Autobahn - 10:30 Uhr
Er war gerade erst ins Büro gekommen, jetzt war er schon wieder unterwegs auf der Autobahn. Doch diesmal war seine Stimmung und seine Laune noch mieser als vorher. Und Ben wusste, dass er sich unmöglich benahm, aber er konnte nichts daür, redete er sich ein. Die Mittelmarkierung der Autobahn huschte an ihm vorbei, er hatte sich seine Sonnenbrille aufgesetzt, die Miene verkniffen und hielt das Lenkrad mit einer Hand an der Oberkante des Kranzes fest. Immer, wenn sich der junge Polizist selbst einredete, vernünftig zu sein, ruhig zu sein, passierte etwas und die unfairen Worte sprudelten aus ihm raus. Und er konnte es nicht stoppen, seit Kevins Tod überkam ihn zu oft das Gefühl, Ungerechtigkeiten zu bemerken. Und eine davon war, Kevins Stelle einfach mit einem fremdem Polizisten zu besetzen.
Sicher, in den Ohren eines neutralen Menschen hörten sich Semirs Argumente sinnvoll an. Natürlich brauchen sie Ersatz für Kevin, natürlich nahm die Arbeit überhand solange auch Jenny nur begrenzt einsatzfähig war und sich auffallend oft krank schreiben ließ. Aber sie konnten den jungen Polizisten nicht einfach ersetzen. Nicht mit so einem arroganten Fatzke der vermutlich ebenso gegen Kevin als Polizist gewesen wäre, wie Torben und Sebastian. Ben steigerte sich in diesen Gedanken, so absurd er vielleicht auch war, dermaßen hinein, dass er die Beherrschung verlor als der neue Kollege es wagte zwei Bandfotos, die Kevin im Büro an die Wand hing, abzuhängen und bei Seite zu legen.
Es kam Ben vor, als würde Semir alles tun um ihren ehemaligen Mitarbeiter und Freund zumindest auf der Dienststelle vergessen zu machen. Abzudrängen, bei Seite zu schieben. Der Vorwurf war ungerecht, doch der Mann mit der Wuschelfrisur hatte im Moment den Sinn und sein Gefühl für Gerechtigkeit gegenüber seinen Freunden und auch gegenüber Carina verloren. Er sah nur sich selbst. Oft war ihm das bewusst, meistens wenn er, so wie jetzt gerade, auf der Autobahn alleine unterwegs war. Oft wollte er sich selbst ins Gesicht schlagen und sagen: "Benimm dich nicht wie ein kleines Kind.", um dann im nächsten Moment wieder mit Erinnerungen zugeschüttet zu werden. Erinnerungen, die wehtaten und ihn traurig machten. Er griff in die Mittelkonsole und nahm seine Sonnenbrille um seine traurigen Augen zu verstecken.
Semir hatte das ganze schon dreimal mitgemacht, und er hatte ganz Recht mit dem was er sagte: Die Beziehung zwischen ihm und Ben war zu Beginn sehr schwer. Der erfahrene Polizist hatte gerade seinen Partner Chris verloren, der Mörder stand kurz davor wegen gekaufter Zeugen freigesprochen zu werden und Semirs Familie war in Lebensgefahr. Das Nervenkostüm war sowieso zum Zerreißen gespannt, und dann kam da noch dieser Jungspung mit lockerer großer Klappe und redete davon, dass die Autobahnpolizei eh nur eine Durchgangsstation zur großen Karriere wäre. Ein toller Start. Als er das bei einem Bierchen und zwischen zwei Songs Kevin erzählt hatte, war dessen kurzer Kommentar: "Das war nicht so clever... irgendwie." Daraufhin mussten beide lachen.
Lachen... es war etwas, was Ben nicht oft bei Kevin sah. Der junge Polizist, um den bei der Autobahnpolizei alle trauerten, hatte sein Lachen an seinem 18. Geburtstag verloren. Bei einem Überfall durch einen Bekannten von Kevin wurde Janine Peters vergewaltigt und getötet, Kevin wurde durch seinen damals besten Freund verraten, was er erst kurz vor seinem eigenen Tod erfuhr. Danach flüchtete er sich in Alkohol und Drogen, bevor er zur Polizei ging um die Mörder seiner Schwester zu finden. Von denen waren jetzt alle tot... einer beging Selbstmord vor Kevins Augen, der Zweite starb bei einem Unfall im Gefängnis und der dritte wurde von Kevin selbst kaltblütig erschossen. Jenny musste es mit ansehen, Ben wollte die Geschichte von Jenny glauben, dass es in Notwehr geschah. Mittlerweile wussten sie die Wahrheit, die sie damals schon ahnten.
Ben schluckte und blickte stumm auf die Straße. Eine Hand hatte er am Schaltknüppel, die andere am Lenkradkranz. Das Radio war ausgeschaltet, was für ihn ungewöhnlich war und es war nur das Rauschen des Autos zu hören. Wo sollte er hinfahren? Sollte er besser wieder umkehren? Semir würde toben, es würde die ganze Sache nicht besser machen, waren in diesem Moment seine vernünftigen Gedanken. Er musste sich selbst auf die Reihe kriegen, wieder den Spaß am Job finden... oder, dachte er bitter, er müsse aufhören. So wie Jenny alles hinter sich lassen, nachdem Kevin in Kolumbien verschollen war.
Plötzlich hatte er das Gefühl, Kevin würde neben ihm sitzen. Er hatte den Sitz ganz zurückgeschoben, seine Flieger-Sonnenbrille aus den 80ern auf der Nase und die Converse-Schuhe gegen das Handschuhfach gestemmt... das war für ihn eine bequeme Position nach harten Nächten und Ben hätte jedes Mal einen Anfall bekommen können, wenn er danach Spuren von Kevins Schuhe auf dem Handschuhfach fand. Sie unterhielten sich über das neue Album von einer bekannten Rockgruppe, über ein Konzert das sie besuchen wollten oder Kevin hatte irgendwelche Zettel auf dem Schoß liegen mit Texten, an denen er nicht weiterkam. Oft las er Texte von Ben Korrektur und beschwerte sich über dessen Denglisch, eine Mischung aus Deutsch und English, die mit englischer Grammatik nicht viel zu tun hatten, damit es sich reimt. "Nicht mal die Engländer halten sich an ordentliche Grammatik in Liedtexten.", maulte Ben, wenn Kevin den Rotstift zückte. "So einen Text würden dir die Amerikaner um die Ohren hauen... FALLS du jemals eine CD dort verkaufen solltest.", lachte Kevin, während sie auf Streife waren. Ja, er lachte... und Ben erinnerte sich daran, als würde er in diesem Moment neben ihm sitzen. Doch immer, wenn er während seiner einsamen Fahrt nach rechts auf den Beifahrersitz schaute, saß dort niemand. Kein Kevin, der seinen Handschuhfachdeckel verunzierte, keine Blätter mit Liedtexten... einzig Kevins Sonnenbrille in der Mittelkonsole erinnerte an seine Anwesenheit.
Es war merkwürdig, dachte Ben, dass er sich oft an solche guten Szenen erinnerte. Es täuschte darüber hinweg, dass solche unbeschwerten Momente nur sehr selten waren. Als er mit Jenny zusammen war und Semir gerade eine schwere Zeit durchmachte, fand Ben seinen Halt an Kevins guter Laune... ansonsten wäre es Ben über die Dauer schwer gefallen, Semir beizustehen. Umgekehrt war Semir für Ben ein Anker, als es Probleme mit Kevin gab. Er stand unter Mordverdacht, er war in Kolumbien verschollen, er nahm immer noch hin und wieder Drogen, und am schlimmsten war, als er sein Gedächtnis verlor und dachte, Ben hätte seine Schwester ermordet. Nein, er wollte nicht daran denken, er wischte die Gedanken mit einer imaginären Handbewegung beiseite und hoffte, dass auch Jenny nur die guten Zeiten von Kevin im Kopf behielt. Er blickte wieder zum Beifahrersitz und konnte Kevin da sitzen sehen... die Schuhe auf der Ablage, die Arme verschränkt und er döste hinter seiner großen Sonnenbrille, weil der Abend gestern wohl mal wieder später wurde. Ben lächelte, bevor er an einer Ausfahrt kehrtmachte und zur Dienststelle zurückfuhr...