Beiträge von Campino


    Warum Anis jetzt Kevin nicht damit unter Druck setzen will, indem er sich Jenny oder Kalle schnappt, verstehe ich gerade nicht. :/ Habe ich da was überlesen? Für einen Verbrecher wäre das doch die optimale Lösung.

    Anis hat erwähnt, dass er Kevin dazu zu gut kennt. Und dass Kevin ihm, in diesem Falle, eher den Club abreißt, als auf Anis' Forderungen einzugehen.

    Für mich ist durch die letzten Staffeln und den wirklich unterirdischen Vorberichten die Staffel, bzw die Serie völlig egal geworden. Auf dem Weg war die Serie schon mal um 2010-2011 als die schlimmste Ben-Zeit war. Erst die Rückkehr von André Fux und danach der neue Partner hatten mich davon abgehalten.

    Und wenn ich vergleiche, wie ich damals bei Kiefer jeder Folge entgegen gefiebert hatte, um zu wissen wie die Hintergrundstory weitergeht, oder mich auf einen neuen packenden Thriller gefreut habe, ist es kaum zu glauben, was man darauf gemacht hat. Man hat es geschafft, die Serie kurz vorm Abgrund zurück zu ziehen auf dem besten Weg zurück zu alter/neuer Stärke, um sie kurz vorm Ziel wieder zurück in den Abgrund zu werfen.

    Unverständlich, dass hier teilweise die gleichen Regisseure/Drehbuchautoren diesen "Dreck" verbrochen haben.

    Für mich gibts erneut eine Cobra 11 - Pause, bis man den Stil (erneut) ändert bzw einen neuen Partner präsentiert.

    Charmin - 14:30 Uhr


    Ganz ruhig bleiben, dachte sich Anis. Nicht die Nerven verlieren. Cholerisches Rumschreien, seine besten Freunde und Mitarbeiter anpflaumen und anschreien würde jetzt nichts bringen. Und trotzdem hatte er das Bedürfniss irgendjemanden für das zu bestrafen, was er gerade hier vorgefunden hatte. Das Kellerfenster aufgebrochen, die Bürotür geöffnet und mehrere USB-Sticks sowie der Laptop waren weg. Der Unterweltboss schaute aus dem Fenster auf die Straße, wo die Hitze flimmerte, er hatte sich auf die Fensterbank gestützt und schaubte wütend. Kamil und zwei weitere Männer standen hinter ihm. "Das kann ja kein Zufall sein, Anis.", sagte er immer wieder, bis dem Tunesier der Geduldsfaden riss.
    "Ich weiß, Alter! Ich weiß, dass das kein Zufall sein kann, und ich weiß auch, wer für die Schweinerei verantwortlich ist. Verdammt!", sagte er laut und wandte sich vom Fenster ab. Mit einem Schwung fegte er die Blätter vom Tisch, die lose aus einem Ordner genommen wurden, der scheinbar ebenfalls durchsucht wurde. Kamil wich einen Schritt zurück, denn er wusste dass mit seinem Freund nicht gut Kirschen essen war, wenn er wütend war.


    "Aber ist doch eigentlich nicht schlimm... ich meine... die haben doch nichts. Auf dem Laptop war doch nichts gespeichert und der verschlüsselte Stick ist in deiner Bude.", sagte er dann doch vorsichtig. "Ist doch scheissegal. Der Typ ist bei mir eingebrochen! Bei mir!!" Es kratzte Anis gewaltig an seinem Stolz. In der Szene in Köln war er eine große Nummer und viele andere fürchteten sich vor ihm, ob seiner Kompromisslosigkeit und seiner Brutalität gegenüber Mitbewerber auf dem Drogen- oder Schutzgeldmarkt. Und so ein kleiner Bulle, ganz gleich wie tief er selbst mal in dem Sumpf drinsteckte, wagte es in seinen Club einzubrechen und ihn zu bestehlen. Das war eine persönliche Kampfansage.
    Anis hatte den Polizisten vielleicht doch unterschätzt. Seine Hemmschwelle zum Vorgehen ausserhalb der Polizeinorm zu hoch eingeschätzt. Er hatte wirklich gedacht, Kevin hätte allen illegalen Aktionen endgültig abgesagt, nachdem er so überzeugend Anis Angebot abgelehnt hatte... trotz des möglichen Gegenwertes, weitere Drogen zu bekommen oder seinem Vater zu helfen. Egal ob Kevin nun etwas auf dem Notebook finden würde oder nicht... er hatte wieder einen Punkt gemacht. Bereits die Aktion in seinem Club gestern Abend war ein Sieg für den Polizisten. Aber den Krieg würde er nicht gewinnen...


    Anis griff zum Telefon. "Du willst das wirklich machen?", fragte Kamil. "Hast du eine bessere Idee?", war der direkte Konter. "Naja... ich meine... ich hätte ja immer noch vorgeschlagen Kevin anders unter Druck zu setzen. Seine Freundin... oder Kalle..." "Nein! Und warum hab ich dir schon mal gesagt.", schmetterte Anis sofort ab und wählte eine Nummer. Er hatte Yusef ins Matrix, eine Szenekneipe, geschickt um Informationen einzuholen, mit denen er Kevin unter Druck setzen konnte. Und er hoffte, sein Freund war erfolgreich.
    "Hier ist Anis, hey. Hast du etwas rausgefunden?" Er hörte lange zu. Yusef war ein Mann fürs Grobe, ein Fitness- und Muckibuden-Freak der die nötige Statur hat, Informationen aus Leuten zu erzwingen... sei es durch körperliche Gewalt und auch nur der Androhung dieser. Die Inhaber des Matrixs haben sich von der damaligen Drogenszene abgewandt und versuchen ihren Laden Drogen- und Streßfrei zu halten. Harry, der jetzige und damalige Chef hatte wertvolle Hinweise gegeben. Kevin hatte er sie nicht verraten, nachdem dieser dort aufgeschlagen war... alte Feindschaft. Die Punks hatten den Hippieladen immer verachtet, manchmal auch angegriffen und verwüstet. Patrick hatte sich damals geschickt zwischen den Lagern bewegt. Anis nickte zufrieden und legte auf, bevor er Kevins Nummer wählte.


    Kevins Handy klingelte einige Male, bevor die monotone Stimme sich meldete. Im Hintergrund hörte man ein beständiges leises Rauschen. Es klang nach Autogeräuschen. "Kevin... du mieser kleiner Bastard.", quetschte Anis hervor und für den jungen Polizisten hörte es sich fast so an, als wäre es eine typische lustiggemeinte Begrüßung von Anis. Dahinter schwang aber eine Portion ehrlich gemeinte Wut mit. "Was willst du?", fragte Kevin gelangweilt und beinahe angriffslustig. Anis meinte zu hören, dass er gestresst klang. "Pass auf, mein Freund. Das alles ist ziemlich scheisse gelaufen zwischen uns. Eigentlich wollte ich nicht, dass sich das so aufschaukelt."
    Der Tunesier hörte den Polizisten kurz auflachen. "Ja klar. Das wolltest du natürlich nicht.", wiederholte er und konnte Anis wütenden Blick nicht sehen. "Ich hatte ja nicht erwartet, dass du dich so stur stellst." Dann lachte er, und der junge Polizist konnte durchs Telefon nicht feststellen, wie ehrlich das Lachen war... war Anis gerade gut drauf, oder kochte er vor Wut. Scheinbar hatte er den Einbruch schon bemerkt und konnte den Täter leicht erraten.


    "Was ist denn? Hast du mir was zu sagen, oder willst du nur meine Stimme hören?", keifte Kevin ins Telefon und war ungeduldig. "Ich wollte mich entschuldigen. Und zum Zeichen der Wiedergutmachung, wollte ich dich heute Abend zum Essen einladen." Für einen kurzen Moment war es still in der Leitung. "Zum Essen?" "Ja, nur wir beide." "Wie romantisch.", stichelte der Polizist und erntete sofort ein: "Halt die Klappe. Ich will einfach nochmal mit dir reden. Ich hab da vielleicht etwas, das dich interessieren könnte." Er konnte Kevin aufstöhnen hören. "Es gibt nichts, was du mir sagen könntest, was ich nicht schon weiß. Und schon gar nichts, wofür ich dir Benny liefere. Das Essen kannst du dir sparen."
    Anis lächelte überlegen und warf einen Blick auf seinen Kalender... auf die schwarze Umrandung und das Kreuz daneben... auf den 16. Juli. "Auch nicht wenn das, was ich dir zu sagen habe, mit dem 16.07.2002 zu tun hat?" Plötzlich war es mucksmäuschenstill. Anis konnte Kevin nicht mehr atmen hören, sogar das Rauschen im Hintergrund schien plötzlich leiser zu sein. Es dauerte einige Sekunden bis Kevin wieder das Wort ergriff und seine Stimme war seltsam mechanisch. "Wann und wo?" "Heute Abend um 8, in Ari's Restaurant. Abendgarderobe ist erwünscht. Bis dann..." Dann trennte Anis die Verbindung und war plötzlich zuversichtlich, Benny doch noch zu bekommen.

    Verhörraum - 13:00 Uhr


    Die Fertigessen, die Gefangene in der Dienststelle jeden Tag vorgesetzt bekamen, waren wenig abwechslungsreich und konnten einem nach einigen Tagen bereits zum Hals raushängen. So auch Benny, der diesmal im Verhörraum sein Mittagessen einnahm, während Semir und Ben ihm stumm dabei zusahen. Sie hatten ihn herbringen lassen, er bekam sein Mittagessen während Kevin und Jenny im Nebenraum standen und die ganze Szene beobachteten. "Warum bin ich jetzt nochmal hier?", fragte Benny mit vollem Mund, kurz bevor er mit seiner Mahlzeit fertig war. "Weil wir noch ein paar Fragen an dich haben.", antwortete Semir mit Bierruhe und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
    Benny sah, als er den Teller von sich schob, beide Polizisten an. "Ich werd' euch nicht mehr erzählen, als bei meiner Verhaftung. Egal, ob ihr mich nett fragt, oder wie Kevin auf den Boden drückt. Okay?" Ben und Semir sahen sich kurz irritiert an, als Benny Kevin erwähnte, vor allem die Tatsache dass er scheinbar von Kevin tätlich angegriffen wurde. Der ältere Polizist warf noch einen vorwurfsvollen Blick in die Spiegelscheibe und der Blick traf Kevin.


    "Vielleicht haben wir dir ja etwas zu erzählen.", sagte Ben mit einem leichten sarkastischen Unterton, was nun Benny die Augenbrauen heben ließ. "Zum Beispiel, dass in deine Bude eingebrochen wurde." "Wie bitte?" Kevin beobachtete durch die Spiegelscheibe die Reaktion von Benny ganz genau. Die Überraschung war nicht gespielt. "Warum? Was ist geklaut worden?" "Keine Angst, nichts wertvolles. Glauben wir.", sagte Ben und hörte sich dabei wie ein unerfahrener, ahnungsloser Streifenpolizist an. "Was heißt, glauben wir? Ihr wisst doch gar nicht, was fehlen könnte ohne mich. Wir müssen sofort dorthin!" "Wir haben den Einbrecher erwischt, und er hatte nichts großes dabei. Alzu viel kann er also nicht mitgenommen haben. Höchstens etwas, was in die Hosentasche passt.", erklärte Semir.
    "Ja und? Was wollt ihr damit jetzt von mir?" "Hast du USB-Sticks im Haus? Also in deinem Büro irgendwo herumfliegen gehabt?" Unsicher sah Benny von einem zu dem anderen Polizisten. Eigentlich hatte er sich mit diesem Zögern bereits verraten, egal wie er jetzt antworten würde. Er entschied sich, dummerweise fürs Lügen. "Nein, hab ich nicht." Semir grinste und Ben lachte kurz auf, bevor er sagte: "Dann hast du Glück... dann wurde tatsächlich nichts entwendet. Wenn du aber welche hattest... die sind futsch."


    Benny wollte gerade etwas erwähnen, als Semir dazwischen fuhr: "So, Schluss jetzt mit dem Kasperletheater. Wir wissen, warum Anis dich unbedingt aus dem Knast haben will." Erneut schaute Benny überrascht auf... eigentlich hatte er geglaubt, Kevin würde die Sache für sich behalten. Er rechnete nicht damit, dass der schweigsame Polizist bei seinen Kollegen über die Sache auspacken würde. Doch da täuschte er sich. Semir und Ben waren eingeweiht, und Jenny fühlte in diesem Moment ein wenig Stolz in sich, dass sie die treibende Kraft dafür war, dass ihr Ex-Freund die Barriere des Misstrauens überwunden hatte. Er selbst, der dicht neben ihr stand, und immer wieder dem inneren Zwang widerstand, einfach mal ihre Hand zu nehmen wie früher, war froh dass er die beiden Freunde eingeweiht hatte.
    "Du kochst Drogen für Anis. Du hast die Rezeptur von Valkyr geändert um aus der Horror-Droge endlich das zu machen, für was sie gedacht war. Und für Anis ist das eine Lizenz zum Gelddrucken." "Woher wollt ihr das wissen?" Der junge Polizist verdrehte die Augen und warf einen Ordner, den er auf dem Schoß liegen hatte, auf den Tisch. Darin waren einige der ausgedruckten Seiten aus dem Notebook, den sie aus Anis Büro mitgehen lassen hatten... an dem Benny gearbeitet hatte.


    "Wie... wie seid ihr da ran gekommen.", fragte Benny nachdem er die erste Seite sofort wieder erkannt hatte. Semir grinste, den er hatte in diesem Moment eine Idee. Er rechnete nicht damit, dass man alleine mit der Appellierung an Bennys Gewissen ihn auf ihre Seite ziehen würde. Eine kleine Lüge bedurfte es zusätzlich noch. "Die wurden uns anonym auf einem Stick zugeschickt. Mit dem Hinweis, dass du diese Dokumente angefertigt hast und die Sachen in deiner kleinen Hexenküche hergestellt hast." Prüfend sah er Benny an. "Stimmt das?" "Ohne meinen Anwalt sage ich dazu nichts.", brummte Benny und verschränkte nun die Arme vor der Brust. Kevin nickte hinter der Fensterscheibe. "Also ja...", meinte Semir und notierte sich etwas auf seinem Notizblock... es war nur Gekritzel, sah für Benny aber so aus, als mache er sich belastende Hinweise.
    "Scheinbar hat dein Boss etwas gegen dich... für wen du auch immer die Sachen kochst. Denn bei Anis arbeitest du ja nur als Türsteher, sagtest du.", meinte Semir zweideutig und packte die Akten wieder weg. "Also entweder du kannst jetzt auspacken über denjenigen, für den du die Drogen kochst und kommst sowohl in der Sache, als auch in der Waffen-Nummer mit einem blauen Auge davon... oder du fährst ein bei diesem Beweisen."


    Ben hatte das Spiel natürlich längst begriffen. "Die Dokumente auf dem Laptop haben Signaturen. An welchem Rechner sie geschrieben wurden. Es ist ein Leichtes zu beweisen, dass das an dem Laptop war, den wir in deiner Bude sichergestellt haben. Oder vielleicht an Anis Laptop, wenn wir bei ihm eine Durchsuchung machen.", sagte er und beide spürten, dass Benny nervös wurde. Deswegen zog Semir jetzt den letzten Joker, den sie noch im Ärmel hatten. "Unser Experte hat rausgefunden, dass man bei ganz leichter Abänderung dieser Drogen-Rezeptur nicht das berauschende Mittelchen herausbekommt, sondern ein Kampfstoff mit dem Menschen zu beinahe willenlosen Aggressionsmonstern macht. Also quasi das, was bei dem ersten gescheiterten Versuch mit V passiert ist.", stellte Semir nun wieder mit allem Ernst in der Stimme klar. "Ist dir das bewusst? Wem wollt ihr den Stoff verkaufen?"
    Benny nickte. "Ja, das ist mir bewusst. Aber die Käufer wollen das fürs Ausland, um den Drogenmarkt in Moskau umzukrempeln. Ich glaube nicht, dass die das für andere Zwecke missbrauchen." "Glaubst du, oder weißt du?" "Warum sollte ich das sonst für die einmal produzieren, damit sie sicher sind, dass die Rezeptur echt ist, wenn sie es dann doch anders machen. Die Russen bieten Anis soviel Geld, dass wir uns alle zur Ruhe setzen könnten. Wenn nur dieser bescheuerte Waffen-Deal nicht gewesen wäre..." Er gab den beiden Polizisten das Geständnis, das sie gebraucht hatten.

    Dienststelle - 11:45 Uhr

    Hartmut wurde schon von unterwegs benachrichtigt, und entsprechend geködert. Als die drei Männer auf der Dienststelle eintrafen stand sein Notebook schon bereit, die Pizza war bestellt und Jenny voller Ungeduld. Erleichtert seufzte sie, als sie sah dass alle drei ihrer Kollegen und Freunde unversehrt wieder eintrafen und sogar "Beute" mitbrachten. Der Chefin würde Semir später in Ruhe alles erklären und in die Berichte etwas von "anonym zugesendeten Beweismitteln" schreiben. Auch wenn das bei der Autobahnpolizei erstaunlich oft vorkam. Bei großen Verbrechen fragte sie Staatsanwaltschaft aber dann nicht mehr genau nach, nur die Verteidigung.
    "Na, seid ihr fündig geworden?", fragte Hartmut neugierig und besah sich der Beute. Ein Notebook, zwei USB-Sticks und eine externe Festplatte. Er startete sofort seine Hardware am Tisch von Ben und machte sich an die Arbeit. Eine Zeitlang war im Büro nur das Klicken der Maus und der Tastatur zu hören, leises "Hmm... hmm...", von Hartmut und das Ticken der Uhr. Ben und Semir standen direkt hinter dem rothaarigen Genie, und konnten den Arbeiten ein wenig folgen.


    Hartmut ließ über jeden Datenträger ein selbst geschriebenes Suchprogramm laufen. In diesem Programm konnte er einstellen, nach welcher Art Datei gesucht werden sollte. Jetzt forschte er nach allerlei Art Dokument, die irgendwelche Aufzeichnungen enthalten konnte. Ausserdem nach verschlüsselten Containern und Archiven. Immer wieder lief ein blauer Balken von links nach rechts, Prozentzahlen wurden angezeigt, Ergebnisse, die Hartmut öffnete. Meist waren es aber Unterlagen aus dem Charmin, private Sachen von Anis, Geburtsurkunden... nichts, was den Männern weiterhalf. Der erste USB-Stick kam und ging, der zweite ebenso. Die Hoffnung in Semir sank ein wenig.
    Kevin stand nicht direkt bei seinen beiden Kollegen. Er lehnte am Fensterbrett, sein Blick auf den Monitor gerichtet, doch er nahm nicht wahr, was dort passierte. Er sah nur das Kalenderblatt, den 16.07 schwarz umkringelt mit einem Kreuz. Sein Geburtstag. Und gleichzeitig Janines Todestag. Was hatte das zu bedeuten? War das nur ein riesengroßer Zufall? Ein makabarer Scherz? Er wusste, dass Anis seine kleine Schwester kannte, über Kevin, über die verschiedenen Gangs, über die Schule. Und er wusste auch, dass Anis ein ganz besonderes Verständnis zur "Familie" hatte. Eines, das Kevin nicht ganz unähnlich war.


    Jenny kannte Kevin. Und sie sah an seinem Blick, dass nur seine Augen, nicht seine Konzentration zum Bildschirm hingewandt waren. In seinen Gedanken, das konnte sie spüren, war er an einem anderen Ort. Sie ging von einer Seite des Büros hinter ihren beiden Kollegen zu Kevin und lehnte sich dicht neben ihn an die Fensterbank. "Alles klar?", sagte sie leise und berührte mit ihrer Hand kurz seinen Oberschenkel. Die Berührung ließ ihn innerlich kurz aufzucken. "Hmm?" "Ob alles okay ist." Sie sprach leise, aber natürlich würde Ben und Semir sie hören. Doch sie schauten so gebannt und konzentriert auf den Bildschirm, dass die murmelnden Stimmen im Hintergrund untergingen.
    "Hmm, ja. Alles in Ordnung. Bin müde.", meinte Kevin kurz angebunden und ärgerte sich schon wieder. "Kann ich verstehen, wenn du die ganze Nacht im Auto gesessen hast." Die Worte aus Jennys Mund klangen verständnisvoll, ihr Blick aber verriet dem müden Polizisten, dass sie ihm nicht glaubte, dass alles okay war. Er zog sein Handy, öffnete ein Notizprogramm und schrieb, für Jenny gut sichtbar "später" hin... denn auch ein Flüstern würde Ben und Semir mitbekommen. Er wollte Jenny nichts verheimlichen, er wollte es jetzt aber auch nicht vor allen sagen.


    "Verdammt..." auch die Festplatte ließ keinen Hinweis zu. Nichts war verschlüsselt, die Platte voll mit Musik. "Könnten wir ihn wenigstens wegen Raubkopien dranbekommen.", witzelte Ben. "Tolle Idee." "Jetzt bleibt nur noch der Laptop.", seufzte Hartmut. Es wäre zu ärgerlich, wenn der risikoreiche Bruch ergebnislos blieb. Das rothaarige Technikgenie startete den fremden Laptop. Allerdings nicht auf normalem Wege, sondern über seinen eigenen Stick und ein eigenes emuliertes Betriebssystem. Somit umging er schon mal etwagige Passwortabfragen im normalen Windows. Jetzt hatte er Zugriff auf alle Dateien. "Hier ist zumindest schonmal ein Verschlüsselungsprogramm installiert.", sagte er verheißungsvoll. "Aber für Laien."
    "Für Laien?", fragte Ben. "Ja... eine Freeware. Zwar vom Algorithmus her sehr gut, aber..." "Hartmut, auf Deutsch. Für Beamte. Bitte.", unterbrach Semir ihn. "Du bekommst es kostenlos, jeder kann damit umgehen, aber zu knacken ist es sehr schwer und aufwändig.", kürzte Hartmut ab. Es wurde wieder still im Büro, Hartmut klickte, schaute, räusperte sich und aß, wie die vier anderen, immer wieder ein Stück Pizza. Da Kevin wenig Hunger hatte überließ er dreiviertel seiner Pizza Ben und Hartmut, die dankend zulangten.


    "Nichts... gar nichts. Keine Dokumente, die uns helfen. Keine verschlüsselten Dateien. Aber laut History des Programms hat er vor einigen Tagen etwas verschlüsselt, aber auf einen externen Datenträger. Und das scheint keiner zu sein, den wir haben. Jungs... das war nix.", sagte Hartmut irgendwann und schlug die Hände überm Kopf zusammen. "Scheisse...", presste Kevin hervor, das erste Wort dass er deutlich und laut sagte, seit sie wieder im Büro waren. "Dann hat er das Zeug doch in seiner Privatwohnung.", murrte Semir ebenfalls enttäuscht. Und Ben ärgerte sich... wäre ja zu schön gewesen, wenn mal eine Idee geklappt hätte. "Aber Moment mal... vielleicht... hmm...", sagte Hartmut plötzlich und begann wieder zu tippen.
    Es dauerte nur wenige Minuten, und plötzlich tauchten Aufzeichnungen des gesuchten Dokumentes auf. "Nennt mich Gott.", grinste er triumphierend. "Wie hast du das jetzt hingekriegt?", fragte Ben verwundert, der doch ein wenig von PCs verstand. "Die Dateien waren zwar nicht abgespeichert... aber natürlich musste Benny sie irgendwo bearbeiten. Schreiben. Und dabei werden, falls es zu einem Absturz kommt, Sicherheitskopien automatisch gefertigt und in temporären Ordnern gespeichert. Soviel Wissen hatte er scheinbar nicht, sonst hätte er die gelöscht, bevor er die originalen Dateien verschlüsselt.", erklärte Hartmut, für Laien halbwegs verständlich.


    Dann studierte er die Aufzeichnungen. Durch sein Vorwissen, seine Ermittlungen bezüglich der Chemikalien, blickte er recht schnell durch. "Wenn ich mich nicht vollends täusche...", sagte er dann irgendwann, "dann lag ich mit meinem Verdacht heute morgen richtig. Die Aufzeichnungen sind, von den Mengen her, auf jeden Fall darauf ausgelegt, Drogen herzustellen. Und zwar die Rauschdroge, nicht den Kampfstoff.", schloß Hartmut. "Das garantiert aber nicht dafür, dass der Käufer die Rezepte dafür missbrauchen will. Wer weiß, welcher Teil dem Käufer fehlt, und was er schon weiß, um sowohl das Eine, als auch das Andere herzustellen.", sagte Semir und sein bester Freund nickte. "Es ist vielleicht eine Chance, wenn wir Benny damit konfrontieren, was er mit dem Verkauf des Stoffes anrichten kann. Vielleicht weiß er davon selbst nichts..."

    Charmin - 10:15 Uhr


    Die schwache Neonröhre flackerte und spendete nur wenig Licht im ersten Kellerraum, in den Kevin und Ben eingestiegen waren. Zusätzlich hatten sie Taschenlampen dabei, da sie in den oberen Stockwerken kein Licht anmachen wollten. Auch wenn draussen herrlicher Sonnenschein war, waren die Rolläden des Clubs meistens zu. Durch den ein oder anderen Spalt der Rolläden aber hätte man vielleicht von aussen brennendes Licht sehen können. Kevin zog das aufgebrochene Fenster hinter sich nur provisorisch zu. Der Einbruch würde dem Besitzer der Bar, Anis, auf jeden Fall auffallen, aber das war den beiden Polizisten egal. Sie machten sich durch zwei weitere Kellerräume, in denen Unmengen Getränkekisten lagerten, auf den Weg zum Erdgeschoss.
    Der Kellereingang lag in einem Vorratsraum hinter der Bar. Hier war es nun dunkel, und Ben knipste die Lampe an. "Was machen wir, wenn jetzt doch einer von Anis' Gorillas da ist?", fragte Ben auf einmal, als würde ihn plötzlich der Mut verlieren. "Was sollen wir dann groß machen? Entweder wir bringen ihn um, oder wir hauen ab." Der Polizist mit der Wuschelfrisur leuchtete seinem Kollegen ins Gesicht, und sah dessen Grinsen. Natürlich hatte er die Antwort nicht ernst gemeint.


    "Hier ist niemand. Warum soll sich vormittags hier jemand aufhalten? Die ersten Mitarbeiter kommen erst am Nachmittag, um den Abend vorzubereiten. Also hör jetzt auf, dir ins Hemd zu machen.", fügte er dann noch ein wenig ernsthafter an und ging voraus. Durch den Vorratsraum gelangte man in den großen Raum direkt hinter die Bar. Dort war bereits alles soweit aufgeräumt, nur die Kühlschränke schienen leer und abgeschaltet. Es war ein wenig unheimlich, die Stille in dem Raum, in dem sonst laute Musik und Lichtgewitter herrschte wirkte nun, so dunkel, schon beeindruckend auf die beiden Polizisten. Das einzige Geräusch, was sie vernehmen konnten, war ihr leises Atmen. Ben folgte seinem Partner, leuchtete auf dessen Rücken, der zielstrebig die Tür ansteuerte, die zu Anis Büro führte.
    Sie gingen durch einen kurzen Flur, wo Kevin dann rechts abbog. In Bens Bauch zwickte es, als er plötzlich wieder dieses Unbehagen fühlte. Er stellte sich vor, wie oft sein Partner diesen Weg ins Büro schon gegangen ist, mit der Absicht Drogen gegen Polizeiwissen einzutauschen. Immer wenn er an sowas dachte, sah er den Menschen Kevin plötzlich anders. Er konnte dieses Gefühl, dieses Unbehagen in diesen Momenten noch nicht einfach abstellen, wie er es mochte. Es fiel ihm schwer...


    Doch die Tür ins Büro wurde nochmal zum kurzen Hindernis. Sie war abgeschlossen. Kevin kniete sich vor das Schloß, während Ben direkt auf das Schlüsselloch leuchtete, in das der Dietrich fix verschwand. Ein paar Drehungen, wackeln und hantieren... das Schloß gab knackend nach. "Hoffentlich hat der hier keine Kameras hängen.", meinte Ben leise, als sie ins Büro traten. Was wie im Reflex schauten beide Polizisten an die Decke und in die Ecken, doch sie konnten kein verräterisches, blinkendes rotes Licht oder eine sichtbare Kameralinse entdecken. "Wir nehmen am besten alle Datenträger mit, die wir finden können.", sagte Kevin leise und die beiden Männer begannen mit ihrer Durchsuchung. Sie blätterten auch in Ordnern und besahen sich Unterlagen... vielleicht hatte Anis auch etwas Schriftliches versteckt, was ihnen weiterhalf.
    Ben fand einen USB-Stick, und steckte ihn ein. "Hier ist auch ein Laptop. Was ist damit?", sagte er plötzlich und Kevin dachte einen Moment nach. Dabei fiel sein Blick auf einen großen Wandkalender und plötzlich war Bens Stimme ganz weit weg. Der 16.07. war schwarz umkringelt und ein Kreuz daneben gezeichnet. Sein Herz schlug gegen seinen Brustkorb. "Kevin... was ist mit dem Laptop?" "Was??" Kevin schreckte auf und kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück. "Der Laptop! Was ist mit dem Laptop?", wiederholte Ben nochmal und bemerkte jetzt erst, dass Kevin scheinbar kurz in Gedanken versunken war. "Ja... nehmen wir mit.", sagte er kurz angebunden.


    Kevin fand noch eine tragbare Festplatte und steckte sie ein. Mehr konnten sie in dem Büro nicht ausfindig machen, in den Ordnern war nichts, was auf die Drogen, ein Rezept oder irgendeinen Deal hindeutete. Den versteckten Tresor fanden sie nicht, sie suchten auch nicht danach. Hier würde Kevins Talent mit einem normalen Dietrich eh nicht ausreichen. "Ben, Kevin! Hier hat grad ein Auto Halt gemacht! Der Kerl steuert auf den Eingang zu!!", knarrte es plötzlich aus dem Funkgerät. "Scheisse, wir müssen hier raus.", sagte Ben hastig und klemmte den Laptop unter den Arm. Im Laufschritt, die Taschenlampe nach vorne gerichtet, liefen die beiden Männer aus dem Büro in den großen Raum, wo auch die Eingangstür war. Gerade als sie hinter den Tresen liefen, hörten sie bereits das Stochern eines Schlüssels im Schloß der Tür.
    "Fuck, schnell!", flüsterte Kevin, der Ben beinahe durch die Tür in die Vorratskammer schob. Er zog gerade die Tür zu, als das Schloß des Haupteingangs sich öffnete. Leise, aber flink liefen die beiden Männer durch den Vorratsraum nach unten in den Keller. Semirs bester Freund klemmte sich zuerst durch das Fenster, dann folgte ihm Kevin. Der zog den morschen Fensterrahmen zu, der aber natürlich nicht mehr richtig geschlossen war. Das Gitter drückte er einfach provisorisch zurück in die Hauswand. Würde man nur ein wenig daran hängen bleiben, würde es abfallen.


    Von der Gasse aus sahen sie Semir im BMW sitzen. Der winkte hektisch. "Kommt schon!", sagte er dabei ins Funkgerät. Also war die Luft rein, der Kerl war im Haus und konnte nicht sehen, dass die beiden Polizisten aus der Gasse über die Straße liefen. Semir trommelte immer noch ungeduldig aufs Lenkrad, als die beiden Männer an der Beifahrerseite vorne und hinten einstiegen. "Freunde, das war ganz schön knapp. Hoffentlich hat sich das gelohnt.", sagte er beim Blick auf den Laptop, den Ben unterm Arm hatte. "Das werden wir ja gleich sehen. Auf zu Hartmut!", sagte Ben und war froh, dass er sich durchgesetzt hatte. Er war überzeugt, dass das sie weiterbringen würde. Nur Kevin war auf der Fahrt bis Hartmut seltsam still...

    Charmin - gleiche Zeit


    Semir tippelte mit den Fingern nervös aufs Lenkrad, Ben sah aus dem Seitenfenster auf das Gebäude, vor und hinter dem sich gegen späten Abends Autos sammeln, leicht bekleidete Mädels rumhüpften und allerlei zwielichtige Gestalten umherliefen. "Das ist ne Schnapsidee.", wiederholte der erfahrene Kommissar nun zum gefühlt fünfundsechzigsten Mal, so dass sein bester Freund die Augen verdrehte. "Hast du eine Bessere?", war die Standardantwort, die Semir dann jedesmal verneinen musste... innerlich zumindest. "Wenn da was schiefgeht, und wir auffliegen, dann machen wir drei demnächst Streifendienst in Hettelleidelheim.", knurrte er angesichts der drohenden Konsequenzen. "Das ist eine typisch kopflose Ben-Jäger-Idee."
    Sie mussten an die Aufzeichnungen ran, hatte Hartmut gesagt. Also reifte in Bens tollkühnem Kopf sofort eine Idee. Bei Benny fand man sie nicht, also muss man woanders danach suchen. Etwas, was die beiden Kommissare nun wirklich nicht das erste Mal taten, aber diesmal war für Semir irgendwie der "Druck" nicht da. Es war niemand ernsthaft in Gefahr, es stand nichts auf der Kippe. Waren ihre Vermutungen richtig, dann war der Einzige, der wirklich Druck hatte, Anis.


    "Wenn die den Deal doch irgendwie anders durchziehen, vielleicht doch jemand die Sticks auslesen kann... dann ist es zu spät. Das müssen wir verhindern." "Wir wissen ja nicht mal, ob der Einbrecher bei Benny überhaupt was geklaut hat. Wir wissen lediglich, dass der Einbruch kein Erfolg war." "Ja, dann werden wir das jetzt rausfinden." Ben blieb stur, Semir seufzte. "Wie oft haben uns meine Kopflos-Ideen schon geholfen, hmm?", fragte der grinsende Polizist mit der Wuschelfrisur. "Und wir oft haben sie uns schon in Schwierigkeiten gebracht? Das dürfte sich ungefähr die Waage halten.", erwiderte der etwas vernünftigere Kommissar und machte dabei eine Waage-Geste mit der Hand.
    "Bei Benny wären wir auch eingebrochen, wenn nicht jemand vor uns da gewesen wäre. Da wars okay?" "Ben, Benny saß zu dem Zeitpunkt schon im Knast. Und wir konnten uns ganz sicher sein, dass niemand da ist. Was ist, wenn da drin 5 Gorillas auf uns warten." "Dann kriegen wir Anis dran wegen nicht artgerechter Haltung von Zootieren.", witzelte Ben, was Semir mit einem kurzen "Hä?", quittierte, weil er den Witz nicht direkt verstand. Danach winkte er ab und merkte, dass Ben mal wieder nicht ernst bleiben konnte und damit die Diskussion abbrechen zu versuchte.


    Kevin kam im Laufschritt zurück zum silbernen BMW und stieg auf der Rückseite wieder ein. "Und?" "Aufs Klingeln reagiert niemand, Tür ist verriegelt und verammelt... aber ich hab ne Kellertür gefunden, dort könnten wir es versuchen." sagte der Auskundschafter, der am ehesten ein Auge dafür hatte, wo man in ein Haus einsteigen konnte. Erfahrung aus seiner jugendlichen Vergangenheit. Kevin hatte weniger Skrupel als Semir und stimmte Bens Idee sofort zu. Zu dritt mussten sie Jenny dann mit Engelszungen überreden, auf dem Revier zu bleiben weil sie befürchteten, dass es mit vier Leuten zu auffällig war. Insgeheim betrachtete Kevin es auch als zu gefährlich, wobei er sich immer wieder selbst ermahnte... schließlich war Jenny eine Polizistin, und noch dazu eine sehr gute.
    "Wer ist dafür dass der Älteste Schmiere steht?", fragte Ben dann mit einer etwas kindlichen Tonlage und einem Augenzwinkern in Richtung Kevin. Sofort gingen zwei Arme in die Höhe. "Vergiss es. Ich lass euch Grünschnäbel nicht alleine da rein." "Komm schon, du hattest doch sowieso Bedenken.", meinte Ben und dessen junger Partner ergänzte: "Es wäre schon gut, wenn uns jemand warnt, falls doch jemand kommt. Da drin ist garantiert niemand mehr."


    Semir seufzte, als er aus dem Auto seinen beiden jungen Freunden hinterhersah, wie sie in einer Gasse neben dem Gebäude des Charmins verschwanden. "Kaum kratzt man an der 50, schon ist man abgemeldet.", knurrte er und schüttelte den Kopf. Dann parkte er das Auto um, um einen besseren Überblick auf das Gebäude des Charmins zu haben. Kevin und Ben waren inzwischen die Treppe neben dem Haus heruntergegangen und an der alten Kellertür angekommen, die von innen mit einem massiven Riegel versperrt war. Als der junge Polizist nach wenigen Minuten mühsamer Fummelarbeit das Schloß endlich geknackt hatte, stellte er enttäuscht fest, dass die Tür trotzdem keinen Centimeter nachgab.
    "Scheisse...", murmelte er und steckte den Dietrich wieder weg. "Von vorne?" "Keine Chance... da würde uns sofort jemand sehen. Die Gegend hier ist ja nicht komplett tot um die Zeit." Ben seufzte. Würde ihr Plan schon bei der ersten Hürde scheitern? Er besah dass kleine Fenster neben der Kellertür, das von Spinnenweben verhangen war. "Würdest du hier durchpassen?", fragte er seinen Kollegen, der kurz spöttisch an Ben heruntersah. "Soll das ein Witz sein. Wenn du durchpasst, passe ich aufrecht durch." "Nicht frech werden!" Ben war weit entfernt davon, dick zu sein. Aber er war muskulöser und dadurch durchaus etwas breiter als der schmale Kevin, der aufgrund seiner Statur im Zweikampf öfters unterschätzt wurde.


    Das Gitter vor dem Fenster war ein wenig aus der Wand gebröckelt, so dass es wackelte als Ben es erfasste und Kraft daraus ausübte. "Das wird dann aber auffallen, wenn wir das Gitter aus der Wand reißen.", meinte Kevin. "Na und? Es wird auch auffallen, wenn die Sticks plötzlich verschwunden sind." "Stimmt..." Kevin ging an die andere Seite des Fenster und beide ergriffen jeweils die äusserste Stange des Gitters. Beide zogen, rissen und stemmten sich mit einem Fuß gegen die Wand, doch es wollte sich nicht mehr aus der Wand rühren, als es eh schon war, ob wohl Putz aus dem Loch, wo das Gitter in der Wand steckte, bröckelte. "Wir bräuchten was zum Aufstemmen.", keuchte Ben und ging die Treppen wieder hoch. In der Gasse lag allerlei Unrat, und so fand er recht schnell eine Holzlatte, die stabil genug aussah, als dass sie als Hebel zu gebrauchen wäre.
    Der Polizist setzte das Holzstück zwischen zwei Stangen des Gitters und mit vereinter Kraft versuchten sie die Barriere aus der Wand zu hebeln. Erst durch konstante, dann durch ruckartige Krafteinwirkung. Als das Holz schon ächzte und begann zu splittern, gab das Gitter endlich nach und rutschte aus der Wand. Mit einem schnellen Griff konnte Ben verhindern, dass krachend zu Boden fiel. Der morsche Holzrahmen des Fensters war für Kevin dann kein Hindernis mehr, und gemeinsam stiegen sie ins Dunkel des Gebäudes...

    Anis Villa - 10:00 Uhr


    Das Wachmachen seiner Kinder war heute vermutlich das Positivste, was Anis' Laune widerfahren sollte. Denn ab 10 Uhr stand sein Handy nicht mehr still, und er tigerte bei jedem Anruf zwischen Küche, Arbeitszimmer und Wohnzimmer hin und her. "Nein, Ari. Ich hab' keine Ahnung wie das passieren konnte." "Alter, du hast mir immer versichert, dass nix passiert, wenn ich zu dir im Laden die Scheisse abhole!!", polterte es aus dem Mobiltelefon in Anis' Ohr. "Und was war heute Morgen? Da stehen Zivilbullen vor meinem Haus und wollen meine Wohnung filzen! Zum Glück hatte ich die Scheisse nicht im Haus behalten, sonst säße ich jetzt wohl auf dem Revier. Ich glaube nicht, dass alle deine Kunden so vorsichtig waren wie ich."
    Anis fuhr sich durch die schwarzen Haare und ihm fiel es schwer, die Ruhe zu bewahren. "Normalerweise passiert da auch nichts. Der Bulle, der meinen Laden beobachtet, ist geschmiert und weiß Bescheid. Ich weiß auch nicht, was da gestern passiert war." Bei diesem Telefonat wusste er es allerdings... glaubte er. Er dachte an den jungen Mann, der sich gestern mit ihm unterhalten hat. Der sein Angebot, seine Bitte... ja, sein Verlangen erneut abgelehnt hatte und obendrein ihm noch eine Drohung ausgesprochen hatte.


    Offenbar hatte er seine Drohung bereits wahrgemacht. Als aber ein weiterer Kunde von ihm anrief und sich beschwerte, stutzte Anis. Kevin war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht im Laden. Das konnte ihm sein Türsteher, der Kevin kannte, bestätigen. Trotzdem nahm die Wut auf den jungen Polizisten nicht ab. Das konnte einfach kein Zufall sein, dass der Typ in seinem Laden auftauchte, und ausgerechnet einen Tag danach bekamen mehrere seiner Kunden, die gestern Geschäfte bei Anis abgewickelt hatten, Besuch. Schlimmer noch... mehrere schrien ins Telefon, dass es das letzte Geschäft mit Anis gewesen sei. Der Deutsch-Tunesier warf irgendwann das Handy gegen die Wand, so dass es zersplitterte.
    Wenig später kam Kamil zu ihm in die Villa, und berichtete dass sich auch der ein oder andere bei ihm gemeldet hatte. "Das ist eine Katastrophe, Anis. Wie konnte das nur passieren?" Der Verbrecher sah für einen Moment stumm aus dem Fenster. Die Autos auf der Straße unter ihm, die durch das Wohngebiet fuhren, verfolgte er mit den Augen ohne sie wirklich zu regestrieren. "Was machen wir denn jetzt?", hörte er Kamil, als stünde er Meter weit weg.


    Dann drehte er sich um. "Was machen wir jetzt? Nichts machen wir.", sagte er mit gereizter Stimme, ging vom Fenster zur Küche um sich noch einen Kaffee auszuschenken. Würde der Deal mit den Russen klappen, den er vorhatte, müsste er sich eh keine finanziellen Sorgen mehr machen. Er würde das Drogengeschäft sowieso aufgeben und sich nur noch um seinen Club kümmern. Auch wenn jede Menge krimineller Energie in Anis steckte, die Familie stand an erster Stelle. Und seit der Geburt seiner beiden Töchter suchte er nach einer Möglichkeit, zumindest seine kriminelle Laufbahn in Rente zu schicken. Bennys Forschung nach einer Weiterentwicklung des mysteriösen Valkyr-Stoffes schien die Lösung zu sein. Ein günstig herzustellender Stoff, der mehr knallte als Heroin.
    Ein russischer Drogenring, aus dem Anis einen der Zwischenhändler kannte, hatte Interesse. Sie hatten von V gehört, von den Vorkommnissen bei der ersten Version dieser Droge, die für viele aufgrund ihrer Grausamkeit nur eine Legende war. Sie boten Anis einen Millionenbetrag, wenn sie das Rezept ausgehändigt bekommen würden... allerdings wollte das Kartell auf Nummer sicher gehen. Benny sollte, exakt nach dem Rezept, die Droge herstellen unter den Augen einiger Mitglieder des Kartells. Dann sollte der Deal über die Bühne gehen. Dafür brauchte Anis Benny... und der hatte das Rezept.


    Der Stick war nicht zu knacken. Anis hatte es versucht, zwei "Experten", die Anis kannte, hatten sich daran die Zähne ausgebissen. "Ausgeschlossen.", sagte einer von ihnen dann, erzählte etwas von 256bit-Verschlüsselung und komplizierten Algorithmen. Worte, die für Anis Fantasieland waren. Der Deal musste klappen, das war das Wichtigste. Müsste er den Russen absagen, wäre das ziemlich unangenehm. Vielleicht würden sie mit sich reden lassen... aber nur mit Preisminderung. Die wollte sich der ehrgeizige Verbrecher aber nicht zugestehen. "Es ist jetzt völlig egal, Alter. Sollen sie sich einen anderen Dummen suchen.", sagte er missmutig zu seinem besten Freund und trank einen Schluck Kaffee.
    Kamil nickte, er wusste ja von Anis' Plan, wenn der Deal klappte. Misslang er aber, wäre Anis noch weiter auf die Kunden angewiesen, die er gerade verloren hatte. Auch deshalb richtete sich seine Wut gegen Kevin. Aber Kamil war weitaus weniger positiv gestimmt, dass sein Boss den sturen Polizisten noch umstimmen könnte. Insgeheim sah er sich selbst schon bei einem Plan, Benny aus dem Knast oder einem Gefangenentransport zu befreien.


    "Dieser Drecksbulle hat dir damit richtig eine reingewürgt.", sagte er vorsichtig zu Anis, der wütend aus seinen südländisch braunen Augen guckte. Ja, das hatte er. Es war ein Zug in einem Spiel, das die beiden spielten, der Anis richtig weh tun konnte, sollte der Deal mit den Russen nicht funktionieren. Und genau diesen Trumpf, nämlich Benny, hielt Kevin immer noch in der Hand und es schien, als wedelte er damit grinsend vor Anis' Nase. Der Deutsch-Tunesier nickte. "Das glaubt er vielleicht. Aber das Spiel ist noch nicht zu Ende.", sagte er und klaubte auf dem Boden die Stückchen seines Handys zusammen. Er würde sich wohl nachher ein Neues besorgen müssen.
    "Es wird Zeit, dass wir mit seinem Trumpf gleichziehen. Und uns einen eigenen Trumpf besorgen. Und dann werden wir mal sehen, welcher Trumpf stärker ist.", sagte Anis fast schon philosophisch. "Und wer soll unser Trumpf sein?", fragte Kamil verwirrt... und noch mehr war er verwirrt, als Anis selbstsicher grinste.

    Dienststelle - 7:45 Uhr


    Semir hatte bereits Kaffee aufgesetzt, als seine beiden jungen Kollegen ins Großraumbüro traten. Jenny sah aus wie ein junger frischer Morgen, doch Kevin machte einen ziemlich übernächtigten Eindruck. Ging die Nummer in Anis Bar so lange gestern abend, dass er zu so wenig Schlaf gekommen war? Der erfahrene Polizist war gespannt wie ein Flitzebogen, ob sich etwas Entscheidendes gestern Abend ereignet hatte. Die drei begrüßten sich bei Andrea's Tisch, auch Hotte und Bonrath, die in kurzärmeligen Hemden am Schreibtisch saßen, wurden begrüßt. Der dicke Polizist litt am meisten unter dem warmen Wetter und hätte die Uniform gerne gegen Shorts und Shirt getauscht. Doch jetzt mussten die beiden los - ein Unfall mit mehreren Fahrzeugen im Berufsverkehr. Jenny sah den beiden nach und war froh, den Streifendienst hinter sich gelassen zu haben.
    Ben ließ, wie immer auf sich warten. Seit er mit Carina zusammen war, die scheinbar einen überaus pünktlichen Charakter zu haben schien, war er öfters mal vor 8 Uhr im Büro. Doch wehe, Carina hatte frei... dann konnte der ewige Junggeselle sich nicht von ihr, oder dem Bett... Semir vermutete beides... befreien. Wäre seine Arbeit nicht so überaus wichtig für die Cobra 11 - Dienststelle - die Chefin hätte ihm wohl schon mehr Druck gemacht, als ständiges Ermahnen. So hoffte der Zu-Spät-Kommer immer wieder, gerade ins Büro zu schlüpfen, wenn die Chefin gerade in einem wichtigen Telefonat war, oder unterwegs.


    Um viertel nach 8 war es dann soweit, und der Polizist mit der Wuschelfrisur traf lächelnd, grüßend im Büro ein. Ein kurzer Blick ins leere Büro ihrer Vorgesetztin... Glück gehabt. Man versammelte sich im Büro von Semir und Ben. "Na, dann erzähl mal, wie ist es gestern gelaufen?", fragte Semir voll Neugier, nachdem er viermal Kaffee eingeschenkt hatte und sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte. Kevin lehnte an der Glaswand, die das Büro abtrennte. "Eigentlich wie erwartet. Der Kommissar, der das Charmin bisher beobachtett hat, war scheinbar geschmiert. Zufälligerweise gingen Bienert mehrere bekannte und unbekannte Gesichter ins Netz, die die Hinterräume der Bar betreten hatten. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass eben jener Polizist Schlappner wusste, dass ich bei meinem Vater in der Bar bin, zu einem Gespräch ging und er in dem Moment die Bilder machen konnte. Dafür hatte er extra mit einem Kollegen getauscht.", erzählte der, sonst so wortkarge Polizist. "Anis hat also versucht, mich reinzulegen. Er wollte mir sicher nichts anhängen, weil er dann sein Ziel nicht erreichen kann... aber er wollte wohl Stärke demonstrieren. Zu was er fähig ist." Semir nahm einen heißen Schluck Kaffee und nickte stumm. Ben sagte: "Aber er kennt dich doch von früher. Er muss doch wissen, dass sowas bei dir nicht fruchtet." Sein Partner mit der Stachelfrisur zuckte mit den Schultern: "Menschen ändern sich. Er hat ja auch gedacht, dass er über meinen Vater an mich herankommt."


    Ein kurzes Schweigen füllte das Büro, bis Jenny sich zu Wort meldete: "Egal wie er es als Nächstes versucht... er wird es weiter probieren, denke ich. Oder aber, der Einbruch hat sich für ihn gelohnt." Kevins Blick haftete bereits nach den ersten Silben auf Jennys Blick, und er hätte die Frau stundenlang anschauen können. "Das glaube ich nicht.", meinte er ohne den Blick von Jenny abzuwenden. "Er hat mich gestern abend noch einmal angesprochen. Hat klar auf die Durchsuchung bei mir hingewiesen. Er klang ganz und gar nicht so, als würde er mich nicht mehr brauchen." In ihm drin arbeitete es. Er wollte ehrlich sein, nichts verschweigen. Oder zumindest nicht vorsätzlich lügen. Er wollte nicht sagen, dass er Anis provozierte. "Und was hast du gesagt?", fragte Ben neugierig und sah den jungen Beamten mit festem Blick an.
    Die Blicke begegneten sich. "Ich hab ihm gesagt, dass er die Sache besser vergessen soll. Ansonsten drehe ich den Spieß um." Seine Stimme klang kalt und Semirs Stirn legte sich in Falten. "Wie meinst du das?" "Er wird heute keinen ruhigen Morgen verleben, wenn Bienert erste Zivilbeamte zu den Verdächtigen schickt, so wie bei mich. Wenn er merkt, dass ich mich wehre, wird er Fehler machen." Drei Augenpaare waren auf den jungen Beamten gerichtet. "Das ist aber ein ziemliches Spiel mit dem Feuer, Kevin."


    Als hätte Semir einen wunden Punkt getroffen, blickte der junge Polizist zu Boden. "Ich weiß.", sagte er beinahe schuldbewusst. Und er kam zu einem Punkt, an dem er nicht lügen konnte, an dem er nicht mal verheimlichen konnte. Er würde es nicht überleben, wenn Jenny etwas passierte, weil er seinen Kollegen nichts gesagt hat. Er konnte ja nicht 24 Stunden am Tag auf sie aufpassen. "Er... er hat mir indirekt gedroht." Dabei sah er zu Jenny, die etwas blass um die Nase wurde, was nur Kevin bemerkte. Ansonsten ließ sich die sonst taffe Polizistin nichts anmerken. "Wie indirekt?", hakte Semir nach und Kevin wiederholte die, ihm gut bekannte Liedzeile. "Wenn du dich mir nicht ergibst, dann töte ich das was du liebst."
    Nun richteten sich auf die Augen von Semir und Ben auf Jenny, der die Blicke etwas unangenehm waren. "Damit... muss ja nicht unbedingt ich gemeint sein.", meinte sie etwas unsicher, wusste sie doch nicht wieviel Anis über Kevins Privatleben wusste, vor allem nicht von deren letzten Entwicklungen. "Damit kann ja auch Kalle gemeint sein. Oder ihr beide... "Liebe" im übertragenen Sinne auf alle Menschen, die Kevin wichtig sind. Oder Annie...", versuchte sie sich selbst aus der Schusslinie zu reden. Dann blieb ihr Blick auf Kevin haften: "Du warst nicht rein zufällig heute Morgen vor meiner Tür, oder? Wie lange standest du schon da?", fragte sie und sie wusste, dass Kevin sie nicht anlügen würde. "Ich bin direkt, nachdem ich aus dem Charmin gegangen bin zu dir gefahren. Das war so gegen halb zwei."


    Ben schluckte und beobachtete, wie sich Kevin und Jenny ansah. Er konnte den Kampf in Jenny, zwischen Rührung und Empörung beinahe spüren. Rührung darüber, dass Kevin sich sorgte und auf sie aufpasste... und dass er sofort an sie dachte, als Anis von deren Menschen sprach, die Kevin liebte. Empörung, dass er heute morgen zumindest nicht ganz ehrlich war... oder vielleicht auch, dass er sie nicht Nachts um halb zwei aus dem Bett geklingelt hat. Er wollte nicht abwarten, bis Jenny ihr zweites Gefühl nach außen trug, denn das hatte der junge Polizist nicht verdient. "Du weißt schon, dass das nicht so clever war... die Drohung, meine ich.", sagte er zu Kevin. "Vielleicht. Auf der anderen Seite zeigt es mir, dass Anis unter Druck steht. Und wer unter Druck steht, der macht Fehler."
    Das Telefon klingelte. Semirs Apparat zeigte auf dem Bildschirm die Nummer der KTU an... Hartmut war mit Ergebnissen dran. Er schaltete den Lautsprecher ein. "Einstein, was gibts?", begrüßte Semir den rothaarigen Super-Techniker. "Ich hab die Chemikalien mal zusammen getragen. Ziemlich heißes Zeug.", begann Hartmut nach der Begrüßung und wollte einen Vortrag beginnen über Chemikalien, deren Namen die vier Polizisten wahrscheinlich nicht mal unfallfrei schreiben konnten. "Hartmut, auf Deutsch wenns geht.", schnarrte Ben in das Mikrofon.


    "Also, man kann aus dem Zeug schon so etwas wie eine Droge herstellen... allerdings ist das nicht leicht. Daraus kann ein ziemlich betörender, abhängig machender Stoff entstehen, der die Wirkung von Heroin bei weitem übersteigt. Macht man bei der Herstellung aber Fehler, kann man genauso gut ein absolutes Teufelszeug brauen, was nichts mehr mit einem Trip zu tun hat. Ich hab da mal von einer Drogenlegende gehört, die...", doch weiter kam er nicht. Kevin fiel ihm ins Wort. "Valkyr." "Ja genau... hast du davon gehört?", fragte Hartmut erstaunt. Diesmal war es der junge Polizist, der Hartmut ins Staunen versetzte. Die Droge gab es wirklich, getestet an Obdachlosen und hilflos dahinvegetierenden Drogenjunkies. Im Ragnarök, das vor ein paar Tagen ausgehoben wurde. "Mittlerweile ist die Droge also tatsächlich mehr eine Legende.", schloß er die Erzählung ab, auch wenn es bestimmt noch eine gewisse Dunkelziffer von dem Teufelszeug gab. "Für mich sieht das eventuell nach einer Weiterentwicklung dieses Valkyrs aus. Es ist weitaus günstiger herzustellen als Heroin, aber deutlich härter in der Wirkung. Wer den Schlüssel gefunden hat, dieses Valkyr richtig herzustellen, hat im Drogengeschäft die Lizenz zum Gelddrucken.", ertönte Hartmuts Stimme aus dem Hörer.
    "Diejenigen, die das schlechte Zeug genommen hatten im Ragnarök... die haben uns ohne Vorwarnung angegriffen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Vielleicht ist das auch das Ziel.", sagte Ben plötzlich und wurde von allen dreien, die um das Telefon herum saßen oder standen, angesehen. "Wie meinst du das?", fragte Kevin. "Keine Droge... ein Kampfstoff, um jegliche Empathie, menschliches Gefühl und Moral auszuschalten. Wenn das unkontrolliert bei der ersten Variante des Valkyrs möglich war, könnte es doch bei der zweiten Variante ansatzweise kontrolliert werden. Manche Diktatoren oder Kartellbosse würden für so etwas ein Vermögen bezahlen, um Armeen in der Hinsicht zu... verstärken.", wobei er das letzte Wort mit einer Geste in Anführungszeichen setzte. "Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?", meinte Semir und wackelte mit dem Kopf. "Nicht so weit, wie ihr denkt. Zumindest einige der Stoffe in hoher Dosis bewirken genau das, was Ben beschreibt... und was ihr scheinbar in diesem Ragnarök erlebt habt.", erklang wieder Hartmuts Stimme. "Ihr müsst an die Aufzeichnungen ran, die aus dem Haus entwendet wurden... dann kann ich sicher sagen, ob man hier einfach eine neue, brutale Droge herstellen wil, oder sogar mehr dahinter steckt..."

    Köln - 1:30 Uhr


    Ayda hatte laut geschrien, so dass Semir und Andrea beiderseits aus dem Schlaf fuhren. Was in dem erfahrenen Polizisten immer erst den Alptraum eines nächtlichen Einbruches wahr werden ließ, stellte sich letztlich erneut als "harmloser" Alptraum bei seiner kleinen Tochter dar. Seit dem Amoklauf an ihrer Schule träumte sie nachts hin und wieder von Schüssen und blutverschmierten Schülern, obwohl sie diese an diesem schrecklichen Tag nicht sah. Semir war sofort bei seiner Tochter, nahm sie in den Arm, beruhigte sie und blieb bei ihr am Bett, bis sie langsam wieder eingeschlafen war. Es war in den letzten Wochen schon beinahe ein Ritual, wie das Stillen eines Babys.
    Er machte sich Gedanken, ob man da nicht mal etwas unternehmen sollte... doch ein Kinder-Psychologe? Sie hatte keine Angst, morgens zur Schule zu gehen, sie verhielt sich auch nicht anders als vorher. "Alpträume haben doch alle Kinder mal.", würde sie am nächsten Morgen fröhlich sagen, wenn die Sonne schien und die beängstigende Dunkelheit verflogen war. Und dann verscheuchte sie die Sorgen ihrer Eltern mit ihrem strahlenden mutigen Lächeln.


    "Na? Wieder das Gleiche?", fragte Andrea's leise und müde klingende Stimme vom Bett aus, als Semir wieder zurückkam. Der nickte nur stumm, was Andrea durch den Schein ihrer Nachttischlampe sehen konnte. Seufzend legte sich der erfahrene Polizist, nur in Shorts und Shirt bekleidet, aufs Bett. Für eine Decke war es Nachts viel zu warm. An Schlaf war jetzt erstmal nicht zu denken, zu aufgewühlt waren die beiden Eltern nach so einem Vorfall immer. Ausserdem lauschten sie nach allerlei Geräuschen, ob sie nochmal nach Ayda schauen mussten, ob sie noch einmal träumte, weinte oder schrie. Immerhin Lilly hatte einen so festen Schlaf, dass sie von alldem nichts mitbekam.
    "Was war das eigentlich mit der Durchsuchung bei Kevin heute vormittag?", fragte Andrea dann irgendwann leise, als sie merkte, dass weder sie noch ihr Mann direkt einschlafen konnte. Sie hatte vor Feierabend nicht die Gelegenheit zu fragen, oder am Abend hatte sie es schlicht vergessen. "Irgendjemand wollte ihm da etwas anhängen.", sagte Semir leise und schüttelte innerlich den Kopf. "Mal wieder etwas aus seiner Vergangenheit, denke ich."


    Andrea kuschelte sich seitlich an ihren Ehemann und sagte beinahe mitleidsvoll: "Es ist ja kein Wunder, dass er seine Herkunft und seine Vergangenheit nie vergessen kann, wenn er ständig damit konfrontiert wird." Sie hatte einen Arm auf Semirs Brust gelegt und spürte ihn gleichmäßig atmen. "Ja. Aber wenn man soviele Leichen im Keller hat wie er, wird man nicht alle auf einmal los.", sagte er fast philosophisch und ließ Andrea aufblicken. "Welche habt ihr den heute ausgegraben?" Sie wusste mittlerweile von Kevins krimineller Vergangenheit, den Drogen, den Einbrüchen. "Er hat früher Infos von bevorstehenden Razzien an Dealer und Clubbesitzer verkauft, um damit seinen eigenen Konsum zu finanzieren.", sagte der Polizist ohne Gewissensbisse. Natürlich hatten sie Kevin Stillschweigen versprochen. Aber Stillschweigen galt nicht für die Ehefrau von Semir... soviel war klar.
    Andrea nickte nur, selbstverständlich, als hätte sie es gewusst. Und sie traute es dem geheimnisvollen, stillen Mann ohne Weiteres zu. "Und der Typ, dem er sie verkauft hat, ist heute unser Hauptverdächtiger. Und er will, dass Kevin wieder mit ihm zusammenarbeitet." "Und? Was glaubst du?" Semir benötigte für die Antwort eine Gedenkminute. "In dem Gespräch heute hatte ich das Gefühl, dass irgendwas in ihm längst Klick gemacht hat, zumindest im Bezug auf seinen Job." Und dann sah Semir seine Frau mit seinen dunklen, warmherzigen braunen Augen an. "Ich bin mir sicher, dass er auf das Angebot von diesem Anis nicht eingehen wird... egal, was der ihm bietet."


    Der Polizist, von dem die Rede war, verließ um diese Zeit gerade das Charmin. Bienert war nur wenige Minuten vor ihm gegangen, und sie trafen sich wieder an dessen Fahrzeug. "Und? Was denkst du?", fragte Kevin und sah sofort, dass der erfahrene Drogenfahnder auf der einen Seite erschüttert, auf der anderen Seite zufrieden war. "Einige bekannte Gesichter, einige unbekannte... die sich morgen auf unangenehme Fragen einstellen müssen.", nickte er anerkennend. "Aber das ist der Wahnsinn, was uns hier in den letzten zwei Monaten durch die Lappen geht, nur weil Schlappner sich scheinbar schmieren lässt. Das wird Konsequenzen haben." "Freut mich wenn ich dir helfen konnte.", sagte Kevin und die beiden schüttelten sich die Hände. Für ihn ging es vor allem darum, Anis einen empfindlichen Schlag zu versetzen... ihm verstehen zu geben, dass er auch den Spieß umdrehen kann, wenn er will.
    Die beiden Männer verabschiedeten sich. Während Bienert nach Hause fuhr, fuhr Kevin an Jennys Adresse und parkte den Wagen am Straßenrand. Er schaltete Lichter und Zündung ab, sah auf das dunkle Mehrfamilienhaus und zündete sich eine Zigarette an.


    Anis konnte Kevin keine Angst machen. Er konnte ihn bedrohen, beschimpfen, Gewalt androhen... es würde Kevin nichts ausmachen. Und eigentlich hätte er die, an diesem Abend ausgesprochene Drohung nicht ernstnehmen brauchen. Anis kannte Kevin. Und wie der Gangsterboss schon recht anmerkte, würde der junge Polizist ihm eher den Laden auseinandernehmen, wenn er Jenny etwas antat, als mit ihm zu kooperieren. Trotzdem ließen ihn die Sorgen nicht los. Es musste ja nicht direkt Gewalt sein, mit der man Jenny attackiert. Klingelstreiche, Lärmbelästigung, Sachbeschädigung... irgendwas, um die Nerven der jungen Frau zu strapazieren.
    Als er im Auto saß und das Haus beobachtete, kam er sich vor wie ein Stalker. Wie ein verliebter Durchgeknallter, der versucht einen Blick auf das Objekt der Begierde zu erhaschen. Im weitesten Sinne stimmte das... er war immer noch verliebt in die junge Polizistin, und er würde sein Leben für sie geben, wenn es nötig wäre. Seine Tage hatten einfach schöner begonnen, als er neben ihr aufwachte, nüchtern... und nicht alleine, mit einem Kater und einer Flasche billigem Schnaps. Und so begann auch dieser Tag gegen 7:00 Uhr für ihn, trotz akuter Müdigkeit aufgrund nur einer Stunde Dämmerschlaf weitaus schöner als die Tage davor, denn das erste was er sah, war Jenny in Jeans und Träger-Top, als sie verwundert das Auto von Kevin erblickte, der lächelnd ausstieg und sie "ganz überraschend" abholen wollte, nachdem er eine Nacht über sie gewacht hatte.

    Charmin - 23:00 Uhr


    Thomas Bienert kannte weder Angst noch Nervosität. Doch er musste zugeben, dass er ein leichtes Kribbeln im Magen verspürte. Es war lange her, dass er selbst in einen Beobachtungseinsatz ging, selbst heimlich Fotos machte oder unerkannt ein Auge auf Discobesucher warf. Normalerweise koordinierte er, überzeugte Staatsanwälte davon, Haftbefehle auszustellen, nahm selbst Verhaftungen vor oder verhörte Verdächtige. Er checkte nochmal sein Smartphone, dass genügend Speicherplatz vorhanden war, als er in seinem Dienstwagen saß, zwei Straßenecken vom Charmin entfernt, als die Beifahrertür aufging und sich ein junger Mann mit Stachelhaarfrisur neben ihn gleiten ließ. Die beiden Männer begrüßten sich mit Handschlag. "Alles klar soweit?", fragte Kevin und sah Bienert aus seinen hellblauen Augen an. Der nickte und grinste: "Immer doch."
    Kevin zog für einen Moment noch die Beifahrertür zu, damit kein neugieriger Passant mithören konnte. "Also, von diesem Einsatz heute abend weiß niemand Bescheid. Nicht mal meine engsten Mitarbeiter. Die Ergebnisse präsentiere ich morgen den Kollegen, wenn Schlappner zu einem Observationsauftrag unterwegs ist. Normalerweise wäre das Charmin heute gar nicht an der Reihe. Anis sollte sich eigentlich komplett sicher fühlen."


    Der junge Polizist nickte zufrieden. Er konnte sich vor seinem inneren Auge schon ausmalen wie der impulsive Deutsch-Tunesier morgen toben würde, wenn sich reihenweise Kunden bei ihm meldeten, bei einer verdeckten Razzia ins Netz gegangen zu sein und Besuch von der Polizei bekommen zu haben. "Es wäre natürlich besser, wenn wir beide uns da drin nicht kennen würden.", merkte der erfahrene Drogenfahnder noch an. "Das könnte sonst zu auffällig sein." Kevin lächelte ein wenig geringschätzig. "Thomas, ich bin kein Anfänger. Ich werde da drin nur etwas trinken." Auch Bienert musste grinsen und klopfte dem jungen Mann auf die abgewetzte Jeans. "Weiß ich. War nicht so gemeint."
    Für einen Moment schwiegen die beiden Männer noch. "Wie läufts jetzt eigentlich bei dir? Ich hab da einiges gehört die letzten Wochen...", fragte Bienert in seiner väterlich fürsorglichen Art. Kevin presste die Lippen zusammen. "Ein halbes Jahr nach unserer Sache liefs eigentlich super. Wir hatten zwar zwei größere Fälle die vor allem Semir an die Substanz gingen, aber es war eigentlich ganz gut." Sein eigenes Leid, seinen Drogenrückfall wegen des Mädchens in dem brennenden Haus, stellte er unter den Scheffel.


    "Und danach?", fragte Bienert, denn er wusste dass ein halbes Jahr nach ihrem gemeinsamen Fall erst Winter war... und jetzt war Frühsommer. "Tja... da liefs nicht so gut." Kevin sah den Mann kurz an. Er vertraute Bienert zwar in gewisser Hinsicht, hatte aber nicht das Bedürfnis die Geschichte in Gänze darzulegen. "Ich bin nach Kolumbien geflogen, um einer Freundin zu helfen. Das war nicht ganz so leicht, ich hab mir da hinten den Kopf angeschlagen und das Gedächtnis verloren. Das hat dann auch noch ein alter Bekannter von mir gegen mich ausgenutzt, und es kam zu einigen unerfreulichen Komplikationen. Aber das haben zum Glück alles überstanden. Aber das Verhältnis zu Semir und Ben hat darunter etwas gelitten.", hielt er sich ziemlich allgemein.
    Und das merkte auch der Drogenfahnder, weswegen er nicht nach Einzelheiten nach graben wollte. Aber er sagte etwas, was er Kevin schon nach dem gemeinsamen Fall gesagt hatte: "Wenn du eine Luftveränderung brauchst...", begann er und er war von sich überzeugt, durch seine väterliche Autorität und seinen Einfluss Kevin eher in die Spur zu bringen, als es vielleicht Semir schaffte. Doch Kevin schüttelte sofort den Kopf: "Ich weiß, Thomas. Aber nein... ich glaube, dass ich dort, wo ich jetzt bin, am besten aufgehoben bin." Und das meinte er ernst. Er müsse sich nur trauen, das Glück an ihn heranzulassen. Das wurde ihm heute mittag einmal mehr ganz deutlich. "Lass uns loslegen...", sagte er noch, damit er dem, für ihn etwas unangenehmen Gespräch, entfliehen konnte.


    Bienert ging voraus, natürlich wollte man in dem Club, der Table-Dance, Diskothek und freie Zimmer für gewisse Stunden miteinander verband, nicht gemeinsam aufschlagen. Kevin rauchte noch eine Zigarette am Auto des älteren Kommissaren und schritt dann den gleichen Weg zum Charmin. Der Türsteher begrüßte jeden Gast mit einem knurrigen Nicken und der Aufforderung, drinnen keinen Ärger zu machen. Als Kevin in das gedämpfte Licht mit den zuckenden Effekten, lauter Musik und Stimmengewirr eintauchte, war Bienert von anderen Gästen nicht zu unterscheiden. Er saß in einer der Lounge-Ecken, trank ein alkoholfreies Bier und schien sich besonders für die Damen an den Stangen zu interessieren. Hin und wieder starrte er nur für Sekundenbruchteile auf sein Handy, während er genüßlich an einer der Wasserpfeifen zog.
    Kevin bestellte sich an der Bar Whisky-Cola, die er von einer spärlich bekleideten Dame, die ihm zu zwinkerte, ausgehändigt bekam. Er hatte den ersten Schluck noch nicht genommen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. "Was für eine Freude. Kommst du, um mein Angebot anzunehmen, heute abend Benny als Türsteher zu vertreten?", fragte die wohlbekannte Stimme. Als der Polizist sich umdrehte, stand Anis ihm gegenüber, den Bart frisch gestutzt und ein falsches Lächeln aufgesetzt.


    "Tut mir leid, mein Freund. Aber als Beamter darf ich mir kein Taschengeld verdienen.", antwortete Kevin ebenso unernst, wie die Frage vermutlich gemeint war. "Ich hab von deiner Hausdurchsuchung gehört. Was hast du denn da schon wieder angestellt, Alter?", fragte er scheinheilig und setzte eine besorgte Miene auf, die Kevin ein Lächeln abrang... ein kaltes Lächeln. "Dass du so schäbig bist, andere mit reinzuziehen, hätte ich ja nicht gedacht. Aber mit meinem Vater hast du dir genau den Falschen als Druckmittel ausgesucht." Das hatte Anis auch bemerkt. Das Verhältnis zwischen Kevin und dessen Vater Erik schien so zerstört, dass er für ihn nicht in die Bresche springen würde.
    "Druckmittel? Aber ich will dich doch nicht unter Druck setzen, Mann. Ehrlich." Anis hob dabei beide Hände, als abwehrende Geste. "Das Wort "Ehrlich" hört sich scheisse an, aus deinem Mund." Der Clubbesitzer grinste. "Komm schon, Kevin. Du willst doch jetzt nicht ständig eine Hausdurchsuchung bei dir haben. Nicht, dass die mal etwas anderes finden, als Smarties, hmm?", sagte er fast fürsorglich und Kevin nahm einen Schluck des bittersüßen Getränks... auch, um nicht im Affekt zu handeln und Anis einen Schlag zu verpassen.


    "Pass mal auf, mein Freund.", sagte er dann, nachdem er etwas näher an Anis herangerückt war, um nicht laut schreien zu müssen. Die beiden waren ungefähr gleich groß. "Entweder du lässt mich jetzt zu Frieden mit deiner Scheisse... oder ich drehe den Spieß um. Und glaub mir, ich habe Möglichkeiten genug. Wäre doch wirklich blöd für dich, wenn sich auf deinem Laptop nach einer Routine-Kontrolle auf der Autobahn plötzlich irgendwelche Bilder oder Videos finden lassen... Videos, von denen deine Familie sicher gar nicht begeistert wäre, wenn du wegen denen eine Anklage am Hals hättest. Auf Kinderpornografie stehen verdammt harte Gefängnisstrafen." Kevins Stimme klang kalt und bedrohlich, dass Anis Gesicht ebenfalls vereiste. "Verdammt HARTE Gefängnisstrafen.", wiederholte er, wobei er das Wort "Harte" besonders betonte und darauf anspielte, dass man im Gefängnis bei gewissen Vergehen nichts zu lachen hatte. "Oder glaubst, du ich hätte Skrupel dir so eine Scheisse unterzuschieben. Leg dich besser nicht mit mir an."
    Anis sah den Polizisten an, aus beiden Gesichtern sprach Feindseeligkeit und Eiseskälte. "Du solltest mir nicht drohen, Alter.", sagte Anis nun ebenfalls und die Freundlichkeit war vollkommen weg. "Ich kenne da einen nettes Zitat aus deiner Rumpelmusik: "Wenn du dich mir nicht ergibst, dann töte ich das was du liebst." Also überleg dir das besser nochmal." Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, wandte sich der Mann von Kevin ab und verschwand in seinem Büro, während Kevin ihm mit kaltem Blick hinterher sah.

    Dienststelle - 17:00 Uhr


    Die vier Polizisten trafen fast zeitgleich auf der Dienststelle der Autobahnpolizei ein. Semir und Ben hatten gerade ihre Jacken abgelegt, Ben hatte schon sein Handy gezückt um bei Kevin anzurufen um nachzufragen, ob alles okay sei, da betrat der junge Polizist mit seiner Kollegin das Großraumbüro. Alle im Raum sahen erleichtert aus, sie hatten natürlich von dem Unfall gehört und etwas in Sorge. Bis auf die Kratzer ums Auge schien der junge Mann aber unverletzt zu sein. Jenny lächelte, auch sie war beruhigt... und ausserdem noch sehr ergriffen von dem Gespräch, dass sie und Kevin zusammen im Auto geführt hatten. Auf seinen letzten Satz hatte sie nichts mehr gesagt... nur mit einem leichten, kaum hörbaren Schlucken geantwortet.
    Ihr gelang es nur mühsam, Tränen zu unterdrücken. Kevins Worte trafen sie bis ins Mark, es war lange her dass der sonst verschlossene Mann ihr so einen Zutritt in seine Seele gewährt hatte. Nein, eigentlich war es lange her, seit sie dieses Angebot angenommen hatte. Sie spürte, dass noch etwas zwischen ihnen vorhanden war. Wie ein letztes Aufflackern einer Kerze, die verloren schien und trotzdem noch mit aller Macht weiterbrennen wollte. Doch Wind zerrte an ihr und wollte sie unbedingt vernichten, und dieser Wind war das Erlebnis im Keller, als Kevin mit der Waffe auf Jenny zielte. Sie bekam das Bild einfach nicht aus dem Kopf. Sobald an die schönen Momente mit ihm dachte, hing dieser Eindruck wie ein Schleier über ihrem inneren Auge.


    "Herzlichen Glückwunsch, Herr Peters.", sagte die Chefin ein wenig ironisch, als sie ebenfalls von ihrem eigenen Büro ins Großraumbüro trat. "Zwei Tage haben sie nun ihren Dienstwagen gehabt, bis zum ersten Totalschaden. Das dürfte sicherlich in den Top Ten liegen." Dabei warf sie auch einen Blick auf ihre "teuersten" Beamten, Ben und Semir. "Er hatte mich gerammt.", entschuldigte sich Kevin mit einem Achselzucken... er war es noch nicht gewohnt, Totalschäden erklären zu müssen. Semir und Ben hatten sich das längst abgewöhnt. "Machen sie sich keine Sorgen. Sie haben noch einiges aufzuholen.", meinte sie ironisch und bat alle zusammen ins Büro von Semir und Ben. "Ich hoffe, die ganze Aktion hat sich wenigstens gelohnt."
    Semir hatte seine Chefin erst vor wenigen Minuten, gerade als sie ankamen, bereits informiert, dass es Neuigkeiten gäbe. Als sie dann Kevin und Jenny sah, wollte sie gerade herüber kommen, so machte man eine kleine Lagebesprechung draus. Anna Engelhardt setzte sich auf Semirs Stuhl, Ben in seinem eigenen, Kevin und Jenny hatten sich nebeneinander an die Fensterbank gelehnt. Mehr als zufällig berührten sich ihre Ellbogen für einen Moment. Semir ging im Raum auf und ab, als er erzählte.


    "Wir haben in Bennys Wohnung keinen einzigen Datenträger gefunden. Weder offen herumliegen, noch in irgendwelchen Schubladen. Heutzutage recht unnormal, vermuten wir." Die Chefin bemerkte allerdings den Tonfall und wusste, dass das für den wenig technikaffinen Semir eher die Normalität war... für sie übrigens genauso. Aber sie stimmte durch Nicken zu. Zeiten änderten sich nun mal. "Der Laptop ist zur Zeit bei Hartmut, der versucht etwas rauszufinden. Viel interessanter ist jedoch, dass wir im Keller des Hauses ein kleines Labor gefunden haben." "Ein Labor?", fragte Kevin und sah sehr nachdenklich aus für einen Moment. "Genau. Hartmut vermutet sogar eventuell eine Produktionsstätte für Drogen. Aber was genau, kann er uns vermutlich erst morgen sagen."
    "Also wäre Benny mehr als nur ein kleiner Türsteher im Imperium von Anis.", dachte die Chefin laut nach. Ben nickte: "Wenn Benny für Anis Drogen herstellt, dann dürfte Zweiterer demnächst ein Problem bekommen." Kevin sah auf und sein Herzschlag beschleunigte sich. Nirgends, in keinem Verhör tauchte bisher auf, dass Anis Benny so schnell wie möglich aus der Haft haben wolle... einzig Anis hatte das Kevin gesagt. Ben wird doch nicht etwa darüber etwas sagen... in Anwesenheit der Chefin.


    "Wie meinen sie das, Ben?", fragte die Chefin genauer nach. Jenny bemerkte Kevins kurze Bewegung als dieser seine Position wechselte, statt an der Fensterbank zu lehnen plötzlich sich darauf setzte. "Na, damit meine ich, dass er sich die Drogen woanders beschaffen muss, wenn er im Moment im Geschäft bleiben will. Vielleicht käme man auf diesem Weg an ihn heran." Der junge Polizist atmete auf. "Aber vergessen sie nicht, dass unser Hauptaugenmerk der Waffendeal ist, der auf der Autobahn abgelaufen ist. Was das ganze Konstrukt um diesen Anis betrifft, darum kümmern sich seit Jahren die Kollegen von der organisierten Kriminalität." Semir nickte und balancierte einen Kugelschreiber auf seinem Zeigefinger. "Für den Waffendeal fährt Benny ein, dafür gibts ja mehrere Zeugen.", meinte er.
    Doch die Chefin schüttelte den Kopf. "Zum Waffendeal gibt es immer noch einen Verdächtigen auf der Flucht. Und wenn wir den gefunden haben, und ihm die Beteiligung an diesem Deal nachgewiesen haben." Die Chefin lächelte katzenfreundlich, bevor sie sich zur Tür drehte: "Dann haben wir den Fall abgeschlossen." "Wenn der Mann ein Mitarbeiter von Anis ist, dann haben wir auch über den Weg mit den Drogen eine Chance an ihn heran zu kommen, Chefin.", sagte Jenny nun und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Na schön. Überlegen sie sich etwas, wie wir uns das Wegfallen von Benny in Anis Planungen zu Nutze machen können." Daraufhin verließ sie das Büro.


    Kevin wollte Ben nicht darauf ansprechen, dass er kurz das Gefühl hatte, sein Freund würde sich verplappern. Er spürte auch, dass Ben alles im Griff hatte, und nicht irgendwie ins Schwimmen geriet, weil er doch auf dem Weg dazu war. Semir warf den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. "Die Chefin braucht erstmal nichts davon zu wissen, dass Anis versucht dich abzuwerben, und dass der alles dafür tut, Benny wieder frei zu bekommen. Das sagen wir ihr erst, wenn wir wissen, was genau Sache ist.", entschied er und nahm diesbezüglich die Verantwortung auf seine Kappe. Er hatte sich umentschieden, nachdem er heute vormittag die Chefin noch einweihen wollte.
    Der junge Mann am Fensterbrett sah Semir jetzt an... eine Sekunde, zwei Sekunden. Vor wenigen Stunden hatten sie eine Unterredung, die Kevin quasi zwang, ihnen zu vertrauen und endlich einmal offen zu sein. Jetzt hatte er die Chance dazu, selbst offen zu sein. Von sich aus. Und er wollte sie nicht ungenutzt lassen. "Ich gehe heute abend zu Anis ins Charmin." Drei Augenpaare schauten ihn an. "Wie jetzt? Mit Bienert?", fragte Semir und der junge Polizist nickte. "Nicht direkt mit ihm. Sonst wäre es zu auffällig. Ich will Bienert auch nicht kontrollieren. Aber ich will Anis klarmachen, dass er keine Chance hat, mich zu benutzen für seine Zwecke." Semir rümpfte kurz die Nase, auch Bens Blick war misstrauisch. "Ist das nicht zu gefährlich. Wer weiß, was der anstellt, wenn du wieder ablehnst.", sagte Jenny. "Er wird mir nichts tun. Er braucht mich ja. Und er wird weiter versuchen, mich umzustimmen. Irgendwann wird er einen Fehler machen.", war sich der junge Polizist sicher.

    Krankenhaus - 16:00 Uhr


    Jenny war "einigermaßen" beruhigt, nachdem sie Semir auf dem Handy erreicht hatte. Eigentlich wollte sie von der Dienststelle aus sofort ins Krankenhaus fahren, doch die Stimme des erfahrenen Polizisten am Telefon, so wie Hottes: "Wenn Semir sagt, dass er okay ist, dann ist er auch okay.", hielt sie letztendlich zurück. Richtig konzentrieren konnte sie sich zwar nicht mehr, als sie weiter an den Berichten arbeitete und immer wieder auf den leeren Platz gegenüber von ihr schaute, aber ihr Herzschlag hatte sich beruhigt und auch das unruhige Zittern in den Händen hatte aufgehört. So oft die Polizisten auf dieser Dienststelle in Unfälle verwickelt waren und Dienstwagen verschrotteten... die Sorgen danach, bis sie wieder in einem Stück hier erschienen waren immer gleich.
    Irgendwann piepte Jennys Smartphone, und sie las eine WhatsApp-Nachricht ihres Ex-Freundes. "Kannst du mich bitte aus dem Krankenhaus abholen? Mein Auto ist" und dahinter ein Emoji, das eine Explosion anzeigen sollte. Ein wenig lächelte sie und die Anspannung wich der endgültigen Erleichterung. Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl und sagte zu Hotte und Dieter: "Ich geh unseren Bruchpiloten mal abholen, er hat mir gerade geschrieben." Daraufhin verließ sie die Dienststelle.


    Als das Krankenhaus in Sichtweite kam, bemerkte Jenny schon dass sie sich die Suche nach einem Parkplatz sparen konnte. Am Straßenrand erblickte sie die stachelige Frisur ihres Kollegen, der mit sandiger Jeans (dadurch, dass er im Acker aus dem Auto gezogen wurde) und drei kleinen Pflaster auf Schnitten ums Auge herum auf sie wartete. Der Wagen stand gerade, als er die Tür aufzog und sich tief ins Innere des BMWs fallen ließ. Noch vor der verbalen Begrüßung beugte sich Jenny über den Schaltknüppel zu ihm herüber und legte ihre Arme um den Hals, so wie sie es früher ganz selbstverständlich getan hatte, als sie noch ein Paar waren. "Puh, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ist alles in Ordnung?" Der junge Polizist nickte an ihrer Schulter und legte ebenfalls seine Arme um den schlanken Körper der jungen Frau. "Alles gut."
    Als sie sich voneinander lösten war Jenny selbst über sich und ihre spontane Reaktion überrascht, beinahe etwas beschämt... schließlich gingen sie vor dem 8-Augen-Gespräch, bei dem Ben und Semir ebenfalls dabei waren, im Streit auseinander. Es huschte nur ein kurzes Lächeln über ihre Lippen, als sie den Motor startete und sich in den Feierabendverkehr einsortierte. Kevin schnallte sich an und sah mit einem kurzen Seitenblick auf die junge Frau. "Die drei sind die einzige Familie, die du noch hast.", hörte er Jerrys mahnende Stimme im Hinterkopf.


    Einige Minute schwiegen sich die beiden an, wie junge verliebte Teenager, die sich nicht trauten den ersten Schritt zu machen. Diesen machte dann letztendlich Kevin, als der Wagen an einer roten Ampel zum Stehen kam. "Es war gut, dass du eben bei dem Gespräch dabei warst.", sagte er mit seiner manchmal monoton klingenden Stimme, die einen fälschlicherweise desinteressierten Eindruck machten konnte. Jenny sah ihren Ex-Freund an, der zur Frontscheibe hinaus sah. "Ich hätte vielleicht versucht, die Sache weiter zu verschweigen, was ich damals getan habe.", meinte er nachdenklich. "Kevin... du hast als Jugendlicher Drogen genommen, gedealt, eingebrochen, hast Menschen verletzt, du hast vor einem Jahr noch Drogen genommen... warum hast du versucht das noch zu verheimlichen?", fragte sie ohne Vorwurf in der Stimme.
    Der junge Polizist seufzte: "Weil ich von euch drei weiß, dass ihr nicht nur Polizisten seid, weil die Uniform so hübsch ist. Weil ich weiß, dass ihr drei, und auch Hotte, Dieter und die Chefin als Polizisten gewisse Werte vertretet. An etwas glaubt.", sagte er leise, ohne die junge Frau anzuschauen. "Ich glaube, dass euch der Eid, den ihr geleistet habt, etwas bedeutet. Ist es nicht so?" Jetzt erst blickte er Jenny in die Augen, und sie nickte leicht. "Und dir bedeutet der Eid nichts?"


    Bevor der junge Polizist den Blick wieder abwandte, sah er kurz zu Boden. "Ich bin Polizist geworden um zu verhindern, dass jemand das gleiche Leid erfährt, wie ich mit Janine. Ich hatte nie die Absicht, "dem Staat zu dienen", wie man so schön sagt.", sagte und strich sich für einen Moment mit dem Finger der rechten Hand über das linke Handgelenk. "Deswegen hielt ich es nicht für falsch, was ich getan habe. Ich habe verhindert dass ein paar Dealer hinter Gitter gehen. Leute, die mit dem Verkauf von Drogen vielleicht Leid anrichten, aber wenn du selbst Drogen nimmst, bist du der Meinung dass jeder, der das tut, selbst verantwortlich ist. Ich habe mir immer eingeredet, dass es okay ist, solange ich dadurch niemanden in Gefahr bringe. Ich habe niemals einen Kollegen in einem Undercovereinsatz verraten oder irgendetwas gemacht, was andere Leute vorsätzlich in Gefahr gebracht hat." Dann sah er nochmal zu Jenny herüber und wiederholte: "Niemals."
    Jenny schluckte, und sie spürte dass sie gerade dabei war, wie damals, einen tiefen Schritt in Kevins Seelenleben zu tun. Wie damals, kurz bevor sie zusammen kamen, als er von Janine erzählte, von seinem Vater, von seiner Kindheit. Als er vor ihr kniete und sie anflehte, ihm zu helfen, nachdem er gerade einen beängstigenden Blackout hatte und mit einer geladenen, entsicherten Waffe in der Dusche zu sich gekommen war, nach einem Höllentrip auf Drogen. Und weil sie wusste, wie sensibel er war, wenn er sich öffnete, und wie schlecht sie noch vor einigen Stunden reagiert hatte, war sie vorsichtig, tastete sich langsam zu ihm durch.


    "Und weil dir der Eid nichts... oder nicht viel bedeutet, hättest du die Sache weiter verheimlicht? Was... was hat das eine mit dem anderen zu tun?", fragte Jenny und wendete einen Mindestanteil an Konzentration für den Verkehr auf, der nötig war. "Weil ich damit alles, an was ihr glaubt, verraten habe. Ob ich als Jugendlicher mal irgendwo eingestiegen bin... ob ich mir zu Hause manchmal einen Joint drehe.", dabei zuckte er mit den Schultern. "Könnte euch im Prinzip egal sein." Damit meinte er natürlich, wenn die Kollegen nicht generell an seiner Gesundheit interessiert wären. "Aber dass ich mit der Sache damals ja eigentlich den kompletten Polizeiapparat verraten habe, empfand ich als Angriff auf euch alle. Deswegen wollte ich es niemals erzählen." Jenny verstand. Kevin befürchtete, dass Semir und Ben, die jahrelang ihr Leben für diesen Job riskierten, diese Sache nicht einfach so hinnahmen, wie persönliche Verfehlungen Kevins, die in der Jugendzeit lagen, oder nur ihn persönlich betrafen. "Ich glaube... wenn du wirklich mal etwas verraten hättest in der Zeit, als du schon mit ihnen zusammengearbeitet hast... dann hätten sie es nicht so gut aufgenommen.", vermutete die junge Frau richtig. Die Antwort Kevins kam diesmal schneller und weniger zögerlich als die Worte davor: "Das habe ich aber nie. Das musst du mir glauben." Soviel Erfahrung Jenny jetzt schon hatte in Verhören, wann jemand log und die Wahrheit sagte, und vor allem wie gut sie den jungen Mann jetzt schon kannte... von diesen Worten war sie überzeugt. "Ich glaube dir, Kevin."


    Es herrschte nochmal kurze Stille als Jenny den Wagen auf die Autobahn lenkte, und es nicht mehr weit bis zur Dienststelle war. Jenny spürte ihr Herz in der Brust und sie blickte auf den Mann neben ihr, den sie so geliebt hatte und immer noch liebte. Dessen Kind sie für einige Wochen im Leib trug. Von dessen Charakter sie sowohl magisch angezogen wurde, als auch immer wieder abgestoßen wurde. Sie konnte sich gegen ihn aber einfach nicht wehren. "Wenn du nicht dabei gewesen wärst, hätte ich nichts gesagt. Aber ich kann dich nicht anlügen.", sagte er irgendwann unvermittelt gegen die Seitenscheibe des Fahrzeuges und sah auf die vorbeiziehende Landschaft. Dieser Satz brachte ihr Herz noch mehr in Fahrt.
    Und dann sagte er etwas, woran sie noch lange denken würde, was sie tief im Innersten berührte, und was sie auch etwas stolz machte: "Du bist der einzige Mensch, dem ich alles anvertrauen würde, wenn er mich fragen würde, Jenny. Ganz egal was. Dass ich dir die Sache mit Annie und Kolumbien bis kurz vor Schluß verschwiegen habe, war der größte Fehler meines Lebens..." Bis auf die Tatsache, dass er Janines Leben nicht verteidigen konnte, aber das rückte in diesem Moment für ihn in den Hintergrund.

    Bennys Haus - 15:10 Uhr


    Vom Unfallort hatte Semir gleich die Spurensicherung um ihren guten Freund Hartmut angerufen, die mit gesamter Mannschaft zu Bennys Adresse kommen sollte. Wenn dort jemand etwas gesucht hat, dann würde es vielleicht auch noch etwas Interessantes zu finden geben. Als der erfahrene Polizist aus Bens Mercedes bei Bennys Wohnung ausstieg, hatte er sein Handy am Ohr. "Ja - Nein, ich glaube nicht dass du extra ins Krankenhaus fahren musst. Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Er wird nur kurz gecheckt, aber er war schon wieder auf den Beinen und wollte nicht ins Krankenhaus. Kennst ihn ja.", versuchte er die ziemlich aufgelöste Jenny am Telefon zu beruhigen. Die hatte am Funk mitbekommen, wie Semir aufgeregt den Rettungswagen angefordert hatte, weil Kevins Wagen verunglückt war.
    Ben sah zu Semir, als dieser auflegte. "Macht sich Sorgen? Scheint wohl noch nicht alles vorbei zu sein bei den beiden." Der kleinere Kommissar zuckte mit den Schultern. "Sorgen machen kann man sich auch, wenn man nicht ineinander verliebt ist, Schatzi." Dabei machte er spaßeshalber einen Kussmund und grinste Ben an, der ebenfalls lachte. Beide zogen Einmalhandschuhe an, um nicht noch mehr Spuren zu verwischen, als sie beim ersten Besuch schon getan hatten.


    "Würde sagen, wir schauen uns oben mal um. Der Täter kam die Treppe runter.", sagte Ben und beide gingen die Treppe nach oben. Es war ein typisches Einfamilienhaus, ein kleiner Flur, drei Zimmer und das Badezimmer. Eins der Zimmer war ungenutzt, ein Schlafzimmer und so etwas wie ein Büro, wo ein Schrank mit Akten standen, ein Schreibtisch und ein Laptop. Der Laptop war aufgeklappt, aber gesperrt wie Ben sofort feststellte. "Das ist etwas für Hartmut.", meinte er, nachdem er erfolglos das ein oder andere Standardpasswort ausprobiert hatte. Semir sah sich indes um, welche Aktenordner aus dem Regal gerissen waren und welche noch drin stehen blieben. Er konnte kein klares Muster erkennen.
    Rechnungen, Versicherungsunterlagen, Fahrzeugbrief... alles was man in einem Haushalt an Unterlagen finden konnte, war da. Es schien, als würde Benny ein stinknormales Leben führen. Semir war sich sicher, dass wohl selbst die Nachbarn nur gutes über einen unauffälligen Bewohner erzählen würden. "Fällt dir was auf?", fragte Ben, der über den Schreibtisch sah, irgendwann. "Hmm?" "Hier liegt nirgends ein Speichermedium. Keine Festplatte, kein USB-Stick." Er fegte einige Blätter Papier zur Seite. "Na und? Die liegen bei mir auch nicht einfach so herum.", meinte Semir. Nach weiterer Suche konnten sie allerdings in den Schränken auch nichts finden. "Für die heutige Zeit fast schon ungewöhnlich, oder?"


    Irgendwann meldete sich Hartmuts Stimme von der Eingangstür aus. "Hey Jungs, wir sind da. Wonach sollen wir suchen?" Semirs Gesicht erschien am Treppenaufgang. "Nach allem möglichen. Irgendwas hat der Typ hier gesucht. Fingerabdrücke vor allem schauen und mal in den Keller gucken. Nach Speichermedien suchen, hier oben beim Laptop ist nichts.", zählte er auf. "Kein Speichermedium in der Nähe des Laptops? Das gibts ja gar nicht.", sagte der technikaffine Hartmut, der um seinen Arbeitsplatz herum mehrere Terrabyte Speicherplatz in Form von USB-Sticks und mobilen Festplatten oder NAS-Systemen verteilt hatte. "Siehste.", kam leise von Ben aus dem Büro raus, und Semir verdrehte die Augen.
    Das ganze Haus wurde langsam durchwuselt von Mitarbeitern der Spurensicherung, die ebenfalls geschützt mit Handschuhen, alles umdrehten was nicht irgendwo angeschraubt. Dabei gingen sie besonders sorgfältig vor, um nicht irgendwo ein kleines Detail zu übersehen. Hartmut war mit zwei weiteren Mitarbeitern in den Keller gegangen, als Semir und Ben gerade die Treppe herunter ins Erdgeschoss nahmen. "Jungs, kommt mal runter. Hier gibts was Interessantes.", hörten sie Hartmuts Stimme. "Was hat er wohl gefunden? Ne Kartoffel, die aussieht wie sein Laptop?", ulkte Ben und stieß Semir in die Seite.


    Als sie durch die Tür schritten, in die Hartmut sie mit einem Fingerzeit hereinbat, blieben sie erstaunt stehen. Ben pfiff anerkennend für diesen Fund durch die Zähne. "Hallo... da hat sich Benny aber was Schönes eingerichtet." Sie standen mitten in einer Art "Hobby" - Labor, so würden es die beiden Kommissare nennen. Hartmut allerdings, der viele der Apparaturen kannte, korrigierte sie gleich. "Das ist schon für Fortgeschrittene hier.", und erklärte einige der Apparaturen gewohnt ausschweifend. "Hartmut... es ist schon spät. Sag uns doch einfach, was Benny hier erforscht oder hergestellt hat.", sagte Semir, der die ellenlangen Vorträge von Hartmut bereits kannte und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr.
    "Ich müsste die Chemikalien, die noch hier sind, natürlich erstmal untersuchen. Aber grundsätzlich kann man die ganzen Sachen hier brauchen, um ziemlich hochwertige Drogen herzustellen.", sagte er und tütete und aller Vorsichtsmaßnahmen mehrere Fläschen bunter Flüssigkeiten ein. "Drogen? Und was genau?" "Ben... NACH der Untersuchung. Morgen kann ich euch was dazu sagen. Heroin, hochwertiges Koks, vielleicht auch Tabletten... ihr werdet es zuerst erfahren."


    Semirs Hirn arbeitete schon wieder auf Hochtouren, als sie die Wohnung verließen und wieder in den Dienstwagen stiegen. "Das ergibt Sinn...", murmelte er leise und Ben sah zu ihm. "Was ergibt Sinn? Lass mich teilhaben an deinen Gedanken." "Wir haben uns doch heute morgen gefragt, warum Anis unbedingt Benny aus der Haft bekommen will. Scheinbar stellt der die Drogen für Anis her." Ben dachte ebenfalls nach und strich sich kurz durch die langen Haare. "Aber eine Unterweltgröße wie Anis sollte doch fähig sein, woanders Drogen her zu bekommen als ausschließlich von Benny." "Selbst herstellen ist aber günstiger als einkaufen." "Meine ich ja. Es wird doch in Kölns Unterwelt noch jemand geben, der ein bisschen Heroin herstellen kann."
    Semir nickte nachdenklich. "Oder sie wollen es selbst machen.", sagte Ben plötzlich, dem jetzt ein Lichtlein aufging. "Du meinst, der Einbruch war von Anis? Um an Unterlagen zu kommen, um die Drogen selbst herzustellen?" Ben nickte. "Im Keller wurden keine Unterlagen gefunden und oben keine USB-Sticks. Wenn wir Pech haben, dann haben sie jetzt alles was sie brauchen." Semir schnallte sich an: "Das werden wir sehen... spätestens, wenn Anis erneut bei Kevin versucht, ihn für sich zu gewinnen." Sein bester Freund nickte und startete den Motor.

    Landstraße - 14:45 Uhr


    Das Herz der beiden Polizisten schlug ihnen bis zum Hals. So oft hatten sie nach Unfällen Verletzte aus den Autos gezogen, im letzten Moment bevor sich Öle andere Betriebsstoffe entzündeten und ihnen die Karre um die Ohren flog. Eigentlich war es Routine, und doch schüttete ihr Körper jedes Mal Adrenalin aus. Sie hatten das Leben der Person in der Hand, sie waren ihre letzte Rettung. Wenn dann in dem verunfallten Fahrzeug auch noch ein Freund von ihnen lag, war die Aufregung, die Sorge nochmal größer.
    Ben kam als erstes zu dem verschrotteten BMW an und konnte durch das halb zerstörte Fenster sehen, wie Kevin leblos im Auto lag. Die Gurte hielten ihn nur geringfügig, aus der Nase und mehreren Schnittwunden im Gesicht blutete der junge Kommissar. Der Motor hatte Feuer gefangen, Benzinleitungen aufgerissen und hatte sich an heißen Antriebsteilen entzündet. "Scheisse, scheisse...", fluchte Ben als er versuchte die gestauchte Tür zu öffnen, die allerdings nur Millimeter nachgab. Semir kam dazu und hatte sich beim Laufen durch den Acker die Jacke ausgezogen. Damit schützte er seine Hand, in dem er sie sich um den Arm und Hand wickelte und entfernte hektisch die Reste der Seitenscheibe. "Crash-Rettung, schnell!", rief er, als die Fensterscheibe komplett entfernt war.


    Crash-Rettung wandte man an, wenn man einen Verletzten aus einem Gefahrenbereich bringen musste... erstmal ohne Rücksicht auf eine schonende Bergung. Dies war gefährlich für den Verunfallten, da man dabei keinerlei Rücksicht auf etwagige Wirbelsäulenverletzungen nehmen konnte. Aber wichtig war erst einmal, den Bewusstlosen vor der Gefahr zu retten. Beide Männer packten Kevin am Kragen und Schulter der Jacke, und zogen ihn so schnell es ging aus dem Wagen. Vorher hatte Ben in das Auto gegriffen und den Gurt gelöst. Trotz aller Hektik und allem Adrenalin machte sich kurz ein Funken Erleichterung breit, als sie ein leises Stöhnen von Kevin hören konnten, als sie ihn gerade komplett aus dem Auto gezogen hatten.
    Semir und Ben wechselten die Position, ließen ihren Kollegen an der Jacke los und legten ihm jeweils die Arme um ihre Schultern. Dabei richtete der erfahrene Polizist einen Blick auf den Wagen, wo die Flammen plötzlich höher und kraftvoller züngelten. "Schneller, Ben! SCHNELLER!" So schnell sie konnten, drehten sie sich mit Kevin in der Mitte vom Auto weg und zogen ihren Freund, mehr als er selbst versuchte zu laufen, als er gerade wieder so etwas wie Bewusstsein erlangte. Das laute Krachen, als das Fahrzeug explodierte, donnerte durch ihren Gehörgang und die leichte Druckwelle ließ sie vorneüber in den Dreck stürzen. Die Drei spürten eine Hitzewelle am Rücken und kleine Blechteile regneten auf die herab.


    Kevin fühlte sich wie in einer Waschmaschine nach dem Vollwaschgang. Als der Hall der Explosion verklungen war, drehte er sich mit schmutzigem Gesicht langsam nach seinem einstigen Dienstwagen um. "Kevin? Bist du ok?", fragte Semir sofort, als er sah dass sein junger Freund wieder bei Bewusstsein war und langsam nickte, dabei erst einmal durchatmete. Auch Ben hatte sich aufgerichtet, und alle drei blickten auf den brennenden BMW. "Na klasse... für deinen ersten Dienstwagen hast du ja nicht lange gebraucht.", meinte Ben etwas flapsig, aber typisch Ben. Wenn klar war, dass niemandem etwas Schlimmes passiert war, vergaß er schnell den Ernst der Lage. Stöhnend rappelten sich alle drei aus dem Dreck des Ackers auf, Kevin hielt sich als Reflex kurz den Nacken. "Hast du den Fahrer erkannt, im Rückspiegel?", fragte Ben, aber Kevin verneinte. "Ging alles zu schnell... er hatte ja direkt Abstand gelassen, und ich konnte auch nicht so lange in den Rückspiegel schauen."
    Sie mussten nur einige Minuten warten, dann kam die Rettungskavallerie. Angeführt von einem Streifenwagen und der Feuerwehr, die im benachbarten Ort alarmiert wurde, folgte ein Notarzt-Kombi und ein Rettungswagen. Kevin sah von dem kleinen SItztritt am Heck des Rettungswagen zu, wie die uniformierten Freiwilligen mit Atemschutz die Flammen seines BMWs erstickten. "Sie sollten sich im Krankenhaus untersuchen lassen, junger Mann.", sagte der grauhaarige Rettungssanitäter, der Kevins Nacken befühlte, doch der winkte nur ab. "Das geht schon." "Ne, nix da. Du fährst jetzt ins Krankenhaus und lässt dir das wenigstens röntgen.", sagte Semir mit strenger Stimme. "Aber...", wollte der junge Draufgänger protestieren, aber der erfahrene Polizist ließ sich auf keine Diskussion ein. "Nein! Keine Widerrede. Im Rollstuhl können wir dich nicht gebrauchen." Semir war mittlerweile nach unzähligen Unfällen in einem Alter, in dem er wenigstens danach den Routinecheck über sich ergehen ließ, und ließ auch bei Ben keine Ausnahme mehr zu. Kevin gab nach, bestand dann aber mit der Halskrause wenigstens im Krankenwagen sitzen zu können.


    Als Ben und Semir sich zurück in ihren Dienstwagen begaben, hatte Ben sein Smartphone in der Hand und tippte. "Du bist auch süchtig nach dem Ding, oder?", mäkelte sein älterer Kollege, der zwar auch ein modernes (Dienst-)Smartphone besaß, mit der neuartigen Technik aber eher weniger anfangen konnte. "Ich hab Sabrina vergessen zum Geburtstag zu gratulieren. Darf ich das gerade eben noch nachholen?", gab Ben zur Antwort und nahm seine Augen nicht vom kleinen Display. "Wer ist denn schon wieder Sabrina?" "Ach, ne Bekannte von mir." Semir grinste und wollte Ben ein wenig necken. "Naja... Sabrina, Carina... schau dass du im entscheidenden Moment nicht durcheinander kommst." Ben sah mit einer gespielten Schnute zu seinem Partner. Zum ersten Mal, seit die beiden zusammenarbeiteten war Ben in einer längeren Beziehung mit Carina. In einer Beziehung, die sich ernst anfühlte, mehr als nur ein Abenteuer. Darüber war Ben, der sich selbst lange als "beziehungsunfähig" bezeichnete, sehr stolz. Die Neckereien seines besten Freundes nahm er dafür gerne in Kauf...


    Charmin - 15:00 Uhr


    Anis wartete ungeduldig in seinem Büro und schaute immer wieder auf seine teure Uhr. Wo blieb der Kerl bloß... konnte ja nicht so schwer sein, in ein unbewohntes Haus einzudringen und ein paar Datenträger mitgehen zu lassen. Keiner seiner Leute war wirklich darauf ausgerichtet, irgendwo einzusteigen. Also hatte Anis sich an seinen Bekannten Zack gewendet, ob einer seiner Leute ein paar Scheine verdienen wollte. Sein Laptop stand auf seinem Schreibtisch bereits bereit, als endlich die Tür aufging. "Na endlich, Mann. Was hat da so lange gedauert?", sagte er mit vorwurfsvoller Stimme zu dem jungen Mann, der sich erst jetzt die Kapuze vom Kopf streifte und seinen gebundenen Pferdeschwanz sichtbar werden ließ. "Eigentlich müsste ich Gefahrenzulage verlangen, Amigo. Die Bullen sind dort aufgekreuzt.", sagte er und warf Anis zwei USB-Sticks auf den Tisch. "Das ist alles was ich gefunden habe."
    Der Chef des Charmins sah den Kolumbianer an. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Wie, die Bullen sind dort aufgekreuzt?" "Keine Ahnung wo die herkamen. Aber ich hab sie abgehängt." Dass der Mann, der von normalerweise für Zack arbeitete die beiden Polizisten erkannte, als er sie sah, verschwieg er. Den Dritten in dem Wagen, den er von der Landstraße gerammt hatte, hatte er sowieso nicht erkannt. Anis wählte eine Nummer auf seinem Handy: "Armando? Das Auto, mit dem der Mexikaner unterwegs war...", begann er und wurde von Juan unterbrochen. "Kolumbianer!" "... was auch immer. Den Wagen müsst ihr entsorgen. - Ja. - Alter, ist mir egal ob das dein Auto war, die Karre muss weg wenn du nicht morgen Besuch von den Bullen bekommen willst." Dann legte er genervt auf. Immerhin hatten sie vorher die Nummernschilder ausgetauscht... aber sicher ist sicher.


    Anis stöpselte beide USB-Sticks an den Laptop an. Wenige Minuten klickte er, für Juan nicht sehbar, an seiner Arbeitsstation, tippte mal, stöhnte und klickte wieder, bis er laut aufrief: "Fuck, Alter." Kamil, einer seiner engsten Freunde stand schräg hinter ihm. "Was ist, Mann?" "Benny ist nicht dumm. Der hat die Daten verschlüsselt. Traut uns scheinbar nicht über den Weg, der kleine Wich.ser.", knurrte Anis und kratzte sich an seinem schwarzen Bart. "Wenn ich wüsste, was die Daten wert sind, würde ich sie auch verschlüsseln. Und du auch.", sagte Kamil und Anis konnte ihm nicht widersprechen. "Also brauchen wir ihn doch hier. Es nutzt alles nichts. Wir müssen Kevin irgendwie überreden." Bei dem Namen Kevin horchte Juan kurz auf... einfach aus Neugier. "Welchen Kevin?"
    Der Tunesier stand von seinem Schreibtisch auf und nahm einige Bündel Geld aus einer Box. "Hat dich nicht zu interessieren. Hier.", sagte er und drückte Juan einige Geldscheine in die Hand. Der warf einen kurzen prüfenden Blick darauf: "Hey Amigo. Das sind nur zwei Drittel von dem, was wir ausgemacht haben." "Der Rest ist Anteil an Armandos Wagen, den wir deinetwegen entsorgen müssen. Und nun verpiss dich." Anis wusste nicht, dass er mit Juan einen Mann vor sich hatte, der selbst in dessen Position war, als Anführer eines Drogenkartells, in einer weitaus brutaleren und kompromissloseren Gegend als hier. Er packte Anis, als dieser sich von ihm wegdrehte am Kragen. "Escucha!", knurrte er, was so viel hieß wie "Hör zu!", doch sofort griff Kamil zu seiner Waffe, was Juan im Augenwinkel sah. "Was denn, hmm?", meinte Anis mit einer Drohgebärde. Juan ließ normalerweise nicht so mit sich umgehen, doch er war auch kein Selbstmörder, nur wegen seinem verletzten Stolz. Er ließ Anis Kragen los und meinte nur mit drohender Stimme: "Cuídate mucho, hijo de puta.", was hieß "Pass gut auf dich auf."... und eine Beleidigung, die den stolzen Anis sicher zu einem Wutausbruch gebracht hätte, wenn er sie verstanden hätte. Damit verließ Juan den Raum...


    "Was für ein Opfer, Alter.", lachte Kamil und steckte die Waffe wieder weg, während Anis sich wieder auf seinen Stuhl setzte. "Was machen wir jetzt? Wie bekommen wir den Bullen dazu, uns zu helfen?" Anis sah auf den Monitor seines Laptops, der in großen Buchstaben "Access denied" anzeigte... er kam nicht in die Daten von Benny hinein. Er brauchte ihn hier... und das schon in wenigen Tagen. Dann würde der Deal stattfinden. "Was ist, wenn wir mal seiner kleinen Freundin auf die Pelle rücken? Oder seiner Transenmama?", schlug Kamil vor, doch Anis schüttelte den Kopf. "Das provoziert bei Kevin die falsche Reaktion. Dann reißt er uns eher den Laden ab, als dass er mit mir zusammenarbeitet. Drohungen bringen bei dem Typ nichts", meinte er und schüttelte den Kopf.
    "Nein... Für Kevin muss sich die Sache lohnen. Und da er nicht mehr abhängig zu sein scheint, werden wir ihn auch nicht mit seinen Muntermachern ködern können.", dachte er laut nach. "Es muss etwas sein, auf das er sofort anspringt. Bei dem er sich es nicht leisten kann, die Gelegenheit verstreichen zu lassen.", meinte er nachdenklich.

    Bennys Wohnung - 14:30 Uhr


    Ben hielt den Mercedes am Straßenrand des Wohnviertels ausserhalb von Köln. "Wohnt gar nicht schlecht hier, hmm?", meinte seine Nebenmann kurz als er auf das gepflegte Haus, das scheinbar irgendwann Ende der 80er gebaut wurde. Das Wohngebiet war herrlich verschachtelt, anders als moderne Wohngebiete wo die Straßenzüge am Reissbrett entworfen wurde und jedes Haus den exakt abgemessenen Garten hatte. Bennys Haus wurde umringt von Rasen und einem hüfthohen Gartenzaun. "Da hat man immer das Klischee der Verbrecher im Kopf, irgendwo Innenstadt, Mehrfamilienhaus... und da wohnt so jemand vielleicht Tür an Tür mit dir.", meinte Semir nachdenklich als sie durch das Gartentor schritten.
    Laut ihren Informationen lebte Benny allein, trotzdem wollten die beiden Autobahnpolizisten kein Risiko eingehen, im Haus auf jemanden zu treffen, wenn sie jetzt den Dietrich bemühen würden. "Hätten wir nicht Kevin Bescheid sagen sollen, dass wir uns in Bennys Haus etwas umsehen?", sagte Ben noch auf dem Weg zur Tür. "Er ging ja nicht ans Handy. Wir können doch nicht jeden Schritt erst mit ihm absprechen, damit er sich nicht übergangen fühlt. Er ist ja kein kleines Kind mehr.", meinte Semir und setzte noch hinzu: "Ausserdem weiß Jenny Bescheid, und sie wird ihm dann schon sagen, wo wir sind."


    Der junge Polizist schluckte etwas, hatten sie doch eben noch ein gutes Gespräch zusammen geführt. Aber irgendwie hatte er trotzdem Angst, dass sein Partner sich sofort in irgendeiner Form ausgegrenzt fühlen würde, wenn er nicht Bescheid wusste dass Ben und Semir vorhin spontan die Idee hatten, sich ein wenig in Bennys Haus umzusehen und nach Informationen zu suchen. Bei einem normal tickenden Menschen hätte er dieses Unbehagen gar nicht gehabt. Aber Kevin war eben nicht normal. Doch er spürte, dass sein erfahrener Partner ganz recht hatte... es würde Kevin eher zur Normalität verhelfen wenn man ihn auch normal behandelt. Also schüttelte Ben seine Gedanken ab.
    Abgelenkt wurde er sowieso, als beide Polizisten sahen, dass die Haustür nur angelehnt war. Eindeutig war an der dunklen Holztür zu erkennen, dass man sie gewaltsam aufgehebelt hatte. Die beiden Männer sahen sich kurz an und zogen beide ihre Waffen. "Da brauchen wir uns ja zum Glück keine Gedanken über den nicht vorhandenen Durchsuchungsbeschluss zu machen.", flüsterte Ben ironisch und umfasste seine Waffe etwas fester, als Semir vorsichtig die Tür aufdrückte.


    Ein Flur sowie eine Treppe ins Obergeschoss empfing sie. Die Herbstsonne fiel durch eine offene Tür in den Flur und in ihrem Sonnenlicht konnte man feinen Staub schweben sehen. Auf leisen Sohlen mit gezückten Waffen schlichen die beiden besten Freunde durch den Flur ins Wohnzimmer, das vom Licht aus einer Terassenfensterfront erleuchtet wurde. Hier waren einige Schubladen geöffnet, rausgerissen und durchwühlt. Scheinbar hatte hier jemand etwas gesucht. "Ich glaube, Benny hatte was zu verbergen.", sagte Ben leise und sah in die Schubladen, in denen allerdings nur Krimskrams lag. Semir ging langsam, die Waffe immer noch in der Hand, aber nicht mehr ganz angespannt nach vorne gerichtet, in die Küche. Auch hier waren einige Schubladen herausgezogen, Geschirr lag am Boden.
    Die dunkelgekleidete Gestalt, die im Obergeschoss gerade zwei USB-Sticks in die Hose steckte, hatte die ungebetenen Besucher bemerkt. "Fuck...", flüsterte sie und zog sich die Kapuze über den Kopf. Er lugte das Treppengeländer herunter, konnte aber niemanden sehen. Die Stimme eines der beiden Männer kam aus der Küche und sagte gerade "Wer weiß, was die hier gesucht haben." Der Mann atmete auf. Scheinbar hatten die zwei Vögel gar keine Ahnung, nach was sie überhaupt suchen sollten.


    Der Eindringling entschied sich gegen die leise und für die schnelle Flucht. Die ersten Treppenstufen nahm er vorsichtig, als die rettende Tür in der Nähe war, trampelte er, weil er schneller wurde. Ben und Semir hörten die Geräusche und sahen sich sofort um. "Da haut jemand ab!", rief Semir noch und drehte sich sofort wieder zum Flur, wo er gerade noch sah, wie die Tür ins Schloß fiel. Beide Polizisten verfielen sofort in einen Sprint, wobei sie sich im Flur, wo Semir aus der Küche und Ben aus dem Wohnzimmer kam, fast über den Haufen rannten. Ben erreichte die Tür zuerst, riss sie auf und sah gerade noch, wie der Mann mit Kapuze in einen dunklen Jeep einstieg und den Motor anließ.
    "Stehen bleiben!!", schrie Ben laut und wusste dabei schon: Es wäre der erste Verbrecher, der dieser Aufforderung nachkommen würde. Als der Kerl aufs Gas trat und mit quietschenden Reifen davon fuhr, versuchte Ben auf die Reifen zu zielen und drückte zweimal ab, die Kugeln verfehlten aber ihr Ziel und schlugen in die Heckklappe ein. "Bist du bescheuert, hier durchs Wohngebiet zu ballern?", rief Semir neben ihm und zog ihn am Arm. "Los, komm!"


    Die beiden Polizisten rannten zum Mercedes und Ben nahm sofort die Verfolgung auf. "Zentrale für Cobra 11, verfolgen einen dunkelblauen Jeep, Fahrer ist in das Wohnhaus des Verdächtigen Benedickt Jecker eingebrochen. Er flüchtet auf der B59 von Ehrenfeld Richtung Puhlheim, haben die Verfolgung aufgenommen und erbitten Verstärkung. Ende!", gab Semir über Funk durch und hängte noch das Kennzeichen dran. Der Jeep hatte den direkten Weg aus dem Wohngebiet auf die B59 genommen und beschleunigte seinen Wagen. "Bleib dran.", mahnte Semir seinen jungen Partner fast schon als Ritual. "Natürlich bleib ich dran.", war dann Bens typische Antwort.
    Auf der Landstraße, die rechts und links von Feldern gesäumt war, riskierte der Fahrer einige waghalsige Überholmanöver. Ben musste einmal hart abbremsen und hinter einem Unbeteiligten wieder einscheren, weil ihm ein LKW entgegen kam. "Whoa...", rief Semir erschrocken, denn er hatte den LKW ebenfalls nicht kommen sehen. "Denk dran, wir wollen heute abend noch mit den Frauen essen gehen, das wäre gut, wenn wir in einem Stück bleiben." "Jaja...", knurrte Ben genervt und überholte im zweiten Versuch. "Cobra 11 1 für Cobra 11 2. Ich dürfte ein paar hundert Meter vor euch sein, Semir.", hörten die beiden dann Kevins Stimme über Funk. "Ah Kevin, sehr gut. Wir nehmen ihn in die Zange."


    Es dauerte nur Minuten, dann konnten sie den neuen Dienstwagen von Kevin erblicken. Als der Jeep versuchte auch den BMW zu überholen, zog Kevin, mit den Augen im Rückspiegel, sofort auf die Gegenfahrbahn, um dieses Manöver abzublocken. Rauch stieg von der Vollbremsung des Jeeps auf und sofort war Ben mit dem Mercedes dicht am Kofferraum. "Jetzt haben wir dich." Die Geschwindigkeit betrug immer noch über 130 km/h als Kevin begann, vorsichtig langsamer zu werden, dabei hatte er die Augen fest im Rückspiegel. Er sah, wie der Jeep ebenfalls verlangsamte, jedoch weitaus mehr als Kevin selbst. "Was zum...", konnte er noch sagen, als der Jeep plötzlich beschleunigte... er hatte nur Anlauf genommen.
    Kevin war so perplex, dass er nicht aufs Gas trat. Der Kerl rammte den BMW links versetzt an der Stoßstange, so dass der Wagen vor ihm abrupt nach rechts abbog. "Oh verdammt...", konnte Semir noch sagen, als er die Katastrophe nahen sah. Kevin kam von der Straße ab und traf auf eine niedrige Böschung, die den BMW, der durch den Stoß wieder ordentlich beschleunigte, aushebelte und abheben ließ. Mit voller Wucht krachte er mit der Beifahrerseite in den Acker, Blech ächzte, Benzinleitung unter der Motorhaube rissen und der Wagen überschlug sich noch einmal um die eigene Achse und blieb auf dem Dach liegen. Während Ben noch mit der Vollbremsung beschäftigt war, griff Semir sofort zum Funkgerät. "Zentrale für Cobra 11, brauchen dringend Feuerwehr und RTW, Höhe Pulheim. Cobra 11 2 ist schwer verunglückt!" Danach folgte er seinem Kollegen in das Feld zum BMW, aus dem Flammen schlugen und beide erkennen konnten, wie Kevin bewusstlos im Fahrerraum lag, während Jenny auf der anderen Seite vom Funk mit zitternder Stimme die Rettungsstelle alarmierte...