Dienststelle - 07:30 Uhr
Natürlich war Semir wieder der Erste von den vier Polizisten, die in zwei Büros verteilt waren. Wie immer kochte er den Kaffee bei ihnen im Büro, goss er sich die erste Tasse ein und genoß für eine halbe Stunde die Ruhe im Büro, bevor Ben kam und sich auch das Großraumbüro mit den Tagesdienstlern füllte. Es wurde gestern abend noch ein arbeitsreicher Abend, sie mussten die Bergungsarbeiten koordinieren und das Chaos auf der Deutzer Brücke beseitigen. Semir beschäftigten in der Nacht viele Gedanken. Zum einen über den Fall, zum anderen über Kevins kurzes, beinahe desinteressiertes Abwinken, als er nach den beiden Entführern fragte. "Lass uns morgen darüber reden.", sagte er und ihm schien das Kümmern um Jenny in diesem Moment weitaus wichtiger zu sein, was Semir auch nachvollziehen konnte. Trotzdem klang das nicht nach Kevin, denn der erfahrene Polizist hatte erwartet, dass sein Partner sofort Feuer und Flamme dafür war, diese Typen zu fassen. "Aber die Fahndung..." "Die laufen uns schon nicht weg." Es hörte sich für Semir so an, als wisse der schweigsame Polizist schon wieder mehr als er.
Die anderen Gedanken, die den Deutsch-Türken heute morgen nicht mehr schlafen ließen und deshalb schon früher als sonst im Büro erscheinen ließen, drehten sich um den Fall. Und zwar hatte er das untrügliche Gefühl, dass vielleicht doch Kevins Fall ein Schlüssel oder zumindest ein großer Hinweis auf ein Motiv für die vier Morde sein konnte. Der junge Kommissar hatte zwar seine Fälle nicht in die Tabelle miteinfließen lassen, aber die Akten waren natürlich unter dem Berg derer, auf die sie von Hartmut Zugriff bekommen hatten.
Und so fand Ben seinen Partner konzentriert klickend und lesend an seinem Monitor vor, als dieser ins Büro kam und seine leichte Sommerjacke über den Stuhl hing, nachdem er "Guten Morgen" gewünscht hatte. Es war zwar schon recht angenehm draussen, um diese Uhrzeit ohne Jacke auf dem Motorrad aber doch recht kühl. Auf seinem Platz fand der Mann mit der Wuschelfrisur eine Bäckerstüte mit einem Schokocroissant, weil Semir mit Frühstück dran war. "Aaaah, so mag der Ben das.", murmelte er und griff sofort zu. Sein Partner schien das gar nicht zu hören, jedenfalls sah er nicht vom Monitor auf.
"Konntest du gut schlafen heute Nacht?", fragte Ben irgendwann, weil er das Gefühl hatte, dass Semir vielleicht der Mord gestern, vor allem an dem jungen Mädchen, mehr mitnahm und er deswegen so schweigsam war. Natürlich hatte es auch Ben beschäftigt, aber er spürte selbst, wie sehr er mit der Zeit abstumpfte. Todesopfer, auch Kinder, auf der Autobahn sah er ja beinahe wöchentlich. "Ging so.", war Semirs kurz angebundene Antwort, die Ben die Augenbrauen hochziehen ließ. Entweder ging es seinem Partner gerade nicht so gut, oder er musste etwas furchtbar Interessantes lesen. Also stand er auf und tigerte mit der Kaffeetasse in der Hand um den Schreibtisch und stellte sich hinter seinen besten Freund. "Bevor du fragst: Das sind Akten von Kevins Fällen, die er nicht in der Tabelle erwähnt hat."
Ben begann mit zu lesen, kam aber nicht richtig rein, weil er den Anfang verpasst hat. "Hoffentlich nimmt er dir das nicht krumm.", murmelte er irgendwann. "Ich bitte dich. Es sind Akten auf die wir Zugriff haben. Ich muss Kevin doch jetzt nicht um Erlaubnis bitten, mir diese Akten anzusehen.", sagte der erfahrene Polizist und Ben hebte sofort beschwichtigend die Hände. "Hey hey... das sehe ich ja auch so. Du kennst aber auch, wie er bei sowas reagiert.", bei dem Satz ging Ben wieder zurück zu seinem Platz und beschloß, die Akten sich auch mal anzuschauen. Zumindest wusste er jetzt, dass sein bester Freund tatsächlich in etwas vertieft war, und nicht irgendwie schlecht drauf.
Semirs Konzentration richtete sich wieder auf die Akten. Es war der ein Mordfall an einer Polizistin einer anderen Abteilung, die bei einem Tankstellenüberfall erschossen wurde. Er las Befragungsprotokolle, Anmerkungen, Untersuchungsberichte. Immer wieder gab es Kommentare vom Vorgesetzten Frege, die sich in Semirs Augen sehr nachteilig gegenüber seinem Partner Kevin lasen. War das nun sein subjektives Empfinden, weil er wusste welches Standing der junge Polizist damals hatte? Interessant wurde es, als er ans Ende der Akte gelang. Man hatte einen klaren Verdächtigen, doch man bekam keinen Haftbefehl aus Mangel an Beweisen. Irgendwann wanderte der Fall zu den Akten, die Ermittlungen geschlossen. Im Hirn des erfahrenen Polizisten arbeitete es, als er nochmals die Namen der Ermittler las... er merkte es sofort.
Sein Partner auch. Ben hatte eine Begabung, Texte nur zu überfliegen und trotzdem Wichtiges sofort zu erfassen, bevor er sich mit einigen Abschnitten näher beschäftigte. "Da waren ja alle drei unserer Opfer an den Ermittlungen beteiligt.", sagte er verwundert. "Ja, das fällt mir auch gerade auf. Und Kevin als Verfahrensführer.", bestätigte Semir und blickte vom Monitor auf. "Die Fälle, die nachgestellt wurden... die waren doch auch allesamt ungelöst, oder?" Ben dachte einen Moment nach und schüttelte den Kopf. "Nein... Plotz Vergiftungsfall wurde doch gelöst." Er klickte sich durch mehrere Dokumente und sah sich verschiedene Datumsangaben an. Dann kramte der junge Polizist auf seinem Schreibtisch und sah sich das Datum auf der Rückseite des Gruppenbildes der Mordkommission an. "Der Tankstellenmord fiel genau in die Zeit des Bildes. Und die nachgestellten Fälle drum herum.", schlussfolgerte er und setzte ein weiteres Puzzleteil ein.
Semir lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier um einen Zufall handelt, dass es ausgerechnet drei von vier Ermittler dieses Falles bisher getroffen hat?" Sein Partner kratzte sich kurz an der Stirn. "Dafür musste man mal überprüfen, wie oft zumindest genau diese drei Ermittler bisher zusammen an einem Fall gearbeitet haben. Das wäre doch eine schöne Fleißarbeit." Dabei grinste er. "Vielleicht hat es da jemand nicht verkraftet, dass der Mörder nicht verurteilt wurde...", setzte er noch hinzu, als er durch die Glasscheibe sah, wie Kevin und Jenny das Großraumbüro betraten. "Zumindest müssen wir ihn jetzt auf den Fall ansprechen." Semir blickte nachdenklich drein: "Eigentlich hätte ihm das doch auffallen müssen, oder?"
Einige Minuten später hatten auch Kevin und Jenny einen guten Morgen gewünscht. Natürlich wurde sich von Semir und Ben nach dem Wohlbefinden ihrer Kollegin erkundigt, und eigentlich hatten sie damit gerechnet, dass Jenny sich einen Tag zur Erholung frei nimmt. Doch sie wollte unbedingt bei dem Mordfall auf dem Laufenden bleiben, vor allem da Ben heute Abend in den Urlaub fliegen würde, und sie vermutlich dann direkt an Semirs Seite weiterermitteln würde. "Wir müssen nachher noch zur Chefin, wegen eurer gestrigen Schwimmstunde.", sagte Semir. "Und wegen der Fahndung." Kevin wartete einen Moment, bis Jenny das Büro verlassen hatte, um ihre Tasche ins eigene Büro zu legen. "Ich glaube, das können wir uns sparen.", sagte der Polizist mit der oft monoton klingenden Stimme. "Was soll das heißen?" "Ich weiß, wer es war. Ich habe den Wagen erkannt... es war der Gleiche, wie vor der Lagerhalle gestanden hat, in die mich Torben und Bastian damals gelockt haben. Sie wollten Jenny Angst machen, und ich habe sie dabei überrascht. Deswegen ist die Sache aus dem Ruder gelaufen." Wortlos und mit offenen Mündern starrten Ben und Semir ihren Kollegen an. "Und warum sagst du uns das heute erst? Dann hätten wir die beiden doch gestern schon festnehmen können! Das war Freiheitsberaubung, Bedrohung, vielleicht sogar versuchter Mord. Dafür gehen die in den Knast.", sagte Ben lauter und ungehaltener, als er eigentlich wollte. Aber auch Semirs Blutdruck erhöhte sich, und Kevin erschien ihm seltsam sorglos und beinahe... ja, beinahe locker.
"Ich glaube nicht, dass die beiden abhauen. Die werden die gleiche Show abziehen, wie damals.", sagte er in ruhigem Ton, ohne auf Bens Erregung anzuspringen. "Du glaubst?" "Ich weiß, wenn es dich beruhigt." Semir betrachtete das Worte-Pingpong ein wenig besorgt. Er konnte Bens Ärger verstehen... und Kevin sollte für seine Gelassenheit eine verdammt gute Erklärung haben. "Torben und Bastian werden sich gegenseitig ein Alibi geben. Mir wird man genauso wenig glauben wie damals, vor allem nachdem die beiden vorgestern hier waren und mich provozierten und ich Bastian auf die Fresse gehauen habe. Und Jenny kannte die beiden vorher nicht, konnte sie also nicht erkennen oder identifizieren." "Du hast vorgestern was?", fragte Semir ungläubig... vermutlich war es passiert, als Jenny mit Bonrath beim TÜV war und sie selbst in der KTU. Doch Kevin ging auf die Frage nicht direkt ein. "Höchstens, wenn sie einen Fehler bei den Nummernschildern des Autos gemacht haben. Aber davon gehe ich nicht aus. Glaubt mir, ich würde den beiden auch gern an den Karren fahren. Aber das ist sinnlos." Der erfahrene Polizist, gesegnet mit einer sehr guten Menschenkenntnis, schien so etwas wie Resignation aus Kevins Stimme zu hören. Scheinbar hatte er sich damals sehr aufgerieben, um gegen die beiden nach der Scheinexekution vorzugehen, und es musste ihn sehr verletzt haben, dass ihm nur wegen seiner Vergangenheit niemand glaubte. "Es ist ja zum Glück nicht viel passiert.", setzte er noch leise hinzu. Ben packte Kevin am Arm, als dieser sich schon zu Tür drehen wollte. "Nicht viel passiert? Jenny wäre beinahe draufgegangen, hättest du sie nicht gerettet! Es waren Unbeteiligte bei der Verfolgungsjagd gefährdet! Wie willst du ihr das eigentlich erklären, hä?", giftete er und sah Kevin in die Augen, bevor er von Semir mit einem beruhigenden "Hey hey..." ein wenig zurückgehalten wurde. "Jenny ist der gleichen Meinung. Wir haben schon darüber gesprochen", war Kevins kurze wahrheitsgemäße Antwort, bevor die junge Frau ins Büro zurückkehrte.