet habe.", sagte die Frau scherzhaft bezogen auf Kevins Beruf. Dessen Laune ging, als er seinen Vater hinterm Schreibtisch sah, zusehends wieder in den Keller, was er durch seine Miene auch ausdrückte.
    Erik schien überrascht vom Auftauchen seines Sohnes, hatte er doch nicht damit gerechnet. "Kevin... schön dass du da bist. Setz dich." Doch bereits diesen Gefallen tat Kevin ihm nicht, als Brandy den Raum verlassen hatte. "Was willst du?", fragte er ohne Begrüßung und hatte sich vorher entschloßen, erst einmal nach zu hören warum sein alter Herr überhaupt um einen Besuch bat. Vielleicht kam man dann schon auf das Thema, weshalb Kevin sich auf den Weg zum Nachtclub gemacht hatte.


    Als Kevins Vater regestrierte dass sein Sohn lieber hinter dem Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand, stehen blieb als sich zu setzen, seufzte er. "Ich stecke in Schwierigkeiten." Die beiden Männer sahen sich an, beide mit den unverwechselbaren blauen Augen gesegnet. Ansonsten hatten sie äusserlich, bis auf die Größe, nicht mehr viel gemein. Erik Peters trug sein, immer noch dunkelbraunes Haar etwas länger im Nacken, seine Haut war gebräunt aber faltig und "verbraucht" von seinem ausgeprägten Zigarettenkonsum. "Was geht mich das an?", fragte sein Sohn kaltherzig. "Du kennst doch Anis Edhem Bourgiba, oder?" Aha, dachte Kevin... wir kommen der Sache sofort näher. Er schwieg, so dass Erik fortfahren musste. "Das... das war nicht gut, dass du ihm die... naja, die Zusammenarbeit gekündigt hast."
    Nun wechselte der abwartende, abweisende Blick in Kevins Augen zu einem verwirrten, verständnislosen Blick. "Was soll das heißen?" Sein Vater seufzte, er musste ihm die Wahrheit sagen. "Das heißt, dass Anis Schutzgeld erpresst von verschiedenen Clubs in der Stadt. Und mich hat er quasi... verschont, weil du mein Sohn bist. Weil du Polizist bist und weil du ihm scheinbar früher auch den ein oder anderen Gefallen getan hast. Nur hab ich dich nie darauf angesprochen, weil ich dachte dass du... naja, dass du Anis sagst, dass du das nicht willst. Wegen unserm schwierigen Verhältnis." Und verdammt, damit hast du völlig recht, dachte Kevin in diesem Moment, als er nicht wusste ob er nun mit rasender Wut, Fassungslosigkeit oder anderen emotionalen Ausbrüchen reagieren sollte. Er starrte seinen Vater für einen Moment wortlos, bevor er die Sprache wiederfand. "Das ist jetzt nicht dein Ernst..."


    "Kevin, versteh doch. Ich hatte keine Wahl. Zu dieser Zeit lief es im Laden nicht besonders gut und wenn ich dann an diesen Clan noch Schutzgeld hätte bezahlen müssen, wäre der Club vor die Hunde gegangen.", rechtfertigte sich Erik und zündete sich eine weitere Zigarette an. Kevin machte einen Schritt nach vorne Richtung Schreibtisch und zischte: "Das ist mir scheissegal! Um mich für so etwas auszunutzen bin ich gut genug, was?" Sein Herz pochte laut in seiner Brust und sein Gehirn versuchte, sachlich nachzudenken. Wollte Anis nun wirklich Schutzgeld erpressen... oder war es mehr ein Versuch, Kevin unter Druck zu setzen, nach dem Motto: "Wir quetschen deinen Vater aus wie eine Zitrone, wenn du uns nicht hilfst, Benny aus dem Knast zu bekommen." Anis Idee hatte nur einen Schönheitsfehler... sie funktionierte nicht, weil es dem jungen Polizisten am Allerwertesten vorbeiging, ob sein Vater zahlen musste oder nicht.
    Erik Peters leckte sich über die Lippen. Nicht dass er ein schlechtes Gewissen hatte... sowas kannte er nicht, auch wenn er ganz selten das Verhältnis zu seinem Sohn bedauerte. Nein, er sah sich in der Zwickmühle. Für einen Moment hatte er Hoffnung, weil Kevin aufgetaucht ist, um zu helfen. Doch diese Hoffnung schwand mit dessen Reaktion. Dass der junge Polizist aufgrund anderer Hinweise da war, wusste der Nachtclubbesitzer nicht... und ohne diese Hinweise hätte Kevin die Anrufe seines Vaters weiterhin abgeblockt. "Ich weiß nicht, was Anis von dir verlangt. Aber... aber ich... ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir helfen könntest." Beinahe ungläubig schüttelte Kevin den Kopf, und sagte einen Satz mit einer Eiseskälte in der Stimme: "Und wenn dein Leben davon abhängen würde... vergiss es."

    Dienststelle - 17:00 Uhr


    Zu viert und heil in einem Stück waren die Polizisten zur Dienststelle zurückgekehrt. Man hatte vor dem Hotel auf die Verstärkung gewartet, jede Menge Krankenwagen und Einsatzkräfte waren vor Ort um das Chaos in diesem Horrorhaus zu beseitigen. Einige der Junkies leisteten Widerstand, das Mädchen wurde zur Klinik gebracht und es war ein großes Durcheinander. Die vier Polizisten hatten sich schnell verabschiedet, sie konnten hier nichts mehr tun und wollten auf der Dienststelle unbedingt noch die neuesten Erkenntnisse zusammentragen und mit der Chefin teilen. Kevin, der von Jenny bei der Zusammenkunft kurz erleichtert umarmt wurde, weil sie sich ebenfalls Sorgen gemacht hatte als sie von Ben erfahren hat, auf welchem Vehikel er die Verfolgungsfahrt aufgenommen hatte, blieb gerade bei Semir im Auto. Es nutzte nichts, wenn er noch einen Sitz nass machte. Ben übernahm den Fahrersitz in Kevins Dienstwagen und fuhr mit Jenny zusammen zur PAST. "Wie kann er sich nur auf so ein Höllending setzen.", sagte sie kopfschüttelnd, nachdem sie dann auch noch erfahren hat, dass er Bekanntschaft mit dem Hafenbecken gemacht hat. Jenny hatte zwar grundsätzlich auch keine Angst, aber noch ein gesundes Maß an Selbsteinschätzung. Sie war auch schon in gefährliche Situationen gelangt, allerdings unverschuldet und nicht billigend in Kauf genommen. Ob sie, wie Semir und Ben, einfach mal auf ein fahrendes Auto springen würde... sie war sich nicht sicher. "Manchmal denkst du bei sowas einfach nicht nach.", sagte Ben am Steuer und lächelte. "Ich spreche aus Erfahrung."


    Auf der Dienststelle wurden die vier Polizisten von ihren Kollegen, die kurz davor waren in den Feierabend aufzubrechen, empfangen. Kevin wurde von Bonrath mit hochgezogenen Augenbrauen bedacht. "Bist du in den Regen gekommen?", fragte er aufgrund des gerade erst abgeklungenen Unwetters. "Ne, voll in die Traufe.", war die knochentrockene Antwort des jungen Polizisten, der trotz drückender Schwüle erstmal unter die Dusche verschwand. Einige Minuten später tauchte er mit frischen Kleidern und abstehenden feuchten Haaren im Büro der Chefin auf. "Jedenfalls bekamen wir bei der Befragung von diesem Benny nichts heraus, weswegen wir uns entschlossen hatten, die andere Seite dieses Waffenhandels zu befragen.", erzählte Jenny gerade. "Dort wurde uns das Ragnarök als Anlaufstelle genannt."
    Die Chefin hörte aufmerksam zu, auch wenn sie nicht besonders darüber erbaut war, dass es mal wieder zu Sachbeschädigungen gekommen war, sowie ein Motorrad eines Unbeteiligten gekostet hatte, wofür sie Kevin ein wenig kritisch beäugte. Aber sie kannte das ja bereits... gefühlt unterschrieb sie mehr Unfallberichte für die Ersetzung beschädigter Autos von Zivilisten, als Urlaubsanträge. "Die Unterlagen, die wir dort gefunden haben, weisen daraufhin dass einige Geschäfte mehr dort abgewickelt werden. Nicht nur Waffen, sondern auch Drogen und Prostituierte... vermutlich nicht ganz im legalen Alter.", sagte sie vorsichtig und dachte an das Mädchen, das man in dem Haus auffand.


    "Konnten die Unterlagen gesichert werden?" "Es hat dort oben nach der Explosion zwar gebrannt, aber es konnte schnell gelöscht werden, da dürfte noch einiges übrig bleiben zum Analysieren.", antwortete die junge Polizistin und regestrierte das anerkennende Nicken der Chefin als Lob. Schließlich war es ihr erster richtiger Einsatz im Kripo-Dienst mit Kevin zusammen, und bisher gab es keine der, von ihr erwarteten und einkalkulierten Probleme. Kevin hielt sich auch auffällig, für ihn aber nicht untypisch, im Hintergrund und überließ Jenny das Feld. Er knabberte daran, dass er das Blatt verloren hatte, auf dem ein ihm bekannter Name stand. Diese Person wollte er damit konfrontieren.
    "Kann man davon ausgehen, dass dieser Ort vielleicht in der ganzen Szene bekannt ist? Also nicht nur Anis Edhem Bourgiba sich diesen zunutze macht?", fragte die Chefin und dachte schon einen Schritt weiter. "Das können wir noch nicht sagen. Aber einige werden in der Szene sicherlich aufgeschreckt werden, wenn ihr Umschlagplatz plötzlich wegfällt. Das Hotel wird nun verschlossen und versiegelt.", sagte Jenny und Semir ergänzte: "Andrea versucht morgen früh sofort, den Besitzer der Immobilie ausfindig zu machen."


    "Gute Arbeit. Aber über den Verlust des Motorrades bekomme ich noch einen Bericht, Herr Peters.", sagte sie in Kevins Richtung, der stumm nickte. Dann waren Semir und Ben an der Reihe, die aber nicht viel erzählen konnten. "Dieser Anis scheint mir sehr abgebrüht. Er war durch die Fragen auch keinesfalls aus der Ruhe gebracht. Benny arbeitet zwar bei ihm, aber von dessen Geschäften hatte Anis natürlich keine Ahnung und verwies darauf, dass alle Ermittlungen gegen ihn oder das Charmin eingestellt waren. Also über den normalen Weg kommen wir an den nicht ran.", erzählte der erfahrene Beamte und wirkte ein wenig resigniert, wobei er das schon vorausgeahnt hatte.
    Ben sah seinen Partner von der Seite an und schwieg. Würde er noch die Frage nach Kevin erwähnen... oder den "Gruß". Mit keinem Wort kam Semir darauf zu sprechen und endete mit der Erzählung bereits. "Es ist für uns gut vorstellbar, dass dieser Anis in Waffengeschäfte als führende Person involviert ist. Er ist, wie sie selber schon gesagt haben, kein unbeschriebenes Blatt. Jetzt müssen wir ihm das nur nachweisen." Man war nicht viel weitergekommen, ausser die Dokumente aus dem Ragnarök und das Hotel selbst könnten neue Anhaltspunkte liefern. Mit dem Ergebnis entließ Anna Engelhardt die Mannschaft in den Feierabend.


    Kevin blickte in seinem eigenen Büro gedankenverloren auf sein Handy. Schon wieder zwei Anrufe in Abwesenheit, und zwei Whatsapp-Nachrichten... eine von Annie, eine von einer unbekannten Nummer, aber einem klaren Absender... die gleiche Nummer, wie die Anrufe. "Wir müssen unbedingt reden. Bitte komm so schnell wie möglich vorbei. Erik." Seine Augen verengten sich zu einem Schlitz... am liebsten hätte er das Handy in die Ecke gefeuert. Semirs Erscheinen im Büro verhinderte dies, er schloß die Tür hinter sich. "Ich wollte das eben nicht vor der Chefin sagen...", sagte Semir und setzte sich zu Kevin auf den Tisch. Er wählte diese Vorgehensweise, anders als Ben heute mittag, gerade nach dem Gespräch im Auto. "... aber dieser Anis hatte, nachdem wir gegangen sind uns einen etwas... naja, kryptischen Gruß hinterlassen." Kevin zog die Augenbrauen hoch und war ganz aufmerksam. "Kryptischer Gruß?" Sofort hatte er im Verdacht, dass Anis Andeutungen gemacht hatte... auf ihr Gespräch, auf ihre Vergangenheit, vielleicht um ihn wegen der Sache mit Benny unter Druck zu setzen. "Wir sollten dich von deinem Vater grüßen. Und es klang irgendwie... in unser beiden Ohren... bedrohlich." Dass Ben Anis nach Kevin gefragt hatte, verschwieg Semir... oder er erwähnte es einfach nicht. Es war nicht nötig, tat nichts zur Sache und schützte Ben ein wenig.


    "Weißt du, was das bedeuten könnten?" Kevin dachte nach und war einigermaßen verwirrt. Hatte die Penetration seines Vaters seit heute morgen etwas mit Anis zu tun? Plötzlich war er geneigt, das Redeangebot seines Vaters doch wahrzunehmen... allerdings nicht aus Hilfsbereitschaft. Scheinbar versuchte Anis ihn über seinen Vater unter Druck zu setzen. Er dachte so intensiv nach, dass er Semir keine Antwort gab. "Kevin? Denkst du nach, oder...", meldete der sich zurück in die Anwesenheit des jungen Polizisten. "Ich... ich weiß nicht. Ich meine, mein Vater hat auch einen Club in der Stadt, da kann es durchaus sein, dass die mal Geschäfte gemacht haben... welcher Art auch immer." Der Polizist hatte keine Ahnung, dass der Club seines Vaters von Schutzgeldforderungen des Tunesiers nur wegen ihm verschont geblieben war... bis jetzt. Genau dieses Thema sprach Semir an. "Schutzgeld vielleicht?" Es erschien auch Kevin logisch... weswegen sein Vater ihn um Hilfe bitten wollte. "Das kann sein. Aber wenn, dann weiß ich nichts davon.", sagte er wahrheitsgemäß und Semir glaubte ihm das. "Und wenn, wäre es mir auch egal.", bekam der erfahrene Polizist zu hören und spürte sofort eine unangehme Kälte in Kevins Stimme. "Wie meinst du das?" "Damit meine ich, dass es mich nicht interessiert, welche Probleme mein Vater hat. Selbst wenn eine Gruppe Schläger von Anis seinen Laden verwüsten würden...", sagte er unbarmherzig worüber der zweifache Vater ein wenig erschrak. "Aber mehr will ich über dieses Thema eigentlich nicht reden... okay?", sperrte Kevin Semir schnell wieder aus diesem Teil seines Seelenlebens aus.

    Hafenbecken - 15:45 Uhr


    "KEVIN!!!" Semirs Stimme war laut und durchdringend, als er am Rande des Hafenbeckens in Richtung Wasser den Namen seines jungen Kollegen schrie. Das Motorrad schwamm im Wasser und weißer Dampf stieg von der Maschine auf, von Kevin war vorerst keine Spur. Semir bekam Panik, für einige Sekunden suchten seine Augen blitzschnell die Wasseroberfläche ab, ob sein Partner irgendwo zu sehen war. "Scheisse...", fluchte er dann und machte sich schon innerlich bereit zum perfekten Kopfsprung ins Hafenbecken, als Kevin sich mit kräftigen Schwimmbewegungen zur Oberfläche bewegte. Mit offenem Mund und schnellem Atem sog er gierig Luft in die Lungen. Semir atmete erleichtert auf, als er sah dass der junge Polizist keine Probleme hatte, zur Leiter an der Wand des Hafenbeckens zu schwimmen und dort hinauf zu klettern.
    Die Augen brannten, die Lunge ebenso und die Kleider erschienen Kevin zentnerschwer, als er die dünne Leiter heraufkletterte. Am Ende erwartete Semirs helfende Hand, die er ergriff und sich ein Stückchen hochziehen ließ, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Dadurch, dass er bereits vorher durch den Regen durchnässt war, hatten sich weder seine Frisur noch seine Kleider geändert... sie waren nur schwerer und trieften. Ausserdem war er schmutzig im Gesicht.


    Kaum hatte er sich wackelnd auf die eigenen Beine gestellte, denn ein wenig schlauchte das Schwimmen schon, wurde er von Semir geschubst. Der erfahrene Polizist war ausser sich: "Sag mal, hast du sie noch alle? Bist du vollkommen lebensmüde?", warf er seinem Kollegen an den Kopf und sah ehrlich wütend aus. Er ging selbst oft enorme Risiken ein, wenn es um Verfolgungsjagden ging, aber sich ungeschützt auf eine solche Rennmaschine zu setzen, kam ihm gefährlicher vor als jede Auto-Verfolgungsjagd. "Weißt du, was da alles hätte passieren können?" Kevin sah den kleinen Mann mit offenem Mund, immer noch triefend und schwer atmend an. Für einen Moment konnte er gar nicht verstehen, warum Semir, ausgerechnet Semir der über fahrende LKWs sprang oder sich an Helikoptern hangelte, Kevin solche Vorwürfe machte. "Der Kerl wäre sonst weg gewesen...", war seine erste Rechtfertigung, doch im Gegensatz zu Semirs dominanter Stimme klang er fast kleinlaut... kleinlauter als er eigentlich wollte. "Wir waren doch direkt dahinter! Und wenn du schon unbedingt hinterher musst, warte das nächste Mal auf ein Auto. Ich kann gut und gerne darauf verzichten, Jenny schon wieder dabei zu zu sehen, wie sie um dich trauert!"


    Die beiden Männer standen sich am Hafenbecken für einen Moment gegenüber. Mittlerweile hatten sie die gleiche Frequenz beim Atmen... Kevins Puls legte sich langsam, während Semir schneller atmete, weil er sich so aufregte. Der eine triefte vor Wasser, der andere war noch trocken, weil er während des schweren Gewitters, das sich langsam verzog, die ganze Zeit im Wagen saß. Der junge Polizist spürte eine Art Sorge in Semir, die diesen Gefühlsausbruch verursachte... und so kämpfte er nicht dagegen an. Er blieb stumm, sah seinen Partner an und nickte beinahe resignierend und schuldbewusst, eine weitere Geste war, dass er beide Arme ein wenig hob und fallen ließ, verbunden mit einem Schulterzucken. "Darf ich trotzdem mit dir zurückfahren?", fragte er dann.
    Die Frage hätte Semir sarkastisch auffassen können, doch so war sie nicht gemeint. Sie war versöhnlich gemeint und das merkte der Menschenkenner auch. Innerlich hatte er schon befürchtet, dass Kevin auf die Standpauke negativ reagieren würde... tat er aber nicht. Und das überraschte ihn doch ein wenig. Genauso wie die schuldbewusste Frage wie die eines Kindes, das Angst hatte dass der Papa alleine heimfahren würde, weil er es vorher ausgeschimpft hatte. Normalerweise würde dieser das Kind dann in den Arm nehmen und sagen: "Selbstverständlich." Semir sparte sich das, sein wütender Gesichtsausdruck verflog und wich einem versöhnlichen. "Na komm..."


    Im Auto schaltete Semir die Klimaanlage ab, damit sein Kollege sich, pitschnass wie er war, keine Erkältung einhandelte. Noch auf dem Weg raus aus dem Hafengelände meldete er der Zentrale das Kennzeichen zur Fahndung und an Ben, dass alles in Ordnung sei. "Ich wollte dich nicht so anfahren.", sagte er, als er das Funkgespräch beendet hatte. "Aber gerade nach den letzten Monaten... wie oft wir Glück hatten... wie oft du Glück hattest." Kevin sah zu dem älteren Mann herüber. "Ich hab leider die Erfahrung gemacht, dass einen irgendwann das Glück verlässt, wenn man es oft genug herausgefordert hat. Und deswegen habe ich zwei, mit André und dir fast vier Partner verloren. Und wie gesagt... ich habe gesehen wie sehr Menschen leiden, wenn sie jemanden verlieren der ihnen wichtig ist.", spielte er nochmal auf Jenny an. Natürlich hatte er es mit Kevins vermeintlichen Tod auch vor kurzem selbst erlebt, und er bildete sich ein in den letzten Monaten sensibler geworden zu sein, wenn einer seiner Freunde seinen Hals riskiert. "Hast du dir jetzt Sorgen um mich gemacht, oder um Jenny?", fragte Kevin mit einem Lächeln, und es klang etwas sarkastisch, aber nicht provozierend, was Semir auch nicht so auffasste. "Ich mache mir um jeden von euch Sorgen. Wenn Ben sich auf das Motorrad gesessen hätte, hätte ich ihm auch in den Hintern getreten, sei dir sicher."


    Es war lange her, dass Kevin und Semir ein solch normales, wieder etwas vertrautes Gespräch führten. Nach alldem, was passiert war seit Semir den jungen Mann auf der Dienststelle niedergeschlagen hatte, als er erfuhr dass Kevin nach Kolumbien fuhr um Annie zu suchen. Dann Kevins Verschwinden, sein Wiederauftauchen und der Alptraum seines Gedächtnisverlustes... und Semirs schrecklichem Verdacht, dass der Mann, der sein Freund war, Ayda entführt hätte. Für einen Moment schwiegen sie, bis Semir erneut die Stille unterbrach. "Das ist alles in letzter Zeit sehr unglücklich gelaufen zwischen uns, hmm?", versuchte er den Moment zu nutzen, vielleicht so etwas wie ein Aufarbeitungsgespräch zu starten. "Kann man wohl sagen.", antwortete Kevin mit seiner monoton klingenden Stimme, die manchmal gleichgültiger klang, als sie klingen sollte. Das Wasser zischte unter den Reifen des BMWs und Semir schien einen Umweg zu fahren, um länger mit Kevin reden zu können. Sie wussten ja, dass bei Ben und Jenny auch alles ok war. "Je länger es her ist, und je länger ich Abstand davon gewinne, desto eher verstehe ich, warum du Annie helfen musstest.", sagte er nachdenklich. Er wusste um die Dämonen im Kopf des jungen Polizisten und wie sie ihn quälten. "Und mein Gedächtnis hab ich selbst schon mal verloren.", meinte er noch lächelnd dazu. Kevin fühlte sich für einen Moment verstanden... so wie er es oft tat in Semirs Anwesenheit, wenn er ruhig mit ihm sprach, leider viel zu selten. Sie funkten oft völlig verschieden, was vielleicht auch am Alter lag. Aber wenn dann, plötzlich, spürte er bei Semir soviel Verständnis. Oft kam dann aber etwas dazwischen, was das Vertrauen von Kevins Seite wieder brach.


    "Hmm... und ich konnte auch deine Sorge um Ayda verstehen, als du dachtest, ich hätte sie entführt.", sagte er unvermittelt, als wäre es das nebensächlichste der Welt. Semir bremste und hielt auf dem Seitenstreifen der Hauptstraße in Köln. "Was sagst du da?", fragte er völlig perplex mit aufgerissenen Augen. Er wusste nicht, dass Kevin diesen Verdacht mitbekommen hatte und sein Herz schlug etwas schneller. "Woher..." "Hotte kommt mit dem Funk nicht so zurecht. Als er dich für den Verdacht nach der Geiselnahme zurechtgewiesen hat, hatte er an all unsere Fahrzeuge gefunkt." Semir biss sich auf die Lippen und blickte durch die Frontscheibe auf die nasse Fahrbahn. Hatte Kevin wirklich gerade eine, noch nicht ausgesprochene Entschuldigung, angenommen... hatte er gerade Verständnis geäussert. "Dafür will ich kein Verständnis.", sagte Semir leise und fuhr wieder los. "Das war ein so unfassbar blöder Gedanke, der nur dieser Ausnahmesituation... und der davor... geschuldet war." Er sprach damit erneut auf Kevins Verwandlung zum Verbrecher an, die Patrick mit Intrigen perfekt sponn. Und dem jungen Mann auf dem Beifahrersitzt wurde klar, wie unangenehm es Semir war, sowas gedacht zu haben. Deswegen ritt er nicht mehr darauf rum, spürte aber dass nach diesem Gespräch ein paar Dinge zwischen ihnen ausgeräumt waren. Gedankenverloren griff er sich in die nasse Hosentasche und erschrak. Er griff ebenso in die anderen Taschen und fluchte lautlos... das Stück Papier, was er aus Zimmer 666 mitgenommen hatte, hatte er scheinbar bei dem Sturz ins Hafenbecken verloren...

    Am prägendsten bei dieser Folge war für mich, dass scheinbar einige Szenen nachgedreht wurden und der Kollege Keller unbedachterweise einen Friseurtermin zwischendurch wahrgenommen hat.

    Wo er zum Großteil der Folge die Haare recht lang und blond gefärbt hatte, hatte er sie in zwei Szenen (als Semir bei der Schlussverfolgung von dem LKW blockiert wird und bei den Endstunt im Parkhaus) plötzlich so kurz, wie in der darauffolgenden letzten Doppelfolge zu seinem Ausstieg (wo ähnliches Malheur auf Mallorca nochmals passierte, nur nicht ganz so krass.)

    Ragnarök - gleiche Zeit


    Ben sprang richtiggehend aus dem Auto, kaum dass Semir angehalten hatte. Sofort klebten sein Shirt an seinem muskulösen Oberkörper, und einige nasse Strähnen hingen ihm im Gesicht, denn er wurde vom Regen durchnässt, bis er an der Kellertür ankam. Vorher hatte er nur kurz Kevin auf dem Motorrad hinterhergeschaut. Eine Mischung aus Bauchschmerzen vor Sorge und Kopfschütteln aufgrund des Leichtsinns seines jungen Partners machte sich in ihm breit. Dann aber konzentrierte er sich auf Jenny. Als der Polizist mit schnellen Schritten die angelehnte Kellertür erreichte, konnte er einen leichten Brandgeruch ausmachen und zog seine Waffe, schob den Brandgeruch dann aber auf den Ofen im Keller, an dem er ebenfalls vorbeilief. Auch er warf einen leicht verwirrten, angeekelten Blick auf den umgestürzten Stuhl und die Blutflecken, was seine Sorge um Jenny noch verstärkte.
    Vorsichtig schob er sich durch die Tür auf den Flur und verfiel in leichten, aber vorsichtigen Trabschritt, die Waffe im Anschlag. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf, als er zuerst den verwahrlosten, verwirrt flüsternden Junkie, der noch die grellgrün gefüllte Spritze im Arm stecken hatte, vorfand. "Scheisse...", murmelte er entsetzt und schluckte. Aber er wollte keine Zeit verlieren, die Sorge um Jenny trieb ihn an. Sechster Stock, hatte Kevin über Funk gesagt. Aber der junge Polizist würde doch Jenny niemals zurücklassen, wenn sie in ernster Gefahr war.


    Er fand den zweiten bewusstlosen Junkie vor der Toilettentür, fühlte vorsichtig mit zwei Händen den Puls, der sehr schwach und unregelmäßig schlug. Was für ein Loch war das, zum Teufel, dachte der Polizist bevor er zum Aufzug und zu den Treppen kam. Als er den engen, verwahrlosten Aufzug mit der, für diese Umgebung bizarren Musik sah, zog sich sein Hals zu und ihm wurde schwindelig. "Für kein Geld der Welt...", murmelte er und lief die ersten Stufen der Treppe hinauf. Es war kein abgetrenntes Treppenhaus, sondern eine gerade Treppe an der Längsseite zum Flur hinauf. Das hieß, er musste eine Treppe herauf und umgekehrt den Flur ein Stück ablaufen zur nächsten Treppe.
    Im 3. Stock sah er auf dem Flur ein Mädchen laufen. Sie schien gehetzt, panisch und schaute sich nach Ben um. "Hey!", rief der Polizist, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, doch sie erschrak förmlich vor dem fremden Mann mit der Waffe in der Hand. "Ich tu dir nichts!" Bens Schlinge um den Hals zog sich erneut zu... das Mädchen war 14, höchstens 15 und war nur in BH und billigen Boxer-Shorts bekleidet... und reagierte panisch. Sie rannte in das erste Zimmer, das sich ihr bot ohne zu wissen, dass es dort einen Ausweg gab. Was sie so erschrak, konnte Ben nicht sehen, denn ausser ihm war niemand da und seine Waffe hatte er deeskalierend heruntergenommen. Für einen Moment blieb der Polizist unentschlossen stehen... sollte er nach dem Mädchen sehen, oder erst Jenny finden. Er entschied sich für seine Kollegin.


    Bereits etwas ausser Atem kam er die Treppe zum vierten Stock nach oben und prallte erneut zurück, als sich eine Frau mit einer Waffe in den Weg stellte. "Oh Gott, hast du mich erschreckt...", keuchte Jenny und ließ die Waffe sinken. "Gleichfalls... wie siehst du denn aus? Ist alles okay?", sagte Ben und sah sich Jenny genauer an. Ihre Kleider und ihr Gesicht waren mit Staub bedeckt, ausser einer Wunde an der Stirn sickerte langsam ein wenig Blut durch den Staub, ihre Hose war an den Knien aufgescheuert und ihre Haare waren durcheinander. "Ja, es ist okay. Die haben die Zwischendecke weggesprengt, als sie uns angegriffen haben. Und dabei hab ich das Stockwerk gewechselt." Sie pustete durch. "Wo ist Kevin?" "Der hat einen flüchtenden Mann mit einem Motorrad verfolgt, als wir ankamen. Wie kann er dich einfach hier zurücklassen..." Jenny unterbrach ihn sofort: "Ich hab ihm gesagt, er soll ihn verfolgen.", was den jungen Polizisten versöhnlich nicken ließ.
    "Was ist das hier für ein Ort... hier bekommt man ja das Grauen.", fragte Ben, weil er vermutete, dass die beiden irgendwoher Informationen hatten, was sie hierher fahren ließ. "Ein ehemaliges Stundenhotel, und jetzt scheinbar der Auffangort für Junkies, die abhängig von Valkyr sind. Ausserdem haben wir oben Unterlagen für Waffen- und Drogengeschäfte gefunden. Die Käufer der Waffen haben uns diesen Tip gegeben.", erklärte die Polizistin und steckte die Waffe zurück in den Holster. "Ist das Stundenhotel wirklich ehemalig?", fragte Ben und erntete einen verwirrten Blick von Jenny. "Komm mit."


    Ben lief mit Jenny zusammen die Treppen herunter, ein Stockwerk tiefer in das Zimmer, in das das Mädchen geflüchtet war... es war leer. "Fuck ey.", entfuhr es dem Kommissar und seine Kollegin verstand nicht ganz. "Hier war eben ein Mädchen. Es lief auf dem Flur und schien sehr panisch und ängstlich zu sein. Jetzt weiß ich auch warum, wenn es da eben eine Explosion gegeben hat." "Ein Mädchen?" "Ja... höchstens 14 oder so. Und in Kleidung, die mich vermuten lässt, dass das Stundenhotel noch nicht ehemalig ist." Jenny fuhr sich durch die Haare und konnte sich nur im Ansatz vorstellen, was in diesem Loch mit jungen Mädchen passierte. Eine Vergewaltigung hatte sie selbst schon hinter sich, und sie wurde sofort daran erinnert. "Wo soll sie denn hin sein?", fragte sie sich und trat zusammen mit Ben auf den Flur, wo ihre Frage sofort beantwortet wurde.
    Mit apathischem Blick und zitternden Händen kam das Mädchen auf sie zu. In der Hand hatte sie ein blitzendes Messer, das sie vermutlich einem Junkie abgenommen hatte. "Ich hab ihn gesehn... ich hab ihn gesehn.", flüsterte sie mit hoher Stimme, und die Gänsehaut kehrte bei Ben und Jenny zurück, die beide sofort die Waffe zogen. "Leg das Messer weg... sofort!", sagte Ben bestimmt und stellte sich ein wenig vor Jenny. Beide hatten die Waffe nach unten gerichtet. "Ich spüre es... es fließt in mir... das Blut des Teufels."


    Es kam näher und näher, und Ben ließ es auf eine Armlänge herankommen. Gegner zu entwaffnen war mit das erste was man im Selbstverteidigungstraining bei der Polizeiausbildung lehrt. Ein Mädchen auf Drogen, das zwar zu allem entschlossen war, aber keinesfalls reaktionsschnell war oder mit einem Angriff rechnete, war leichte Beute. Mit dem Fuß trat Ben zu, traf die kleine Hand und das Messer fiel klackernd zu Boden. Sofort ergriff der Polizist das dünne Mädchen und warf es, so sanft wie möglich aber entschlossen wie nötig zu Boden. Jetzt schrie es laut, es schrie als würde man es foltern, ein heller gellender spitzer Schrei. "Sei ruhig! Hörst du!! Halt die Klappe, verdammt!!", versuchte Bens laute Stimme gegen den Schrei anzukommen und bemerkte, als er ihr die Hände auf dem Rücken fixierte, viele kleine Einstichstellen. Das Mädchen hatte scheinbar auch von dem Teufelszeug genommen.
    Jenny stand fassungslos und betroffen daneben... sie war wirklich noch jung und sah nicht gesund aus. Sehr blass, beinahe fahl, eingefallene Augenhöhlen und strähniges Haar. War sie allein hier? Waren noch mehr Kinder oder andere Frauen im Haus? Andere Junkies? Zumindest von den Gangstern schien niemand mehr übrig zu sein, sonst wären sie auf den Krach aufmerksam geworden. "Wir brauchen Verstärkung. Oben sind ein paar der Typen, die uns angegriffen haben, angeschossen und verletzt.", sagte sie, als das Mädchen sich einigermaßen beruhigt hatte, und nur noch zusammenhangloses Zeug flüsterte. "Okay...", sagte Ben und zog sein Handy, um Krankenwagen und Verstärkung zu rufen...