Beiträge von Campino

    Vor der Dienststelle - 15:50 Uhr


    Semir war gerade an das Dienstgebäude herangefahren und hatte den BMW abgestellt, als er Kevin an den Blumenkübeln vor dem Eingang erblickte. Es war quasi sein Stammplatz, daneben stand ein Aschenbecher, denn im Gebäude war Rauchverbot. Er hatte das Handy am Ohr, auf der anderen Seite hatte er sich eine Zigarette hinters Ohr geklemmt. Als Semir näher kam, konnte er einige Worte mithören, und er blieb in der Nähe stehen. Er merkte sofort dass Kevin mit Ben redete, dass das Gespräch positiv war und er hörte vor allem, dass der junge Polizist seinem Partner einen schönen Urlaub wünschte. Und dass er ihm beschwor, dass die beiden Kommissare der Mordkommission Unrecht hätten, dass zwar in dem Fall etwas vorgefallen sei, Kevin jetzt aber noch nicht darüber reden konnte oder wollte.
    Eines merkte Semir aber ganz deutlich: Es war ein versöhnliches Gespräch. Kevin wollte vermeiden, dass Worte wieder unausgesprochen blieben, bevor jemand für längere Zeit in Urlaub fuhr, so wie es passierte als Kevin nach Kolumbien flog um Annie zu suchen. Und das beeindruckte den erfahrenen Polizisten, denn er wusste wie schwer es seinem jungen Partner fiel, über seinen Schatten zu springen. Und wenn er das Gespräch richtig deutete, hatte Kevin von sich aus angerufen. Er kam langsam näher ohne den Eindruck zu machen, heimlich mit zu hören und Kevin bemerkte ihn auch, ohne das Gespräch schnell zu beenden.


    Er setzte sich neben Kevin auf den Rand des Blumenkübels, nachdem dieser dann kurz danach das Gespräch beendet hatte und klopfte seinem jungen Freund auf die Schulter. "Das war gut...", sagte er nur anerkennend. Kevin nickte: "Ja, im Streit auseinandergehen war noch nie gut.", meinte er nachdenklich und sah mit seinen blauen Augen gegen die Sonne, bevor er seine Zigarette vom Ohr nahm und zwischen die Lippen steckte. Dann ließ er das Feuerzeug aufschnappen und die Flamme schwärzte die Spitze des weißen Filterpapiers. Semir, über 20 Jahre älter, hätte Kevins Vater sein können, und so oft schon hatte er versucht zu dem jungen Mann durchzudringen. Als er versuchte eine Entführerin zu decken in einer Kneipe, als er über seine Vergangenheit schwieg oder in dem Fall mit Kevins ehemaligen Drogendealer Anis. Manchmal schaffte er es, manchmal blockte der junge Polizist. Es war schwierig, es war kompliziert.
    Jetzt saß er wieder neben ihm, und wieder beobachtete er die Augen des jungen Polizisten, die in die Ferne sahen als sehe er dort seine Zukunft... oder er blickte schon wieder in die Vergangenheit auf eins seiner zahlreichen Traumata. Der Mord an seiner Schwester. Der Tod des Mädchen in dem brennenden Haus und die Jagd nach den Mördern seiner Schwester. Zuletzt suchte er den Verräter, der den Mördern einen entscheidenden Tipp gegeben hat und er setzte dabei sogar seinen Job aufs Spiel. Seine Drogensucht hatte er besiegt, doch er war latent rückfallgefährdet.


    "Kevin...", sagte Semir nach einigen Momenten des gegenseitigen Anschweigens. "... wenn man zu lange etwas nicht erzählen kann oder will... irgenwann hat man niemanden mehr, dem man es erzählen kann, wenn man es will." Es sollte nicht als Drohung oder Warnung klingen, es war mehr ein Hinweis dass jede Geduld eines jeden Freundes endlich sei. Und die beiden Polizisten sowie und vor allem auch Jenny hatten nun schon wirklich viel Geduld mit ihrem Problemkollegen bewiesen. Aber sie konnten ihn auch nicht allein lassen, zu sehr war er mit seiner Art in ihr Herz gewachsen, mit seinem manchmal schon leichtsinnigen Mut seinen Kollegen zu helfen und für sie einzustehen. Das war es, was Semir wirklich schätzte. Er konnte Kevin hörbar ausatmen hören, als er den Zigarettenrauch ausblies.
    "Ich weiß.", sagte er nur, und machte keinerlei Anstalten, mehr zu erzählen. Er konnte einfach noch nicht, seine Gedanken darum waren zu frisch. "Lass uns erst den Fall abschließen. Vielleicht fällt es mir dann leichter. Aber auch dir verspreche ich, es ist nicht wie Torben und Bastian sagen. Ich habe keinen Mörder wissentlich gedeckt oder laufen gelassen." Semir nickte zögerlich, die Stimme von Kevin hörte sich wesentlich sicherer und ehrlicher an, als seine Erklärung von heute vormittag, dass die Ermittlungen einfach nicht gut gelaufen waren.


    Das zeichnete Semir aus. Er hätte den jungen Polizisten jetzt auch einfach in Ruhe lassen können. Soll er doch machen was er wollte, wenn er nichts erzählte. Aber der erfahrene Polizist ließ den jungen Kollegen nicht fallen. Es müsse viel zusammenkommen, bis das passiere... vermutlich der Extremfall, dass es doch so war, dass er wissentlich einen Mörder gedeckt hat. Aber das glaubte Semir selbst nicht. Jetzt blickten beide Männer gerade aus, jeder für sich. Semir spitzte die Lippen und erzählte kurz, dass die Befragung bei der Dienststelle für Wirtschaftskriminalität wenig Erkenntnisse ergeben hätten, auch wenn sich ein Kollege ziemlich verdächtig verhalten hatte. "Der könnte vielleicht unser Mann sein. Andrea soll sich dessen Akte mal ansehen.", schloß Semir seinen Bericht ab, obwohl Kevin von dem Fall ja eigentlich ausgeschlossen war. Aber natürlich interessierte es ihn, stand er doch immer noch im Fadenkreuz.
    Kevin antwortete... aber nicht auf den Fall. Sein Satz kam für Semir völlig unvermittelt. "Ich höre auf." Der Deutschtürke hatte zuerst den Eindruck, er habe sich verhört, denn nur langsam bewegte er den Kopf zu Kevin um ihn anzusehen. "Was sagst du?" "Ich höre auf.", wiederholte er mit fester Stimme, und erst jetzt suchte er den Blickkontakt mit Semirs braunen Augen. "Es funktioniert nicht. Ich hab gedacht, es würde gehen wenn ich so manche Dinge aus meiner Vergangenheit einfach tief in einem Keller einsperre und nie wieder rauslasse. Wie die Beziehung zu Anis, wie dieser verdammte Fall von damals. Aber der Geruch davon wird immer wieder hochkommen."


    Die Metapher konnte Semir durchaus verstehen... die Konsequenz daraus aber nicht. "Und das ist der Grund, warum du aufhören willst?", fragte er verständnislos. Hatte der junge Polizist schon wieder nicht genug Vertrauen? "Es ist wegen euch. Ihr habt das nicht verdient. Jenny hat das vor allem nicht verdient. Ich kann ihr nicht ständig weh tun, wenn wieder irgendwas aus meiner Vergangenheit hochkommt. Ob ich ihr wehtue, in dem ich es erzähle oder ihr weh tue, wenn ich es verschweige. Auf eine andere Dienststelle will ich nicht mehr.", sagte der junge Polizist und zog nochmal an seinem Glimmstengel. Semir spürte, wie ihm sein Partner buchstäblich aus den Händen entgleiten drohte, und er fühlte sich an die Situation erinnert, als sein Partner Tom den Job hinschmiss. Damals war Semir gleich alt, die beiden Männer waren charakterlich auf Augenhöhe. Dieses Mal war es anders... Semir war weitaus älter, lebenserfahrener... und er stand nicht einem jungen Mann gegenüber, der ähnlich tickte wie Semir, sondern der ein völlig anderer Mensch, ein völlig anderer Charakter war.
    "Ich war doch nie wirklich ein Polizist.", meinte Kevin dann und lächelte bitter. Auf den, vielleicht im Kern wahren Einwurf, ging Semir nicht ein: "Und was willst du stattdessen machen?" Sein Nebenmann zuckte mit den Schultern. "Erstmal die Boxschule mit Jerry... aber wo? Keine Ahnung." Und dann fügte er noch hinzu: "Jedenfalls nicht hier. Vielleicht irgendwo im Ausland."


    Dieser Satz trag Semir allerdings noch mehr. Hatte er erst gedacht, weiterhin direkten Kontakt zu Kevin zu halten, schien der den kompletten Cut zu wollen. Mit skeptischer Miene sah er ihn an, während der junge Polizist wieder in die Ferne sah. "Du würdest Jenny damit verdammt weh tun.", sagte er und nahm sich selbst aus. Er wusste, dass Jenny noch etwas für den schweigsamen Mann empfand, ohne dass sie es je selbst gesagt hatte. Das merkte man einfach. "Ich weiß. Aber besser, ich tue ihr nur einmal weh, als andauernd wenn ich hier bleibe.", sagte Kevin ohne Semir anzusehen. Der stand von dem Blumenkübel auf. "Und was, wenn das auch nicht das Richtige ist, Kevin? Was machst du dann?", stellte er die Frage und ließ die Antwort offen, in dem er sich die Hose am Po abklopfte und wieder in das Dienststellengebäude hinein ging...

    Flughafen - 15:00 Uhr


    Ben schien der einzige Mensch zu sein, den man zum Urlaub zwingen musste. Bereits auf der Fahrt zu seiner Wohnung ging er Semir fast auf die Nerven. "Bist du wirklich sicher, dass wir die Sache nicht verschieben sollen. Wir sind ja ganz nah dran, so lange dauert das nicht mehr." Semir hatte, symbolisch an einer Ampel, den Kopf auf das Lenkrad gelegt und seinem besten Freund scherzhaft mit der Faust gedroht. "Urlaub oder Krankenschein, entscheide dich jetzt." Natürlich hatte Ben ein schlechtes Gewissen, Semir und die Dienststelle während eines laufenden Verfahrens allein zu lassen. Auch noch in einem Verfahrenn, in dem einer der ihrigen eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Aber wenn es danach ginge würde er wohl nie wieder in Urlaub fahren.
    Als er dann die strahlenden Augen seiner Freundin Carina sah, als diese das Haus verließ um Semir zur Begrüßung zu umarmen und beobachtete, wie die beiden Männer die Rucksäcke in den BMW luden, gab er seinen Widerstand auf. Sie freute sich so sehr auf den Urlaub, sie konnte ja in den letzten Jahren nie mal weg wegen ihrer demenzkranken Mutter. Und sie würde wohl in Zukunft noch so manch abgesagten oder verschobenen Urlaub hinnehmen müssen, wenn sie mit Ben auf Dauer zusammenblieb.


    "Ben, es ist doch "nur" ein normaler Mordfall. Wir wissen, was der Mörder vor hat und wir wissen, wie Kevin sich schützen kann, indem er einfach nicht mehr in die Nähe einer Tankstelle geht. Was jetzt noch kommt, ist langwierige Polizeiarbeit, wir müssen das Umfeld durchleuchten, ein paar Handys abhören und so weiter. Wir schaffen das." hämmerte der erfahrene Polizist seinem Partner nochmal die Worte in den Kopf, als sie am Eingang des Kölner Flughafens standen und die Rucksäckee auf einen der Kofferträger luden. Ben nickte und gab seinen Widerstand endgültig auf. Er wollte sich jetzt auch auf den Urlaub freuen und umarmte Semir. "Pass auf dich und die anderen auf." "Na klar. Guck, dass ihr nicht vom Motorrad fällt.", lachte er. Auch Carina umarmte er zum Abschied, dann betrat das junge Paar den Flughafen.
    Sie hatten noch zwei Stunden Zeit bis zum Abflug und wollten das Gröbste, nämlich das Gepäck, schon mal los werden. Also stellten sie sich in die Schlange des Gepäckschalters an und beobachteten das Treiben um sie herum. Familien, junge Pärchen, alte Rentnerehepaare die jetzt im Sommer in Länder flogen, wo es kaum heißer war als hier. Und alle hatten ein Lachen im Gesicht, ausser mancher Anzugträger mit Aktenkoffer, der sicherlich nicht in Urlaub, sondern zum Arbeiten flog.


    Eine junge Dame am Schalter nahm die Koffer auf, die bei den beiden aus zwei dick gepackten Rucksäcken bestanden. Schließlich wurde es ein Roadtrip mit dem Motorrad, Koffer waren da nicht möglich. Sie hatten sich Unterkünfte ausgesucht, wo sie ihre Kleidung waschen konnten. Danach durchschritten die beiden die Check-in-Schalter, wo sie kurz abgetastet wurden. Ben sah auf die Uhr und seufzte. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann war es Warterei. Anderthalb Stunden hatten sie noch Zeit. Hand in Hand spazierte das junge Paar durch einige Boutiquen, die Alkohol und Parfüm zu Wucherpreisen anboten, sie setzten sich in eine Cafeteria und aßen ein Stück Kuchen während sie durch eine große Glasfront beobachten konnten, wie Flugzeuge starteten und landeten.
    Carina erzählte, dass sie früher zweimal mit ihren Eltern auf Mallorca geflogen war, und einmal nach Portugal. Ganz neu war ihr die Fliegerei nicht. Wie immer überkam sie ein Anflug von Traurigkeit, wenn sie von früher sprach. Sie hatte vor kurzem ihren Bruder und ihre Mutter verloren, in diesem Zuge aber den wichtigsten Menschen ihres jetzigen, neuen Lebens kennengelernt: Ben. Während den Ermittlungen zu dem Tod ihres Bruder lernten die beiden sich kennen und lieben. Der junge Polizist, der einige gescheiterte Beziehungen hinter sich hatte, fühlte eine Vertrautheit zu der blonden Frau, die er vorher nie gespürt hatte.


    Mitten im Gespräch klingelte Bens Handy, und Carina bekam ein ungutes Gefühl. Sollte noch etwas passiert sein... würde Ben zurückbeordert werden? Der Name "Kevin" blinkte auf dem Bildschirm, und Ben hob ab: "Ja?" "Hey, hier ist Kevin. Wartet ihr noch?" Kevins Stimme klang ruhig, neutral, ohne Gefühlsregung... eigentlich so wie immer. Er und Ben hatten nicht mehr miteinander geredet, seit der ihm den Beweis von Hartmut auf den Tisch geknallt hatte. "Ja, wir haben noch über eine Stunde Zeit, bevor es losgeht.", sagte Ben mit einem Blick auf die Uhr, die 15:50 anzeigte.
    "Also... weißt du, ich hab mich erinnert als ich nach Kolumbien geflogen bin.", begann Kevin langsam und es war ungewohnt für ihn, dass er hin und wieder nach Worten suchen musste. Dass er Kolumbien erwähnte, verwirrte seinen Partner kurz. "Ich glaube... ich hoffe zwar nicht dass irgendetwas die nächsten Wochen passiert, aber sowas wie damals... im Streit lange Zeit auseinander zu gehen... das sollte mir nie wieder passieren." Carina sah, wie Bens Augen sich kurz auf sie richteten und er langsam nickte. Diesen Gedanken hatte er heute gar nicht gehabt... er wäre nach Amerika geflogen, und das letzte Wort mit Kevin hatte er im Streit gewechselt. Vermutlich war es ihm so unbewusst, weil er in Urlaub flog, und nicht auf eine gefährliche Befreiungsmission. "Deswegen rufe ich an. Ich wünsche dir nen schönen Urlaub."


    Ben hätte Kevin, wenn er da gewesen wäre, jetzt am liebsten umarmt. Er fand es toll, dass der junge Polizist daran gedacht hatte, und anrief... auch wenn er sich nicht für sein Verhalten entschuldigte, wofür es aus Kevins Sicht vielleicht auch gar keinen Grund gab. "Das find ich echt toll von dir. Ich hatte daran jetzt im Eifer nicht gedacht.", gab Ben zu. Und um die Sache zwischen ihnen noch weiter abzuflauen, räusperte sich Kevin kurz und sagte: "Wir haben Torben und Bastian vorgeladen. Die beiden kommen gleich. Wir wollen zumindest versuchen, ihnen die Sache nachzuweisen." Man konnte in seiner Stimme hören, dass er in die Sache wenig Hoffnung lag, aber immerhin. "Ich drücke euch die Daumen.", ließ Ben ausrichten.
    Die Stimmung zwischen ihnen war immer noch sonderbar, aber beide würden nach diesem Telefongespräch eine Erleichterung spüren. "Ben... du musst mir eins glauben. Was Torben und Bastian erzählt haben, ist nicht wahr. Ich habe den damaligen Killer nicht gedeckt oder absichtlich laufen lassen. Das schwöre ich dir. Vielleicht... vielleicht kann ich dir und Semir irgendwann erzählen, was wirklich vorgefallen ist, aber das kann ich heute noch nicht." Ben hatte soviel Menschenkenntnis, und vor allem kannte er den undurchsichtigen Polizisten gut genug, um zu merken, dass er die Wahrheit sagte. Im Gegensatz zu heute vormittag. Es war etwas in diesem Fall vorgefallen... das war ihm und Semir die ganze Zeit klar. Aber jetzt, in diesem Moment, gab Ben sich damit zufrieden. "Pass auf dich auf, Kevin. Wir sehen uns in drei Wochen."

    Dienststelle - 14:30 Uhr


    Kevin hatte die Eintrittskarte, nachdem er und Jenny von der Streife zurückgekommen waren, mittlerweile das vierte Mal durchgelesen. Kein Zweifel... die Eintrittskarte war auf Bastians Name ausgestellt, die sie in dem Wagen gefunden hatten. Der Name war noch gerade so erkennbar, Hartmut hatte mit einem Analyseprogramm dann ganze Arbeit geleistet. Er schaffte es, aufgelöste Tinte, die nur noch in Bruchstücken am Papier haftete, zu rekonstruieren. Ein Verfahren, dass die Polizei NRW sehr viel Geld gekostet, aber auch schon viele Verbrecher überführt hat. In dem Kopf des jungen Polizisten arbeitete es fieberhaft, denn dieses Beweismittel würde zumindest reichen, die beiden Typen vor zu laden und zu verhören. Was hielt ihn nur davon ab?
    Er wusste was er war... Torben und Bastian wussten, was bei dem Mordfall damals passiert war. Sie kannten die Wahrheit und Kevin befürchtete, dass diese Wahrheit ans Licht kam. Dass seine Schla.mperei, seine Unkonzentriertheit, vernebelt durch ständigen Drogenkonsum zu haarsträubenden Ermittlungsfehlern führte, die er daraufhin vertuschte. Das Ergebnis war, dass man dem Mörder nie auf die Schliche kam, dass er einem Mann sagen musste, dass man den Mörder seiner Frau nicht finden konnte und das Verfahren somit irgendwann zu den Akten wandern und eingestellt würde. Und niemand wusste besser, wie sich dieses Gefühl anfühlte, als Kevin selbst. Niemand hatte die Reaktion des Mannes, ihres Bruders, als er Kevin danach im Affekt niederschlug, besser verstehen können. Dass sich der Mann des Opfers während den Ermittlungen das Leben genommen hatte, machte die Sache nicht einfacher.


    Jenny hatte keinen Ton mit Kevin während der Streife gesprochen. Sie war traurig über das Verhalten des jungen Mannes, traurig darüber dass ihre weibliche Intuition sie nicht getäuscht hatte. Von Anfang an, nachdem sie vorher im Wagen nach dem Fall gefragt hatte, hatte sie das Gefühl dass er nicht ehrlich war, weil er vollkommen anders reagierte als in den Wochen zuvor. Ausserdem lag ihr die Sache von gestern ebenfalls im Magen und sie war nicht überzeugt davon, dass es richtig war die beiden Typen nicht doch in die Mangel zu nehmen. Kevin hatte ihr glaubhaft versichert, dass es nichts bringen würde, man würde die beiden beschuldigen eine Kampagne gegen zwei verdiente Ermittler zu fahren, mit Kevin als Zugpferd der bereits Probleme mit ihnen hatte und bei der Polizei einen ganz schlechten Ruf hatte.
    Doch jetzt reifte der Verdacht in Jenny, dass ihr Partner Angst hatte, dass die beiden Männer mehr erzählen könnten, als er selbst. Sie wollte Kevin nicht in die Pfanne hauen, und ihr wäre es 1000mal lieber gewesen, er hätte einfach von sich aus erzählt. Doch als sie später im Büro nochmals zaghaft fragte, ob er nicht doch etwas erzählen wollte, blockte er sie mit einem "Ich hab alles erzählt." ab. Sie fühlte sich hilflos und ihre Hilflosigkeit schlug in Wut um.


    Jenny konnte wütend werden. Sie konnte rumschreien und auch mal mit jemandem verbal kämpfen, doch meistens war sie um Harmonie bedacht. Anders als Annie in der Beziehung mit Kevin. Klar, die beiden waren damals jünger, Kevin noch um einiges impulsiver und weniger introvertiert, aber zwischen den beiden hatte es weitaus schlimmer geknallt als jemals zwischen den beiden jungen Polizisten. Doch jetzt wurde es auch Jenny zu bunt. Ihre Stimme blieb ruhig, wurde aber bestimmt. "Gut. Dann will ich wenigstens gegen die beiden Typen von gestern was unternehmen." Kevin sah, nachdem sie sich wieder angeschwiegen hatten, vom Monitor auf. Als hätte sie Gedanken lesen können, oder beobachtet, dass er die Beweise von Hartmut ständig in der Hand hatte, über den Tisch schob, sie über den Tisch drehte.
    Der junge Polizist seufzte kurz. "Ich hab dir doch gesagt, dass das nichts bringt. Und dass ich dir den Vorwurf, dass du versuchst Kollegen anzuschwärzen, ersparen will." "Das ist mir egal. Ich will es wenigstens versuchen. Ich weiß, dass ich gestern noch anders reagiert habe, aber ich hab mir die Sache überlegt." Gestern war sie geschockt und unglaublich froh, in Kevins Armen Schutz gefunden zu haben. Und sie glaubte ihm, was er sagte. Die Situation im Auto vor ein paar Stunden hatte alles geändert. Es war shizophren.


    Der Polizist sah seine Partnerin aus seinen blauen Augen an und in diesem Moment wirkten sie kühl. Was wollte Jenny mit ihrem Sinneswandel bezwecken? "Na schön, wie du willst.", sagte er, schließlich war es Jennys Entscheidung. Sie war im Auto, sie wäre beinahe umgekommen. Es war üblich bei internen Ermittlungen entweder sofort die Interne auch einzuschalten, oder aber den direkten Weg über den Dienststellenleiter zu gehen... man konnte dann Dinge klären, ohne den ganz großen Apparat in Bewegung zu setzen. Er wählte also Claus Freges Nummer und wartete das Freizeichen ab. Nach einigen Sekunden meldete sich die wohlbekannte Stimme seines früheren Vorgesetzten. "Claus, hier ist Kevin Peters.", meldete sich der junge Polizist, und konnte das Verdrehen der Augen beinahe hören.
    "Kevin, mein Junge.", sagte Claus fürsorglich und doch in einer Tonlage, die keinen Hehl aus seiner Abneigung machte. "Was kann ich für dich tun." "Es gab gestern in Köln eine versuchte Entführung, die in einer Verfolgungsjagd mündete, die wiederum in einem schweren Unfall und unterlassener Hilfe mündete. Im Fluchtfahrzeug haben wir Hinweise gefunden, die auf einen deiner Ermittler hinweisen. Laut Augenzeugenberichten war ein zweiter Mann zugegen der von der vagen Beschreibung her auf dessen Partner schließen lässt." Es blieb für einen Moment still in der Leitung, bevor Claus fragte: "Und um wen soll es sich handeln?" "Um Torben und Bastian."


    Die Reaktion war ein kurzes Auflachen von Claus. "Bitte Kevin, was soll das? Ich weiß, dass ihr damals gewisse Reibereien miteinander hattet, aber lass doch die Vergangenheit endlich ruhen. Wir sind doch alle erwachsen." Jenny konnte beobachten, wie der Ausdruck in Kevins Augen nun wirklich kalt wurde, und sie schauderte etwas. "Es geht nicht um die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Entweder schickst du die beiden zum Verhör, oder ich leite alle Hinweise, die wir bisher gesammelt haben, direkt an die Interne. Wir können es aber auch hier im kleinen Kreis aufklären." "Da wird es nicht viel aufzuklären geben. Um wann genau geht es?", fragte Claus. "Das werde ich mit den beiden hier besprechen." "Ich kann dir schon mal sagen, dass wir gestern eine Hausdurchsuchung hatten, die sich hingezogen hat. Dazu gibts auch entsprechende Protokolle." "Dann kann er die ja mitbringen. 16:00 Uhr ist Termin."
    Jenny war schon ein wenig beeindruckt. Sie hatte das bisher nie wirklich wahrgenommen, aber in Kevins Stimme lag eine gewisse Authorität und Durchsetzung. Er ließ quasi keine Widerworte zu und für einen Moment erwischte sie sich bei dem Gedanken, wie es wohl sei, wenn er vor einem, seinem Kind stand und ihm eine Standpauke hielt. Nein... nicht seinem Kind. Ihrem Kind. Sie wurde ein wenig traurig.
    Claus schien einzulenken und versprach, die beiden heute noch vorbei zu schicken. Und während Kevin auflegte wusste er, dass dieser Tag noch unangenehm werden könnte...

    Köln - 14:00 Uhr


    Semir parkte den BMW direkt auf den Dienstparkplatz, nachdem er die Schranke mit seinem Transponder passiert hatte. Sein Partner Ben sah aus dem Fenster am Gebäude hoch, an dessen Fenstern sich die Sonne spiegelte. "Hoffentlich ist das Dezernat für Wirtschaftskriminalität nicht noch höher als die Mordkommission.", meinte er grummelig, wenn er an die vielen Treppenstufen dachte. Sein Schnitzel aus der Mittagspause lag ihm gerade quasi quer im Magen. "Was ist eigentlich mit deiner Konfrontationstherapie hinsichtlich deiner Platzangst? Wäre doch ein super Tag, damit anzufangen.", neckte ihn Semir beim Aussteigen. Doch sein bester Freund winkte nur ab. "Damit ich kurz vorm Urlaub noch abstürze? Lass mal.", meinte er schmallippig und die beiden Polizisten betraten das klimatisierte Gebäude.
    Es schien Bens Glückstag. Das Dezernat für Wirtschaftskriminalität war tatsächlich im Erdgeschoss und beide Männer wiesen sich im Geschäftszimmer der Dienststelle aus. "Wir würden gerne den Dezernatsleiter sprechen.", meldete Semir den Grund des Erscheinens an und merkte, dass er bei Ermittlungen noch nie so oft Befragungen auf fremden Dienststellen angestellt hatte, nachdem sie wegen Saskias Tod bereits bei der Sitte waren, wegen Plotz' Tod bei der Mordkommission. Der Kollege aus dem Geschäftszimmer führte die beiden auf einen Gang und wies auf eine halboffene Tür.


    Ben klopfte und sofort antwortete eine dunkle Stimme: "Herein." Der Leiter der Dienststelle, Hans Trochowski, war eine großgewachsene Erscheinung, mit faltigem Gesicht, grauen Haaren und etwas verkniffenen Augen. Auf seinem Schreibtisch war mehr Durcheinander als bei Ben zu seinen schlimmsten Zeiten und er reichte beiden Autobahnpolizisten die Hand, ohne aufzustehen. "Was kann ich für sie tun, meine Herren?", fragte er und die Stimme im Hals kratzte. Ein Hinweis darauf war ein Päkchen filterlose Zigaretten auf seinem Schreibtisch. Semir schilderte sein Anliegen, dass sie beide in einem Mordfall ermittelten, der im direkten Zusammenhang zum Mord an Monika Keller stehen könnte. "Wir müssten wissen, mit wem sie besonders eng zusammengearbeitet hat, und idealerweise diese Person auch sprechen. Und wenn sie noch ein paar Infos über Frau Keller haben, die uns weiterhelfen."
    Semir wurde vom Enthusiasmus des Mannes beinahe erschlagen. Seine Antwort war ein kurzer Schulterzucken, zum Glück nur auf den zweiten Teil der Frage. "Tja... Infos. Hmm.", murmelte er und sah über seinen Schreibtisch, als suche er den Steckbrief von Monika Keller. Der erfahrene Beamte vermutete gleich, dass er es hier mit der Art Chef zu tun hatte, der die Arbeit verteilte und sonst mit seinen Mitarbeitern nichts anzufangen wusste. "Reden sie mal mit Jens Hühne. Dritte Tür auf der anderen Seite des Flurs, der hat mit ihr zuletzte zusammengearbeitet."


    Ben blickte, als sie aus dem Büro traten, auf die Uhr. Sie würden die Befragung noch durchführen, dann würde Semir ihn nach Hause fahren, Carina aufsammeln und gemeinsam zum Flughafen fahren. Gegen 17:00 Uhr ging sein Flieger Richtung USA. Er spürte die Vorfreude, auch wenn da immer noch die dunklen Wolken waren. Zweimal hatte er zu Semir schon gesagt, ob er nicht alles noch verschieben sollte... immerhin sei, bis auf den Flug, nichts fest gebucht und das verlorene Geld würde ihm nichts ausmachen. "Nichts da!!", hatte Semir gesagt. Jenny würde ihn unterstützen, die Chefin hat den Urlaub abgezeichnet und solange sich Kevin von Tankstellen fernhielt, drohte ihm auch zumindest scheinbar keine Gefahr. Ben hatte dann immer genickt... es war sein erster richtiger Urlaub seit drei Jahren und Carina freute sich so sehr.
    Jens stand auf dem Flur vor seiner offenen Tür und drückte an seinem Smartphone herum, die beiden Polizisten konnten ihn schon sehen, als sie aus dem Büro von Trochowski herauskamen. "Tag, Gerkhan Kripo Autobahn. Sind sie Herr Hühne?" Der Mann, der in Jackett, Hemd und Schlips vor ihnen stand, aber vielleicht nur wenige Jahre älter war als Ben, sah vom Smartphone auf, nickte und schüttelte die Hände von Semir und Ben. Er stand vor seinem Raum, weil die Putzfrau gerade dabei war, im Büro den Boden zu wischen. "Ja... was gibts?" Die Haare hatte er mit Gel streng nach hinten gezwungen.


    "Sie haben mit Monika Keller zusammengearbeitet, ist das richtig?" Jens schaute zwischen den beiden Männern hin und her. "Ja, für ungefähr anderthalb Jahre." "Wissen sie über ihren Fall Bescheid?" Ein kurzes Runzeln an der Stirn, wieder ein unsicherer Blick. "Ja, was man so mitbekommen hat. Sie wurde erschossen, und der Fall wurde von der Mordkommission nach erfolglosen Ermittlungen irgendwann geschlossen." Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sie unterhielten sich auf dem Flur, was sicher etwas unbequemer war, als irgendwo gemütlich zu sitzen. Der nasse Putzlumpen der Putzfrau klatschte in einem ruhigen Moment auf den Boden. Semir erklärte den Mordfall, in dem sie ermittelten und wie er mit Frau Keller zusammenhing. "Wie war denn ihr Verhältniss zu Frau Keller?", fragte Ben und ihm fiel die etwas ablehnende Haltung des Mannes auf, durch das Verschränken der Arme vor der Brust.
    "Ganz gut, denke ich. Also... wir haben jetzt nicht irgendwie etwas unternommen oder so. Aber wir sind gut miteinander ausgekommen." Ben blickte kurz auf Semir, um dessen Reaktion zu beobachten, und er täuschte sich nicht. In den brauen Augen seines Partners lag Misstrauen, die Antworten kamen zu zögerlich und in der Stimmlage doch sicher. Und der Mann hielt nie lange Blickkontakt mit einem der beiden Polizisten, sondern sah immer wieder zwischen ihnen hin und her, hin und wieder schaute er auch nach hinten ins Büro um zu sehen, wie weit die Putzfrau war.


    "Gab es kein Interesse von ihnen, noch besser miteinander auszukommen? Noch enger zusammen zu arbeiten?", fragte Ben mit einem eindeutigen Unterton. "Wie... wie meinen sie das?" "Na, was wir auf den Bildern der Personalakte gesehen haben, war Frau Keller ja eine sehr hübsche Frau. Dann noch etwas jünger als sie..." Semir musste innerlich ob Bens Frechheit beinahe grinsen. "Nein... nein, daran hatte ich kein Interesse." Seine Antwort war keinesfalls überzeugend. "Wir gehen von einem Racheakt an den vier Mordopfern aus... ein Racheakt, der auf eine sehr hohe Detailverliebtheit bezüglich der Mordfälle, die die Ermittler bearbeitet hatten, basiert. Haben sie vielleicht einen Verdacht? Vermutlich handelt es sich um eine Person, die Frau Keller sehr nahegestanden hatte, und die nicht einverstanden war, dass die Ermittlungen gescheitert sind."
    Jens' Stimme wurde hektischer. "Ich weiß nicht. Wie gesagt, wir haben nur zusammengearbeitet, aber weniger über Privates gesprochen." Semir presste die Lippen aufeinander. "Gibt es noch persönliche Gegenstände hier von Frau Keller?" Ein Kopfschütteln war die Antwort. "Das Ganze ist zwei Jahre her. Ihr Mann hat direkt, ein paar Tage nach dem Mord, alle Gegenstände abgeholt." Die beiden Polizisten merkten, dass sie hier nicht viel rausbekommen würden. "Falls ihnen noch was einfällt...", merkte Semir an, und es klang wie eine Drohung. Dabei legte er ihm eine Karte auf den feucht gewischten Schreibtisch, wo auch seine Handynummer draufstand, die im Polizei-Intranet nicht zu finden war. Die weiteren Befragungen einiger Mitarbeiter verliefen genauso enttäuschend, so dass die beiden Polizisten das Gebäude missmutig verließen...

    Köln - gleiche Zeit


    Semir hatte von Andrea, kurz bevor sie aufbrachen, noch Informationen erhalten. "Also, die Frau heisst Monika Keller, war zuletzt in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Über den Fall selbst wisst ihr ja schon Bescheid. Sie hat sowohl eine Schwester, als auch einen Bruder, der Bruder allerdings lebt in Australien. Die Schwester in Köln, ich hab dir die Adresse aufs Handy geschickt.", sagte sie in kurzen und routinierten Worten was sie über die zentrale Datenbank auf die Schnelle zusammengetragen hatte. "Wie siehts mit einem Ehemann aus? Der würde doch in erster Linie in Frage kommen, sich für einen unaufgeklärten Mord zu rächen.", vermutete Semir und stellte sich für einen kurzen Moment vor, wie er in so einer Situation reagieren würde. Rational bestimmt nicht, auch wenn er es besser wissen müsste.
    "Den gab es. Der hat sich nur drei Wochen nach dem Mord das Leben genommen.", sagte Andrea ohne auf den Monitor zu schauen, stattdessen sah sie Semir lächelnd an. Lächelnd, weil sie vorausgesehen hatte, dass ihr Mann diese Frage stellen würde. "Auspuffgase." Der Polizist verzog kurz das Gesicht. "Unschön.", sagte er nur, aber zumindest würde ein Verdächtiger schon mal rausfallen. "Dann schauen wir uns die Schwester mal an.", setzte er noch hinzu, bevor er mit seinem Partner die Dienststelle verließ.


    Auf dem Weg in einen kleinen Vorort von Köln sprachen sie wenig miteinander. Ben lag die Sache mit Kevin natürlich im Magen, seine Vorfreude auf den ersten gemeinsamen Urlaub mit Carina war wie weggeblasen. Er hatte Angst, hier etwas zu verpassen, hatte Angst, es würde etwas passieren. Als er sich das letzte Mal im Streit von Kevin getrennt hatte, als dieser nach Bogota aufbrach, hörten sie Tage später davon, dass er zu Tode gekommen sei. Vor allem Semir hatte es damals belastet, keine Chance mehr zur Aussprache gehabt zu haben. Genau das ging Ben jetzt durch den Kopf, wenn er heute abend in den Flieger in die USA steigen würde.
    Semir dagegen dachte mehr darüber nach, was bei diesem Fall denn passiert sei... was war so schlimm für Kevin, dass er es unbedingt verheimlichen wollte. Der erfahrene Kommissar war empathisch und hatte die Fähigkeit, sich besonders in andere Menschen hinein versetzen zu können, doch bei Kevin war das schwierig. "Vielleicht...", sagte er irgendwann in leisem Ton zu Ben. "...lügt er gar nicht. Vielleicht verheimlicht er gar nichts und es war wirklich so, wie er sagt. Ein stinknormaler Mordfall, der einfach nicht gelöst wurde." Er klang schwankend, man merkte dass sich der zweifache Familienvater keinesfalls sicher war, und bevor Ben etwas dazu antworten konnte, ruderte er fast schon wieder zurück. "Ach, ich weiß es nicht. Warum macht er es uns so schwer..." Sein bester Freund blieb die Antwort schulterzuckend schuldig.


    Sie hielten vor einem hübschen Einfamilienhaus im Neubaugebiet, mit Vorgarten, Gartenhäuschen und heile Welt. Die Hitze stand, als sie aus dem BMW ausstiegen, zur Tür gingen und klingelten. Nur wenige Sekundenbruchteile später wurde die Tür von einem kleinen Mädchen geöffnet, das die beiden Polizisten mit zwei blonden Zöpfen und einem langen "Halloooooo?" begrüßte. Sie war vielleicht 5 oder 6 und stand mit einem Fuß auf den anderen, während sie die beiden Männer mit großen runden Augen betrachtete. "Na Hallo. Ist deine Mama zu Hause?", fragte Semir lächelnd und sofort sauste das Mädchen wie ein Derwisch zurück ins Haus. "Mama, da sind zwei Männer!", rief sie dabei laut. Aus der Küche kam, mit einem kurzen Schwall Rauch, eine jungaussehnde Frau, die die gleichen blonden Zöpfe hatte, wie ihre Tochter. Sie sah aber nicht unbedingt völlig unbekümmert aus, als sie die beiden fremden Männer betrachtete.
    "Ja bitte?" "Frau Petersen? Gerkhan, Kripo Autobahn, das ist mein Kollege Jäger. Haben sie vielleicht kurz Zeit?", fragte er höflich, beide zeigten ihre Ausweise und die kurz aufkommende, natürliche Nervosität der Frau legte sich ein wenig. Polizei war zuerst einmal vertrauenserweckend... doch dann sofort die Frage: Was wollte die Kripo von ihr? "Ja bitte... kommen sie doch rein.", sagte sie und ließ den beiden Männern den Vortritt. "Wenn sie gerade in die Küche kommen wollen, ich bin gerade beim Kochen." Ben folgte ihr und bekam beim Geruch von Essen sofort Hunger.


    "Kripo Autobahn... ist etwas mit meinem Mann? Er ist auf Geschäftsreise...", fragte sie unsicher, und die Nervosität kam zurück. "Nein, nein... wir sind wegen ihrer Schwester hier." Jetzt schaute die Frau überrascht. "Meine Schwester ist schon seit über 2 Jahren tot." "Das wissen wir, Frau Petersen. Wir ermitteln zur Zeit in einem Mordfall, der eventuell einen Zusammenhang zum Mord an ihrer Schwester hat." Die Stimme der jungen Mutter klang jetzt für einen Moment hoffnungsvoll. "Das heißt, sie suchen wieder nach ihrem Mörder?" Semir blickte kurz zu Ben, der das Wort für die unangenehme Antwort übernahm: "Nein... nicht direkt. Es geht um drei Morde an Polizisten und einen Mord an einem Kind, die an dem Fall ihrer Schwester beteiligt waren. Und da der Fall nicht aufgeklärt wurde, könnte das Motiv der Morde Rache sein." Silke Petersen sah etwas gedankenverloren auf den Kochtopf.
    "Das heisst... sie wollen jetzt von mir wissen, ob ich ein Alibi habe?", fragte sie beinahe resignierend, als wäre sie durch diese Frage irgendwie gekränkt. Ben biss sich auf die Lippen, so eine Situation war immer unangenehm. Auf den ersten Blick würde er der Frau so etwas nicht zutrauen, schon gar nicht wegen den Lebensumständen. Haus, scheinbar glückliche Ehe wenn er das Bild an der Pinnwand neben ihm richtig deutete, eine hübsche kleine Tochter. Würde man so etwas riskieren? "Ja, das müssen wir leider fragen.", bestätigte Semir.


    Er nannte die Zeitpunkte der Morde, und hoffte innerlich, dass Silke jeweils ein gutes und stichfestes Alibi hatte. Der Mord an Erwin Plotz war unmöglich einzuschränken auf eine bestimmte Uhrzeit. Saskia und Frederik wurden nachts getötet. Für die Nacht, in der Frederik umgebracht wurde konnte Silke Petersen nur angeben, dass sie geschlafen hatte. Dummerweise allein, da ihr Mann auf Geschäftsreise in München war. "Aber in der Nacht des zweiten Mordes war ich mit Lisa im Krankenhaus, weil sie schlimme Bauchschmerzen hatte. Ich hatte Angst, es könnte etwas mit ihrem Blinddarm sein. Das können sie doch sicher überprüfen, oder?" Semir notierte sich ihre Aussage und nickte eifrig. "Ja, das wird kein Problem sein.", sagte er beinahe erleichtert. Ihm kamen sowieso Zweifel, auf welchem Wege Frau Petersen Kenntnis von den Morden hatte, um sie nachzustellen. Und wie sie Plotz die Tabletten unterjubeln konnte.
    "Was ist mit ihrem Bruder?", fragte Ben vorsichtig, doch er brauchte keine Angst haben, dass sie unwirsch reagierte. Silke zeigte, dass sie Verständnis hatte und die beiden Polizisten nur ihre Arbeit tat. "Wir haben ein sehr enges Verhältnis und telefonieren jeden zweiten Tag. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er mir gesagt hätte, wenn er solche Gedanken hätte. Und dass ich sie ihm ausgeredet hätte. Wir waren damals sehr wütend... aber sowas macht Monika nicht mehr lebendig." "Wer würde ihnen noch einfallen? Freunde, Bekannte... irgendwas?" Die junge Frau überlegte und rührte wieder im Kochtopf. "Ich wüsste niemand, dem ich so etwas zutrauen würde. Vor allem das Kind... das ist ja schrecklich." Semir ließ der Frau eine Karte da, damit sie sich melden könnte, wenn ihr noch etwas einfiel. Dann verabschiedeten sie sich. Bevor sie das Haus verließen, hielt die junge Frau sie kurz zurück. "Hoffentlich finden sie den Mörder. Die Angehörigen sollten nicht das durchmachen, was wir damals durch gemacht haben, als der Fall eingestellt wurde..."

    Vor der Dienststelle - 12:00 Uhr


    Sie redeten kein Wort miteinander und Kevin hatte das Gefühl, das die Temperatur im gemeinsamen Büro nach dem 8-Augen-Gespräch um einige Grad gesunken war. Und er spürte Jennys Zorn, ihre Enttäuschung. Als wäre der junge Polizist für sie ein offenes Buch und sie konnte sofort lesen, dass er nicht die Wahrheit sagte. Und vor allem, dass er sie anlog, als sie eben zusammen im Auto über die Autobahn fuhren, und sie mehrmals nachfragte. Er hatte das gebrochen, was er ihr vor einigen Wochen noch geschworen hatte. "Ich werde dir immer die Wahrheit" sagen, hatte er gesagt. Kevin blickte auf den Computerbildschirm und es schien, als würde er aufmerksam etwas lesen. Dabei starrte er nur die Desktop-Oberfläche seines Betriebssystems an und sah nur kurz auf, als Semir Bescheid sagte, dass sie eine mutmaßliche Zeugin besuchen würden.
    Immer wieder blickte der junge Polizist über den Rand seines Monitors, auf die braunhaarige Frau, die ihm gegenüber saß. Die er geliebt hatte, die er vielleichtt immer noch liebte. Aber es kam ihm wie eine Erkenntnis, dass diese Beziehung nicht zu retten war. Eigentlich war sie schon nach den Erlebnissen in Hamburg nicht mehr zu retten, doch erst jetzt wurde es ihm klar. Er könnte das Versprechen nicht aufrecht erhalten. Es würde, egal was er tat, immer wieder vorkommen, dass er über etwas nicht die Wahrheit sagte. Es würde immer wieder vorkommen, dass er es für besser hielt, zu schweigen. Es war einfach zuviel in seinem Leben passiert und am liebsten würde Kevin so manche Dinge einfach löschen, um sie niemals mehr erzählen zu müssen.


    Wortlos stand er von seinem Drehstuhl auf und ging mit seinem Handy in der Hand und einer Kippe hinterm Ohr nach draussen auf den Parkplatz. Die Sonne brannte auf den Asphalt, die Luft flimmerte und es war kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Heute mittag würden die Freibäder der Stadt sicherlich wieder hoffnungslos überfüllt sein und jeder im Berufsverkehr war froh für seine Klimaanlage. Kevin schien die Sonne auf der Haut gar nicht zu bemerken, als er sich an die Blumenkübel lehnte und mit dem Handy die Nummer der JVA wählte. Der Beamte am Telefon sagte ihm zu, dass der Häftling, den er verlangte, sofort aus der Zelle ans Telefon geholt wurde.
    10 Minuten später klingelte Kevins Handy. "Hey Jerry." "Kevin... was gibts?" Für einen Moment betrachtete der junge Polizist die Autos in der Ferne, wie sie über die Autobahn an der Dienststelle vorbeizogen. "Ich... ich glaube mit dem Laden in Köln, das wird nichts. Also, da findet sich nichts passendes." Jerry umklammerte den Hörer fester. Hatte Anis nicht gesagt, Kevin sei an einem Laden dran. "Was ist mit dem, von dem du mir die Unterlagen gezeigt hast." Ein paar Schritte wanderte Kevin vor den Blumenkübeln hin und her. "Ich glaube, der ist zu teuer. Die Lage auch nicht besonders." Kevins Ton gefiel Jerry gar nicht. Ein untrügliches Drücken machte sich im Magen breit, gerade nach der Sache heute vormittag im Besucherraum. "Hmm... naja. Wir werden schon was finden. Ich... also ich werd wohl auch morgen noch nicht rauskommen." "Wieso nicht?" "Ach... ich hatte hier ne kleine Auseinandersetzung. Nichts wichtiges. Kann halt sein, das sich der Auszug etwas verzögert.", wiegelte der Knacki schnell ab.


    Kevin betrachtete seinen Dienstwagen auf dem Parkplatz, während er zu Jerry sprach. "Vielleicht sollten wir nicht in Köln bleiben mit dem Laden." Ein kurzes Schweigen war die Antwort. "Naja, Düsseldorf ist ja nicht so weit weg. Willst du pendeln?" Der Polizist biss sich kurz auf die Lippen. "Ich meinte eigentlich... ganz weg von hier. Keine Ahnung, vielleicht Norddeutschland... oder ganz aus Deutschland raus." Er zuckte mit den Schultern, was Jerry natürlich nicht sehen konnte. "Vielleicht nach England oder so." "Kevin? Was ist los? Was willst du in England oder in Norddeutschland. Was ist mit deinem Job?" Er konnte das Seufzen seines damaligen Schützlings durchs Telefon hören. "Das bringt alles nichts." "Bist du völlig bescheuert? Was soll nichts bringen?", fuhr Jerry ihn an. "Es bringt einfach nichts. Es funktioniert nicht. Ich hab es wirklich versucht, über was wir damals geredet haben... Vertrauen und so. Aber es funktioniert nicht. Es wird immer wieder etwas vorkommen, was ich verschweige. Weil ich einfach nicht alles aus meinem Leben erzählen kann. Oder erzählen will.", brach es aus Kevin heraus und Jerry konnte sich den jungen Beamten bildhaft und lebhaft vorstellen gerade. "Die anderen können nichts dafür. Ich kann verstehen, warum sie so reagieren. Aber es funktioniert nicht. Sie haben mich nicht verdient. Vor allem Jenny hat das nicht verdient. Ich will ihr nicht weh tun, aber ich tue es, wenn ich hier weitermache." "Und du glaubst, du tust ihr nicht weh, wenn du alle Zelte hier abbrichst?", fragte Jerry und für einen Moment drehte Kevin sich um, um durch die Fensterscheibe direkt zu Jenny zu blicken. "Dann tut es wenigstens nur einmal weh..."


    Für einen Moment herrschte wieder Stille in der Leitung zwischen den beiden Männern. Jerry spürte, dass es Kevin ernst war... und eigentlich konnte ihm selbst nichts besseres passieren. Unbekannt verzogen und Anis könnte sich auf den Kopf stellen, mit seiner Drohung. Doch der alte Ex-Punk wusste auch um Kevins Verhältnis zu seinem Job. Würde er dieses Loch mit dem Box-Training füllen können? Würde das finanziel überhaupt hinkommen? "Pass auf... ich hab ja jetzt hier noch ein paar Tage. Schlaf da nochmal drüber, ok? Überleg dir das gut. Und wenn ich rauskomme, und du bist dir immer noch sicher, dass du das so machen willst... dann machen wir es. Ich vertrau dir, dass du die richtige Entscheidung für dich triffst.", sagte er und die Worte "Ich vertrau dir" fühlten sich gut in Kevins Gehörgang an.
    Jerry stand an einer Art Telefonzelle in einem Raum, der leer war, bis auf einen Wärter, der ihn beobachtete. Er litt innerliche Höllenqualen, einerseits gerade Kevins einzige Stütze zu sein, und gleichzeitig ein Geheimnis mit sich herumzutragen, was Kevin vermutlich psychisch umbringen würde. "Jerry... ich bin froh, dich zu haben.", hörte er durch den Hörer, nahm ihn vom Ohr und hielt sich für einen Moment die Hand mit dem Hörer an den Mund. Dabei schloß er die Augen und ihm kamen die Tränen, bevor er den Hörer wieder ans Ohr hielt. "Schon gut, mein Junge. Wir sehen uns." Dann musste er auflegen... er hatte Angst, ein Geständnis würde aus ihm herausbrechen.


    Dass Kevin von Jenny mehrmals durch die Glasscheibe angesehen wurde, wie er mit seinem schlanken Körper und dem ärmellosen karierten Hemd draussen in der Sonne stand, und aussah wie ein, wenn auch etwas gezüchtigter Punk, der eher als Krawallmacher von der Polizei festgenommen wurde, statt selbst Polizist zu sein, bemerkte dieser gar nicht. Zuerst sah sie ihn mehr sehnsuchtsvoll als wirklich noch wütend an... zu sehr und zu tief saßen die Gefühle für den jungen Ex-Punk. Doch als sie eine anonyme E-Mail auf ihr Handy geschickt bekam, die nur eine Sprachnachricht enthielt und sie diese abhörte, blickte sie in einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid zu ihm. Sie hörte zwei Stimmen, und sie konnte beide sofort identifizieren. Es klang, als hatte jemand ein Gespräch mit dem Handy in der Tasche aufgezeichnet. Und sie hörte Sätze wie: "Oder willst du etwa, dass ich deinem besten Freund die Wahrheit sage?" - "Wer hat dir das erzählt?" - "Kevin würde dir niemals glauben." und "Du hast fürs Zocken deinen Freund verraten. Und den Tod seiner Schwester zu verantworten. Wenn ich an Kevins Stelle wäre..." sie musste aufhören. Das konnte nicht wahr sein, in Jennys Kopf drehte sich alles. Ihr Zorn war sofort verflogen und richtete sich eher gegen den besten Freund ihres Ex-Freundes. Sie hatte Mitleid mit ihm, scheinbar war er selbst noch völlig ahnungslos. Und sie hatte es jetzt in der Hand, ihm die Wahrheit zu erzählen.


    Sie sah die Datei an, als würde sie ihr Antwort geben. Sollte sie es ihm sagen? Ihm, gerade wenn es mal zu Problemen zwischen ihm und den drei Polizisten auf der Dienststelle kam, den einzigen Halt zu nehmen, den er hatte? Sie wusste, wie unglaublich wichtig Jerry für Kevin war. Hier brauchte er sich nicht zu verstellen, er brauchte seine damalige Einstellung nicht zu verleugnen, nicht beschönigen. Jerry wusste, wieviel Scheisse Kevin in seinem Leben angestellt hatte. Würde es Kevin helfen, die Wahrheit zu erfahren? Oder war das Loch, die Enttäuschung, wieder von jemandem hintergangen worden zu sein, größer als die Sucht nach Gewissheit, wer denn nun der Verräter war? In ihrem Kopf drehte sich alles... sollte sie ihren Ex-Freund schützen, vor einem weiteren tiefen Fall schützen? Oder ihm die Wahrheit sagen und damit einen wichtigen Freund nehmen... ihr wurde schwindelig, und Jenny musste sich am Tisch festhalten...

    Dienstelle - 10:30 Uhr


    Ben war kaum zu beruhigen, als er mit Semir zurück in ihr eigenes Büro gingen. Das konnte der Deutschtürke seinem besten Freund ansehen. Er setzte sich nicht hin, sondern lief ziellos durch den kompletten Büroraum, stützte sich an die Fensterbank, sah aus dem Fenster raus, ging zum Tisch und zum Schrank hin und her. Dabei murmelte er immer wieder: "Ich versteh das nicht... ich versteh das nicht." Semir selbst hatte sich hingesetzt und verfolgte die Wege seines Partners mit bitterer Miene. "Ja, ich versteh es auch nicht. Einerseits Kevins Verhalten, andererseits dein Verhalten." Ben blieb überrascht stehen. "Mein Verhalten?" "Ja. Du weißt doch genau, wie er reagiert. Mittlerweile müsstest du es wissen. Drängst du ihn so in die Enge, setzt du ihm die Pistole auf die Brust, wird er immer so reagieren."
    Der junge Polizist stemmte die Hände in die Hüfte. "Also bin ich jetzt daran schuld?" Ein Seufzen kam über Semirs Lippen. "Das habe ich nicht gesagt. Aber als er uns von seiner Mordkommissions-Vergangenheit erzählt hat, oder davon was er mit Anis zu tun hatte, sind wir das anders angegangen. Das hättest du wissen können. Nichtsdestotrotz ist sein Verhalten mal wieder... naja." Er strich sich mit dem Finger über seinen Bart am Kinn. "Irgendwas muss damals vorgefallen sein. Ich glaube den beiden Idioten kein Stück, dass Kevin etwas mit dem Mord zu tun hat, oder dass er den Mörder wissentlich laufen gelassen hat. Aber irgendwas muss ja sein..."


    Ben sah für einen Moment wieder aus dem Glasfenster und konnte durch das Großraumbüro seinen jungen Partner kurz beobachten. "Oder er reagiert so, weil wir ihm wirklich nicht genug vertrauen.", murmelte er leise. "Er ist aber wirklich selbst daran schuld. Ich meine, bei allem was ihm widerfahren ist...", sagte Semir, der immer ein großes Verständnis für Kevin hatte und der sich sehr gefreut hatte, dass sich der junge Mann endlich mehr öffnete zuletzt, auch auf seine väterlichen Worte hin. "...er ist irgendwie in der... ja, in der Bringschuld. Er kann nicht erwarten, weil er uns jetzt zweimal reinen Wein eingeschenkt hat... auf Nachdruck durch Jenny... dass wir ihm sofort blind vertrauen. Vertrauen muss man aufbauen... Stück für Stück." Ben glaubte den Worten seines Partners und nickte langsam. Wie so oft in zwischenmenschlichen Fragen.
    "Vielleicht können wir uns jetzt wieder um den Fall kümmern. Kevin will sicher irgendwann wieder gefahrlos tanken gehen.", merkte er dann an und wedelte mit den Akten. Ben versuchte in Gedanken den Fall Kevin erstmal hinten anzustellen... vielleicht ließe es sich ja nach seinem Urlaub klären. "Dann los... ein paar Stunden hab ich ja noch.", sagte er seufzend mit einem Blick auf die Uhr. "Also, wenn wir davon ausgehen, dass dieser Fall eine Art... Auslöser für die Morde ist, dann ist es vielleicht ein, zugegebenermaßen ziemlich kreativer Rachezug.", meinte Semir, während sein Partner sich langsam wieder zu seinem Platz begab und sich dort niederließ.


    "Jemand, der ziemlich sauer sein dürfte, dass man den Mörder der Frau nicht gefasst hat.", schlussfolgerte er dabei selbst. "Richtig. Mann, Bruder, Schwester, Freundin, Freund... was auch immer." Semir erhob sich und steckte den Kopf durch die halbgeöffnete Tür, um seine Frau zu bitten alle möglichen Informationen über das damalige Mordopfer herauszufinden. Dabei erblickte er Hotte und winkte ihm kurz zu. "Herzberger! Wie gehts dir?", rief er und der dicke Polizist nickte mit einem, etwas gequälten Lächeln im blassen Gesicht zurück, als er gerade durch die Tür reinkam. "Es geht aufwärts. Ich gebe nur gerade meinen Krankenschein ab." Damit gab Semir sich zufrieden, und er wünschte noch eine gute Besserung, bevor er wieder in seinem Büro verschwand.
    Hotte dagegen steuerte zielgerichtet auf den Schreibtisch seines Partners zu. "Dieter... können wir mal kurz... zusammen in die Teeküche?" Dieter Bonrath, der langjährige Kollege von Hotte, sah etwas überrascht auf. Hottes Stimme klang nicht gut... und wirklich fit sah sein bester Freund auch nicht aus. Dass er ihn für ein Gespräch in die Küche bat, war auch völlig untypisch. "Ja klar.", sagte er aber sofort und folgte Herzberger bis zur Teeküche. In Zivil hatte der bärtige Polizist, wie immer, eine Batschkapp auf dem Kopf.


    Sie setzten sich an den kleinen Tisch, und der baumlange Mann bemerkte, wie sein Freund um Worte rang. "Hotte, was ist los? Fällst du noch länger aus, oder...?" "Dieter... was ich dir jetzt sage, bleibt bitte unter uns.", begann Hotte mit leiser Stimme, und sein Freund merkte, wie dessen Hände zitterten. "Natürlich." In Dieter bildete sich ein komisches, beklemmendes Gefühl und er merkte, dass die Situation ernst war. Er hatte noch die Aussagen von Hotte im Kopf... dass er soviel vergessen würde. Dass er Angst vor einer schweren Krankheit hatte. "Also... ich... ich hab dir ja erzählt, dass ich in letzter Zeit ein wenig vergesslich wirke. Und... dass mir hin und wieder schwindelig ist und ich Kopfschmerzen habe." Sein langer Freund nickte und hörte aufmerksam zu. "Ich... ich habe mich deswegen jetzt untersuchen lassen. Also, eigentlich schon vor einer Woche und jetzt... jetzt das Ergebnis bekommen."
    Bonrath atmete ganz flach, und er sah seinen Freund an, den es scheinbar Überwindung kostete, mit dem Ergebnis herauszurücken. War es wirklich eine beginnende Demenz? Konnte man sowas zweifelsfrei feststellen? Dieter war einen Moment nicht sicher, weil er ihn die traurige Atmossphäre so einholte. Und als Hotte endlich antwortete, fühlte es sich an wie ein Schlag in den Magen. "Ich... ich habe einen... einen Hirntumor.", sagte der dicke Polizist und bekam feuchte Augen.


    Als er vor zweieinhalb Stunden die Nachricht im Beisein seiner Frau bekam, fing sie sofort an zu weinen. Hotte, als Polizist immer Herr der Lage, tröstete sie und schien sich von dieser Nachricht nicht umhauen zu lassen. Jetzt aber fühlte er sich als der Schwache und zeigte die Emotion, die er vor seiner Frau zurückhielt, um sie zu stützen, statt einzubrechen. "Oh Gott... Hotte... ich...", stammelte Bonrath völlig geschockt. Es war nur ein Wort... keine Aussicht, keine Heilungschance, keine Therapie... es war erstmal nur ein Wort. Hirntumor. Ein Wort, das erschlägt und das Bonrath scheinbar den Stuhl wegzog.
    "Der Arzt meinte, dass... dass man das operieren kann. Dass die Chance besteht, dass das auch gut ausgehen kann.", versuchte er sofort einen Hoffnungsschimmer zu setzen. "Und wie hoch ist diese Chance?" Hotte presste die Lippen zusammen, die man unter seinem Bart meist nicht sah. "Schwer zu sagen... fifty-fifty... von schwerbehindert bis völlig gesund... weißt ja, dass sich Ärzte dabei nicht festlegen." Dabei lachte er schon wieder ein wenig, wobei ihm eine Träne aus dem Auge rann. "Ich will es niemandem sagen, dass sich hier irgendjemand Sorgen macht. Zumindest noch nicht. Aber du solltest es wissen." "Aber Hotte... wenn du... also, wenn da irgendwas passiert. Du kannst die anderen nicht im Unklaren lassen.", mahnte Bonrath an. "Sag es wenigstens Semir und Ben... oder... ich weiß nicht." Die beiden besten Freunde sahen sich an, sie waren seit über 20 Jahren Partner. "Mensch Hotte... du schaffst das. Egal wie gering die Chance ist... glaub mir.", sagte der lange Polizist und drückte fest die Hand seines besten Freundes...

    Dienststelle - 10:00 Uhr


    Es würde hektisch werden... irgendwie hatte Semir das im Blut. Er hatte zweimal versucht, seinen besten Freund anzurufen, doch vergeblich wartete er auf die Stimme seines Partners. Gerade wollte er Hartmut kontaktieren, um die GPS-Position von Bens Dienstwagen ausfindig zu machen, denn so langsam machte sich der erfahrene Polizist doch einige Sorgen, da kam der Mercedes seines Partners mit ordentlichem Schwung auf den Parkplatz bezahlen. "Na warte, du bekommst was zu hören.", dachte sich Semir noch, als Ben mit schnellen Schritten und einem dünnen Ordner unterm Arm ins Büro gesteppt kam. "Sag mal... färbt das schon von Kevin ab, mit deinen Alleingängen?", war die nicht unbedingt freundliche Begrüßung, während Ben sich auf seinen Stuhl fallen ließ. "Also wenn ich Alleingänge von jemandem gelernt habe, dann...", und zur Vollendigung des Satzes zeigte der Mann mit der Wuschelfrisur auf seinen kleinen Partner.
    Gut, da musste Semir einlenken. Im Prinzip regte sich jeder über die jeweiligen Alleingänge des Anderen auf, obwohl man eigentlich nicht besser war. Ähnlich verhielt es sich nach Verletzungen. "Was war los? Wo warst du?", fragte Semir und hatte keinen Zweifel daran, dass Ben spätestens jetzt damit rausrücken würde, was Phase war. Gerade, als er zu Reden ansetzen wollte, hörten sie das Geräusch zweier Autotüren neben dem Fenster, als Jenny und Kevin ausstiegen und erst der junge Polizist und mit etwas Abstand dessen Ex-Freundin zum Eingang gingen. "Gleich... für alle.", brach Ben seine Erklärung ab, bevor er begonnen hatte. "Lass uns erst alle zusammen über das reden, was du heute morgen rausgefunden hast."


    Es sah für Aussenstehende völlig normal aus, wie Kevin und Jenny in das Großraumbüro kamen und ihr eigenes Büro ansteuerten. Doch für Jenny, die mit etwas Abstand hinter Kevin her ging, schien es so, als seien sie keine Partner in diesem Moment, sondern Flüchtiger und Verfolgerin. Sie beobachtete ihn, seine Miene, seine Körperhaltung. Es war irgendwas, seine Angespanntheit, seine Mimik... Nuancen die man bei dem Polizisten nur erkennen konnte, wenn man ihn in- und auswendig kannte. Jenny erkannte dies, und trotzdem kam ihr Kevin in diesem Moment wieder unglaublich fremd vor.
    Semir hatte seine Akte geschnappt und erreichte Kevins Büro, bevor dieser sich auf seinen Stuhl niedergelassen hatte. Ben war ihm gefolgt, und sein Bauchzwicken verstärkte sich. Sein Blick fiel auf seinen jungen Partner, die Blicke kreuzten sich... und beide bildeten sich ein, dass etwas nicht stimmte. Kevin empfand Bens Blick als misstrauisch, skeptisch... und der wiederrum hatte das Gefühl, dass sein Freund bereits ahnte, dass es gleich unangenehm werden würde. Jenny und Semir, als stille und sehr empfindsame Beobachter hatten beide das untrügerliche Gefühl, dass die Stimmung zum Schneiden war. Vor allem die junge Frau, mit jeder Pore auf Empfangsmodus, bemerkte diese Atmosphäre. Und sie fühlte sich elend, noch bevor der erfahrenste Polizist im Raum sagte, warum sie sich trafen.


    "Also, kümmern wir uns zur Abwechslung mal wieder um den Fall.", begann er und klappte die Akte auf, die Kevins Fall enthielt. Und auch sein Blick, den er jetzt auf Kevin richtete, empfand dieser als misstrauisch. Drehte er jetzt vollkommen durch? War er wieder an dem Punkt, dass er das Gefühl hatte, das jeder gegen ihn war? Dass ihm jeder misstraute? Oder war es tatsächlich so. "Ich hab mir doch mal deinen Fall angesehen, Kevin. Mir ist dabei aufgefallen, dass von den 4 Ermittlern, die an dem Fall beteiligt waren, drei unserer Opfer sind." Wieder prüfte er Kevins Reaktion darauf, dass sich Semir die Akte durchgelesen hatte. Seine Reaktion war... keine Reaktion. Aus seinen eisblauen Augen blickte er seinen älteren Kollegen an, der Mund bildete keine Stimmung ab. "Ist dir das nicht aufgefallen?", setzte Semir dann noch hinterher.
    "Gestern hatte ich diese Ahnung kurz, als ihr Frederik gefunden hattet. Vorher hatte ich an den Fall nicht mehr gedacht.", sagte er kurz angebunden. "Das soll kein Vorwurf gewesen sein, ok?", stellte Semir sofort klar, der wusste wie schnell Kevin Schuldgefühle bekam, wenn Fehler passierten. Schließlich kam gestern ein junges Mädchen ums Leben, was theoretisch hätte verhindert werden können. "Schon klar.", gab Kevin zur Antwort und seine Stimme klang vollkommen unironisch. "Saskia und Plotz haben sehr oft zusammengearbeitet. Das hätte vor Frederiks Mord auf ein Dutzend Fälle gepasst." Semir nickte, das hatte er in der Zeit, als er alleine war, überprüft... seine Fleißarbeit. "Aber in der Dreier-Konstellation war das der einzige Fall." Wieder ein Nicken von Kevin. "Und ich habe heute das letzte Bild bekommen.", sagte er und Jenny atmete unauffällig auf. Zumindest verheimlichte er das nicht. "Ja, dann passt das ja."


    Ben und Jenny waren die ganze Zeit still... doch jetzt ergriff der Polizist, der an die Glaswand gelehnt im Raum stand, das Wort. "Warum habt ihr damals den Tankstellenmörder eigentlich nicht gefasst?" Seine Stimme klang forscher, als sie eigentlich geplant war. Aber er war aufgewühlter, als er wollte. Er wollte diesen beiden Mistkerlen nichts glauben... und doch schlich sich in seinen Kopf ein kleines Tierchen namens "Misstrauen" und Kevins Geständnis über verkaufte Informationen war omnipräsent in seinem Kopf. Sein Blick auf den jungen Kollegen wollte ihn durchdringen, und auch Jenny war hellwach... würde er jetzt mehr erzählen als im Auto?
    Kevin räusperte sich kurz, wieder diese Denkpause, merkte die junge Frau. "Der Täter hat damals keine Spuren hinterlassen. Er war maskiert, die Kugel konnte keiner bekannten Waffe zugeordnet werden und es gab einfach zu wenig Hinweise. Ein paar Zeugenaussagen, ein Phantombild... es reichte alles nicht um eine stichfeste Anklage zu erheben." Ben schluckte, innerlich biss er sich auf die Zunge. Bei einem Verhör wäre er sich sicher, dass sein Gegenüber log... doch Kevin war einfach undurchdringlich. Warum konnte er jetzt nicht einfach denken: "Okay, gut... die beiden haben gelogen, mein Partner sagt die Wahrheit." Warum wehrte sich sein Innerstes so dagegen. "Die Ermittlungen liefen ganz normal?" "Was meinst du mit... ganz normal?" "Na, normal halt. Keine... Vorkommnisse. Bekannte von dir, die in die Verdächtigenliste gerieten?" Kevins Blick wurde schmal, Jenny sah zu Ben und auch Semirs Gesichtsausdruck drückte Verwunderung für diese Frage aus. "Was soll das?", fragte Kevin dann, denn jetzt war er sich sicher, dass er sich das Misstrauen nicht einbildete oder einredete.


    Was brachte es, drum herum zu reden... Kevin würde nichts zugeben, und er würde nicht konkreter werden, um den Verdacht zu entlasten. "Das will ich dir sagen. Es gibt Leute, um genau zu sagen, zwei Polizisten die behaupten, du wärest nicht unbeteiligt daran, dass der Mörder damals nicht gefasst wurde." Für einen Moment war es totenstill in dem kleinen Büro, selbst alle Telefone im Großraumbüro und das Gemurmel schien aufzuhören... was natürlich nicht so war, denn draussen bekam niemand von diesem Satz etwas mit. Ben und Kevin sahen sich an, Kevin immer noch ausdruckslos aber mit festem Blick, Ben mit seinem "Sagen sie endlich die Wahrheit" - Verhörblick. Und er hatte vor Kevins Reaktion Angst... aber es musste sein. "Und du glaubst das?", war nur dessen Frage, ohne die Tonlage in der Stimme zu ändern. Aber Jenny, die tief in Kevins Seele hineinsehen konnte, spürte bereits wie sich die inneren Mauern hochzogen. Ben hatte das falsch angegangen, dachte sie... war aber unfähig in das Gespräch einzugreifen, weil Kevin im Auto ebenfalls so merkwürdig war. Und natürlich hatte sie, genau wie Semir, auch noch sein Geständnis im Kopf, dass er für Drogen Informationen über Razzien verkaufte. Und damals versprach, er hätte niemals einen Menschen gefährdet. "Wer soll das erzählt haben?", fragte Semir und Ben brach den Augenkontakt für einen kurzen Moment zu Kevin ab. "Torben und Bastian." Jetzt musste Kevin kurz auflachen, es war ein sarkastisches, ironisches Lachen, gefolgt von einem Kopfschütteln. "Ben, ist das dein Ernst? Ausgerechnet die beiden?", sagte Semir verständnislos. "Es ist doch klar, dass die beiden Kevin schaden wollen."


    "Du hast dich mit den beiden getroffen, ohne etwas zu sagen?", fragte nun Kevin, und er schaffte es, seine aufkommende Wut aus seiner Stimme heraus zu halten. "Darum geht es jetzt nicht. Ich habe auch nicht gesagt, dass ich den beiden glaube, deswegen habe ich dich ja auch gefragt, warum die Ermittlungen damals gescheitert sind.", sagte Ben und nahm den Blickkontakt zu dem sitzenden Kevin wieder auf. "Und es ist ungewöhnlich, dass jemand, der so professionell vor geht, dass er nicht geschnappt wird wie dieser Täter, eine kleine, wenig lohnende Provinztankstelle überfällt und im Affekt eine Kundin erschiesst... oder?" Kevin fühlte sich in die Ecke gedrängt, er biss sich auf die Zähne und sein Blick wurde kalt. Und jener Blick fiel jetzt auch Semir auf... sie kannten Kevin jetzt einfach schon zu lange. Und sie merkten sofort, wenn er begann, sich zu öffnen und die Wahrheit zu erzählen, wie damals mit seinem Geständnis. Und zu merkten, wenn er sich verschloß, er innerlich die Mauern hochfuhr und sich in sein Schneckenhaus zurück zog... genau das tat er jetzt. Und sowohl Semir als auch Jenny merkten... selbst wenn sie Bastian und Torben nicht glauben würden... Kevin sagte nicht die Wahrheit. "Was willst du denn von mir hören?", fragte der junge Polizist etwas lauter, und Ben antwortete: "Die Wahrheit!" "Die habe ich dir gesagt." Es war der Punkt, an dem Jenny die Atmosphäre endgültig unerträglich fand. Am liebsten wäre sie rausgerannt, denn sie spürte gerade, dass Kevin ihr gegenüber ebenfalls verschlossen war... etwas, dass er vor einigen Wochen, vor einigen Tagen noch bestritt. Sie hatte das Gefühl, heute nacht mit einem völlig anderen Mann eingeschlafen zu sein.


    "Kevin, wir wissen, was Torben und Bastian getan haben...", sagte Semir vorsichtig und versuchte, dass was Ben gerade an Bauchgefühl zu viel hatte, mit Kopfgefühl auszugleichen. "Wir wissen aber auch noch, was du uns erzählt hast. Versetz' dich mal in unsere Lage. Die Begründung "Die Ermittlungen waren schwer" ist ein bisschen dünn bei einem solchen Fall. Sag uns doch einfach, was genau nicht geklappt hat, warum die Ermittlungen nicht erfolgreich waren.", versuchte er Kevin zu unterstützen, und nun spürte Semir den kalten Blick seines Kollegens. "Ja... ihr wisst noch, was ich euch erzählt habe.", wiederholte er ironisch. "Dann wisst ihr auch bestimmt noch, dass ich gesagt habe, dass dabei nie jemand zu Schaden gekommen ist. Wann genau hört ihr mit diesem Generalverdacht denn auf?" Die Frage schmerzte allen dreien in diesem Raum. Aber wie sollten sie das ablegen? "Bei all den Dingen, die vorgefallen sind... wir, wir vertrauen dir ja. Aber...", sagte Semir erneut vorsichtig, doch mit diesem Herantasten konnte Kevin noch weniger anfangen. Ben war zumindest offen. "Nein, das tut ihr nicht. Und fordert gleichzeitig von mir Vertrauen ein. Aber kommen zwei dahergelaufene Vollidioten und erzählen dir..." dabei zeigte er auf Ben "...irgendeine Scheisse über mich, dann ist Kevin wieder der Kriminelle in Uniform." Seine Stimme war jetzt lauter, ungehaltener, und seine ruhige Fassade fiel der Arroganz zum Opfer. Und selbst Jennys leise Stimme neben ihm konnte ihn nicht zurück auf eine vernünftige Bahn bringen. "Ich... ich hatte eben im Auto auch das Gefühl, dass du mir nicht die Wahrheit sagst."


    Kevin fühlte sich umzingelt. Er blickte auf Jenny, und die junge Frau traute sich fast nicht, ihn anzusehen. Sie hatte Angst vor Kevins kaltem, gefühllosen Blick. Sie sah auf... und sie dachte, sie säße im Keller, gefesselt an einen Stuhl und ihr Freund richtete eine Waffe auf sie. Diese fremden Augen, dieses skrupellose. Kevin nickte nur... er wollte Jenny nicht mit Worten verletzen und er kämpfte mit sich. Sie waren im Unrecht... und doch im Recht. Sie misstrauten ihm völlig zu Recht, aber die Vorwürfe von Torben und Bastian waren falsch. Nacheinander sah er alle drei Polizisten an. "Ihr seid nicht anders, als alle anderen. Statt mir zu vertrauen fordert ihr mein Vertrauen an euch ein." Er griff Semirs Akte und warf sie dem, kurz verdutzten Polizisten zu. "Da steht alles über den Fall drin. Ich kann euch dazu nicht mehr sagen."
    Es hatte keinen Sinn... Kevin hatte seine inneren Mauern hochgefahren und seine kleine Welt abgeschottet, wie er es früher immer tat. Semir und Ben sahen sich hilflos an, und Ben wollte am liebsten gegen den Mülleimer treten. Aus Wut über Kevin, über Torben und Bastian und über sich selbst. Er hatte sich wieder von seinen Bauchgefühlen leiten lassen, statt erst in Ruhe mit Semir darüber zu reden. Den gleichen Gedanken hatte Semir, der Kevin ansah. In diesem Moment fühlte er, dass etwas zwischen ihnen brach. Er war mittlerweile überzeugt, dass der junge Polizist log. "Komm... lass uns unsere Arbeit machen. Kevin ist an dem Fall eh nicht mehr beteiligt. Jetzt erst recht nicht mehr, denn mit dem Bild ist er jetzt selbst betroffen.", sagte er zu Ben und drehte sich Richtung Tür. "Nur eins noch, Kevin...", sagte er bevor er den Raum verließ. "Damit wir uns richtig verstehen. Wenn wir rausbekommen, dass das, was Torben und Bastian gesagt haben, doch stimmt... dann warst du die längste Zeit bei uns gewesen." Es klang ähnlich kalt und herzlos, wie der junge Polizist vor wenigen Sekunden gesagt hatte, dass sie nicht anders, als die anderen sind. Es war, als hätten sie ihr Vertrauensverhältnis, ihre Freundschaft wieder um Wochen und Monate nach hinten gedreht. Ben warf Kevin noch den Beweis aus Bastians Auto auf den Tisch... er war natürlich nicht gefälscht, bei den beiden Mordermittlern hatte er geblufft. "Hier... mach damit was du willst.", war die kurze Ansage des Polizisten, bevor er mit Semir den Raum verließ. Beide hatten in diesem Moment Mitleid mit Jenny, die stumm und mit traurigem Blick auf ihrem Platz sitzen blieb....

    Gefängnis - 10:00 Uhr


    Er hat endlich was gefunden - das waren die Gedanken, die Jerry durch den Kopf gingen, als er von einer Wache gerade aus seiner Zelle gerufen wurde. Es sei Besuch für ihn da. Das Lächeln blieb dem Ex-Punk im Halse stecken, als er den Besucherraum betrat und an dem freien Tisch, auf den der Wärter zeigte, ein ihm ... leider ... bekanntes Gesicht saß. Es lächelte überheblich, zupfte sich einmal kurz am Bart und schien, symbolisch, die Arme auszubreiten. "Jerry... lange nicht gesehen." Dessen Miene vereiste. "Ich opfere meine wertvolle, vermutlich letzte Besuchszeit, mit dir?", fragte er ohne Begrüßung und drehte sich zum Wärter um. "Bring mich wieder zurück." "An deiner Stelle würde ich mich kurz mit mir unterhalten. Dauert auch nicht lange."
    Jerry verabscheute Anis. Er hatte den Jungen schon gekannt, kurz bevor er wegen der Drogendealerei in den Knast gegangen war, als er sich von der Straßengang skrupellos nach oben gearbeitet hatte. Immer wieder hatte es auch Knatsch zwischen Jerrys Punks und der Gang von Anis gegeben, bis hin zu hässlichen Schlägereien. Nein, er hatte dem Typ nichts zu sagen, vor allem weil er aus Knastgeschichten auch ziemlich gut über Anis jetzige Geschäfte informiert war. Trotzdem ließ er sich dem Mann gegenüber nieder und wollte wissen, was er ihm so wichtiges zu sagen hatte, weshalb er den Weg ins Gefängnis auf sich nahm.


    "Ich habe gehört, du steigst demnächst ausserhalb dieser vier Wände ins Geschäft ein? Eigener Laden, Boxschule und so weiter?", begann Anis, als würden sie Smalltalk unter Freunden führen. "Alter, das find ich echt gut. Können sich meine Jungs ein bisschen bei dir fit halten." Jerry hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt, als würde ihn das Geschwätz des Tunesiers gar nicht interessieren. "Woher du auch immer weißt, in welches Geschäft ich einsteigen will...", begann er mit gleichgültig klingender Stimme, bevor er von Anis unterbrochen wurde: "Ich muss im Immobiliengeschäft immer auf dem Laufenden sein." "... werden sich deine Jungs ganz sicher nicht bei mir fit halten. Ich bilde nämlich keine Schläger und Schutzgeldeintreiber aus, sondern Boxer. Jugendliche... und keine Knalltüten." "Das wäre aber sehr schade. Sonderpreise von dir, und es gäbe Sonderpreise von mir."
    War der Tunesier wirklich so naiv, dachte Jerry. Wollte er gerade ihm drohen? Der schlagkräftige Ex-Punk war zwar nicht mehr der Jüngste, aber er würde sich garantiert nicht von diesem dahergelaufenen Tunesier einschüchtern lassen. Er hatte immer noch Freunde da draussen... und Kevin. "Glaubst du wirklich... allen Ernstes... du könntest bei mir Schutzgeld erpressen?", fragte er rhetorisch und lachte herzhaft auf. "Das ist gut... das ist echt gut." Anis verzog keine Miene und wartete, bis Jerry fertig gelacht hatte. Es war fast schon diebische Vorfreude, gleich das Gesicht des Ex-Punks zu sehen.


    "Schutzgeld ist so ein böses Wort, Alter. Ich würde es eher... Schweigegeld nennen." Jerrys Mundwinkel zogen sich für einen Moment zusammen, seine hohe Stirn legte sich in Falten. Dagegen wurde Anis Grinsen breiter, überlegen... fast schon teuflisch. "Oder willst du etwa, dass ich deinem besten Freund die Wahrheit sage?" Die Miene des Gefängnisinsassen versteinerte. Es war noch kein Eingeständnis, schließlich konnte Anis bluffen... aber Jerry wusste, dass der Gangsterboss niemand war, der bluffte... warum sollte er? "Weißt du Jerry... ich habe viele Kontakte. Mir wird wirklich viel erzählt, denn ich habe überzeugende Argumente dass sich gewisse Leute an gewisse Dinge erinnern. Leute, die dich kennen. Leute, die wissen dass du in Wirklichkeit kein so leuchtendes Vorbild für deine Jungs warst."
    Das Herz von Jerry pochte fest gegen den Brustkorb. "Mal im Ernst... hin und wieder in den Puff gehen ist ja ok. Aber dann noch zocken, alles was du auf deinen paar Raubzügen und deiner Dealerei damals eingenommen hast. Sich bei Peter Becker Geld leihen." Gespielt mitleidig schüttelte Anis den Kopf. "Das ist enttäuschend, Jerry. Sehr enttäuschend." "Wer hat dir das erzählt?", fragte Jerry mit verstockter Stimme, in der nichts mehr von seiner Lockerheit, seiner Schlagfertigkeit und seiner Überlegenheit hatte.


    "Weggefährten von dir. Leute, die jetzt auch Geschäfte haben und ganz gesprächig werden, wenn man ihnen ein Jahr Schutz umsonst anbietet." Der Ex-Punk wollte seinem Gegenüber das Grinsen aus dem Gesicht prügeln. Ja, genau das wollte er. "Also machen wir es kurz, Jerry. Du zahlst, falls du deine Schule eröffnest, den normalen Satz. Oder... du weißt ja." Anis' Gegenüber schüttelte den Kopf. "Kevin würde dir niemals glauben." Wieder grinste der Tunesier. "Kevin weiß bereits, dass Timmy der dritte bei dem Überfall war. Und da er sich sicher darüber sein hübsches Köpfchen zerbricht, wer denn nur der Verräter war, wird er auch irgendwann draufkommen, dass du der einzige bei dem Gespräch warst, der seine Abkürzung gekannt hat." Anis hatte sich die Informationen bei Harry, dem Besitzer des "Matrix" geholt, nachdem dieser von Kevin besucht wurde. Als er davon hörte, dass Kevin für sich und Jerry eine Sportlocation suche, witterte er ein Geschäft... und einen gelungenen moralischen Schlag gegen den jungen Polizisten, der immer noch auf seiner Abschussliste stand.
    Jerry litt Höllenqualen. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er hatte dieses Kapitel, dieses dunkle Geheimnis, weit in seinem Innersten weggesperrt. Ganz selten, in seelischen Tiefphasen während seines Knastaufenthaltes, trat es hervor und er erinnerte sich daran. Er hatte Schulden... die Spielsucht hatte ihn in seiner Hand. Unbemerkt seiner Freunde, und tatsächlich war es Peter Becker, der ihm kurz nach dem fatalen Boxkampf seines Bruders gegen Kevin, Geld geliehen. Becker, getrieben von seiner Rache gegen Kevin, beobachtete den Jungen auf seinem 18. Geburtstag mit seiner Schwester. Er hörte danach von Timmy, dass Kevin den Geburtstag bald verlassen würde, um seine Schwester nach Hause zu bringen, durch eine Abkürzung. Und diese Info, wo genau diese Abkürzung war, tauschte er gegen die offenen Schulden von Jerry ein.


    Jerry, damals zwar angetrunken aber eigentlich im Vollbesitz seiner Kräfte, bereute es bereits wenige Minuten später. "Jetzt mach dir nicht in die Hose. Wir wollen dem Kleinen nur etwas Angst einjagen.", sagte der schwarzhaarige Becker und lachte mit Timmy zusammen auf. Und Jerry lachte ebenfalls... er wusste, was Kevin mittlerweile konnte. Und die beiden Großkotze würde er auch mit 2 Promille noch an die Wand klatschen, da war er sich sicher. Auf seine Schwester konnte der junge Punk aufpassen, wenn es darauf ankam. Als er zwei Tage später hörte, was passiert war, lag er tagelang alleine in der Lagerhalle und wollte mit niemandem reden. Zweimal war er kurz davor, sich mit Drogen und Alkohol das Leben zu nehmen. Die Schuld erdrückte ihn, doch ausgerechnet der Alkohol und die Drogen, die ihn eigentlich erlösen sollten, ließen ihn die Schuld verdrängen... vergessen. Jetzt kam alles wieder hoch... und die Worte von Anis waren Treffer wie Fausthiebe. "Du hast fürs Zocken deinen Freund verraten. Und den Tod seiner Schwester zu verantworten. Wenn ich an Kevins Stelle wäre..." Und dabei zog Anis einmal geräuschvoll Luft durch die Nase, bevor er weitersprach: "Ich würde dich umbringen. Und ich bin mir sicher, dass Kevin ähnlich denkt." Dessen war Jerry sich auch sicher.


    Was solle er tun? Anis drohen? Ausrasten? Kevin alles beichten? Es würde nichts ändern. Er verdrängte diese Schuld nun über 10 Jahre, er war sich sicher, sie entweder irgendwann zu vergessen oder sie schweigend mit ins Grab zu nehmen. Kevin durfte es nicht erfahren... nicht, weil er Angst vor seinem ehemaligen Schützling hatte... er hatte Angst UM seinen Schützling, denn er wusste, wie schwer es für ihn war, Vertrauen aufzubauen, und wie oft es schon gebrochen wurde. Und zu Jerry hatte Kevin, abgesehen von Jenny, Semir und Ben, das größte Vertrauen.
    Anis war aufgestanden und ging langsam um den halben Tisch zu Anis, wobei er leise in Richtung dessen Ohr sprach. "Also wenn du mich fragst, gehst du auf mein Angebot ein. Oder noch besser... du verkriechst dich, wenn du hier rauskommst, wieder in irgendeinem kleinen dreckigen Rattenloch." Der breite Ex-Punk sah Anis nur einmal kurz aus dem Augenwinkel an, als er sagte: "An was für ein dreckiges Rattenloch hast du denn gedacht? Das deiner Schwester?" Dann sah er Anis an, und er wusste wie sehr dieser Satz im Nervenzentrum des stolzen Tunesiers einschlug. Die beiden Männer blickten sich an, Anis begann langsam zu grinsen, bevor er Jerrys Hinterkopf packte und den Gefängnisinsassen wuchtig mit dem Gesicht gegen die Tischplatte schlug.


    Der einzige Wärter im Raum sah natürlich gerade in die andere Richtung, und wurde durch den plötzlichen Krach auf den Tisch der beiden aufmerksam. Gerade sah er, wie Jerry, der als Ex-Boxer natürlich einiges einstecken konnte, aufstand, kurz mit dem Arm ausholte und eine gezielte rechte Gerade, ohne Boxhandschuh, in Anis' Gesicht platzierte, so dass der Tunesier bildschön über den benachbarten Besuchertisch segelte. Zwei weitere Wärter, die durch das Fenster der Eingangstür die Lage mitbekamen, stürmten sofort hinein und griffen den vermeintlichen Aggressator Jerry sofort um ihn, im Polizeigriff, an die Wand zu drücken. "Das wird dich wohl ein paar Tage extra kosten, Jerry.", schnaufte einer der Wärter, während der Dritte im Bunde zu Anis eilte, und ihm auf die Beine half. Trotz blutiger Nase grinste der Tunesier in Jerrys Richtung: "War schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Jerry..."

    Autobahn - 9:30 Uhr


    "Ich will jetzt sofort wissen, was los ist." Jennys Stimme klang hektisch, sie klang beinahe schon ein wenig vorwurfsvoll. Kevin sah auf dem Beifahrersitz in den Rückspiegel, doch er konnte nicht feststellen, ob ihnen ein Auto von der Tankstelle folgte. Natürlich nicht... schließlich wollte der Killer an der Stelle zu schlagen, wo auch der Mord in dem Fall selbst passiert ist. Zumindest ansatzweise. Also brachte es erstmal nichts, Kevin zu folgen... voll war das Auto ja jetzt. "Kevin, du machst mir Angst. Was ist los? Warum wolltest du nicht in das Tankstellengebäude, und mit wem hast du telefoniert?" Der junge Polizist warf seiner Kollegin und Ex-Freundin einen kurzen Blick zu, nachdem er wieder normal durch die Frontscheibe geradeaus blickte. Die Striche der Fahrbahnmarkierung flogen links am Auto vorbei und für einen Moment beobachtete er sie, um Zeit zu gewinnen und seine Gedanken zu ordnen.
    "Ich... Kalle hat mich angerufen. Sie hat im Briefkasten das Gruppenfoto gefunden." Ihn traf Jennys geschockter Blick und sie schien das Lenkrad noch fester zu umklammern als vorher. "Was? Das heißt... jetzt bist du in der Schusslinie?" Gleichzeitig war sie aber auch erstaunt. Warum nahm ihn das, zumindest scheinbar in diesem Augenblick an der Tankstelle so sehr mit, dass er schnellstmöglich wieder im Auto und auf der Autobahn verschwand? Heute morgen, als er merkte dass er von Anis Leuten observiert wurde, blieb er doch völlig cool und gelassen. Und ungefährlicher als dieser Killer war der tunesische Unterweltboss sicher nicht.


    Kevin wog den Kopf hin und her. "Zumindest scheine ich der letzte zu sein. Auf dem Foto steht "Finale"." Jenny starrte auf die Fahrbahn und für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr würde schwindelig werden. "Was... weißt du was das bedeutet?" Der junge Polizist hatte das rechte Knie angewinkelt, den Ellbogen darauf gestützt und fuhr sich mit gleicher Hand kurz übers Gesicht. "Kevin?", drängte die junge Frau neben ihm auf eine Antwort. Ein untrügliches Gefühl, vielleicht war es weibliche Intuition ließ sie vermuten, dass er gerade eine Antwort im Kopf strickte, die nichts, oder nicht viel mit der Wahrheit zu tun hatte. Oder malte sie sich das gerade aus, weil er in den letzten Wochen so offen und ehrlich zu ihr war? Wollte sie nicht wahr haben, dass er sich geändert hatte?
    "Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht hat es doch mit dem Fall zu tun, den ich damals nicht auflösen konnte. Daran waren als Ermittlungshelfer Plotz, Saskia und Frederik Hollinger beteiligt... und ich als Verfahrensführer." Die Geschichte hörte Jenny gerade das erste Mal. Sie erinnerte sich daran, als er bei der Besprechung sagte dass er seine Fälle aus der Tabelle gelöscht hatte, weil sie ja irrelevant waren. Er hätte kein Foto erhalten... noch. So war sein Wortlaut. Sie hatte es genau im Ohr und wollte ihn später darauf ansprechen. Doch dann kam die Sache mit dem Leichenfund von Frederik und dessen Kind... und alles geriet in den Hintergrund.


    "Hast du das geahnt? Als du den Fall aus der Tabelle gelöscht hast?", fragte sie ohne Umschweife. "Nein! Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich doch selbst sofort auf Frederik gekommen.", sagte er sofort und merkte einen Stich im Magen. Doch er verdrängte ihn mit rationalem Denken. Als er seinen Fall am morgen betrachtet hatte, und alte Erinnerungen aufkamen, war Frederik laut Meisner bereits tot. Sie hätten ihn und sein Kind nicht retten können. "Vorher waren doch nur Saskia und Plotz betroffen. Die beiden haben unzählige Fälle gemeinsam bearbeitet, da deutete doch noch gar nichts auf ein Muster hin.", rechtfertigte er sich, nachdem er sich von Jenny ein wenig bedrängt fühlte... ungewollt von Jennys Seite aus. Doch sie war aufgeregt, die Sache gestern, die Angst und jetzt war wieder Kevin im Fadenkreuz. Es schien, als kämen die beiden niemals zur Ruhe.
    Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen und sich wieder auf die Straße zu konzentrieren. "Und wieso bist du jetzt plötzlich so nervös geworden? Dass Anis dich scheinbar beschatten lässt, bringt dich ja auch nicht aus der Ruhe.", fragte sie dann nach einigen Momenten der Stille wieder. "Die Morde passierten bisher alle an Orten, wie alte Fälle der Ermittler. Und mein Fall handelte von einem Tankstellenüberfall, bei dem eine Frau erschossen wurde.", sagte er ohne Umschweife und sah Jenny wieder kurz von der Seite an. Er sah ihren Blick... Misstrauen, Skepsis... als würde sie es ahnen. Als würde sie es wissen.


    Jenny biss sich auf die Lippe, als das Schweigen wieder einkehrte. Sie war sich sicher, dass er etwas verheimlichte. Sie wusste nur nicht was. "Warum habt ihr den Fall damals nicht gelöst?" Der junge Polizist biss die Zähne aufeinander. Verdammt, er wollte nicht darüber sprechen. Über diesen Fall, den er versuchte in seinem Unterbewusstsein zu unterdrücken. Abzuhaken. Nicht mehr dran zu denken, was ihm der Ehemann der Frau an den Kopf warf, als er ihm sagen musste, dass der Fall zu den Akten gelegt werde, nachdem sich alle Spuren im Sand verliefen. Dass es für jeden Verdächtigen entlastende Indizien und Beweise gab. Dass es bei keinem der Verdächtigen für eine Strafbefehl, für eine Anklage gereicht hatte. "Wie kann das sein? Es gibt doch Hinweise, Indizien. Es gibt doch sogar ein Phantombild." hatte er mit fassungsloser Stimme gesagt. "Was sind sie nur für ein Polizist??", hatte er geschrien, bevor er Kevin niederschlug, bevor Plotz eingreifen konnte.
    "Kevin??" Es war, als schreckte er aus einer Trance hoch. War er eingeschlafen? "Warum gibst du mir keine Antwort?", fragte Jenny und ihre Stimme wurde immer gereizter, je näher sie sich der Dienststelle näherten. Kevin schüttelte zaghaft den Kopf. "Ich weiß nicht mehr genau. Es gab wenig Hinweise, wir hatten ein oder zwei Verdächtige, auch mit Phantombild. Aber wir haben ihn nicht gefunden. Der Mörder war wie vom Erdboden verschluckt, und die einzigen Verdächtigen hatten klare Beweise dafür, dass sie es nicht waren. Alibis, kein Motiv, es wurde kein Geld und kein Fluchtauto gefunden." Seine Rechtfertigung hörte sich plausibel an, und doch kam der jungen Frau ihr Ex-Freund plötzlich zerbrechlich vor.


    Die Strecke zog sich wie Kaugummi, bis Jenny endlich die Abfahrt zur Dienststelle nahm. Sie spürte ein Übelkeitsgefühl und es hatte nichts mit dem geschluckten Rheinwasser von gestern zu tun. Sie hasste dieses Gefühl, das sie eigentlich gar nicht mehr haben wollte. Er war wie ein Fremder. Er war nicht ehrlich... sie konnte es spüren, fühlen... weil er nämlich gestern und vorgestern ehrlich zu ihr war. Und da hatte es sich anders angefühlt. Er wirkte vertraut, wie ein offenes Buch und Jenny konnte jede Faser der Empfindung bei Kevin spüren. Jetzt war er verschlossen. Er musste sich jeden Satz aus der Nase ziehen lassen. Er dachte vor jeder Antwort nach. Fast wollte sie behaupten, dass das schlechte Gewissen aus ihm spreche. Jemand, der Kevin nicht so gut kannte wie Jenny, wären all diese Dinge niemals aufgefallen, denn nach aussen wirkte er, wie immer, stoisch ruhig. Nur, dass er vor den Antworten nachdachte.
    Die junge Polizistin beobachtete ihn für einen Moment, als er ausstieg und in seinem karierten Hemd mit den abgetrennten Ärmel zum Eingang ging. Wie der warme Wind kurz Besitz über seine abstehenden Haare ergriff. Plötzlich war ihr Kevin wieder fremd. Ganz anders als gestern. Sie konnten den Gedanken nicht verhindern. Plötzlich war er wieder wie der Mann, vor dem sie nach Hamburg geflohen war.

    Rastplatz - 9:30 Uhr


    Pünktlich wie eine Schweizer Uhr rollte der Mercedes-Benz, ganz in Schwarz, zum vereinbarten Treffpunkt auf den Autobahnrastplatz. Bereits von weitem konnten Torben und Bastian den grauen Markenkollegen parken sehen, den jungen Polizisten mit der längeren Wuschelmähne direkt daneben. Bastian, der scheinbar nervöser war als Torben selbst, atmete tief durch. Er vermutete immer noch eine Falle hinter der ganzen Sache, und war entsprechend auf der Hut. Trotzdem konnten sie es jetzt und hier auf keinerlei Konfrontation ankommen lassen... immerhin war Ben ein Kollege. Ja, Ben sahen sie im Gegensatz zu Kevin als einen Polizeikollegen an. Eigentlich müsste er auf ihrer Seite stehen. Torben parkte den Wagen direkt neben dem des Autobahnpolizisten und beide stiegen aus.
    Ben hätte vermutlich einen Handschlag oder sonstigen Gruß vermieden, aber Torben hielt ihm die Hand hin. So schlug er ein... nach aussen wollte der Polizist erst einmal Sympathie zeigen, weshalb sich auf seinem Gesicht auch nicht die Wut auf die beiden Typen spiegelte, sondern ein freundliches Lächeln. "Was verschafft uns die Ehre dieses Treffens?", fragte Bastian und Ben blickte den bärtigen Mann an, der seine Hände verkrampft tief in die Jeanstasche gesteckt hatte. Seine Nervösität konnte er quasi spüren... kein Wunder, nach der Nummer, die sie gestern abend gedreht hatten.


    Ben blinzelte in die warme Sonne, die diesen Morgen schon unglaublich erwärmte. Sicher würde es in den Schulen der Umgebung heute hitzefrei geben. "Ihr wart nicht besonders gründlich gestern.", sagte er beinahe kryptisch und beobachtete die Reaktionen. Während Bastian sofort zu Boden sah, hielt Torben kalt den Augenkontakt. "Wenn ihr so eine Nummer abzieht, solltet ihr alle persönlichen Gegenstände aus eurem Auto nehmen." Torbens Mundwinkel zuckten. Bluffte der Typ? Wie sicher war er sich, dass er die beiden hierher bestellte... oder hatte Kevin seine Hände im Spiel? "Was habt ihr denn gefunden?" Ben zog ein gefaltetes Papier aus der Tasche, das er sich bei Hartmut ausdrucken hat lassen. "Es ist zwar ziemlich verschwommen durch das Wasser... aber mit der modernen Technik der KTU..." er vollendete den Satz mit einem Schulterzucken.
    Auf dem Papier hatte Hartmut es geschafft, eine, auf Hartpappe gedruckte, personalisierte Eintrittskarte wieder halbwegs lesbar zu machen. Darauf stand Bastians voller Name. Selbst unter seinem Bart konnte man erkennen, wie er sich auf die Lippen biss. "Der Typ von der KTU schuldet mir etwas. Er würde es also verschwinden lassen, und ausser Kevins Aussage würde euch nichts belasten. Und ich denke mal, einem Polizisten mit seiner Vorgeschichte wird man nicht viel glauben... oder?" Torben nickte. "Da hast du verdammt Recht... so war es auch geplant." Es war so etwas wie ein Geständnis, und Ben lächelte.


    "Also mal abgesehen davon, dass ich nicht damit einverstanden bin, dass ihr meine Kollegin fast absaufen habt lassen...", sagte er und konnte seinem Drang, sich ein wenig zu bewegen beim Reden, nicht widerstehen. "... bin ich bereit euch, gegen eine entsprechende Gegenleistung, zu helfen." Dabei sah er Bastian und Torben abwechselnd an. "Gegenleistung?", wiederholte Torben misstrauisch und hob die Augenbrauen. "Erst mal will ich von euch wissen... warum das Ganze? Was habt ihr gegen den Typen?" "Der Typ gehört nicht zur Polizei!", kam es von Bastian wie aus der Pistole geschossen und Ben sah den Mann mit Bart verwundert an. War dieser doch bisher sehr still und zurückhaltend, während sein blonder Partner sofort per Handschlag auf Ben zu kam, so preschte er mit dieser Aussage jetzt hervor. "Als Polizist sollte man gewisse Werte einhalten. Nichts davon hält Kevin ein. Ich weiß nicht, ob du seine Vergangenheit kennst, aber eigentlich ist das, was er bei euch schon gedreht hat, auch genug." Ben zuckte, gespielt unwissend, mit den Schultern. "Was ist denn seine Vergangenheit?" Die beiden Mordermittler sahen sich an. Sie kauften Ben die Show tatsächlich ab, denn der junge Polizist war überzeugend. Schließlich war Kevin ein Typ, unnahbar und verschlossen. Sie rechneten nicht damit, dass er sich je jemandem geöffnet hatte und so glaubten sie Ben seine Unwissenheit.


    "Wir haben uns damals, als er bei uns war, über ihn erkundigt. Er soll von der Straße kommen.", begann Torben mit ernster Stimme. "Das muss ja erst mal nichts heißen.", warf Ben sofort ein, und spürte, dass er ablehnend gegenüber den beiden wurde... was er erstmal nicht wollte, denn er brauchte Informationen. "Bandenkriminalität, Drogen, Körperverletzung... die ganze Palette. Wir haben seinen Namen in mehreren Akten des Staatsschutzes gefunden. Und wir fragen uns bis heute, wie so jemand Polizist werden konnte.", zählte der Blonde auf. Scheinbar wusste er sogar noch ein bisschen weniger als Ben... nämlich dass Kevin zu der Zeit bei der Mordkommission sogar noch hochgradig drogenabhängig war. "Er stand sogar selbst im Verdacht, seine Schwester im Rausch umgebracht zu haben. Dafür gab es Hinweise." Und Bastian setzte hinzu: "Ich würde ihm das auch zutrauen." Bens Augen verengten sich für einen Moment, und er brachte alle Beherrschung auf, jetzt nicht seinem Herzen den Vortritt zu lassen. "Was für Hinweise?", fragte er interessiert. "Laut den Akten war das Messer, das seine Schwester tötete, ein anderes als das, mit dem man ihn niederstach. Es ist also möglich, dass er seine Schwester zuerst getötet hat und danach von jemandem erwischt wurde, der ihn dann niedergestochen hat... wer auch immer das war. Jedenfalls wurde nie ein Mörder gefasst.", erklärte Torben. "Wart ihr mit dem Fall damals betraut?" Beide schüttelten den Kopf, damals waren sie noch nicht bei der Mordkommission, hatten den Polizeidienst erst angetreten. "Aber wir haben uns die damaligen Akten angesehen."


    Bens Herz schlug in seiner Brust und er nickte. "Das ist harter Tobak.", sagte er mit anerkennendem Unterton. "Und wir sind uns sicher, dass er immer noch mit Kriminellen zusammenarbeitet." Wieder hob Ben die Augenbrauen. "Und wie kommt ihr darauf? Was meint ihr mit "zusammenarbeitet"." "Dass er Informationen weitergibt. In den letzten Jahren sind mehr Drogenrazzien gefloppt als jemals zuvor... wenn du verstehst.", sagte Torben und Bastian ergänzte: "Wir haben immer mal das ein oder andere Gespräch mitbekommen, als er noch bei uns war." Ben schluckte... denn er wusste, dass das stimmte. Kevin hatte es damals selbst zugegeben. "Und natürlich der Tankstellenüberfall, den er damals als Verfahrensführer betreut hat." Jetzt stellten sich bei dem jungen Polizisten alle Gehörgänge auf Empfang... denn genau das war der Fall, den er heute morgen mit Semir noch durchgelesen hatte. "Tankstellenüberfall?" "Eine Kollegin der Finanzermittler geriet zufällig in einen Tankstellenüberfall und wurde erschossen. Der Täter wurde nie gefasst und wir sind uns sicher, dass Kevin seine Hände mit im Spiel hatte. Es wurden Fehler bei den Ermittlungen begangen, die mehr als auffällig waren." Der junge Polizist schluckte und sah zwischen den beiden Männern hin und her. "Ich sehe, er hat nicht viel über sich erzählt... wundert mich aber auch nicht.", merkte Bastian an, der jetzt lange das Wort Torben überlassen hatte. "Sind das jetzt alles Vermutungen von euch, oder habt ihr auch Beweise?", fragte Ben dann, als Torben scheinbar mit seinen Erzählungen fertig war. "Wenn wir Beweise hätten, müssten wir nicht unseren Job riskieren... dann wäre Kevin längst aus dem Polizeidienst entfernt worden."


    "Moment mal...", sagte Ben und reckte den Zeigefinger in die Luft, wie ein Lehrer. "Ihr riskiert euren Job, um Kevin aus dem Polizeidienst zu bekommen, weil er in euren Augen kein Polizist ist?" Torben nickte langsam. "Wir wollen ihm damit klarmachen, dass er nicht erwünscht ist. Er soll irgendwas machen, was zu ihm passt... früher oder später wird er sowieso hinter Gitter landen. Und so, wie du dich eben am Telefon angehört hast, denkst du genauso." "Deswegen auch damals, die Scheinexekution?" Torben und Bastian schauten überrascht... Ben hatte sich verraten. Wäre Kevin gegenüber den beiden Kollegen so verschlossen, wie sie es eben noch vermuteten, hätte er davon nie erzählt. "Er hat davon erzählt?", fragte Torben und sein Blick wurde misstrauisch, während sein Partner instinktiv einen Schritt zurückging.
    Ben nickte nur, ohne auf die Frage zu antworten, und drehte sich in Richtung seines Autos. "Hey, moment. Was ist mit dem Beweisstück? Wir haben dir deine Fragen beantwortet.", sagte Torben und wollte Ben, im ersten Affekt, am Ärmel festhalten... doch den Griff schüttelte der flinke Polizist schnell ab. "Ihr seid echt dümmer, als ihr ausseht...", sagte der Polizist beim Einsteigen und warf Torben den zerknüllten Zettel durch das offene Fenster vor die Füße. "Es gibt kein Beweisstück. Ich habe die Karte gefälscht und wollte von euch Flachzangen einfach nur wissen, was euch antreibt, meinen Partner zu quälen. Und seid euch gewiss: Das nächste Mal krieg ich euch am Arsch." Mit dieser Drohung startete Ben den Motor seines Dienstwagens, und fuhr vom Rastplatz.


    Torben und Bastian blieben für einen Moment in den Auspuffgasen stehen. "Scheisse... scheisse!!", fand Bastian als Erstes die Sprache wieder. "Jetzt beruhig dich doch mal, verdammt." "Mann... ich weiß nicht, ob ich nicht doch diese Karte im Auto hatte. Wie kommt der darauf?" "Vielleicht haben sie die Karte gefunden, konnten aber nichts mehr darauf erkennen, und der Typ hat einfach geblufft. Mann, wenn die einen Beweis hätten, hätte der Typ uns doch gleich verhaften lassen. Und was bringt es ihm, wenn er jetzt weiß, was wir von Kevin wollen? Gar nichts bringt es ihm." Er packte seinen Freund am Ärmel. "Wir müssen jetzt einfach ruhig bleiben... und ein wenig Gras über die Sache wachsen lassen. Auch wenn Ben einiges über Kevin bereits wusste... die Sache mit dem Tankstellenüberfall wusste er nicht, das habe ich gemerkt." Er sah dem Mercedes für einen Moment hinterher. "Vielleicht erledigt sich die Sache für uns jetzt."
    Ben hatte sich die Finger ins Lenkrad verkrampft. Er wollte nicht glauben, was die beiden ihm gerade erzählt hatten. Aber verdammt: Warum hatte Kevin ihnen nicht von dem Fall erzählt. Er hätte doch selbst drauf kommen müssen, nachdem Plotz und Saskia zwei der vier Beamten, die an dem Fall beteiligt waren, getötet wurden. Man hätte vielleicht das dritte Opfer vermeiden können... vor allem das Kind! Wenn er nur geredet hätte! "Du verdammter Idiot! Du verdammter Idiot!", rief er für sich selbst gegen die Frontscheibe seines Wagens und schlug mit den Händen aufs Lenkrad. Und ihm brannte die Frage auf der Zunge, welche Gründe es wirklich waren, dass der Mörder der Polizistin nie gefasst wurde...

    Dienststelle - 8:50 Uhr


    Semir staunte nicht schlecht, als er zurück in sein Büro kam und Bens Stuhl leer war. Die Jacke hing dort noch, doch der Autoschlüssel der normalerweise immer auf seinem Schreibtisch lag, fehlte. Der erfahrene Kommissar zog die Stirn in Falten und stand für einen Moment verwirrt in dem kleinen Büro. Dannn drehte er sich um und ging zu seiner Frau Andrea. "Sag mal... weißt du wo Ben ist?" Die Sekretärin der Chefin schaute von ihrem Monitor auf. "Der hat gesagt, er müsse noch etwas erledigen und ist vor fünf Minuten raus." Semir stützte sich mit zwei Händen auf die Tischplatte und seufzte. "Hat er gesagt, wohin?" Seine Frau schüttelte mit dem Kopf und fragte: "Wieso? Ist etwas?" "Nein, nein... alles ok.", wiegelte er mit einer kurzen Handbewegung ab und ging mit schnellen Schritten nach draussen.
    Er hätte es sich eigentlich denken können... Bens Parkplatz war leer, der Mercedes war weg. "So ein Idiot... so ein Idiot.", murmelte Semir wütend und griff sein Handy. Natürlich ging er jetzt nicht dran, er ging nie ans Telefon wenn er irgendwelche Flausen im Kopf hatte und einen Alleingang durchzog. "Wie kann man nur so stur sein, in dem Alter." führte der Polizist Selbstgespräche... und wären seine alten Partner gerade bei ihm, die mit ihm zusammen in dem Alter von Ben waren, würden sie ihn auslachen. Schließlich war er damals ähnlich.


    Autobahntankstelle - 9:20 Uhr


    Die Verfolgungsjagd, zu der Jenny und Kevin gerufen wurden, war schneller vorbei als gedacht. Nach nur wenigen Kilometer, als sie den, mit überhöhter Geschwindigkeit und vor zwei Streifenwagen flüchtenden Wagen eingeholt hatten, konnte Jenny mit erstaunlicher Fahrzeugbeherrschung und unter Unterstützung der beiden Kollegen den Flüchtenden sicher stellen. Ein junger Mann, gerade mal 21, war bei einer Polizeikontrolle nervös geworden, weil er drei Joints im Ablagefach liegen hatte. Kevin verfolgte die Verhaftung, die die uniformierten Kollegen dann vornahmen, mit Zurückhaltung. Hätte er den Jungen angehalten, hätte er sich vermutlich einen der drei Joints aushändigen lassen, um ihn heute abend zu probieren, hätte ihm geraten, die Dinger nicht offen liegen zu lassen und ihn dann weiterfahren lassen. Wäre der Joint gut gewesen, hätte er sich vielleicht noch nach seinem Dealer erkundigt. So hatten sie für eine sehr kleine Tat, sehr viele Menschen bei der Verfolgungsfahrt in Gefahr gebracht.
    Die beiden Polizisten mussten noch einige Kilometer fahren, um an einer Abfahrt drehen zu können und wieder Richtung Dienststelle fahren zu können. Dabei blinkte eine warnleuchte an Jennys BMW auf, die unmissverständlich riet, die nächste Tankstelle aufzusuchen.


    Nur wenige Kilometer später setzte die junge Polizistin den Blinker und bog an einer Tankstelle direkt an der Autobahn ab. Sie steuerte dabei ihren Dienstwagen dicht an die Zapfsäule und sah ihren Partner keck an. "Einmal Super Plus bitte, volltanken." Kevin war froh, dass sie nicht zuviel über gestern nachdachte, dass es ihr gut ging. Mittlerweile härtete Jenny ab, wenn man bedenkt was ihr in den letzten Monaten alles zugestoßen war. Sie versuchte zu verdrängen, zu vergessen... und wenn es sie mal überkam, wenn sie dringend reden wollte... dann rief sie Kevin oder Ben an. Ben in letzter Zeit weniger, weil sie Befürchtung hatte, Carina würde vielleicht eifersüchtig werden. Und weinen ließ es sich an Kevins Schulter einfach besser.
    "Wie gewünscht.", gab Kevin zur Antwort und stieg aus dem BMW, um den Zapfhahn in die, dafür vorgesehene Öffnung einzuführen. Während die beiden Zähler an der Zapfsäule unaufhaltsam um die Wette liefen, lehnte sich der junge Polizist mit dem Po ans Auto. Er hatte Bens Erregung von eben noch im Kopf, und er konnte sie absolut nachvollziehen. Natürlich war es ein Unding, nichts gegen Torben und Bastian zu unternehmen... aber er wollte sich und vor allem Jenny die Schmach ersparen. Die Schmach, wenn einem niemand etwas glaubt, wenn sich mehrere Leute zusammen tun, um einen Einzelnen als Lügner darzustellen, so wie es Saskia und die beiden Typen damals taten. Nein... das musste man anders regeln.


    Sein Handy riss ihn aus seinen Gedanken. "Ja?", meldete er sich, das Warnschild "Handys verboten" an den Zapfsäulen genüßlich ignorierend. "Hier ist Kalle. Du hast Post bekommen?" Das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, steckte Kevin den Zapfhahn zurück an die Säule und zog die Augenbrauen nach oben. "Na und? Bekomme ich öfters. Du hast mich noch nie angerufen, wenn ich Post bekomme." Er nahm das Handy wieder normal in die Hand und begab sich auf den Weg Richtung Tankstellengebäude. "Naja... normalerweise kriegst du auch keine Bilder geschickt. Und da habe ich mir gedacht, ich rufe dich mal an. Ich kann es auch sein lassen.", polterte Kalle in ihrer gewohnt rauen Art, unter der Kevin aufgewachsen war.
    Doch als sie das Wort "Bild" wählte, blieb Kevin wie angewurzelt stehen. "Bild? Welches Bild?" Er stand gerade zwischen den beiden Zapfsäulen der ersten Reihe, musste noch über eine Fahrspur, bevor er das Gebäude erreichte. "Ein Gruppenbild. Du und einige andere... scheint schon älter zu sein, du siehst noch jünger aus. Drei von denen sind durchgestrichen, mit rotem Filzstift. Du bist umkreist." Kevin spürte, wie sein Herz schneller schlug. "Ich hab mir gleich gedacht, dass da was nicht stimmt? Was hast du jetzt schon wieder angestellt?"


    Mit dem Handy am Ohr, ernstem Blick, sah Kevin sich um. Irgendwo ein verdächtiges Auto? Irgendwo eine Person, die sich im Verborgenen hielt? "Da steht ausserdem noch etwas von "Finale"... keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Kevin?" Wenn man den jungen Polizisten von aussen mustern würde, könnte man meinen, er hätte vergessen was er als nächstes tun wolle. Doch Kevin holte gerade die Vergangenheit ein... alle drei Morde, so akkurat wie es ging, nachgestellt. Alles alte Fälle... und es waren tatsächlich nur die vier Ermittler seines Falles. Er konnte niemand Verdächtigen sehen. "Kevin? Kevin, bist du noch dran?", hörte er Kalles Stimme ganz weit weg. "Ja, bin ich. Dannke für die Info, ich komme das Bild gleich abholen."
    Ohne Verabschiedung legte er auf. Obwohl er niemanden sehen konnte... er traute ihm nicht. Er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte. Es war zu gefährlich. Kevin drehte auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten zurück zu Jennys BMW. "Was hast du? Hast du schon bezahlt?", fragte sie verwirrt, während ihr junger Partner mit schnellen Fingern über sein Handy strich. "Kevin, was ist los?", fragte Jenny erneut, als keine Antwort kam. Kevin hatte die Nummer der Tankstelle gefunden und wählte: "Hey... schau mal aus dem Fenster zu dem grauen BMW." Er konnte erkennen, dass der Kassenwart neugierig aus dem Fenster sah. "Ich leg dir jetzt nen 100er unter den Wassereimer." Dabei hielt er einen grünen Hunderter, gut sichtbar, nach oben. "Rest ist Trinkgeld." "Was soll der Mist. Komm rein und bezahl, wie jeder andere auch.", war die ungehaltene Antwort. "Ich bin von der Polizei, und wir haben es eilig. Komm das Geld holen, oder warte, bis es jemand anders holt." Dann legte er auf und deutete Jenny an, los zu fahren. "Erst, wenn du mir sagst, was du hier gerade spielst.", sagte die junge Frau nun kratzbürstiger und ihr Partner nickte. "Unterwegs... ich sags dir unterwegs."

    Nicht nur als Consulting Producer. Auch bevor Erdogan diese Position offiziell bekleidete hat(te) er ein gewisses Mitspracherecht. Immerhin ist er das Gesicht von Cobra 11, ohne das Cobra 11 längst nicht mehr möglich wäre.

    Was Erdogan spielt, will Erdogan auch spielen. Die Gründe dahinter lasse ich mal im Dunkeln... Aber wenn er gesagt hätte: "Nein, die Klobürstenszene ist völlig lächerlich, sinnbefreit und unlustig" wäre sie auch nie vorgekommen. Insofern kann man sagen, dass er sie lustig fand, und deswegen gespielt hat.

    Und das lässt tief blicken.

    Dienststelle - 8:30 Uhr


    Ben war von Semir nur schwer zu beruhigen, nachdem Kevin den Raum verlassen hatte. Ruhig sitzen war für den Mann mit der Wuschelfrisur jetzt nicht drin, er tigerte durch den Raum, wie er es immer tat wenn er aufgewühlt war. Für Kevin wäre es ein Leichtes gewesen, das aus seinem Büro zu beobachten... wenn es ihn interessiert hätte. Aber er und seine Kollegin waren nicht da, eine Verfolgungsjagd auf der Autobahn hatte sie in den Einsatz gerufen. Scheinbar eine Routinesache, denn noch forderten sie keine Verstärkung an. Semir machte sich in dieser Zeit noch Notizen aus dem besagten Fall, den Kevin betreut hatte... wovon der junge Polizist immer noch nichts wusste, dass sein älterer Partner sich die Akten genau angesehen hatte. Mit den Augen verfolgte er die Bewegungen seines besten Freundes.
    "Du machst mich nervös. Ich tacker dich gleich mit dem Hintern an den Stuhl.", sagte er irgendwann, weil er ständig zwischen Akten, Notizen und Ben wechselte. "Ich verstehs einfach nicht. Mit ein, zwei Hinweisen wäre es so leicht, diese beiden Arschlöcher hochgehen zu lassen. Die dürfen doch keine Polizeimarke mehr tragen. Was sie mit Kevin abgezogen haben, war schon hardcore... aber gestern... die hätten Jenny verrecken lassen!", polterte er so laut, dass sogar Andrea, die Wortfetzen mitbekam, den Kopf drehte und erstaunt in das Zimmer reinsah.


    "Gehts vielleicht noch ein bisschen lauter?", mahnte Semir an... schließlich wusste bisher niemand, dass die vier Polizisten wussten, wer dafür verantwortlich war. Die Chefin wusste bisher nur, was vorgefallen war und wollte auf Hinweise aus der KTU warten, die das Auto unter die Lupe nahmen. "Ich versteh auch nicht, dass du das einfach so hinnimmst.", gab Ben seinem besten Freund zur Antwort und nahm erneut den Weg vom Fenster zurück zu seinem Schreibtisch. "Ich nehme gar nichts hin. Aber ich breche jetzt auch keinen Streit vom Zaun. Im Prinzip hat Kevin auch Recht, die beiden werden sich gegenseitig ein Alibi geben. Wir müssen jetzt abwarten bis Hartmut irgendwas im Auto gefunden hat, und dann werden wir schon etwas unternehmen, ok?", wollte der erfahrene Polizist einen Mittelweg finden, zwischen Beschwichtigung und trotzdem, irgendwie Verständnis für Kevin aufzubringen.
    "Und wenn er nichts findet? Dürfen die beiden dann weiter versuchen, Leute einzuschüchtern, wie es ihnen passt?" Semir seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück, fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Seine Stimme wurde nun auch etwas lauter und resoluter, als müsse er seinen Sohn oder vorlauten Bruder jetzt zur Räson bringen... und das war ein Ton, der Ben natürlich gar nicht passte. "Ben, es ist doch gut jetzt. Was willst du denn von mir hören?" "Ich will von dir hören, dass wir uns jetzt in dein Auto setzen, dorthin fahren und die beiden Vollidioten festnehmen." "Ohne eine offizielle Aussage von Kevin und Jenny mit welcher Begründung?" "Na... dass wir sie erkannt haben... oder irgendwas."


    Semir stand kopfschüttelnd von seinem Platz auf. "Wir warten, bis Hartmut sich meldet! Wir gehen den offiziellen Weg, so lange er möglich ist. Und jetzt beruhig dich endlich! Wird Zeit, dass du heute abend in den Urlaub kommst.", sagte er deutlich, bevor er das Büro Richtung Toilette verließ. Schnaubend ließ sich der junge Polizist auf seinen Stuhl fallen und fuhr sich mit zwei Fingern übers Kinn. Wenn Kevin den beiden das durchgehen lassen wollte... er würde es nicht. Aber er wollte wissen, warum er so tatenlos blieb. Er hatte ein Trauma wegen seiner Schwester. Er flippte aus, als Jenny vergewaltigt wurde. Er befreite Annie unter Einsatz seines Lebens aus Bogota und es fiel ihm so schwer, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und jetzt hakte er das einfach so unter "Dummer-Jungen-Streich, und ist ja nichts passiert" ab? Und dass es weitaus dramatischer war, als Kevin und Jenny erzählt hatten, wusste der Polizist ja gar nicht.
    Sein Telefon klingelte. "Jäger? Morgen Hartmut... hast du was für uns?" Der Polizist lauschte der Stimme seines technisch begabten Kumpels, nickte einige Male. "Hmm... ja. Ja, das hört sich gut an.... hmm. Du Hartmut. Ich komme am besten gleich vorbei. Was? Nein, Semir hat noch Papierkram zu erledigen. Bis gleich." Dann legte er auf und dachte noch für einen Sekundenbruchteil nach, ob er Semir Bescheid sagen solle. Aber dessen Passivität und sein belehrender Ton nervte ihn, Ben dachte in diesem Moment mal wieder mit dem Bauch, statt mit dem Kopf. "Scheiss drauf...", sagte er und nahm seinen Autoschlüssel. Auf Andrea's Frage, wo er denn hinfahre, gab er nur ein kurzes "Was erledigen." zurück.


    Mordkommission - 8:30 Uhr


    Bastian schreckte bei jedem Türöffnen, bei jedem Telefonklingeln zusammen, als er bis halb neun alleine im Büro saß. Danach kam sein Partner Torben rein, der nicht ganz so blass aussah wie sein Freund. "Was ist mit dir los? Schlecht geschlafen?", fragte der und setzte sich mit einer Tasse Kaffee an seinen Platz. "Ja, schlecht geschlafen. Stell dir vor. Bei jedem Geräusch denke ich, das SEK stürmt meine Bude. Bei jedem, der hier reinkommt, denke ich dass es die Interne ist. Und bei jedem Telefonklingeln stelle ich mir vor, Frege ist dran und fragt, was wir schon wieder angestellt haben.", zischte der bärtige Schwarzhaarige mit nachdrücklichem, aber leisem Ton, während der großgewachsene Torben scheinbar weniger Skrupel an dem hatten, was sie gestern getan hatten.
    "Piss dich jetzt nicht ein. Wir machen alles so, wie besprochen." Sein Freund schüttelte den Kopf. "Wir sind zu weit gegangen. Wir hätten die Kleine einfach in der Wohnung lassen sollen, und abhauen. Das war völlig bescheuert. Sie wäre im Wasser verreckt, wir haben sie einfach im Auto gelassen." Er wischte sich eine Strähne seiner Haare aus dem Gesicht. "Pass mal auf... wir haben uns beide dazu entschieden. Ja, es ist scheisse gelaufen, aber wir müssen jetzt da durch.", herrschte Torben ihn an, so dass Bastian die Lippen aufeinander presste.


    "Hey... Bastian.", klang der Ton in Torbens Stimme einen Moment später versöhnlicher. "Wir müssen jetzt die Nerven behalten. Vergiss nicht... wir sind die Guten. Wir sorgen dafür, dass solch ein Gesindel aus dem Polizeidienst verschwindet. Wenn schon die Vorgesetzten nichts tun. Wir müssen ihn drankriegen, bevor er uns drankriegt, ok? Aber dafür müssen wir jetzt cool bleiben. Okay?" Bastian sah aus dem Fenster, seine Finger spielten nervös mit einem Stift, der auf seinem Schreibtisch lag. "Okay??", fragte sein Partner nochmal nach, so dass er Bastian schließlich doch zum Nicken brachte. "Ja, ok." Torben nickte ebenfalls zufrieden. "Wir haben beide ein Alibi. Ich hab das Auto noch gestern Abend als gestohlen gemeldet. Kevin wird man nicht glauben, und seine Freundin hat er beeinflusst um uns an den Karren zu pissen. Schließlich hat er es auf uns abgesehen, wir der Schlag beweist."
    Torbens Telefon gab Laute von sich, und der Blonde nahm den Hörer in die Hand. "Ja? Morgen, was kann ich für dich tun?" Er schien aufmerksam zu zu hören, und sein Blick wurde ernst, während er zu Bastian sah. "Meins? Ja, das hab ich gestern als gestohlen gemeldet... wurde es gefunden?", fragte er gespielt ahnungslos. Doch scheinbar schien er etwas am Apparat zu hören, was ihn erst stutzig, dann wütend, und dann neugierig machte. "Das ist ja interessant." Bastian hing ihm gegenüber an den Lippen. "Ja... ja, das können wir machen. Wann? Eine Stunde? Ja alles klar. Bis dann." Dann beendete er das Gespräch. "Wer war das?", fragte sein Partner sofort neugierig. "Einer der Autobahnbullen. Wie erwartet haben sie etwas im Auto von mir gefunden." "Ja und? Du hast doch gesagt, dass das Auto gestohlen wurde." "Klar... aber natürlich ist Kevin auch nicht blöd. Der hat seinen Kollegen davon erzählt, dass er uns natürlich erkannt hat." Bastian zog verwirrt die Augen nach oben. "Und jetzt? Was wollte der Typ?" "Sich mit uns treffen. Er hat Andeutungen gemacht, dass er Dinge gegen Kevin in der Hand hat, um ihn fertig zu machen... und er will mit uns reden. Also reden wir mit ihm... in einer Stunde."
    Bastian schüttelte den Kopf. "Das ist doch eine Falle..." "Was soll das für eine Falle sein? Der könnte mit den Hinweisen doch auch gleich mit der Kavallerie hier auflaufen, wir sind doch nicht auf der Flucht. Hör jetzt endlich mit deiner Paranoia auf...", sagte Torben und trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

    Cobra gibt es seit über zwanzig Jahren und wenn es immer gleich geblieben wäre, Explosion am Anfang, Verfolgungsjagd auf der Autobahn, irgendwelche Autoschieber, Drogendealer oder Waffenhändler, irgendwann ein Faustkampf, noch mal Verfolgungsjagd und zum Abschluss noch mal eine Explosion, dann wären wir schon vor Langeweile gestorben.


    Diese Abfolge ist auch heute noch so. Früher gab es zwischen Faustkampf und Verfolgungsjagd auch mal noch ne Befragung. Aber im Groben hat sich das nie geändert. Nur das Drumherum ist jeweils anders. Früher war der Faustkampf halbwegs realistisch, heute muss er zum Lachen sein. Früher wurde sich mit Autos verfolgt, heute sind es möglichst lustige Vehikel, am besten verkleidet. Früher wurde die Verfolgungsjagd beendet, weil der Flüchtige vielleicht einem unvorsichtigen Autofahrer ausweichen musste, heute weil dem Verbrecher ein Geist begegnet. Und früher ist das Auto explodiert, weil sich der Sprit an Zündkabeln entzündet hat (wenig realistisch), heute weil... ähm... ja, weil einfach noch kein Auto explodiert ist (behämmert).

    Das Problem ist nicht die Abwechslung, wie schon gesagt. Das Problem ist, dass man der Serie das, was sie zZ produziert, nicht abkauft. Zumindest, was die eingefleischten Fans angeht.

    Zur ersten Tom-Ära hatte man eine zeitlang mehr als 50% der Folgen den klassischen Plot, dass Person A etwas in die Hand gefallen ist, was Gangsterboss B mit Handlanger C und D versucht hat, wieder zu beschaffen. Struktur gleich, hin und wieder eine Überraschung.

    ABER: Man war bodenständig. Man konnte die Fälle nachvollziehen. Die Polizisten waren Polizisten, ernst zu nehmen, beherrschten ihren Job. Ernst zu nehmen ist heute weder der Charakter Gerkhan, noch der Charakter Renner, wenn die in Zahnfeekostümen rumlaufen, oder der Hauptverbrecher am Ende der Folge vom Dach fällt, weil er sich einen Geist vorstellt (die einzige Folge, die ich in dieser Staffel mir angetan habe.)

    Ich vergleiche Cobra 11 gerne immer mal mit dem letzten Bullen, weil ich von dieser Serie immer begeistert war. Letztendlich haben sich hier die Fälle andauernd wiederholt. Erstmal ging es immer um einen Mord, weil man eben bei der Mordkommission war, und zweitens waren die Motive halt irgendwann durch. Was die Serie aber trotzdem unterhaltsam gemacht hat, war

    a) Die Charaktere, nicht nur die beiden Hauptcharaktere sondern der komplette Cast
    b) die Greifbarkeit der Fälle
    c) Die Hintergrundstory
    d) die Ernsthaftigkeit der Kommissare... und damit meine ich nicht, wie ernst jemand ist, sondern ob man ihn für voll nehmen kann.
    e) die Sprunghaftigkeit in der Ausrichtung

    a) Ist momentan bei Cobra 11 ein Riesenmangel. Weil es total unbeständig ist und das ist meiner Meinung nach ein Kostenpunkt, als wolle man nicht für jede Folge den kompletten Cast bezahlen. Susanne verkommt komplett als Stichwortgeber. Hartmut dito. Vielleicht haben die dann mal 1 Folge pro Staffel, in denen sie eine wirkliche Rolle spielen. In manchen Folgen ist Jenny gar nicht zu sehen, in manchen Folgen ist Finn überhaupt nicht zu sehen.

    Wie soll man so eine Bindung zu den Charakteren aufbauen? Dazu kommt, dass man gewisse Geschichten einfach vergisst, was die Charaktere erlebt haben. Das wird dann einfach ausgeblendet, man hat das Gefühl dass tlw Zeitabfolgen durcheinander gemixt wurden. Sogar in der guten Alex-Ära als man die Hintergrundstory um den Staatsanwalt gestrickt hatte, kam das vor. Wird irgendwo mal noch Susannes Kind erwähnt? Oder die aufkommende Beziehung zu Hartmut, die es mal gab? Beim letzten Bullen wurden hin und wieder Geschehnisse der Charaktere erwähnt, die bereits 1-2 Staffeln zurücklagen. Das schaffte Atmosphäre, das schaffte Vertrautheit. Tiefpunkt, was dieser Punkt bei Cobra anging, war als Semir nur wenige Folgen nach dem ersten Erscheinen seiner dritten Tochter davon sprach, dass er zwei Kinder habe.

    b) ist schwer zu erklären im Vergleich zu DlB. Auch da gab es lustige Fälle, wenn mal jemand im Puff, bei einer Kuschelparty oder beim Junggesellenabschied ermordet wurde. Es diente zur Lockerheit, die die Serie mitbrachte. Diese Lockerheit war aber nie niveaulos, oder extremer Klamauk, wie bei Cobra 11. Man machte in dem Zusammenhang die Kommissare nicht komplett lächerlich, in denen sie zb in lustig gemeinten Kostümen durch die Gegend laufen mussten, oder eine Folge lang ein Geister glauben mussten. dazu aber bei d) mehr.

    c) kann man auch nochmal mit a) verknüpfen. Es gibt einfach nichts, was mich bei Cobra 11 dazu bewegt, ausserhalb der Hauptstory einer Folge einzuschalten. Wenn es um eine Thema geht, was mich nicht interessiert, brauche ich die Folge nicht zu gucken. Das war zb bei der Alex-Ära anders, weil es eine durchgängige Hintergrundstory gab. Die muss ja nicht mal etwas Kriminelles beinhalten, die kann sich auch um das Privatleben der Ermittler handeln. Das war bei Cobra 11 ein, mMn vorsichtiger aber sehr gelungener Versuch der Alex-Ära, von dem man wieder vollkommen weggekommen ist. Einzige: Der peinliche Versuch, Paul und Jenny zu verkuppeln, so wie ich das mitbekommen habe.
    Hier geht Cobra 11 leider gar nicht mit der Zeit. Die modernen Serien, die man bei Netflix und Amazon anschaut, und über die die Menschen sich unterhalten, sind zusammenhängend. So wie es auch der letzte Bulle vorgeführt hat, der eine Staffel über einen großen Fall in 8 Folgen aufgeteilt hat. Ein Versuch, der durchaus auch für Cobra 11 sehr interessant sein könnte, und immer wieder die Spannung hochhält und neugierig macht auf die nächste Folge... WENN die Story es denn hergibt und die Punkte a) - e) berücksichtigt.

    d) knüpfe ich an b) an. Warum muss man die Polizisten unbedingt mit Kostümen lächerlich machen? Warum mit gestellter Dummheit Lacher ernten wollen? Warum über Missgeschicke, wie die schon seit Jahren völlig übertriebenen Unfälle, die die Kommissare veranstalten. Ja, AfC11 ist eine Actionserie. Da soll es knallen, auch unrealistisch. Aber Semir und Paul sind die guten. Die ausgebildeten Autobahnpolizisten. Wenn die Verbrecher im Auto gejagt werden, dann dürfen die Unfälle bauen. Bei den beiden Polizisten hat man seit Jahren das Gefühl, die könnten kein Auto fahren, etwas was zumindest Semir mal ausgezeichnet hat (zur Andre und Tom - zeit). Und oftmals passieren die Unfälle aus Gründen, die man auch zum Lachen finden soll... aus Missgeschicke.

    Wäre ich ein Verbrecher, würde ich mich über die beiden Clowns kaputtlachen. Wobei... die Verbrecher selbst sind ja mittlerweile ebenfalls eher weniger ernstzunehmen. Von den ganzen Weltrettungs und Weltzerstörern rede ich gar nicht erst. Schön wäre es, wenn Einzeltäter, die nicht aus skrupelloser Profitgier handeln, sondern aus, vllt sogar verständlichen Motiven etwas vermenschlicht dargestellt werden. Ich glaub, da war die Geister-Story ja noch eine rühmliche Ausnahme.

    e) Hatte ich vor langer Zeit schon mal kritisert. Gestern waren die Kommissare Clowns, die über die eigenen Füße stolperten und lachten, wenn sie mit der Panzerfaust Verbrecher gekillt haben. Heute müssen sie (übertrieben) zum Psychologen, weil sich ein Jugendlicher vor ihren Augen anzünden will, und Hinterfragen Empathie und Moral. Und morgen wiederrum können sie diese Begriffe nicht buchstabieren und lachen lieber über Arsch- und Tittenwitze.
    So kann man die "Stimmung" der Serie zwischen Ben-Alex und Paul-Zeit momentan beschreiben. Und vorher wars halt nochmal anders... man hat da völlig die Konstanz verloren.

    Abschließend nochmal: Nicht die Abwechslung der Storys ist das Problem, oder dass man neue Ideen bräuchte, auch wenn es sicher viele Themenfelder gibt, die bisher unangetastet bleiben. Die Art der Story und die Erzählweise und alles drumherum ist momentan das Problem. Aber das wird nicht mehr behoben werden.