Landstraße - 14:45 Uhr
Das Herz der beiden Polizisten schlug ihnen bis zum Hals. So oft hatten sie nach Unfällen Verletzte aus den Autos gezogen, im letzten Moment bevor sich Öle andere Betriebsstoffe entzündeten und ihnen die Karre um die Ohren flog. Eigentlich war es Routine, und doch schüttete ihr Körper jedes Mal Adrenalin aus. Sie hatten das Leben der Person in der Hand, sie waren ihre letzte Rettung. Wenn dann in dem verunfallten Fahrzeug auch noch ein Freund von ihnen lag, war die Aufregung, die Sorge nochmal größer.
Ben kam als erstes zu dem verschrotteten BMW an und konnte durch das halb zerstörte Fenster sehen, wie Kevin leblos im Auto lag. Die Gurte hielten ihn nur geringfügig, aus der Nase und mehreren Schnittwunden im Gesicht blutete der junge Kommissar. Der Motor hatte Feuer gefangen, Benzinleitungen aufgerissen und hatte sich an heißen Antriebsteilen entzündet. "Scheisse, scheisse...", fluchte Ben als er versuchte die gestauchte Tür zu öffnen, die allerdings nur Millimeter nachgab. Semir kam dazu und hatte sich beim Laufen durch den Acker die Jacke ausgezogen. Damit schützte er seine Hand, in dem er sie sich um den Arm und Hand wickelte und entfernte hektisch die Reste der Seitenscheibe. "Crash-Rettung, schnell!", rief er, als die Fensterscheibe komplett entfernt war.
Crash-Rettung wandte man an, wenn man einen Verletzten aus einem Gefahrenbereich bringen musste... erstmal ohne Rücksicht auf eine schonende Bergung. Dies war gefährlich für den Verunfallten, da man dabei keinerlei Rücksicht auf etwagige Wirbelsäulenverletzungen nehmen konnte. Aber wichtig war erst einmal, den Bewusstlosen vor der Gefahr zu retten. Beide Männer packten Kevin am Kragen und Schulter der Jacke, und zogen ihn so schnell es ging aus dem Wagen. Vorher hatte Ben in das Auto gegriffen und den Gurt gelöst. Trotz aller Hektik und allem Adrenalin machte sich kurz ein Funken Erleichterung breit, als sie ein leises Stöhnen von Kevin hören konnten, als sie ihn gerade komplett aus dem Auto gezogen hatten.
Semir und Ben wechselten die Position, ließen ihren Kollegen an der Jacke los und legten ihm jeweils die Arme um ihre Schultern. Dabei richtete der erfahrene Polizist einen Blick auf den Wagen, wo die Flammen plötzlich höher und kraftvoller züngelten. "Schneller, Ben! SCHNELLER!" So schnell sie konnten, drehten sie sich mit Kevin in der Mitte vom Auto weg und zogen ihren Freund, mehr als er selbst versuchte zu laufen, als er gerade wieder so etwas wie Bewusstsein erlangte. Das laute Krachen, als das Fahrzeug explodierte, donnerte durch ihren Gehörgang und die leichte Druckwelle ließ sie vorneüber in den Dreck stürzen. Die Drei spürten eine Hitzewelle am Rücken und kleine Blechteile regneten auf die herab.
Kevin fühlte sich wie in einer Waschmaschine nach dem Vollwaschgang. Als der Hall der Explosion verklungen war, drehte er sich mit schmutzigem Gesicht langsam nach seinem einstigen Dienstwagen um. "Kevin? Bist du ok?", fragte Semir sofort, als er sah dass sein junger Freund wieder bei Bewusstsein war und langsam nickte, dabei erst einmal durchatmete. Auch Ben hatte sich aufgerichtet, und alle drei blickten auf den brennenden BMW. "Na klasse... für deinen ersten Dienstwagen hast du ja nicht lange gebraucht.", meinte Ben etwas flapsig, aber typisch Ben. Wenn klar war, dass niemandem etwas Schlimmes passiert war, vergaß er schnell den Ernst der Lage. Stöhnend rappelten sich alle drei aus dem Dreck des Ackers auf, Kevin hielt sich als Reflex kurz den Nacken. "Hast du den Fahrer erkannt, im Rückspiegel?", fragte Ben, aber Kevin verneinte. "Ging alles zu schnell... er hatte ja direkt Abstand gelassen, und ich konnte auch nicht so lange in den Rückspiegel schauen."
Sie mussten nur einige Minuten warten, dann kam die Rettungskavallerie. Angeführt von einem Streifenwagen und der Feuerwehr, die im benachbarten Ort alarmiert wurde, folgte ein Notarzt-Kombi und ein Rettungswagen. Kevin sah von dem kleinen SItztritt am Heck des Rettungswagen zu, wie die uniformierten Freiwilligen mit Atemschutz die Flammen seines BMWs erstickten. "Sie sollten sich im Krankenhaus untersuchen lassen, junger Mann.", sagte der grauhaarige Rettungssanitäter, der Kevins Nacken befühlte, doch der winkte nur ab. "Das geht schon." "Ne, nix da. Du fährst jetzt ins Krankenhaus und lässt dir das wenigstens röntgen.", sagte Semir mit strenger Stimme. "Aber...", wollte der junge Draufgänger protestieren, aber der erfahrene Polizist ließ sich auf keine Diskussion ein. "Nein! Keine Widerrede. Im Rollstuhl können wir dich nicht gebrauchen." Semir war mittlerweile nach unzähligen Unfällen in einem Alter, in dem er wenigstens danach den Routinecheck über sich ergehen ließ, und ließ auch bei Ben keine Ausnahme mehr zu. Kevin gab nach, bestand dann aber mit der Halskrause wenigstens im Krankenwagen sitzen zu können.
Als Ben und Semir sich zurück in ihren Dienstwagen begaben, hatte Ben sein Smartphone in der Hand und tippte. "Du bist auch süchtig nach dem Ding, oder?", mäkelte sein älterer Kollege, der zwar auch ein modernes (Dienst-)Smartphone besaß, mit der neuartigen Technik aber eher weniger anfangen konnte. "Ich hab Sabrina vergessen zum Geburtstag zu gratulieren. Darf ich das gerade eben noch nachholen?", gab Ben zur Antwort und nahm seine Augen nicht vom kleinen Display. "Wer ist denn schon wieder Sabrina?" "Ach, ne Bekannte von mir." Semir grinste und wollte Ben ein wenig necken. "Naja... Sabrina, Carina... schau dass du im entscheidenden Moment nicht durcheinander kommst." Ben sah mit einer gespielten Schnute zu seinem Partner. Zum ersten Mal, seit die beiden zusammenarbeiteten war Ben in einer längeren Beziehung mit Carina. In einer Beziehung, die sich ernst anfühlte, mehr als nur ein Abenteuer. Darüber war Ben, der sich selbst lange als "beziehungsunfähig" bezeichnete, sehr stolz. Die Neckereien seines besten Freundes nahm er dafür gerne in Kauf...
Charmin - 15:00 Uhr
Anis wartete ungeduldig in seinem Büro und schaute immer wieder auf seine teure Uhr. Wo blieb der Kerl bloß... konnte ja nicht so schwer sein, in ein unbewohntes Haus einzudringen und ein paar Datenträger mitgehen zu lassen. Keiner seiner Leute war wirklich darauf ausgerichtet, irgendwo einzusteigen. Also hatte Anis sich an seinen Bekannten Zack gewendet, ob einer seiner Leute ein paar Scheine verdienen wollte. Sein Laptop stand auf seinem Schreibtisch bereits bereit, als endlich die Tür aufging. "Na endlich, Mann. Was hat da so lange gedauert?", sagte er mit vorwurfsvoller Stimme zu dem jungen Mann, der sich erst jetzt die Kapuze vom Kopf streifte und seinen gebundenen Pferdeschwanz sichtbar werden ließ. "Eigentlich müsste ich Gefahrenzulage verlangen, Amigo. Die Bullen sind dort aufgekreuzt.", sagte er und warf Anis zwei USB-Sticks auf den Tisch. "Das ist alles was ich gefunden habe."
Der Chef des Charmins sah den Kolumbianer an. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Wie, die Bullen sind dort aufgekreuzt?" "Keine Ahnung wo die herkamen. Aber ich hab sie abgehängt." Dass der Mann, der von normalerweise für Zack arbeitete die beiden Polizisten erkannte, als er sie sah, verschwieg er. Den Dritten in dem Wagen, den er von der Landstraße gerammt hatte, hatte er sowieso nicht erkannt. Anis wählte eine Nummer auf seinem Handy: "Armando? Das Auto, mit dem der Mexikaner unterwegs war...", begann er und wurde von Juan unterbrochen. "Kolumbianer!" "... was auch immer. Den Wagen müsst ihr entsorgen. - Ja. - Alter, ist mir egal ob das dein Auto war, die Karre muss weg wenn du nicht morgen Besuch von den Bullen bekommen willst." Dann legte er genervt auf. Immerhin hatten sie vorher die Nummernschilder ausgetauscht... aber sicher ist sicher.
Anis stöpselte beide USB-Sticks an den Laptop an. Wenige Minuten klickte er, für Juan nicht sehbar, an seiner Arbeitsstation, tippte mal, stöhnte und klickte wieder, bis er laut aufrief: "Fuck, Alter." Kamil, einer seiner engsten Freunde stand schräg hinter ihm. "Was ist, Mann?" "Benny ist nicht dumm. Der hat die Daten verschlüsselt. Traut uns scheinbar nicht über den Weg, der kleine Wich.ser.", knurrte Anis und kratzte sich an seinem schwarzen Bart. "Wenn ich wüsste, was die Daten wert sind, würde ich sie auch verschlüsseln. Und du auch.", sagte Kamil und Anis konnte ihm nicht widersprechen. "Also brauchen wir ihn doch hier. Es nutzt alles nichts. Wir müssen Kevin irgendwie überreden." Bei dem Namen Kevin horchte Juan kurz auf... einfach aus Neugier. "Welchen Kevin?"
Der Tunesier stand von seinem Schreibtisch auf und nahm einige Bündel Geld aus einer Box. "Hat dich nicht zu interessieren. Hier.", sagte er und drückte Juan einige Geldscheine in die Hand. Der warf einen kurzen prüfenden Blick darauf: "Hey Amigo. Das sind nur zwei Drittel von dem, was wir ausgemacht haben." "Der Rest ist Anteil an Armandos Wagen, den wir deinetwegen entsorgen müssen. Und nun verpiss dich." Anis wusste nicht, dass er mit Juan einen Mann vor sich hatte, der selbst in dessen Position war, als Anführer eines Drogenkartells, in einer weitaus brutaleren und kompromissloseren Gegend als hier. Er packte Anis, als dieser sich von ihm wegdrehte am Kragen. "Escucha!", knurrte er, was so viel hieß wie "Hör zu!", doch sofort griff Kamil zu seiner Waffe, was Juan im Augenwinkel sah. "Was denn, hmm?", meinte Anis mit einer Drohgebärde. Juan ließ normalerweise nicht so mit sich umgehen, doch er war auch kein Selbstmörder, nur wegen seinem verletzten Stolz. Er ließ Anis Kragen los und meinte nur mit drohender Stimme: "Cuídate mucho, hijo de puta.", was hieß "Pass gut auf dich auf."... und eine Beleidigung, die den stolzen Anis sicher zu einem Wutausbruch gebracht hätte, wenn er sie verstanden hätte. Damit verließ Juan den Raum...
"Was für ein Opfer, Alter.", lachte Kamil und steckte die Waffe wieder weg, während Anis sich wieder auf seinen Stuhl setzte. "Was machen wir jetzt? Wie bekommen wir den Bullen dazu, uns zu helfen?" Anis sah auf den Monitor seines Laptops, der in großen Buchstaben "Access denied" anzeigte... er kam nicht in die Daten von Benny hinein. Er brauchte ihn hier... und das schon in wenigen Tagen. Dann würde der Deal stattfinden. "Was ist, wenn wir mal seiner kleinen Freundin auf die Pelle rücken? Oder seiner Transenmama?", schlug Kamil vor, doch Anis schüttelte den Kopf. "Das provoziert bei Kevin die falsche Reaktion. Dann reißt er uns eher den Laden ab, als dass er mit mir zusammenarbeitet. Drohungen bringen bei dem Typ nichts", meinte er und schüttelte den Kopf.
"Nein... Für Kevin muss sich die Sache lohnen. Und da er nicht mehr abhängig zu sein scheint, werden wir ihn auch nicht mit seinen Muntermachern ködern können.", dachte er laut nach. "Es muss etwas sein, auf das er sofort anspringt. Bei dem er sich es nicht leisten kann, die Gelegenheit verstreichen zu lassen.", meinte er nachdenklich.