JVA - 9:30 Uhr
Die letzte Nacht, das letzte Mal mit vielen anderen Männern zusammen morgens duschen gehen, das letzte Mal im großen Raum frühstücken. Jerry tat diese Dinge, die er all die Jahre quasi in der Ohnmacht des Alltags getan hatte, dieses Mal ganz bewusst. Natürlich gab es die üblichen lustig und weniger lustig gemeinten Sticheleien. "Denk dran, morgen wirst du nicht geweckt." "Hoffentlich fühlst du dich nicht einsam in der Dusche." und "Jetzt gehörst du ja zum besseren Teil der Gesellschaft." Manche, die ihm freundlich gesinnt waren, lachten während andere ihm dabei den Mittelfinger zeigten. Über die Jahre hatte er sich manchen Mithäftling zum Feind gemacht, nicht zuletzt durch seine Drogengeschäfte. Durch diese und seine körperliche Präsenz, sowie seinen väterlichen Charakter, der ihm vor allem bei jungen Häftlingen Respekt verschaffte, musste er nie Angst haben, angegriffen zu werden. Mit den harten Jungs hielt er sich gut, viele trainierte er und wenn es Ärger gab, stand er nie allein, auch wenn er es mit einigen im Knast auch noch persönlich aufnehmen konnte, trotz seines Alters. Ein bisschen würde er den Alltag hier drin vermissen... ohne schlechtes Gewissen faulenzen, das wird im draußen schwer fallen. Denn auch wenn er vor dem Knast eigentlich arbeitslos und kriminelle war, meistens kiffte, einbrach oder Drogen dealte, so war er doch in gewisser Weise geschäftig. Sich irgendwo hinlegen, den ganzen Tag rumhängen, das war absolut nicht Jerrys Ding. Im Knast ging es oft nicht anders. Jetzt stand ihm die Welt wieder offen.
Um halb zehn wurde er in seiner Zelle abgeholt und der Wärter sperrte die Zwischentür zwischen den Sicherheitsbereichen auf. "So, mein Guter. Dann wollen wir mal." Der ehemalige Straßengang-Anführer nickte, schaute sich noch einmal nach hinten zu den Zellentrakten um und nickte kurz. Dann verließ er diesen Bereich, und er hoffte es würde für immer sein. Er dachte an seine Worte, die er vor einem Jahr an Kevin richtete, als der hier eingesperrt war. "Eigentlich möchte ich gar nicht hier raus. Hier habe ich doch alles, was ich brauche." Er musste selbst den Kopf schütteln ob dieser Worte, als er jetzt an der Pforte stand und seine Entlassungspapiere bekam, dabei den alten Rucksack, der aussah wie ein Armee-Rucksack und immer noch mit Punk-Aufnähern verziert war, auf den Rücken schulterte.
Er ging nach draussen und wurde erst mal von der Sonne geblendet und von der Wärme empfangen. Noch war sie halbwegs angenehm, in zwei Stunden wäre sie wohl unerbittlich. "Machs gut.", sagte der Wärter an der Pforte, sie schüttelten sich die Hände und der Polizist hatte sich dringendst angewöhnt zu jedem Häftling nicht "Auf Wiedersehen" zu sagen. Denn natürlich hoffte man, dass sich ein Verbrecher hinter Gitter geändert hatte, geläutert war und den rechten Weg jetzt nicht mehr verlassen würde. "Mach ich, danke.", sagte Jerry und ging die wenigen Schritte bis zur Hauptstraße.
Dort setzte er sich auf eine niedrige Mauer eines Farbrikgeländes gegenüber der Justizvollzugsanstalt und wartete. Kevin hatte ihm die Tage versprochen, ihn pünktlich abzuholen, und eigentlich war der Polizist ein ziemlich pünktlicher Mensch. Jetzt konnte er ihn nirgends sehen, er schaute immer mal aufmerksam in die geparkten Autos, da er ja nicht wusste, welches Auto sein Freund aus alten Tagen überhaupt fuhr. Hin und wieder blickte er auf seine alte Armbanduhr, die dringend mal ein neues Lederband brauchte... eine der ersten Dinge, die er jetzt in Freiheit angehen würde. Die Sonne auf seinen kurzen Haaren wurde wärmer und wärmer, so hatte es den Anschein. Im Prinzip war es seine Ungeduld, endlich von hier weg zu kommen, endlich irgendwo Kevin zu entdecken.
Doch statt seines Freundes hielt irgendwann ein silbernen BMW am Gehweg, direkt vor Jerry. Er zog die Augenbrauen etwas nach oben, als er im Wagen zwei bekannte Gesichter sah. Kevins Kollegen, Semir und Ben blickten aus dem Beifahrerfenster, das sich langsam senkte. Sie waren zusammen bei Kalle, Kevins Ziehmutter um ihr die schlimmen Nachrichten zu überbringen, was gestern im Trubel völlig unterging. Sie hatte sich auch noch keine Sorgen gemacht, dass Kevin mal für eine Nacht wegblieb war nichts ungewöhnliches. Jetzt reagierte sie aber geschockt und erwähnte nebenbei, dass Kevin doch noch Jerry aus dem Knast abholen wollte.
Der Ex-Knacki stand auf und kam zur Beifahrertür. "Hat Kevin jetzt sogar schon ein Taxi-Unternehmen, das für ihn arbeitet?", fragte er grinsend und konnte mit seiner guten Laune scheinbar niemanden anstecken, denn die Mienen der beiden Polizisten blieben ernst. "Wir wollten dich abholen kommen.", sagte Ben mit monoton klingender Stimme, und Jerry hatte ein Deja-Vu. Nach nur 5 Minuten in Freiheit stieg er schon wieder in einen Streifenwagen, auch wenn der ihn nicht zurück ins Gefängnis bringen würde. "Na schön.", sagte er und warf zuerst seinen Rucksack auf die Rückbank, bevor er selbst einstieg und die Tür zu zog. Semir legte den Gang ein und der silberne BMW setzte sich wieder in Bewegung.
"Ist Kevin krank?", fragte Jerry erst das naheliegendste, was ihm "widerfahren" hätte können. "Oder im Einsatz?" Er sah Semirs braune Augen kurz im Rückspiegel und hörte ein leises Seufzen von Ben. "Nein.", sagte dieser und blickte aus dem Seitenfenster. "Kevin ist gestern angeschossen worden und liegt im Koma." Jerry hatte das Gefühl, als würde sich die Hinterbank auf tun und er würde in einem schwarzen Loch verschwinden. Das lockere Lächeln gefror und wie in Zeitlupe sank er zurück in die Sitzbank. "Fuck...", murmelte er und sein Gesicht drückte einen Schock aus... ein Schock, der nicht gespielt war, da war sich Semir sicher als er die Reaktion im Spiegel beobachtete. "Aber... wer..." "Vermutlich ein Ex-Kollege, der eine solche Art Polizist wie es Kevin war im Polizeidienst nicht duldet.", gab Semir zur Antwort, auch wenn er mit dem Ermittlungsergebnis noch nicht so ganz zufrieden war.
Wenig später stand auch Jerry an der Glasscheibe und sah seinen besten Freund hilflos auf dem Bett liegen. Schuldgefühle überkamen ihn, auch wenn sein dunkles Geheimnis wohl nichts mit dem Attentat zu tun hatte. Er sah Jenny, die an Kevins Bett setzte und spürte plötzlich ihren Blick. Ihre Augen wurden größer und mit einem Ruck setzte sie sich auf und kam mit schnellen Schritten aus dem Krankenzimmer, so dass Jerry zunächst überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah. "Du mieser Dreckskerl! Du verdammter Verräter!", rief Jenny wütend und verpasste dem verduzten Jerry eine klatschende Ohrfeige, so unerwartet und plötzlich, dass selbst Semir und Ben, die in der Nähe standen, nicht eingreifen konnten. "Wie konntest du Kevin das antun!! Und ihn dann noch belügen, du mieser Scheisskerl!!" Natürlich wusste Jerry, worum es ging... aber woher, verdammt, wusste Jenny davon? Und was hatte es mit dem Anschlag zu tun? Jenny vermischte in ihrer Situation gerade alles, was ihr in den Kopf kam, und bevor sie ein zweites Mal ausholen konnte und um zu verhindern, dass sie gleich aus dem Krankenhaus, zumindest von der Intensivstation verbannt wurde, griff Ben beherzt ihr Handgelenk. "Jenny!! Hör auf! Lass das." Er umfasste ihre schlanke Taille wie ein Schraubstock und zog sie von Jerry weg, der so verduzt war, dass er kein Wort rausbrachte. Jennys Augen füllten sich mit Tränen. "Los! Wir gehen mal runter an die Luft. Komm jetzt!", sagte er in einer Mischung aus Bestimmtheit und Fürsorge. Semir folgte ihnen ins Treppenhaus, nicht ohne nochmal einen kurzen, nicht gerade mitleidsvollen, eher verachtenswerten Blick auf Jerry zu werfen.
Das Herz des Ex-Knackis schlug heftig gegen seine Rippen, so hatte er sich den ersten Tag in Freiheit nicht vorgestellt. Wenn Jenny es wusste, und Semir ebenfalls, denn anders konnte er sich den Blick nicht erklären... wusste Kevin es dann ebenfalls? Doch einen Blick auf seinen Freund, und ihm wurde klar, dass das gerade seine kleinste Sorge sein sollte. Nur wenige Augenblicke später hörte er im Hintergrund ein klingendes Geräusch, das Öffnen von Aufzugstüren und Schritte, die neben ihm endeten. "Na... glaubst du, dass er dir verzeihen wird?" In Jerry stieg Wut auf, er kannte die Stimme und er blickte sich um. "Was willst du hier?", fragte er Anis direkt ins Gesicht. "Das Gleiche wie du... ich will einen Freund besuchen und schauen wie es ihm geht." Dabei lächelte er und schien sich hinter einem Strauß weißer Blumen, die Jerry nicht sofort identifizieren konnte, zu verstecken. Er war ganz froh, dass kein Polizist da war, der ihn sofort von der Intensivstation schmiss. "Verpiss dich von hier! Du hast hier nichts verloren!" Anis grinste überheblich, er lachte sogar kurz auf. "Dass du dich nicht schämst, Alter. Hier als trauernder Freund aufzutauchen, nachdem du mitverantwortlich dafür bist, dass dein bester Freund sein halbes Leben lang einem Phantom hinterherjagte. Ich weiß nicht, was mich mehr ankotzt." Jerry packte den Tunesier am Kragen, doch diesmal beherrschte er sich und blickte nochmal kurz auf Kevin. Aufregung, egal ob er etwas mitbekam oder nicht, würde ihm sicher schaden. Und Jerry kam nicht im Entferntesten auf die Idee, dass Anis etwas mit dem Anschlag zu tun hatte, schließlich hätte er Kevin mit der Wahrheit sogar einen Gefallen getan, wenn dieser auch schmerzte. Ein Blick auf eine Krankenschwester, die gerade den Flur entlang kam, ließ er den Tunesier sofort wieder los, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten Richtung Aufzug... bevor er doch noch etwas Dummes anstellte.
Anis richtete sich den Kragen seines Hemdes und warf einen Blick auf Kevin. So stark er ihm vor einigen Wochen als Gegenspieler gegenüber trat, unerschütterlich und souverän wirkte, so klar war jetzt der Unterschied zwischen dem gesunden Anis hier draussen und dem schwer verletzten Kevin hier drin. Die Krankenschwester beäugte Anis kritisch. "Sind sie ein Angehöriger?" "Nein nein... ich bin ein Freund... ich wollte ihm nur etwas vorbeibringen.", sagte er höflich. "Blumen sind auf der Intensivstation leider nicht erlaubt, und rein lassen darf ich sie auch nicht." "Oh... kein Problem. Vielen Dank füe die Info.", nickte er entschuldigend und sah, wie die Krankenschwester in Kevins Zimmer verschwand und begann, an der Beatmungsmaschine und dem Überwachungsmonitor zu hantieren.
Anis nickte kurz, als war er zufrieden und sagte leise zu sich selbst: "Jetzt, Kevin... jetzt sind wir so gut wie quitt. Die Schlacht hast du vielleicht gewonnen, aber nicht den Krieg.", sagte er und tippte leicht gegen die Scheibe. Dann legte er die weißen Blumen unter das Fenster in den Flur. "Der Liebsten die Roten... die Weißen den Toten.", sagte er, und verstand es nicht als Drohung, sondern als Wunsch. Dann stieg er in den nächsten Aufzug...