Dienstelle - 11:30 Uhr
Sie saßen allesamt zusammen im Großraumbüro und hielten ausnahmsweise dort ihre Besprechung ab, statt im Büro der Chefin. Eben jene war nicht sonderlich begeistert, als sie von dem, spontan geplanten Zugriff erfuhr. "Die Gelegenheit war günstig. Kevin hat das geschickt eingefädelt.", begründete Semir die Entscheidung und hob damit hervor, dass alles von dem jungen Kollegen von Anfang an geplant war... was ja absolut nicht der Fall war. Und dass Semir und Ben eben jenen Umstand wussten, war ein großer Vertrauensbeweis ihnen gegenüber. Sie missbrauchten ihn nicht und verschwiegen dieses kleine Detail ihrer Chefin. "Und sie hatten fest damit gerechnet, dass Anis an dem Treffpunkt auch erscheint?", fragte sie nochmal in die Richtung des jungen Polizisten, der nickte. "Normalerweise hält Anis sein Wort. Aber scheinbar hat er etwas gemerkt... oder vermutet."
Sah man es rein vom Ermittlungsergebnis, hätte die Laune eigentlich schlechter sein müssen. Benny konnten sie zwar nun schon für Waffenhehlerei und zusätzlich Herstellung von Drogen anzeigen und hinter Gittern bringen, Anis blieb aber nach wie vor unbehelligt. "Kamil und Benny würden sich eher die Zunge abschneiden, als gegen Anis auszusagen.", meinte Kevin mit seiner monontonen Stimmlage. "Die haben Angst vor ihm. Benny zumindest. Kamil ist ein enger Freund. Die werden für ihn in den Knast gehen. Kamil kriegen wir nur wegen dem Befreiungsversuch dran."
Die Chefin saß mit verschränkten Armen halb auf einem Tisch und nickte. "Es ist nicht das erste Mal, dass er ungeschoren davon kommt, obwohl er involviert ist. Das zeichnet ihn aus.", sagte sie, nachdem sie die Akte von Anis genau studiert hat. Ben wog den Kopf hin und her. "Und wenn wir Benny nochmal richtig in die Mangel nehmen? Wir brauchen nur ein paar Hinweise zu bereits getätigten Geschäften." Aber auch Semir schüttelte den Kopf. "Ich glaube auch nicht, dass Benny sein Schweigen bricht. Der weiß, was ihm blüht, wenn er singt. Und da der Deal nicht stattgefunden hat, können wir dafür niemanden belangen. Dass Benny in Anis Auftrag die Drogen herstellen wollte, oder hergestellt hat, wird er vor Gericht sowieso abstreiten." Die Chancen, Anis in irgendeiner Form dran zu kriegen, standen nicht gut.
"Sehen wir es doch mal so...", gab auch Jenny ihr Statement ab, über die die Chefin voll des Lobes war, dass sie sich so gut mit Kevin arrangiert hatte. "... wenn Anis den Deal wirklich durchgezogen hätte können, hätte er sich zur Ruhe gesetzt. Er hätte uns oder den Kollegen von OK nie mehr die Chance gegeben, ihn zu fassen. Da wir den Deal verhindert haben, wird er weitermachen müssen. Das ist ja auch ein Erfolg... irgendwann wird er einen Fehler machen." Kevin wollte Jenny auf den Fehler bezogen nicht widersprechen, aber er wusste, was Anis für ein Profi war. Und dass der Fehler, Kevin zu vertrauen, einer von wenigen war. Aber in dem Fall konnte Kevin selbst kaum von sich glauben, dass er so handelte, wie er gehandelt hatte. Eigentlich war Anis Vertrauen ein todsicheres Ding... eigentlich.
Die Chefin verließ die kleine Truppe, die sich nun aufmachte um gemeinsam, zur Feier des Tages, an ihre Lieblings-Currywurst-Bude zu fahren um dort zu Mittag zu essen. "Komm, lass uns zusammen fahren.", sagte Semir zu Kevin und lächelte. Ben nickte und stieg bei Jenny ein, die er gestern ja auch nach Hause gefahren hatte. Sie lachten über ihr gestriges Gespräch, jetzt wo Kevin sie so positiv überrascht hat. Semir ließ sich in seinen BMW gleiten, während sein junger Partner auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Er konnte sich schon denken, dass der erfahrene Polizist mit ihm alleine fahren wollte, weil er noch ein paar Worte mit ihm wechseln würde. Und es war ein schönes Gefühl, nicht verkrampft da zu sitzen, keinen arroganten Schutzwall aufbauen zu müssen weil Semir ihm wegen irgendeinem Alleingang wieder ins Gewissen reden wollte.
"Denkst du, Anis hat geblufft damit, dass er den Namen des dritten Beteiligten weiß?", fragte Semir nach einer kurzen Weile des Schweigens unvermittelt. Kevin war über die Frage etwas überrascht und musste nachdenken. Er schätzte Anis eigentlich als ehrlich ein, vor allem weil er ja zwingend etwas von Kevin wollte. Dass er aber sein Versprechen gebrochen hatte und nicht zum Treffpunkt erschienen war, hatte ihn überrascht und ließ ihn jetzt erst nach einer kurzen Denkpause antworten. "Ich glaube nicht. Ich denke schon, dass er den Namen rausbekommen hat. Anis hat in der Szene immer noch einen Ruf, und wenn er Antworten will, kriegt er sie auch."
Semir ließ die Worte kurz auf sich wirken und formulierte die nächste, sensiblere Frage genau im Kopf vor, bevor er sie stellte. "Und wie gehts dir jetzt damit, dass du dieses Angebot abgelehnt hast?" Was wollte er wohl hören? Dass Kevin sich darüber ärgerte? Warum er die Freundschaft und das Vertrauen über seine Rache stellte? Der junge Polizist sah aus dem Fenster, und dann in den Rückspiegel. Dort konnte er im Auto hinter ihnen Jennys lachendes Gesicht sehen. Ein fröhliches, befreites, unbeschwertes Lachen, in das er sich vor über einem Jahr Hals über Kopf verliebt hatte. "Es geht mir gut damit, denke ich. Es war richtig.", war seine kurze Antwort, als wäre Jennys Eindruck in diesem Moment erst die benötigte Bestätigung. Semir hatte seinen Blick bemerkt. Er nahm es Kevin nicht übel, dass vielleicht nicht er oder Ben den Ausschlag in Kevins Denken gebracht hatte. Sie konnten nicht jede verlorene Seele reden, dachte er. Und wenn es diesmal eben Jenny war, die bei Kevin für den Klick im Kopf gesorgt hatte... egal. Es wäre für den ältesten Kommissar der Vier schwer zu ertragen gewesen, wenn Kevin sie durch diesen Alleingang verraten hätte.
"Es hört sich blöd an... als würde ich mit meiner Tochter sprechen.", lachte Semir dann auf und sah lächelnd zu Kevin rüber, wobei er mit dem Kopf und geschlossenen Augen kurz zur Seite nickte, bevor er sagte: "Aber ich bin stolz auf dich. Dass du dich so entschieden hast, wie du dich entschieden hast." Kevin spürte Semirs Ehrlichkeit in den Aussagen. Er sagte es nicht nur, weil er ihn loben wollte, sondern weil er wirklich froh und glücklich war, dass der schwererziehbare Fall der Autobahnpolizei einen Schritt nach vorne gemacht hat. Und er lächelte... ebenfalls befreit und ehrlich.
Als Semir auf dem Parkplatz ausstieg, waren Jenny und Ben schon auf dem Weg zur Bude, da Ben sie spaßeshalber auf der Autobahn noch überholt hatte. Der erfahrene Polizist hörte Kevins Handyton und meinte, so etwas wie Falten in der Stirn bei seinem Partner zu sehen. "Geh ruhig schon mal vor.", meinte Kevin kurz bevor er abhob und Semir nickte. Da war sie für einen kurzen Moment wieder... die Kälte, die Mauer, das Abweisen. Er wollte das Telefonat alleine führen, das spürte Semir... und fast konnte er sich vorstellen, wer gerade an der anderen Leitung war.
"Was willst du?", begrüßte Kevin den Anrufer, und die freundliche Stimme am anderen Ende war brandgefährlich. "Kevin, Kevin... ts ts. Alter, gibt es nicht mal unter euch Polizisten so etwas wie Ehrlichkeit? Wo kommen wir denn da hin." Der junge Polizist legte den nackten Arm auf das heiße Autodach, um sich daran abzustützen. "Ich hab dir gesagt, dass unsere Geschäftsbeziehung beendet ist. Du wolltest es mir nicht glauben, also musste ich es dir beweisen. Sei froh, dass du noch keine gesiebte Luft atmen musst." Er hörte Anis Lachen, er hörte aber auch das wütende Zittern und Zischen in der Stimme des Deutsch-Tunesiers. "Du hast mir den Deal meines Lebens versaut." "Das hast du selbst zu verantworten. Was willst du von mir, ich hab keine Zeit."
Kevins gespielte Arroganz wirkte bei Anis. Er war gestreßt und wütend, nachdem er aus sicherer Entfernung mitbekam, was auf dem Rastplatz passiert war. Wütend darüber, dass er diesem Bastard vertraut hatte, dass sein Deal geplatzt war, und dass sein bester Freund hinter Gittern saß. Statt ausgesorgt zu haben, musste er sein Geschäft, das noch dazu aufgrund von Kevins Aktion mit Bienert im Charmin, empfindlich gelitten hatte. Er war der Verlierer. Und das hasste er. "Du hast vielleicht die Schlacht gewonnen, aber nicht den Krieg. Ich hätte dir geholfen, Alter. Ich hätte dir den Namen des dritten Mannes gesagt, und du wärst verdammt überrascht gewesen." Kevins Gesichtszüge erhärteten sich. "Aber jetzt nehme ich den Namen lieber mit ins Grab. Und ich verspreche dir, du wirst ihn niemals herausfinden, das schwöre ich dir."
Äusserlich war Kevin ruhig, doch natürlich nagte es an ihm, die Chance verpasst zu haben. Dass er damit gut klar käme, war gegenüber Semir maximal eine Flunkerei. In Wahrheit würde es ihn wohl in den nächsten Nächten einige Joints kosten, um darüber weg zu kommen. "Schön für dich." Doch Anis war noch nicht fertig: "Pass gut auf deine Freunde auf... nicht dass ihnen etwas zustößt... morgen, nächste Woche, nächstes Jahr... oder so. Du hast dich mit dem Falschen angelegt." Der junge Polizist umklammerte das Handy fester und blickte auf die Wurstbude, an der drei lachende Menschen standen und Essen bestellten. "Hast du mir nicht gestern etwas von Ehre und Unantastbarkeit der Familie erzählt? Du weißt, wo das endet.", sendete Kevin die Warnung zurück. "Das gilt für Familie, mein Freund. Deiner Schwester hätte ich kein Haar gekrümmt. Aber ich meine nicht deine Familie, sondern deine Freunde, deine Kollegen." Der Polizist hätte es in diesem Moment lieber zu Ben, Semir oder Jenny gesagt, doch es war der letzte Satz, den er mit drohendem Unterton an Anis sendete, bevor er das Gespräch beendete: "Du irrst dich. Meine Freunde sind meine Familie." Und das wusste er heute endgültig.