Beiträge von SpeedBird90

    14. April 2004


    Bundesstraße 265 bei Brühl: 17:15 Uhr




    Eine halbe Stunde später steuerte Ben seinen Dienstwagen über die Landstraße hinter dem Audi A6, in dem Fux saß, her.

    Neben ihm saß Semir, der hin und wieder einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel warf, wo er die Rückbank des Mercedes sehen konnte.

    Nach einer kurzen, aber hitzigen Diskussion hatte die Chefin durchgesetzt, dass sie mitkommen würde, was Semir für gar keine gute Idee hielt und auch Ben sich nicht sicher war, was er davon halten sollte.


    Man hatte deutlich gemerkt, dass die Engelhardt hin- und hergerissen war, da sie offensichtlich eigentlich lieber zu Hause bei der Tochter geblieben wäre.

    Allerdings wollte sie auch dem Mann in die Augen schauen, der es gewagt hatte ihr das Wichtigste im Leben zu nehmen. Auch, wenn es nur für einen Augenblick gewesen war.

    Ausschlaggebender Grund war letztlich jedoch der entführte Junge selber gewesen.

    Das Kind tat ihr unendlich leid und sie wusste, dass sie wohl jede nur erdenkliche Hilfe brauchen würden, wollte sie ihn rechtzeitig finden.


    Außer ihnen, war auch noch Hartmut auf dem Weg in die Villa in der Berthold und seine Leute residierten.

    Wobei es außer Camille und Albert Berthold nur noch der Hacker war, der sich in der Villa aufhielt. Die Übrigen hatten fluchtartig Villa und Land verlassen, als Fux von seinem Plan erzählt hatte die Polizei mit ins Boot zu holen.

    Aber die Juwelendiebe waren ihnen im Moment sowieso ziemlich egal.




    Villa am Stadtrand von Köln 17:30 Uhr



    Albert Berthold war unendlich nervös, als die zwei Wagen vor dem Haus zum Stehen kamen.

    Er wusste noch immer nicht, ob er da richtige tat oder nicht.

    Obwohl das jetzt eigentlich auch egal war, da er nichts mehr daran ändern konnte. Er betete, dass Renard, oder wie er auch immer hieß, wusste, was er tat.

    Berthold trat aus dem Haus und erkannte die drei Polizisten der Autobahnpolizei sofort, als sie aus dem Mercedes stiegen. Erst vor ein paar Minuten hatte er sich erneut kurz ihre Personalakten angesehen.

    Er musste unwillkürlich schlucken, als er sie jetzt auf sich zukommen sah. Insbesondere als sein Blick den von Hauptkommissarin Engelhardt traf.


    „Es tut mir leid! Ich wollte das nicht!“ sprudelte es sofort aus ihm heraus, aber auch diese Entschuldigung konnte das Nächste nicht verhindern.


    Ehe Semir, Ben oder André es verhindern konnten, hatte Anna dem Mann einem Schlag ins Gesicht verpasst, der sich durchaus sehen lassen konnte, ihm eine blutige Nase verpasste und ihn umgehend in die Knie gehen ließ.


    Schon in der nächsten Sekunde kniete die Polizistin neben ihm, die Waffe im Anschlag, sodass der Lauf nur wenige Zentimeter von Alberts Stirn entfernt war.


    „Du solltest André Fux auf Knien dafür danken, das er so schlau war mir meine Tochter so schnell wiederzubringen! Denn ansonsten wärst du jetzt ein toter Mann und dein Sohn seinem unschönen Schicksal geweiht!“ zischte Anna bedrohlich, während Semir und Ben völlig perplex danebenstanden, die Hände zwar an ihren eigenen Waffen, aber total unschlüssig was sie jetzt tun sollten.

    So kannten sie ihr Vorgesetzte beim besten Willen nicht!

    Im nächsten Moment sicherte Anna ihre Pistole jedoch schon wieder und stand auf.


    André hatte das Geschehen recht gelassen beobachtet und sagte mit vor der Brust verschränkten Armen:

    „Respekt für so eine Rechte! Geht’s jetzt besser?“ Die Chefin nickte langsam. Ja, das hatte in der Tat gutgetan. Auch, wenn ihre Hand bereits leicht anfing weh zu tun.


    Auch Berthold rappelte sich wieder vom Boden auf, sagte aber nichts zu dem kurzen Intermezzo, sondern wischte sich die blutende Nase mit dem Ärmel seines Pullis ab. Die kurze Abreibung hatte er wohl verdient...


    „Zeigen sie uns alles was sie über diesen Van Beust haben. Und wir müssen sehen, was er ihnen geschickt hat.“ Warf Semir ein, um so alle Anwesenden daran zu erinnern, warum sie eigentlich hier waren.



    ***



    Keine zehn Minuten nach ihnen tauchte auch Hartmut an der Villa auf und stand mit fragendem Blick vor seinen Kollegen.


    „Okay, was soll ich hier?“ Er wusste das hier schon wieder eine Aktion im Gang war, die ganz sicher nicht von Oben abgesegnet war und in die Kategorie: ‚Alleingang Autobahnpolizei‘ gehörte.


    Ben war es, der ihm erklärte, was passiert war und worum es ging. Hartmut hörte aufmerksam zu und bekam Augen groß wie Tennisbälle.

    Schließlich deutete er auf den Mann, der in dem großen Wohnzimmer vor mehreren Computerbildschirmen saß.


    „Dann ist das da Araignée? Der Hacker?“ Ben sah etwas verwirrt von Hartmut zu dem Mann am PC. War das etwa Ehrfurcht in der Stimme von Einstein?


    „Ja, das ist der Spinnen-Hacker...“ Freunds Augen wurden noch größer und Ben war sich jetzt sicher auch Ehrfurcht in seinem Blick zu sehen.


    „Soll ich ihm nach einem Autogramm für dich fragen?“, feixte Jäger, was dazu führte das Einstein mit glühenden Wangen den Kopf schüttelte. Bemüht die Schultern zu straffen, ging er doch noch recht schüchtern auf Araignée zu um am Tisch neben ihm sein eigenes, mitgebrachtes Equipment aufzubauen.


    Während Hartmut noch einen auf schüchternen Fan-Boy macht, gingen die drei Polizisten weiter die Informationen durch, die Berthold mithilfe von Araignée bezüglich Van Beust zusammengetragen hatte.

    Es war zwar durchaus einiges, aber bei der ersten Durchsicht fand keiner von ihnen einen wirklichen Ansatzpunkt wie genau sie an Van Beust herankommen konnten, ohne den Junge zu gefährden. Es gab auch überhaupt nichts zu einem möglichen Aufenthaltsort des Kindes.





    „Wir haben Van Beust versucht so gut es ging zu beschatten. Aber er selber scheint mit der Entführung von Arnaud nichts am Hut zu haben, sondern hat die Drecksarbeiten andere machen lassen. Wir haben aber nicht herausfinden können wen er damit beauftragt hat...“, erklärte André. „Und es ist nicht leicht an ihn heranzukommen, da er immer zwei Leute von seinem Wachschutz dabeihat. Plus seinen Fahrer“


    „Er muss mit den Leuten ja irgendwie in Kontakt treten. Kann euer Computer Genie sich nicht einfach in seinen PC hacken und E-Mails und sowas lesen?“ fragte Ben.


    „Hat er gemacht. Allerdings nur am privaten Computer. In das Firmennetzwerk ist er nicht reingekommen. Das ist extrem gut gesichert und hat keinen Ausgang an Externe Server. Darüber kann die Kommunikation also auch nicht stattgefunden haben.“ War es Hartmut, der aus dem Hintergrund antwortete.


    Er und Araignée unterhielten sich bereits recht angeregt und schienen Ideen auszutauschen.


    „Okay... Hast du eine Idee, Einstein?“


    „Wir denken beide, dass sie schlicht über Handy Kontakt halten. Da kommen wir aber nicht so einfach ran, da wir die Nummern nicht haben und es sich vermutlich um Pre-Paid-Modelle handelt.“


    „Was wäre, wenn sie an eins der Handys drankommen würden? Würde das helfen?“ war es nun die Chefin, die fragte.


    „Ja klar! Wir könnten es Klonen und mit den Nummern im Telefonbuch oder Wahlspeicher einiges anstellen, denke ich.“


    „Hmm... Und wie lange bräuchten sie, um ein Handy zu klonen?“ Hartmut tauschte sich kurz auf Englisch mit Araignée aus und sagte schließlich:


    „Circa zwei Minuten.“


    Anna nickte, während sie angestrengt nachdachte und dann fragend zu Fux und Berthold sah. „Während sie den Kerl beschattet haben... Wann hat Van Beust meistens Feierabend gemacht?“


    „Nie vor 19:00 Uhr.“


    „Und er fährt auf dem Weg nach Hause immer dieselbe Strecke?“


    „Ja, das tut er. Warum?“ André schien nicht ganz zu verstehen, auf was sie hinauswollte. Semir und Ben hingegen schon, weswegen Semir fragte:


    „Hartmut habt ihr alles Equipment, um ein Handy zu klonen da?“ Nach einer erneuten Absprache mit dem französischen Hacker nickte Einstein. „Ja, er hat alles!“


    „Habt ihr eine Ersatzkelle im Auto?“ Anna sah zu Ben.


    „Klar, steht ja so in den Vorschriften...“ Der junge Kommissar grinste.


    Jetzt begriff auch André was sie vorhatte zu tun. Clever!

    Sie waren nicht nah genug an Van Beust herangekommen. Für die Polizei würde es jedoch kein großes Problem darstellen.


    „Packen sie alles zusammen, was sie für das Klonen der Handys brauchen, Hartmut. Und dann kommen sie mit mir.“ An Fux gewandt sagte Anna. „Ich brauche ihren Wagen.“



    14. April 2004


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 15:40 Uhr




    Die Chefin schnappte hörbar entsetzt nach Luft und auch Semir und Ben waren nicht weniger entsetzt!


    „Er hat was gemacht?!“ Ben konnte und wollte es nicht glauben!


    „Ja... Ich bin mir ziemlich sicher, dass Van Beust der Hintern auf Grundeis geht! Wenn die Triade spitzbekommt das er ihr Geld verloren hat, werden sie mit Sicherheit auch nicht zimperlich sein!“


    Fux sah jetzt Anna direkt an und erklärte:


    „Ich weiß das es nicht zu entschuldigen ist, aber Albert Berthold hat, nachdem er den Finger bekommen hat, in einer Panik- und Kurzschlussreaktion spontan entschieden Leonie zu entführen, weil er einfach nicht mehr weiterwusste. Und er hätte ihr niemals etwas getan. Ganz sicher nicht!“

    Sie nickte, durchaus mit ein wenig Verständnis im Blick.

    Aber es ändere nichts daran, dass sie Berthold vermutlich den Hals umdrehen würde, sollte sie ihm begegnen.


    „Gut... Wir wissen jetzt warum all die Dinge passiert sind... Aber was genau erwarten sie jetzt von uns?“ fragte die Chefin schließlich und traf den Nagel damit auf den Kopf.


    „Ich brauche eure Hilfe. Denn ich weiß nicht, wie wir Arnaud sonst finden sollen!“


    „Verstehe... Bevor wir uns darum kümmern, sollten sie mir allerdings sagen, was ich dem Kollegen Neumann vom LKA gleich erzählen werde, wo Leonie so plötzlich wieder hergekommen ist.“ Anna sah von einem der Männer zum anderen.

    Wenn sie die ganze Wahrheit sagen würde, würde man Fux umgehend verhaften und auch bei den Übrigen kurzen Prozesse machen.

    Entführtes Kind hin oder her.

    Dafür kannte sie das LKA mittlerweile gut genug und wusste das Neumann zwar ein netter Kerl war, mit dem sie gerne zusammenarbeitete, aber leider auch ein Bürokraten-Reiter.

    Semir sah zu André, während Ben sich geflissentlich raushielt. Das sollten die zwei Ex-Kollegen unter sich klären.




    Auch Anna wollte sich da nicht einmischen und verließ sogar den Raum. Am Tisch im Essbereich saß mittlerweile Leonie und löffelte den frisch gemachten Milchreis.


    „Mama magst du auch Milchreis? Ich habe geholfen den zu machen!“ Leo hielt ihr einen vollen Löffel entgegen, den sie dann natürlich auch probieren musste.


    „Das ist sehr lecker! Das hast du wunderbar gemacht. Darf ich noch einen Löffel haben?“ Dieses Mal griff sie allerdings selber nach dem Löffel und kratze unauffällig einen Großteil des Zuckers von der Oberfläche des Milchreis, während sie ihrem Vater einen leicht vorwurfsvollen Blick zuwarf. Bei der Menge Zucker würde das kleine Monster bis spät in die Nacht wach bleiben.

    Im nächsten Moment musste Anna jedoch selber mit dem Kopf schütteln. Das war heute eigentlich auch egal.

    Also setzte sie sich neben die Tochter und strich ihr gedankenverloren über den Kopf, währen Leonie weiter den Reis aß.


    „Habe ich da gerade richtig gesehen? Mir war als würde ein Geist durch deine Wohnung schleichen...“ Ihr Vater sah unschuldig drein.


    „Opa, es gibt doch gar keine Gespenster!“ Verkündete Leo sofort, sah dann aber doch fragend zur Mutter. „Da hast du recht mein Schatz. Gespenster und Geister gibt es nicht.“ Anna warf Holger einen mahnenden Blick zu, sagte dann aber doch:


    „Du hast schon richtig gesehen. Ich weiß selber erst seit knapp zwei Tagen, dass er am Leben ist und kann es noch immer kaum glauben...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kenne selber noch kaum Details... Er hat den Vorfall damals überlebt, aber seine Erinnerung verloren.“


    Holger nickte, fragte aber seinerseits: „Und warum ist er jetzt hier?“


    „Weil da im Hintergrund einiges passierte ist, was im Zusammenhang mit einem Fall steht an dem Semir und Ben gerade arbeiten. Ich kann dir dazu im Moment nicht mehr sagen, tut mir leid. Wenn ich es kann, werde ich dir alles erklären. Versprochen.“

    Wie auf Kommando trat Semir aus dem Arbeitszimmer und sah in ihre Richtung.




    Fünf Minuten später erklärte die Chefin dem LKA Kollegen, dass die Entführer allem Anschein nach, kalte Füße bekommen hatten und Semir hinter dem Rücke der LKA Beamten kontaktierte hatten.


    „Auf dem Parkplatz hat dann meine Tochter gestanden und gewartet. Gerkhan und der Kollege Jäger haben sie dann sofort nach Hause gebracht. Ich kann dir nicht sagen, was da passiert ist und was die ganze Nummer sollte. Leonie geht es gut und sie haben ihr nichts getan.“ Anna wusste selber, dass die Erklärung recht dürftig war und sie da ganz klar noch einmal nacharbeiten musste, für den Moment, reichte es und verschaffte ihnen hoffentlich genug Zeit.


    „Also schön. Wie soll es jetzt weiter gehen?“ Anna sah in die Herrenrunde vor sich, die nicht wirklich den Eindruck erweckten, dass sie schon eine Idee hatten.


    „Ich denke wir sollten mit Herrn Berthold und seiner Frau persönlich reden.“ Sagte Semir schließlich, nach einer etwas längeren Pause. „Lässt sich das Einrichten?“, die Frage war an Fux gerichtet.


    „Ja, ich denke schon.“ André zückte sein Handy und war schon dabei Bertholds Nummer zu wählen.


    14. April 2004


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 15:30 Uhr



    Anna hätte vor Nervosität aus der Haut fahren können, während sie in der Wohnungstür stand und hörte, wie eine Etage tiefer die Haustür ins Schloss fiel.

    Sie hörte die Schritte näherkommen, verschränke fest die Arme vor der Brust um nicht nervös mit den Händen zu spielen

    Dabei fühlte sie deutlich den Herzschlag in ihrer Brust und 1000 Fragen jagten durch ihren Kopf.


    Wie würde er auf sie reagieren?


    Wie würde er jetzt aussehen?


    An was konnte er sich erinnern?

    Wusste er, dass sie vor fünf Jahren zusammen im Bett gelandet waren? Und wenn, hatte er vielleicht sogar schon Schlüsse bezüglich Leonie gezogen…?


    Und dann trat ihr totgeglaubter Kollege um die Ecke und die Chefin fühlte, wie ihr Herz einen kleinen Satz machte.


    Sie konnte nicht leugnen, dass sie sich unglaublich freut, ihn tatsächlich gesund und munter auf sich zukommen zu sehen. Zeigen, konnte sie es in dem Moment jedoch nicht, so nervös und unsicher war sie augenblicklich.

    Ihn genau zu mustern, ließ sie sich dann aber doch nicht nehmen.

    Er sah nicht viel anders aus, als vor fünf Jahren. Die Haut hatte ein bisschen mehr Farbe und seine Haare waren ein klein wenig länger. Ansonsten war er genau der Mann, an den sie sich erinnerte.

    Als er sie ansprach, hob sie überrascht die Augenbrauen und versuchte die Überraschung abzuschütteln, brachte aber keinen Ton heraus. Stattdessen trat sie einfach nur bei Seite und ließ André in die Wohnung.




    Kurz darauf war die Luft im Arbeitszimmer zum Zerreißen gespannt und Ben Jäger sah nervös zwischen den drei Anderen hin und her, darauf wartend, dass einer von ihnen den ersten Schritt wagte.

    Momentan beäugten sie sich jedoch einfach nur kritisch und jeder schien sich seinen eigenen Teil zu denken.

    Er wusste nicht was es war, aber Ben spürte, dass es hier noch um etwas anderes ging als die Tatsache, dass man sich nach fünf Jahren zum ersten Mal wiedersah. Und das, nachdem man geglaubt hatte, sich in dieser Konstellation nie wiederzusehen. Schon gar nicht unter diesen Umständen!

    Nein, da war noch etwas anderes, was jetzt jedoch warten musste und unausgesprochen zwischen ihnen hang.


    „Semir sagte, dass sie uns etwas zu erzählen haben?“ brachte Anna schließlich hervor und sie fühlte wie umgehen wieder Wut in ihr aufstieg, der die Freude über das Wiedersehen ganz krass dämpfte. Was auch deutlich zu hören war, als sie weitersprach:


    „Ich bin ganz Ohr, da es mich wirklich brennend interessiert, wie es dazu gekommen ist das meine Tochter heute Morgen aus ihrem Kindergarten entführt wurde!“ Sagte sie mit schneidender Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass in ihren Worten auch eine eindeutige Drohung mitschwang.


    Weder Semir noch André entging dabei die unmissverständliche Betonung die auf ‚meine Tochter‘ lag. Fux schluckte zusätzlich.

    Oh ja, Mama-Bär war noch immer stinksauer und sinnt nach Rache...


    Deswegen fing er damit an zu beteuern, dass er nichts von dem Plan gewusst hatte, Leonie zu entführen und er ganz sicher nicht von ihm gestammt hatte!

    Er erzählte auch in knappen Worten, dass er es wegen der Migräne Attacke, ausgelöst durch die zurückkommenden Erinnerungen, nicht hatte verhindern können, was ihm zutiefst leidtat.

    Seine ehemalige Chefin schien ihm zu glauben und er atmete innerlich ein wenig auf. Vermutlich würde sie ihm, fürs Erste, nicht an die Kehle gehen.

    Zu mindestens hoffte er das.



    „Ich habe die letzten fünf Jahre in Montpellier verbracht und für Albert Berthold als eine Art Bodyguard für dessen Frau Camille und den gemeinsamen Sohn Arnaud gearbeitet. Berthold war es auch, der mich aus dem Meer gefischt hat, nach dem das auf Mallorca passiert ist. Wie Semir schon gesagt hat, konnte ich mich all die Jahre an nichts erinnern, was vor dem Unfall passiert ist. Die Erinnerung hat erst langsam eingesetzt, als ich vor knapp zwei Wochen hier nach Köln gekommen bin. Richtig schnell ging es dann, nachdem ich Semir begegnet bin.“


    „Das ist alles wirklich interessant, es erklärt aber noch nicht, wie sie dazu kommen plötzlich Schmuckläden auszuräumen, Fux!“ warf Anna ungeduldig ein.


    Der Angesprochene schaffte es nicht ein Schmunzeln zu unterdrücken. In dem Punkt hatte sie sich kein bisschen verändert.


    „Berthold ist ein ziemlich erfolgreicher deutscher Finanzexperte, der damit einen Haufen Kohle gemacht hat. Mir war es bis vor einem halben Jahr nicht so richtig bewusst, aber einige der Dinge, die er tut, sind wohl nicht ganz legal. Ich kenne mich damit nicht aus, denke aber das es um Insiderhandel geht, da er mit einem Hacker zusammenarbeitet. Mir war auch lange nicht bewusst, dass seine Geschäftspartner durchaus mit großer Vorsicht zu genießen sind. Ich weiß nicht was passiert ist, aber Anfang März diesen Jahres muss etwas fürchterlich schiefgegangen sein und Berthold hat das ihm anvertraute Vermögen eines Kunden nahezu komplett verloren, weil er sich verspekuliert hat.“


    „Von was für einer Summe reden wir hier?“, fragte Ben.


    „Mehrere hundert Millionen Euro.“


    Jäger stieß einen Pfiff aus. „Alter Schwede... Das ist eine Menge Knete!“ Dem konnten Semir und Anna nur beipflichten.


    „Allerdings... Es wird leider noch besser. Der Kunde, ein deutscher Bankier namens Richard Van Beust, ist auch nicht der eigentliche Besitzer des Geldes gewesen.“


    „Sondern wer?“, war es nun Semir der sprach.


    „Ein Chinesischer ‚Geschäftsmann‘ für den Van Beust das Geld waschen sollte. Nach allem was der Hacker, mit dem Berthold zusammenarbeitete, herausbekommen konnte, ist der Kerl Mitglied der chinesischen Mafia.“


    „Oh shit!“, entfuhr es Ben, ehe er etwas dagegen tun konnte.


    „Genau, sie sagen es! Als Van Beust mitbekommen hat, dass das Geld weg ist, hat er sofort zu überaus rabiaten Mittel gegriffen:


    Er hat Bertholds Sohn entführen lassen und gedroht das Kind zu töten, sollte er nicht innerhalb von drei Wochen die gesamte Kohle wiederbekommen.“ Fux schüttelte niedergeschlagen den Kopf.


    „Das ist natürlich viel zu wenig Zeit eine derartige Summe aufzutreiben, zumal Albert bei dem Deal im März selber einen beträchtlichen Teil seines Vermögens verloren hat. Und weil er sich nicht anders zu helfen wusste, hat er eine Truppe zusammengestellt und finanziert, die ihm die benötigte Summe in Form von Diamanten beschafft.“



    Die Chefin nickte bedächtig langsam begann sich ein Bild abzuzeichnen, das einiges erklärte...! Gefallen, tat ihr das Bild jedoch überhaupt nicht!

    „Wir müssen nicht darüber reden, dass das eine scheiß Idee war und ist, aber in Frankreich und Belgien sind die Überfälle ohne Probleme vonstattengegangen... An denen ich übrigens nicht beteiligt war!“ betonte er.


    „Warum dann hier in Köln?“, fragte Anna und sah ihn herausfordernd an. Fux zuckte mit den Schultern. „Weil ich gut Autofahren kann und die Sprache spreche.“ Daraufhin schnaubte Anna abfällig, sagte aber nichts weiter.


    „Glaube sie ich weiß nicht, dass das alles eine riesen Scheiße ist? Aber es geht hier verdammt noch al um einen 10-jährigen, der absolut nichts dafürkann und der als Motivation für seine Eltern mit Schlafentzug gefolterte wird!“ brauste André auf, hatte sich danach aber wieder recht schnell im Griff, als die drei ihn entsetzt anstarrten.


    „Ja... Er hat vor ungefähr einer Woche ein Video geschickt... Wenn ihr es sehen wollt, kann ich es besorgen.“


    Es war den Polizisten anzusehen, dass sie alle gut und gerne darauf verzichten konnten, es aber vielleicht in der Tat sehen müssten.


    „Wie auch immer... Es hat alles gut ausgesehen, dass wir die Steine zusammenkommen. Bis zu dem ersten Raub hier in Köln. Bei dem Juwelier waren viel weniger Diamanten im Safe als wir gedacht hatten. Und dann auch noch die Verfolgungsjagd...“ André sah zu seinem ehemaligen Partner. „Du hättest uns beinahe erwischt!“


    „Ja, hätte ich!“


    „Und wegen der fehlenden Diamanten, der zweite Raub hier in Köln, eine Woche später?“ warf Jäger ein.


    „So ist es. Van Beust hat Berthold eine Gnadenfrist eingeräumt. Er hatte bis Dienstagabend, also bis gestern Abend, Zeit, die Diamanten zu übergeben... Was aber natürlich nicht möglich war.“


    „Wie hat Van Beust darauf reagiert?“ Anna war bei der Frage unbehaglich, ahnte sie doch nichts Gutes...


    „Als er mitbekommen hat, dass es bei dem Überfall zu Komplikationen gekommen ist, hat er den Eltern einen abgeschnittenen Finger ihres Sohnes geschickt und gedroht, weitere Körperteile zu schicken, sollten alle Diamanten, nicht bis spätestens morgen Nacht bei ihm sind.“


    14. April 2004


    Köln Marienburg, Wohnung der Chefin 15:15 Uhr




    In der Wohnungstür wartete Holger Engelhardt bereits ungeduldig darauf, seine Enkelin ebenfalls in die Arme schließen zu können.

    Während er genau das tat, nachdem die Gruppe in die Wohnung getreten war, ging Anna kurz ins Badezimmer, wo sie sich mit kaltem Wasser versuchte, die Spuren der letzten Stunden, so gut es ging von ihrem Gesicht zu waschen.

    Der Erfolg hielt sich jedoch in Grenzen, aber immerhin sah sie jetzt nicht mehr aus wie ein Panda. Und das kalte Wasser tat ihr gut!

    Allerdings konnte das kühle Nass nichts, gegen das noch immer vorhandene Zittern ihrer Hände tun.

    Der Schreck und die ausgestandene Angst steckte ihr noch immer tief in den Knochen. Auch wenn sie Leonie wieder hatte und die Tochter im Augenblick im Wohnzimmer unbeschwert plappern hörte, fühlte Anna deutlich, dass die Anspannung nur ganz langsam nachließ und ihr Herz noch immer raste.


    Sie griff nach einem Handtuch und während sie sich das Gesicht und die Hände abtrocknete, fing auch ihr Kopf langsam wieder an normal zu denken.

    Es gab unzählige ungeklärte Fragen, auf die sie schnellsten eine Antwort haben wollte.

    Und sie konnte sich vorstellen, dass Semir und Ben einige dieser Antworten bereits hatten.

    Bevor sie zurück ins Wohnzimmer ging, wo Ben, Semir und ihr Vater noch immer den Erzählungen ihrer Tochter lauschten, stoppte sie kurz im Schlafzimmer, wo sie die Bluse vom Morgen, die von ihrem verlaufenen Mascara unschöne dunkle Flecken am Kragen aufwies, gegen ein schlichtes, weißes Sweatshirt mit V-Ausschnitt tauschte.

    Im selben Aufwand wechselte sie auch gleich noch die Socken, die von ihrem Ausflug nach draußen, dreckig und unangenehm feucht waren.

    Mit gestrafften Schultern trat die Chefin schließlich ins Wohnzimmer, wo Semir und Ben schon ungeduldig warteten, ihr aber die Zeit zum Durchatmen gegeben hatten.


    „Leo, hast du Hunger?“ War allerdings ihre erste Frage, die mit einem heftigen Nicken beantwortet wurde.


    „Soll dir der Opa was zu essen machen?“ Dabei warf sie Holger einen bittenden Blick zu, den dieser mit einem breiten Lächeln beantwortete.


    „Auja! Können wir Milchreis machen, bitte?“ Anna hatte eigentlich an etwas anderes, vernünftiges, gedacht, sagte aber dieses Mal nichts dazu.


    „Na sicher doch! Mit Zimt und Zucker?“ Während Opa und Enkelin in die offene Küche gingen, deutete die Chefin auf eine Tür zu ihrer rechten, die vom Wohnzimmer ab ging.


    „Gehen wir in mein Arbeitszimmer? Ich denke nicht, dass das, was sie mir zu erzählen haben, für Kinderohren geeignet ist, oder?“


    Ben und Semir nickten eifrig. Nein, das war es ganz sicher nicht!


    ***


    „Chefin, da ist einiges nicht ganz so wie wir gedacht haben...“ fing Semir schließlich an, nachdem er und sein Partner auf dem Zweiersofa, das im Arbeitszimmer stand, Platz genommen hatten.

    Soviel hatte sie sich schon selber gedacht, sagte aber nichts dazu.


    „Das waren nicht einfach nur Raubüberfälle, bei denen es darum ging, sich zu bereichern. Und auch das die Bande Leonie entführt hat, war eine pure Verzweiflungstat, die sie sehr schnell bereut haben...“


    Anna hatte keine Ahnung wovon Semir da sprach, der letzte Satz brachte ihr Blut jedoch zum Kochen, ohne das sie es verhindern konnte. Der Schreck und die Angst wurden peu à peu von Wut abgelöst.

    Es war ihr egal, warum jemand ihr Kind verschleppt hatte. Alleine die Tatsache das sie es getan hatten, zählte! Und dafür würden sie büßen!

    Gerkhan war bei seinen nächsten Worten recht nervös und er wusste nicht so ganz wie er das Nächste am besten formulieren sollte.


    „Chefin, ich glaube, das Ganze sollte ihnen jemand anderes erklären. Er war es auch, der Leo so schnell zu uns gebracht hat.“


    Die Engelhardt kniff argwöhnisch die Augen zusammen, bis sie begriff!


    Natürlich... Fux!


    Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte fuhr Gerkhan fort:


    „André hat in den letzten Tagen angefangen sich zu erinnern. Er weiß wieder einigermaßen wer er ist, und wer wir sind. Und ich kann ihnen garantieren, dass er mit der Entführung nichts zu tun hatte! Im Gegenteil: Als er davon erfahren hat, hat er alles versucht, um es zu verhindern.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber da war es schon zu spät.“

    Es war deutlich zu sehen, dass die Leiterin der Autobahnpolizei große Mühe hatte, das Gehörte in den Kopf zu bekommen.


    „Es wird leichter zu verstehen, wenn sie die ganze Geschichte kennen.“ Erklärte Ben und sein Partner nickte bekräftigend.


    „André wartet ganz in der Nähe. Wenn das für sie in Ordnung ist, dann würde ich ihn anrufen und...“ Der kleine Polizist brach ab, da der Ruck, der durch den Körper seiner Vorgesetzten ging und deren weit aufgerissenen Augen, eine eindeutige Sprache sprachen.


    „Chefin... Ich weiß das das alles nicht einfach ist... Aber es geht hier wirklich um viel...“ Unternahm Semir einen letzten Versuch.


    „Es geht um das Leben eines 10-jährigen Jungen.“ Sagte Jäger und hatte damit ihren letzten, wenn man es so nennen wollte, Trumpf ausgespielt.


    Die Worte gaben letztlich tatsächlich den entscheidenden Ausschlag. Auch wenn es ihr ganz und gar nicht passte, seufzte Anna schwer und nickte Semir zu.

    „Also schön, rufen sie ihn an.“


    ***


    André fragte sich, ob er in seinem Leben jemals so nervös gewesen war, wie in diesem Moment, als er die Treppen in den ersten Stock hinauf ging.

    Als er nach der Hälfte um die Ecke bog und den Blick hob, hätte er aus Reflex beinahe kehrt gemacht.


    Anna Engelhardt stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür zu ihrer Wohnung und starrte ihn mit einem Ausdruck an, den er überhaupt nicht zu deuten wusste.

    Er glaubte, neben anderen Dingen, Unglauben, Überraschung, Unbehagen und Wut zu erkennen, war sich jedoch nicht sicher.

    Er schluckte schwer und mit jedem Schritt, den er näher auf sie zuging, schlug sein Herz wilder gegen seine Rippen.


    Und dann stand er keinen Meter von ihr entfernt, während sie ihn zu mustern schien und keine Anstalten machte beiseite zu treten, um ihn in die Wohnung zu lassen.

    Er hatte seine ehemalige Vorgesetzte zwar vorhin schon von Weitem gesehen, nutzte die Zeit aber um sie von Nahem zu betrachten.

    Auch äußerlich hatte sie sich verändert. Die dunklen Haare waren deutlich länger und fielen in lockeren Stufen ein ganzes Stück über ihre Schultern.


    Auch wenn sie, wie sie alle, älter geworden war, wirkten ihr Gesichtszüge entspannter und weicher.

    Zudem wirkte sie insgesamt wesentlich agiler und frischer und auch die Kleidung war lockerer und nicht mehr so zugeknöpft.


    Er kam nicht umher festzustellen, dass sie gut aussah.


    Das Einzige, was sich nicht verändert hatte, waren ihre Augen, die ihn noch immer abschätzend musterten.

    Fux räusperte sich nervös und brachte schließlich ein „Hallo...“ hervor. Er grinste unbeholfen. „Ist eine ganze Weile her...“

    Der letzte Satz bewirkte das die Brauen der Chefin gen Haaransatz wanderten und sie mit einem leichten Kopfschütteln schließlich beiseite trat, dass er in die Wohnung treten konnte.


    Als Leonie André erspähte, winkte sie ihm kurz zu und sagte: „Hallo André...“

    Holger Engelhardt glaubte unterdes nicht richtig zu sehen und ihm klappte die Kinnlade herunter, da er natürlich wusste, wer da soeben die Wohnung betreten hatte. Und dass es eigentlich nicht hätte möglich sein sollen!


    „Ich erklär dir das später...“, murmelte seine Tochter im Vorbeigehen, woraufhin er mit, noch immer offenstehendem Mund, nickte.


    Auf die Erklärung, warum der eigentlich tote Erzeuger seines Enkelkindes plötzlich lebendig hier auftauchte, war er mehr als gespannt!

    Und noch viel interessanter war, dass eben jene Enkelin ihn auch noch zu kennen schien!

    Die auf dem Herd überkochende Milch holte ihn schließlich aus seiner Erstarrung und er zog eilig den Topf vom Herd.


    Was zum Henker ging hier vor sich?!


    14. April 2004


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 15:10Uhr




    „Anna! ANNA!“ Es dauerte eine ganze Weile, bis sie aus ihrem tranceartigen Zustand zurück in die Realität fand.

    Sie blinzelte mehrfach und war überrascht, dass ihr Vater breit lächelnd vor ihr kniete, das Telefon in der Hand.


    „Anna sie haben sie! Deine Kollegen haben Leonie und sind auf dem Weg hierher!“


    Keine 30 Sekunden vorher war Holger an das Telefon gegangen, das seine Tochter nicht einmal hatte, klingeln hören.

    Nachdem er sich gemeldet hatte, war Semir am anderen Ende der Leitung sofort auf den Punkt gekommen und hatte ihm die guten Neuigkeiten mitgeteilt.


    „Anna, sie haben Leonie! Sie ist in Sicherheit!“ Wiederholte Holger, da er sich nicht sicher war, ob sie ihn beim ersten Mal verstanden hatte.


    Das hatte sie, konnte aber nicht glauben was sie da hörte!


    „Semir Gerkhan und Ben Jäger haben Leonie gefunden und sind schon auf dem Weg hier her! Sie müssten jeden Moment hier ankommen!“


    Anna löste sich wie in Zeitlupe aus ihrer Erstarrung und setzte sich auf dem Sofa aufrechter hin

    Schon im nächsten Augenblick hatte der Vater sie in eine erleichterte Umarmung gezogen. Es war deutlich zu sehen, dass auch von ihm eine enorme Last abfiel.

    Die Chefin ließ die Stirn gegen seine Schulter sinken und hatte zum ersten Mal, seit sie am Morgen erfahren hatte, dass Leonie verschleppt worden war, das Gefühl wieder richtig Luft holen zu können.


    Als der auffällige Schein von blauem Blitzlicht in der Straße vor dem Haus zu sehen war, gab es für Anna kein Halten mehr!

    Nur auf Socken rannte sie aus der Wohnung, hinaus in den Flur und von dort weiter über den schmalen Weg, der zum Haus führte, bis auf den Gehweg.

    Als sie dort ankam, hatte Ben Leonie gerade aus seinem Dienstwagen gehoben.



    „LEONIE!“ Annas Stimme klang noch immer gehetzt und eine Nuance höher als normal. Jäger konnte gar nicht so schnell gucken, wie seine Chefin die Tochter wieder hochgehoben hatte und fest in ihre Arme schloss.

    Den Tränen der unendlichen, unbeschreiblichen Erleichterung, ließ sie dabei freien Lauf.

    Drückte die Vierjährige so fest es ging an sich, während sie mit einer Hand durch deren Haare fuhr und sie wieder und wieder küsste. Außerdem tastete Anna mit ihrem Blick sorgsam Leos Gesicht und Augen ab, auf der Suche nach Anzeichen, das es ihr nicht gut ging.

    Zu ihrer weiteren Erleichterung fand sie die aber nicht.


    „Mein Schatz, ich bin so froh dich wiederzuhaben!“


    „Weil ich weg war...? Musst du deswegen weinen?“ Leonie schien die Situation nicht ganz zu verstehen und wirkte etwas unschlüssig.


    „Nein, ich weine, weil ich so glücklich bin das du da bist...“ Daraufhin lächelte das Mädchen, auch wenn es offensichtlich war, dass sie noch immer nicht ganz begriff was hier vor sich ging.

    Die Chefin sah jetzt, mit einem unendlich dankbaren Ausdruck in den Augen, zu Ben.


    „Ben ich weiß nicht, wie ich ihnen danken kann...!“


    Jäger hob sofort abwehrend die Hände. „Oh nein, nein, nein! Das ist ganz sicher nicht nötig! Das war selbstverständlich!“


    „Mama, Ben ist ganz schnell und mit Tatütata gefahren!“ Leonies Augen leuchteten begeisterte und sie schien völlig vergessen zu haben, dass es erst wenige Stunden her war, dass sie von maskierten Männern verschleppt worden war. „Können wir das auch mal machen? Mit Tatütata fahren?“



    ***


    Semir hatte den Audi, mit André auf dem Beifahrersitz, ein ganzes Stück hinter dem Dienstwagen seines Kollegen geparkt.

    Von dort hatten sie mit gebührendem Abstand das Wiedersehen von Mutter und Tochter beobachtet.

    Während der Fahrt hatte André seinem ehemaligen Partner bereits einen kurzen Überblick über die letzten fünf Jahre seines Lebens gegeben.

    Ein Seitenblick verriet Semir jetzt, dass Fux das schlechte Gewissen überdeutlich ins Gesicht geschrieben stand. Zeitgleich schien er die Situation fasziniert zu beobachten.


    Und genau das tat er auch.


    Schon von Weitem konnte André sehen, dass sich seine ehemalige Chefin in den letzten Jahren verändert hatte. Auch wenn er seit gestern wusste, dass sie ein Kind hatte, hatte er sie sich nicht so richtig als Mutter vorstellen können. Das passte irgendwie nicht zu der Frau, an die er sich mehr und mehr erinnerte und mit der er zusammengearbeitet hatte.


    Diese Einschätzung musste er allerdings umgehen revidieren.


    Die Frau die da gute 20 Meter vor ihm auf dem Gehweg stand, passte wunderbar in diese Rolle und schien voll und ganz in ihr aufzugehen.

    Erst jetzt bemerkte Fux, das Gerkahn in interessiert beobachtete. Also räusperte er sich und sagte:


    „Ich will wirklich nicht drängen, aber wir haben nicht mehr viel Zeit...“ Semir nickte und öffnete auch schon die Tür. „Wie gesagt: Warte erst einmal hier. Ich melde mich dann.“

    Damit stieg er aus und ging hinüber zu der kleinen Gruppe, die sich langsam anschickte ins Haus zurückzugehen.


    Erst als sie Semir auf sich zukommen sah, bemerkte die Chefin, dass er nicht mit bei Ben im Auto gesessen hatte. Ein wenig verwirrt sah sie jetzt in seine Richtung.


    „Semir, wo kommen sie denn her...?“


    „Chefin können wir hereingehen? Ich weiß das es jetzt vermutlich der schlechteste Zeitpunkt überhaupt ist... Aber wir müssen dringend mit ihnen sprechen.“


    14. April 2004


    Köln-Marienburg: Wohnung der Chefin, 15:00 Uhr



    Holger Engelhardt stand verloren in der Küche seiner älteren Tochter und war dabei einen Kessel mit heißem Wasser für Tee aufzusetzen.


    Einfach um irgendetwas zu tun.


    Das Warten und die Ungewissheit machten ihn wahnsinnig! Und er wusste nicht, was er noch machen konnte.

    Die Sorge und Angst um seine Enkelin war schon schlimm genug und kaum zu ertragen. Seine Tochter momentan so zu sehen und zu wissen, dass er kaum etwas tun konnte, um ihr zu Helfen oder die Situation erträglicher zu machen, zerriss ihm jedoch das Herz in der Brust!


    Für ihn war es sehr viel einfacher gewesen, im Kindergarten mit Annas Tränen und ihrem bitterlichen Flehen, das sie ihr Kind wiederhaben wolle, umzugehen, als mit dem Schweigen und der kompletten Lethargie, in die seine Tochter eingetaucht war, seit sie die Wohnung betreten hatten.

    Sie weinte nicht mehr und bewegte sich auch sonst so gut wie gar nicht. Seine Tochter saß einfach nur völlig regungslos auf der Couch im Wohnzimmer und starrte aus einem der Fenster. Ihre Beine hatte sie dabei fest an den Körper gezogen und umklammerte sie mit einem eisernen Griff.

    In der linken Hand hielt sie eins von Leonis Plüschtieren, ein mittelgroßer Stoff-Adler, der auf der Couch gelegen hatte.

    Auf seine letzte Frage, ob er irgendetwas tun könne, hatte sie gar nicht erst geantwortet, oder sie vermutlich nicht einmal gehört, schien sie doch im Augenblick in einer ganz anderen Welt zu sein.


    Holger schluckte schwer.


    Derart versteinert und in sich gekehrt hatte er Anna zuletzt erlebt, als er ihr vor bald 22 Jahren mitteilen musste, dass die Mutter nicht mehr am Leben war.

    Maria Engelhardt war im Juli 1982 von einem Betrunkenen angefahren worden und noch am Unfallort ihren schweren Kopfverletzungen erlegen.


    Er selber war an diesem Morgen gerade erst von einer fünftägigen Kette aus Nizza gekommen und in Frankfurt gelandet, als ihn im Crew-Keller der Anruf der Kölner Polizei erreicht hatte, die ihm die dramatischen Neuigkeiten mitteilte.

    Er konnte sich bis heute kaum an die Fahrt von Frankfurt nach Köln erinnern, wusste nur noch, dass er mehrfach geblitzt worden war und um ein Haar seinen Führerschein hätte abgeben müssen.


    Nachdem er die jüngere Tochter aus der Grundschule geholt hatte, war er noch am selben Nachmittag nach Münster an die Polizeiakademie gefahren, wo Anna zu dem Zeitpunkt ihr erstes Ausbildungsjahr fast hinter sich gebracht hatte und kurz vor dem ersten Praktikum auf einer Wache stand, um ihr persönlich zu sagen, was geschehen war.

    Er hatte ihr sofort ansehen können, dass sie wusste, das etwas passiert sein musste, als sie aus der letzten Unterrichtseinheit des Tages geholt worden war und auf die Stube gebracht wurde, wo der Vater wartete.

    Genau wie jetzt war sie völlig still geworden und hatte weder geweint noch sonst irgendeine Reaktion gezeigt.


    Sie hatte nach der Beerdigung das Jahr in Münster abgeschlossen und dann durchgesetzt, dass sie die nächsten zwei Jahre ihrer Ausbildung an der Akademie in Köln absolvieren konnte, um zu Hause für die jüngere Schwester dazu sein.

    Er hätte damals nicht gewusst was er ohne sie gemacht hätte, da er durch seinen Beruf nun mal recht viel unterwegs war und erst kurz vorher sein Upgrade zum Kapitän bekommen hatte.




    Als Anna ihm vor fünf Jahren aus heiterem Himmel eröffnet hatte, dass sie schwanger sei und die Umstände, wie es dazu gekommen war, vielleicht nicht ganz ideal waren, hatte für ihn sofort festgestanden, dass er jetzt genauso für sie da sein und sie unterstützen würde, wie sie es damals bei ihm und Christina getan hatte.

    Und so hatte er Ende 2000 das Angebot der Lufthansa, noch ein weiteres Jahr für sie zu fliegen, abgelehnt, um sich um seine Enkelin kümmern zu können und Anna so die Möglichkeit gegeben in Ruhe wieder anzufangen zu Arbeiten. Da er eh schon vier Jahre länger gearbeitet hatte, als ein Großteil seiner Kollegen, die bereits mit 55. in Rente gegangen waren, war dies überhaupt kein Problem gewesen.

    Hin und wieder arbeitete er jetzt noch als Fluglehrer für die Lufthansa und bildete Kollegen auf der Boeing 747 im Simulator aus. Ein netter Zeitvertreib, der zudem fürstlich bezahlt wurde.


    Das schrille Pfeifen des Wasserkessels riss Engelhardt Senior aus seinen Gedanken und er zog ihn eilig vom Herd.

    Etwas unentschlossen, welchen Tee er eigentlich aufgießen wollte, stand er vor dem Schrank in dem Anna diverse Teesorten aufbewahrte.

    Er entschied sich schließlich für eine Kräuterteemischung und machte zwei Tassen fertig. Mit beiden Tassen in den Händen ging er danach zum Sofa, auf dem seine Älteste noch immer vollkommen regungslos saß.


    „Anna, du solltest vielleicht wenigstens etwas trinken...“, sagte Holger vorsichtig und hielt ihr eine der Tassen hin.

    Sie griff danach, ohne ihn anzusehen und stellte die Tasse umgehend auf den gläsernen Couchtisch ab, ehe sie wieder dieselbe Position wie zuvor einnahm und weiter aus dem Fenster starrte.



    Dass sie das tat, lag vorwiegend daran, dass sie im Moment vollkommen gelähmt war und in einem unbarmherzigen Strudel aus Angst, Ungewissheit, Verzweiflung und kompletter Machtlosigkeit gefangen war.

    Sie kannte die Statistiken und wusste, dass es mit jeder Stunde, die verstrich, unwahrscheinlicher wurde, dass sie Leonie lebend wiedersehen würde.


    Verdammt noch mal!

    Sie war Polizistin und konnte nichts für das eigene Kind tun! War zu Untätigkeit verdammt worden!


    „Es wird alles gut werden…“, hatte Neumann ihr versichert, bevor ein Streifenwagen sie und ihren Vater nach Hause gebracht hatte.


    Wie oft hatte sie diesen Satz selber schon zu Angehörigen gesagt, nur um ihnen etwas später mitteilen zu müssen, dass gar nichts mehr gut war und sich ihr Leben grundlegend und auf meist grausame Art und Weise verändert hatte...

    Das Wissen, dass die Möglichkeit bestand, dass der leibliche Vater ihrer Tochter, auch wenn er vollkommen unwissend war, zu der Band gehörte, die hinter der Entführung steckte, trieb sie noch tiefer in den Wahnsinn.


    Anna hatte das Gefühl, auf ganzer Linie vollends versagt zu haben.

    Als Polizistin und in dem Moment noch viel schlimmer: Als Mutter.

    Sie hatte ihr eigenes Fleisch und Blut nicht ausreichend vor dem Bösen dieser Welt beschützt!


    Dass Leonie ein Unfall und nicht geplant gewesen war, hatte überhaupt nichts daran geändert, dass sie von der ersten Sekunde an gewollt war. Auch wenn sie im ersten Moment, als es keinen Zweifel mehr darangegeben hatte, dass sie schwanger war, durchaus etwas geschockt gewesen war, da ein Kind eigentlich nicht mehr auf ihrer Agenda gestanden hatte.

    Aber sie hatte die neue Herausforderung trotz der nicht unbedingt perfekten Umstände angenommen und war spätestens von dem Moment an Feuer und Flamme gewesen, als sie das erste Mal den Herzschlag des kleinen Wurms gesehen und gehört hatte.


    Auch wenn es abgegriffen und stereotyp klag:

    Leonie hatte sie vom ersten Moment an, als sie in ihr Leben getreten war, zu einem besseren Menschen gemacht.

    Die Vorstellung, dass sie den jetzt wichtigsten Teil ihres Lebens verlieren könnte, war unerträglich und Anna wusste nicht, ob ihr Leben dann überhaupt noch einen Sinn hätte.



    14. April 2004


    Rhein-Energie Sportpark, Köln 14:40 Uhr



    „Semir sei mir nicht böse, aber ich traue diesem Fux nicht über den Weg!“ Ben schüttelte entschieden mit dem Kopf. Ihm schmeckte dieses Treffen gar nicht.


    „Ja... Das kann ich dir auch nicht verübeln. Ich bin mir ja selber nicht sicher, ob wir hier das Richtige tun und was das soll...“

    Gerkhan spielte nervös mit dem Handy in seiner Hand. Dabei behielt er die Umgebung genauestens im Auge.

    Er wusste einfach nicht was er von der plötzlichen Entwicklung und der Bitte um ein Treffen halten sollte.

    Der Aussicht, dass er in sehr naher Zukunft seinen totgeglaubten, guten Freund, nach fünf Jahren wiedersehen würde, machten ihn zusätzlich nervös.


    „Ich glaube da kommt er...“ Ben deutete im Spiegel auf einen schwarzen Audi A6, der auf sie zufuhr und keine vier Meter hinter ihnen parkte.


    Während Semir schwer und nervös schluckte, entsicherte Ben seine Waffe. Man konnte ja nie wissen... Vielleicht war das hier auch eine Falle.


    „Bleib bitte kurz sitzen...“ Die Bitte seines Partners schmeckte ihn auch nicht wirklich, aber er konnte es nachvollziehen, weswegen Ben knapp nickte. Bei dem kleinsten Indiz, das etwas nicht stimmte, würde er aber sofort eingreifen!

    Semir atmete noch einmal tief ein und öffnete dann die Beifahrertür, durch die er dem Auto entstieg.

    Im Rückspiegel beobachtete Ben, wie auch die Fahrertür des Audis geöffnet wurde und der Mann, den er auf dem Foto in ihrem Büro gesehen hatte, stieg aus.





    Auch wenn er ihm zwar schon vor zwei Tagen begegnet war, war diese Begegnung ohne Maske, etwas ganz anderes und Semir konnte es noch immer nicht so richtig glauben!


    Aber da stand er, keine drei Meter von ihm entfernt und quick lebendig:


    André Fux!


    Und er hatte sich kaum verändert.


    Genau wie er selber war natürlich auch André ein wenig älter geworden, aber die Veränderung hielt sich eindeutig in Grenzen.

    Die Haare waren etwas länger als vor fünf Jahren aber seinen Drei-Tage-Bart trug er noch immer wie damals. Seine Haut hatte ein wenig mehr Farbe und schien Sonnen verwöhnt zu sein.


    „Semir...“


    „André...“


    „Du schaust gut aus.“


    „Das kann ich nur zurückgeben... Vor allem für einen Totgeglaubten.“ Fux schmunzelte, wandte sich dann jedoch ab, um eine der hinteren Türen des Autos zu öffnen.

    Diese Aktion rief Ben auf den Plan, der blitzschnell die Fahrertür des Mercedes aufstieß und sofort nach seiner Waffe griff, nur um diese umgehend wieder sinken zu lassen, als er sah, wen Fux da von der Rückbank hob.


    „Leo!“, stieß Semir auch schon ungläubig aus und stürmte sofort zu dem Mädchen, das recht fröhlich in seine Richtung sah und auf ihn zuging.

    „Hallo Onkel Semir!“


    Jäger sah ehrlich verwirrt von Leonie zu Semir, der sie soeben hochhob und dann zu André Fux, der mit den Händen in der Hosentasche zufrieden beobachtete, wie die Kleine Semir begrüßte. Was bitte geschah hier?!

    Ben war natürlich unendlich erleichtert, das dem Mädchen nichts passiert war und man sie offenkundig gut behandelt hatte, aber woher kam der plötzliche Sinneswandel sie einfach wieder frei zu lassen?


    „Leonie geht es dir gut?“ Gerkhan musterte sie kritisch, konnte aber keine Anzeichen dafür finden, das man ihr etwas getan hatte.


    „Ja... Aber die Masken-Männer waren doof! Aber dann haben André und ich ein Flugzeugbuch angeguckt! Und eins mit Baggern. Das durfte ich sogar mitnehmen!“ Sie deutete auf das recht große Bilderbuch, das Fux von der Rückbank des Audis holte und ihr reichte.


    „Es gibt Schaufelbagger die so groß wie Häuser sind!“ Als sie das sagte, hatte Leo ein begeistertes Leuchten in den Augen, was Semir ungemein erleichterte zur Kenntnis nahm.


    Nein, ihr ging es offensichtlich gut!


    Ben war in der Zwischenzeit auf seinen Vor-Vorgänger zugegangen und hatte sich vorgestellt.


    „Ich bin Ben Jäger, Semirs Partner. Und ich glaube das sie uns schleunigst einiges erklären sollten!“ Der Ton des jungen Polizisten war noch immer ein wenig unterkühlt, da er dem anderen noch immer nicht ganz traute.


    „Ja, das habe ich vor!“ André nickte ernst. „Es ist alles ein wenig anders, wie ihr vermutlich denkt.“ Er sah von Ben zu Semir. „Und ich brauche dringend eure Hilfe!“


    Die Kommissare warfen sich einen erstaunten, zugleich fragenden Blick zu, ehe Ben sarkastisch sagte: „Sollen wir ihnen bei ihrem nächsten Bruch helfen?“


    „Ganz sicher nicht!“ Fux klang leicht verärgert, sagte dann aber ruhiger:


    „Hört mir bitte einfach nur zu. Es geht hier nicht um mich, sondern um das Leben eines 10-jährigen Jungen.“ Das ließ sowohl Ben als auch Semir sofort hellhörig werden.


    Das was sie dann in den nächsten fünf Minuten zu hören bekamen, entsetzte sie und machte sie zugleich unglaublich wütend.

    Außerdem erklärte es in der Tat so einiges!

    Sie erkannten aber sofort, dass es vermutlich nicht genügen würde, wenn sie ihre Hilfe anboten. Dafür würden sie mehr Hilfe brauchen.

    Das allerwichtigste war es jetzt aber erst einmal Leonie nach Hause zu bringen! Dort konnten sie dann auch gleich mit der Chefin reden.


    „Leo, fährst du mit Ben mit?“ Semir wollte sich während der Fahrt ungestört mit seinem Ex-Partner unterhalten, weswegen er den Audi fahren würde.


    „Ja! Können wir mit Tatütata fahren? Und ganz schnell?!“ Leo sah Ben begeisterte an, der sie jetzt hochhob und zu seinem Dienstwagen ging.


    „Na klar! Mit Tatütata, Blaulicht und ganz schnell!“



    14. April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln 14:03 Uhr



    André legte das Handy beiseite, mit dem er soeben seinen ehemaligen Partner angerufen hatte.


    Vor ihm, ging Albert Berthold nervös auf und ab. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich nicht sicher war, das Richtige zu tun.

    Fux hatte die letzten knapp zwei Stunden auf ihn eingeredet und ihm die aktuelle Situation vor Augen geführt. Dabei hatte er ihm deutlich gemacht, dass sich die Polizei niemals auf einen Handel mit ihm einlassen würde.


    „Der deutsche Staat und damit die deutsche Polizei, lässt sich nicht erpressen, Albert! So etwas funktioniert nur im Fernsehen! Und Ich kann dir genau sagen, wie das Ablaufen wird:

    Sie werden dich zu einem Treffen locken, wo ein schwerbewaffnetes Sondereinsatzkommando auf dich warten wird, dessen Mitglieder alle sehr nervöse Zeigefinger haben werden! Die Diamanten, werden sie aber ganz sicher nicht dabeihaben!“

    An dem Punkt hatte André eine kurze Pause gemacht.


    „Und was willst du dann tun, hm? Wenn sie dir die Diamanten nicht geben? Willst du dann ein vierjähriges Mädchen, das mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun hat, töten? Oder der Kleinen auch einen Finger abschneiden? Oder vielleicht besser gleich zwei Finger, um ganz sicher zu gehen?!“


    „Nein! Natürlich nicht... Ich habe nicht vor dem Mädchen irgendetwas zu tun! Ich bin doch kein Monster!“ Hatte Berthold umgehend mit einem entsetzten Gesichtsausdruck geantwortet, war dann jedoch stutzig geworden:


    „Und woher willst du eigentlich wissen, wie die Polizei solche Situationen handhabt?“


    Auch wenn er mit einer derartigen Frage gerechnet hatte, hatte sie ihn dennoch ein wenig auf kaltem Fuß erwischt und er war sich nicht ganz sicher gewesen, was er darauf antworten sollte.

    Nach kurzem Zögern hatte er sich schließlich für die ganze Wahrheit entschieden.

    Es war Zeit alles in die Waagschale zu werfen.


    Also hatte André nach dem nächsten Laptop gegriffen und erneut seinen Namen in einer Internetsuchmaschine eingegeben und den Artikel über sein Verschwinden auf Mallorca herausgesucht.


    „Ich weiß wie die Polizei arbeitet, weil ich einer von ihnen war.“ Mit den Worten hatte er Albert den Artikel gezeigt, welchen dieser völlig ungläubig gelesen hatte.


    ***


    In der nächsten halben Stunde hatte Fux ihm erklären müssen, wie es dazu gekommen war, dass er sich so urplötzlich wieder erinnern konnte.

    Zu Andrés Überraschung, schien es Berthold jedoch recht wenig zu stören, dass er mal Polizist gewesen war. Er hatte im Moment einfach andere Probleme und stand mit dem Rücken zur Wand.

    Was wohl auch der Grund dafür war, warum er Andrés Vorschlag schließlich zugestimmt hatte. Auch, wenn es ihm offenkundig sehr schwerfiel.


    „Bist du dir sicher, dass das, das Richtige ist? Was, wenn dieser Polizist nicht mitmacht? Dann ist Arnaud verloren!“


    „Er wird mitmachen und alles dafür tun, dass du deinen Sohn wiederbekommst! Glaub mir, ich kenne ihn!“


    „Du kennst ihn, ja? Einen Mann an den du dich bis vor ein paar Tagen nicht einmal erinnern konntest?!“ Es war deutlich, wie blank die Nerven bei dem Finanzexperten lagen.


    „Ich bitte dich, mir zu vertrauen! Ich weiß wie Semir tickt! Und er würde deinen Sohn nie, niemals, seinem Schicksal überlassen! Auch nicht nach dieser scheiß Aktion, die Kleine zu kidnappen.“ Fux legte seinem Freund und Arbeitgeber eine Hand auf die Schulter.


    „Semir Gerkhan und sein Team sind Arnauds beste Chance!“


    „Also schön. Ich vertraue dir und bete, dass du wirklich weißt, was du tust!“



    14. April 2004


    Autobahn A4, in westlicher Richtung, 14:03 Uhr




    Ben Jäger jagte seinen Dienstwagen mit allem was dieser hergab über die Straße.


    Während Neumann und sein Team an einer Übergabe- und Zugriffsstrategie arbeiteten, konzentrierten sich Ben und Semir darauf, mehr über die Diebesband in Erfahrung zu bringen. Oder sie wollten es zu mindestens versuchen.

    Dafür waren sie momentan auf dem Weg in die JVA Ossendorf. Semir hatte sich fest geschworen, aus dem geschnappten Täter Informationen herauszubekommen. Und wenn er sie aus ihm hinausprügeln musste!

    Aber der Kerl würde jetzt endlich das Maul aufmachen! Dafür würde er schon sorgen...


    Was den kleinen Polizisten momentan jedoch noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass sein ehemaliger Freund und Partner wohl in die Entführung involviert war.

    Selbst wenn er an Amnesie litt, konnte ein Mensch sich derart verändern?

    Vom Polizisten zum Kindesentführer war es schon ein ganz schönes Stück... Bei dem Gedanken daran, das André, ohne es zu wissen, sein eigenes Fleisch und Blut gekidnappt hatte, lief es ihm eiskalt den Rück hinunter!

    Noch schlimmer war jedoch die Vorstellung, dass er sich womöglich erinnern konnte und dies alles ganz bewusst tat...


    Auf das Ganze obendrauf kam noch die Sorge um den kleinen Wirbelwind, den er fest in sein Herz geschlossen hatte.

    Im Stillen konnte er Anna nur beipflichten:

    Sollte Leonie auch nur ein Haar gekrümmt werden, war er nur zu gerne bereit seine Chefin bei der Jagd nach den Verantwortlich zu unterstützen. Und auch er würde keine Gnade walten lassen...


    „Was für Feiglinge entführen ein Kind, um so Beute zu erpressen?“, fragte Ben laut und holte seinen Partner damit in das Hier und Jetzt zurück.


    „Die schlimmste Sorte von Feiglingen...“, brummte Gerkhan und schüttelte grimmig den Kopf. Sein Handy klingelte erneut und als er abnahm, hörten sie umgehend Hartmuts aufgeregt klingende Stimme:


    „Ich weiß, wer den Anruf verschlüsselt hat!“


    „Okay... Hilft uns das weiter?“ Semir klang nicht weniger aufgeregt. Die Antwort des Genies war jedoch recht ernüchternd:


    „Jein, das kann ich noch nicht genau sagen... Es handelt sich bei dem Kerl um einen echt bekannten Hacker, der sich ‚Araignée‘, als ‚Die Spinne‘ nennt! Der Typ ist eine Legende und hat schon den ein oder andere echt krassen Coup gedreht. Über seine für ich typisch Verschlüsslung bin ich...“


    „Hartmut, komm zum Punkt!“ unterbrach Gerkhan ihn barscher als beabsichtigt. Aber für die ausschweifenden Erklärungen von Einstein hatten sie gerade einfach keine Zeit.


    „Ich versuche jetzt herauszubekommen, mit wem der in letzter Zeit zu tun hatte.“


    „Gut, wenn du was weißt, melde dich!“ damit legte Semir auch schon wieder auf, da sie nicht mehr weit von der JVA entfernt waren. Mit knappen Worten erzählte er Ben was Hartmut ihm berichtet hatte.


    „Vielleicht bring uns das ja irgendwie weiter...“ Der junge Kommissar wurde ebenfalls unterbrochen, als Semirs Handy schon wieder klingelte.


    Semir legte kurz die Stirn ein wenig in Falten, da er die Nummer nicht kannte. Vermutlich war es aber Neumann oder ein anderer Kollege, weswegen er, ohne zu zögern, ran ging.


    „Ja, Semir hier?“


    Für einen Augenblick konnte er nur das Atemgeräusch des Anrufers hören. Die darauffolgende Stille, ließ ihn das Gespräch schon fast wieder beenden, als der Mann am anderen Ende der Leitung doch sprach und fragte: „Semir...?“



    Gerkhan traute seinen Ohren nicht und riss die Augen vor Schreck und maßlosem Erstaunen unglaublich weit auf, als er die Stimme hörte!

    Auch wenn es fast fünf Jahre her war, das er die Stimme zuletzt gehört hatte und bis vor kurzem auch niemals gedacht hätte, sie je wieder zu hören, erkannte er sie umgehend wieder.

    Da sein Mund mit einem Mal unglaublich trocken war, musste der kleine Polizist sich zweimal Räuspern, bis er es schaffte zu Antworten. Kurz zögerte er jedoch erneut, da er keine Ahnung hatte, wie er den Mann ansprechen sollte.

    Er entschied sich schließlich für den Namen, unter dem er ihn kannte:


    „André?“


    Als Ben den Namen hörte, trat er ungewollt recht kräftig auf die Bremse des Mercedes, sodass auch der nachfolgende Verkehr kräftig bremsen musste, was trotz des Blaulichts auf ihrem Dach, umgehend zu einem Hupkonzert führte.

    Weder Ben noch Semir, ließ sich davon jedoch auch nur im Geringsten beeindrucken.


    „André?“, fragte Gerkhan erneut und hoffte, dass der Andere nicht auflegen würde.


    „Ja, ich bin es. André. André Fux...“



    Semir war von diesen drei Worten und was sie implizierte, für einen Moment völlig übermannt.

    Sein ehemaliger Partner schien sich anscheinend doch erinnern zu können! Zu mindestens kannte er seinen vollständigen Namen, den er wohl nur kennen konnte, wenn er sich an irgendetwas erinnerte. Wusste er, was er da gerade tat?!


    Der Gedanke, dass André wusste, was er da gerade tat, ließ sofort Wut in Semir aufsteigen. Er kam jedoch nicht dazu, diese Wut in Worte zu fassen, da André bereits weitersprach und ihn dessen nächste Worte noch mehr erstaunten und verwirrten.


    „Wir müssen und treffen. Und das so schnell wie möglich. Ich kann jetzt nicht alles erklären, aber es ist nicht wie du und deine Kollegen denken. Und uns rennt die Zeit davon!“


    Wovon zur Hölle sprach Fux da?


    Semirs Verwirrtheit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, was auch Ben dadurch nicht verborgen blieb.


    „Schaffst du es in einer halben Stunde am Rhein-Energie Sportpark zu sein?“ Ungeduld schwang in Andrés Stimme mit.


    „Am Rhein-Energie Sportpark in einer halben Stunde...? Ja, das schaffe ich, aber...“


    „Es ist wirklich wichtig! Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage das es um Leben und Tod geht. Und ich verspreche das ich alles erklären werde!“


    Semir schloss die Augen, da er noch immer ein wenig unentschlossen war, kam ihm das alles doch sehr merkwürdig vor. Schließlich sagte er jedoch:


    „Also schön! Ich werde da sein!“




    14. April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln, 11:00 Uhr




    Er ging die Treppe in den ersten Stock recht langsam hoch.


    Das konnte einfach nicht gut gehen!


    Das würde einfach nicht gut gehen!


    Davon war er ganz klar überzeugt. Nein, er war nicht nur überzeugt, er wusste es! Immerhin war er in seinem ‚vorhergingen Leben‘ verdammt noch mal Bulle gewesen!

    Auch wenn das Wissen darüber zum Teil noch tief in seinem Gedächtnis schlummerte und ungeduldige darauf wartetet wieder erweckt zu werden, wusste er das Alberts Plan spektakulär scheitern würde!


    Und Gott allein wusste, was das für Folgen haben konnte!


    Als er nun wieder in das Zimmer trat, in dem die Kurze noch immer begeistert erzählt und dabei durch das Bilderbuch blätterte, wusste er, dass er etwas unternehmen musste.

    Er wusste nur noch nicht was.


    „...und dann gehen die Piloten immer um das Flugzeug spazieren und gucken das kein Teil weg ist! Wenn was fehlt dürfen sie nicht fliegen.“ ‚Renard‘ musste unwillkürlich schmunzeln.

    Da wusste jemand schon ziemlich gut Bescheid.

    Als er in den Raum trat, sah das Mädchen in seine Richtung. „Hallo. Darf ich gleich zu Mama?“


    „Später, ja...“ An Camille gewandet sagte er, dass ihr Mann sie sehen wolle, eh er sich auch auf den Boden setzte und in dem Bilderbuch auf eins der abgebildeten Fahrzeuge zeigte. „Was ist das denn für ein Auto?“


    „Das bringt Essen!“ Die Ablenkung war ihm formidable geglückt und Leonie konzentrierte sich wieder auf das Buch und darauf, jetzt ihm, zu erzählen was man auf den Bildern alles sehen konnte.



    Während sie erzählte, musterte er das Mädchen zum ersten Mal genauer.

    Die dunkelbraunen Haare, hatten, soweit er sich erinnern konnte, genau dieselbe Farbe, wie die der Mutter.

    Allgemein glaubte er in ihren kindlichen Gesichtszügen schon jetzt eine sehr markante und ausgeprägte Ähnlichkeit zu seiner ehemaligen Vorgesetzten zu erkennen.


    „Was hast du denn eigentlich an deinem Kinn gemacht?“, fragte er unwillkürlich.

    Das auffällige Pflaster am Kinn, sowie die Schrammen in ihrem Gesicht, hatten ihn schon vorhin stutzig gemacht.

    Leo verzog etwas schuldbewusst den Mund, sagte dann aber rundheraus und mit einem schelmischen Leuchten in den Augen:


    „Ich bin mit dem Bobby-Car die Rutsche runtergefahren und habe mir Aua getan. Weil mit dem Bobby-Car macht man das nicht. Meine Mama hat gesagt ich darf die Rutsche nur noch auf dem Popo herunterrutschen! Aber ich wollte so fliegen wie Onkel Semir mit seinem Auto!“


    Er hatte die Erklärung kaum noch gehört!


    André Fux starrte noch immer wie vom Blitz getroffen in das Gesicht des Mädchens vor ihm, die ihn jetzt ein wenig fragend ansah.

    Genauer gesagt, starrte er in ihre blauen Augen, die einen ganz leichten Grünstich hatten und die noch immer einen schelmischen Glanz aufwiesen.


    Nein!


    Das war unmöglich! Das konnte nicht sein! Er musste sich irren...!


    Fux blinzelte heftig, sah noch einmal hin.


    Nein, es bestand kein Zweifel...


    Die blauen Augen mit dem ganz leichten Grünstich, die ihn noch immer fragend ansahen, kannte er nur zu gut!


    Aber wie...?!?


    In seinem Kopf begannen die Gedanken zu rasen und sich zu überschlagen.

    Neben ihrem Namen, wusste er, dass sie im Dezember 1999 geboren worden war. Er war kein Experte, rechnete aber grob zurück und schluckte erneut.


    April...


    Er war am 06. Mai auf Mallorca ‚verschwunden‘ und wenn seine Erinnerung ihm keinen Streich spielte, war es zwei oder drei Wochen vorher zu dem ‚Zwischenfall‘ mit seiner damaligen Chefin gekommen.


    Großer Gott! Das könnte passen...!


    „Leonie, was ist denn eigentlich mit deinem Papa...?“, fragte er vorsichtig und mit möglichst neutraler Stimme. Dafür aber mit wild pochendem Herz.


    „Der ist nicht da.“ Leo zuckte mit den Schultern. „Dafür habe ich meinen Opa Holger und meine Tante Tina! Und ich mache quatsch mit Onkel Semir und Ben! Onkel Semir und Ben sind auch bei der Polizei und müssen machen was meine Mama sagt. Meine Mama ist die Chefin!“


    André kam nicht umher kurz zu schmunzeln, wurde aber sofort wieder ernst. Ja, ‚Onkel Semir‘ war bei der Polizei und er wusste genau was er momentan tat:

    Auf der Suche nach Leonie jeden Stein in Köln und Umgebung umdrehen! Genau wie vermutlich die gesamte restliche Polizei auch...


    Er musste also jetzt etwas tun, und nicht noch länger darüber nachdenken!

    Die, für ihn, erschütternde Erkenntnis, dass dieses kleine Kind neben ihm, womöglich seine Tochter sein könnte, machte die ganze Situation nur noch mal um einiges verworrener.

    Und sein schlechtes Gewissen, das er nicht hatte verhindern können, dass man sie aus dem Kindergarten verschleppt hatte, wuchs ins Unermessliche.


    Dafür wusste er jetzt, was er tun würde!



    Ich denke auch, das es das Ende ist.

    Auf der einen Seite ist es zwar schon wirklich schade, da die Cobra einfach irgendwie immer zu RTL dazugehört hat, aber es ist schon sehr lange nicht mehr das, was es mal war. So empfinde ich es jedenfalls.

    Auch wenn mir tatsächlich die ganze Neuen Folgen wieder recht gute gefallen haben, hat RTL in den letzen 13 Jahren mehr als einmal versucht die Serie neu zu erfinden und es ist nie besser geworden!

    Natürlich musste man wohl mit der Zeit gehen, aber vielleicht hätte man auch einfach schon früher einen Cut ziehen müssen und der Serie damit ein würdiges Ende gegeben.

    Denn ich glaube nicht, das sie das nun bekommt.

    14. April 2004


    Kindergarten, Köln Marienburg, 10:50



    Es hatte Ben, zu seinem leichten Erstaunen, einiges an Kraft gekostet, seine Chefin aus dem Raum und nach draußen zu verfrachten.

    Während er sie, mehr oder weniger sachte, aus dem Raum geschoben hatte, hatte sie sich mit einer Kraft gegen ihn gestemmt, die ihn kurz auf falschen Fuß erwischt hatte und ihn beinahe umgeworfen hätte.

    Dabei hätte er eigentlich durchaus damit rechnen sollen. Mit den, vom Laufen erlangten Muskeln in ihren Beinen, hatte sie sich massiv gegen das Hinausgebracht werde, gewehrt. Genau wie mit jedem anderen Muskel in ihrem Körper.

    Letztlich hatte ihm nur seine größere Körpergröße und größere Körpermasse geholfen, sie nach draußen zu bringen.


    Jetzt lehnte sie unter seinem wachsamen Auge an der Hauswand vor dem Eingang und schien sich langsam wieder zu beruhigen.

    Jäger machte ihr für den ziemlich unprofessionellen Ausbruch und die Drohungen allerdings keinerlei Vorwürfe.

    Es hatte jedoch deutlich gemacht, dass sie aus weiteren Ermittlungen von nun an besser ausgeschlossen werden sollte.

    Denn ihr Handeln und Denken war nicht mehr rational und dass einer Polizistin, sondern das einer Mutter, die sich in einer absoluten Ausnahmesituation befand.

    Ben war sich auch bewusst, dass sie das selbstverständlich anders sehen würde, aber es war jetzt seine und Semirs Aufgabe dafür zu sorgen, sie vor völlig unüberlegten Handlungen und deren möglicher Folgen zu schützen.

    Der junge Polizist sah auf als Semir und Neumann ebenfalls aus dem Gebäude traten.


    „Sie melden sich heute Abend wieder. Bis dahin sollen wir die Diamanten aus der Asservatenkammer beschafft haben.“ Verkündete der LKA-Beamte schließlich.


    „Ja und?! Was sollen wir jetzt zu tun?“ Anna stieß sich von der Hauswand ab und sah Neumann auffordernd, gleichzeitig wütend und ängstlich an.


    Sie kannte das oberste Prinzip der Polizei, sich nicht erpressen zu lassen, nur zu gut. Egal was passieren würde, die Diamanten würden die Asservatenkammer sicher nicht verlassen!


    Und das Wissen machte sie Krank vor Angst!




    Ben und Semir warfen sich einen Blick zu, der eindeutig fragte: „Du oder ich?“

    Einer von ihnen hatte jetzt die sehr undankbare und mit großer Wahrscheinlichkeit alles andere als einfache Aufgabe, der Engelhardt klar zu machen das es für sie kein ‚wir‘ geben würde und dass das Einzige, was sie jetzt noch tun würde, es war nach Hause zu gehen, beziehungsweise, gebracht zu werden.

    Gerkhan gab seinen Partner schließlich zu verstehen das er das machen würde. Er kannte die Chefin schon länger und war der Ranghöhere Beamte. Auch wenn er nicht glaubte, dass sie es weder Ben noch ihm, ankreiden würde, wenn sie in so einer Situation über die Stränge schlugen und sie vielleicht etwas im Ton vergriffen.


    „Frau Engelhardt, das Einzige, was sie jetzt noch tun werden, ist die Sache uns zu überlassen.“ Semir sprach ruhig, aber bestimmt.


    „Das werde ich ganz sicher nicht tun, Gerkhan! Hier geht es um meine Tochter!“


    „Und genau deswegen werden sie sich ab jetzt raushalten. Weil es um Leonie geht und sie befangen sind.“


    „Gerkhan...“ setzte Anna erneut aufgebracht an, aber Semir ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.


    „Nein! Sie sind befangen und für den Augenblick nicht diensttauglich. Das hat ihr irrationaler Ausbruch gerade eben deutlich gezeigt. Wären sie nicht so durch den Wind, wüssten sie, was eine derartige Drohung für Konsequenzen haben kann!“


    Ben zog leicht die Luft ein.


    Das war doch recht drastisch formuliert und die darin enthaltene, angedeutete Drohung, alles andere als nett.

    Er war sich allerdings auch sicher, dass etwas weniger Drastisches bei der Chefin im Moment nicht angekommen wäre. Dass die Ansage angekommen war, zeigte sich binnen weniger Sekunden in ihrem Blick, als auch in ihrer gesamten Körperhaltung.


    Jäger machte sich schon bereit einzuschreiten, als ein Ruf ihn sich umdrehen ließ.

    Vor einer der Absperrungen schickte sich ein hochgewachsener, schlanker Mann, den Ben auf Anfang bis mitten 60 schätzte, an, die Absperrung zu durchbrechen und wurde von gleich zwei Beamten daran gehindert.


    „Ist schon okay, lasst ihn durch!“, rief Semir hastig und Ben sah jetzt etwas fragend ihn an, während der Neuankömmling auf sie zu gerannt kam.


    „Ich habe mir schon gedacht, dass wir hier Verstärkung brauchen und schon vorhin Kontakt zu Engelhardt Senior aufgenommen.“ Raunte Semir seinem Partner zu, der daraufhin anerkennend nickte. Das war klug und vorausschauend gedacht gewesen.


    Und wie sich jetzt zeigte, das Beste, was sie hatten tun können.


    Die, durch Semirs Ansprache, eh schon ins Bröckeln gekommene Fassade der Chefin fiel jetzt mit einem Schlag komplett in sich zusammen, als der Vater bei ihr ankam und wortlos in eine feste Umarmung zog.

    Bei ihm machte sie sich nicht ansatzweise die Mühe, zu verstecken, wie groß ihre Angst, Verzweiflung und augenblicklich gefühlte Hilflosigkeit in Wirklichkeit war.

    Jegliche Form der Contenance war verschwunden und sie ließ den unzähligen Tränen an der Schulter des Vaters hemmungslos freien Lauf.




    Semir schluckte schwer und wandte sich ab, genau wie Ben und Neumann. Er konnte und wollte sich nicht ausmalen, was momentan in seiner Chefin vorging, war sich aber sicher, dass es die Hölle auf Erden sein musste!

    Umso entschlossener war er so schnell es ging zu Handeln. Das war aber leichter gesagt als getan.


    „Ich habe nicht den Eindruck, dass wir es hier nicht mit professionellen Entführern zu tun haben.“ Sagte Neumann schließlich und sah von Ben zu Semir, der dessen Vermutung mit einem Nicken bestätigte.


    „Das denke ich auch nicht. Jedes Kind weiß, das sich die Polizei nicht so einfach erpressen lässt! Und der Mann hat trotz verzerrter Stimme nervös geklungen... Außerdem...“ Semir hielt inne und überlegte, ob er dem LKA Beamten von André Fux erzählen sollte.


    „Außerdem?“, hakte der auch sofort nach.


    „Außerdem scheinen das ja Diebe zu sein und eben keine Entführer.“ Beeilte sich Semir zu sagen und gab Ben zu verstehen auch nichts von André zu sagen.


    „Ja... Die Frage ist nur, ob sie das weniger, oder mehr gefährlich macht.“


    Beide Autobahnpolizisten nickten bedächtig und Ben vermutete mit Unbehagen, das es sie vermutlich gefährlicher machte. Sie schienen aus irgendeinem Grund irrational zu handeln. Und das war nie gut, da es sie unberechenbar machte!


    Semirs Handy klingelte.


    Es war Hartmut, der verkündete das es unmöglich war den Anruf nachzuverfolgen, da er über einen Server in Asien verschlüsselt worden war.


    „Wer immer das gemacht hat, wusste genau was er tat! Ich bin aber trotzdem weiter dran und schaue, ob ich etwas über denjenigen herausbekommen kann!“


    Ben schüttelte den Kopf. Das Ganze wurde immer skurriler:


    Eine Diebesbande mit Computer-Experte, die spontan ein Kind entführten, um an ihre verloren gegangene Beute zu kommen... Da stimmte doch etwas nicht!

    Irgendetwas hatten sie übersehen, oder noch nicht gefunden!

    Den jungen Kommissar störte vor allem die Beteiligung von Semirs ominösen, für tot gehaltenen Ex-Partner. Konnte der sich wirklich an gar nichts mehr erinnern?

    Aber wenn, wäre er wirklich so dreist und, oder, blöd, die Tochter seiner ehemaligen Chefin zu entführen?

    Zumal er dann genau wissen sollte, dass sich die Polizei nicht erpressen lässt und das ihrer Forderung niemals stattgegeben würde.


    Viele Fragen, auf die sie schnellstens Antworten finden mussten!



    14. April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln, 10:50 Uhr




    Es hatte ein wenig gedauert, aber ‚Renard‘ hatte es geschafft, dass das Mädchen mehr oder weniger freiwillig, mit ihm in das Haus gegangen war, nachdem er recht glaubwürdig da gestellt hatte, dass er die Mutter wirklich kannte.

    Camille Berthold hatte es sich nicht nehmen lassen, trotz der kurzen Zeit, eins der Zimmer im Ersten Stock einigermaßen kindgerecht auszustatten.

    Ein bisschen Spielzeug, Mal- und Bilderbücher sowie zwei Kuscheltiere warteten dort auf sie.


    ‚Renard‘ hielt es der Französin auch zugute, dass ihr das schlechte Gewissen überdeutlich ins Gesicht geschrieben stand, als sie das Mädchen zu Gesicht bekam. Denn gerade sie sollte wissen, wie es war, wenn einem das Kind weggenommen wurde.


    Auf der anderen Seite verstand er, dass Camille verzweifelt war und eben alles tat, um ihr Kind wieder zubekommen. Das Problem war, das Leonis Mutter auch alles tun würde, um ihr Kind wohlbehalten wiederzubekommen...

    Das Ganze konnte also nur in einem riesengroßen Drama enden, wenn sie sich nicht schnell etwas einfallen ließen!


    „Wann kann ich denn zurück zu meiner Mama? Oder in den Kindergarten?“ die Fragen rissen ihn aus seinen Gedanken und er sagte lächelnd:


    „Mein Freund unten im Haus telefoniert gleich mit deiner Mama. Und dann schauen wir, wann wir uns treffen, okay?“ Die Kleine dachte einen Augenblick darüber nach, nickte dann aber leicht. „Okay...“


    „Magst du dir eins von den Büchern anschauen? Oder malen?“ Er deutete auf den kleinen Stapel Bücher, den sie bereits interessiert gemustert hatte.


    Noch etwas schüchtern ging Leonie auf die Kiste zu und zog bedächtig ein Buch nach dem anderen heraus. Schließlich entschied sie sich für ein Bilderbuch, das ‚Am Flughafen‘ hieß und auf dem ein buntes Flugzeug abgebildet war.


    „Mein Opa kann Flugzeuge fliegen! Der ist Pilot. Aber sein Flugzeug hat einen Buckel! Aber jetzt fliegt er nur noch kleine Flugzeuge.“


    „Aha, das ist ja toll!“ In der Zeit, wo die Kleine nach einem Buch gesucht hatte, hatte er Camille hereingeholt und sie gebeten kurz ein Auge auf sie zu haben.


    „Leonie, das ist meine gute Freundin Camille. Magst du ihr vielleicht ein bisschen vom Flughafen erzählen?“


    Mit einem breiten Lächeln setzte sich die Französin neben das Mädchen auf den Boden, wo Leonie begeistert anfing auf die Seiten im Buch zu deuten und aus ihrer Sicht zu erzählen, was am Flughafen alles passiert.

    Auch wenn Frau Berthold kein Wort von dem verstand, das gesagt wurde, nickte sie eifrig und deutete hin und wieder auf ein paar der abgebildeten Gegenstände.


    ***


    Im Erdgeschoss herrschte derweil Aufregung und es wurde heftig diskutiert.

    Albert hatte soeben Kontakt mit der Polizei aufgenommen und seine Forderung gestellt. Aus dem hitzigen Gespräch mit Araignée und Duvért entnahm er, dass es wohl nicht so glattgelaufen war, wie sie sich das in ihrem naiven Einfall gedacht hatten. Genau wie er es erwartet hatte. Die Polizei ließ sich eben nicht erpressen!


    „Habt ihr das Gespräch aufgenommen?“, die Frage war an das Computer Genie gerichtet, was der sofort mit einem Nicken bestätigte.


    „Je veux l'entendre!“


    Er schaffte es kaum, es zu verbergen, wie sehr es ihm durch Mark und Bein ging, als er erst die Stimme von Anna Engelhardt und danach erneut die von Semir Gerkhan hörte.

    Für den Moment konzentrierte er sich aber darauf, was gesagt wurde. Und das bestätigte nur seine Befürchtung, dass das alles nicht gut ausgehen würde...!

    Er ließ die Aufnahme ein zweites Mal abspielen und schüttelte danach resigniert den Kopf. Damit ihn nicht jeder verstand, sprach er auf Deutsch, sodass nur Albert ihn verstehen konnte:


    „Du solltest am besten wissen, zu was für Mitteln man greift, wenn das eigene Kind in Gefahr ist.“ Er deutet auf die Lautsprecher, aus denen vor gut einer Minute die unmissverständliche Drohung seiner ehemaligen Vorgesetzten zu hören gewesen war.


    „Und du hast ‚Mama-Bär‘ gehört! Glaub mir einfach, wenn ich sage, dass es sich bei ihr keinesfalls um eine leere Drohung handelt. Unser viel größeres Problem ist aber, das ‚Mama-Bär‘ eine ganze, schwerbewaffnete Polizei-Bären Armee hinter sich hat, die allesamt Blut geleckt haben. Denn man nimmt einem Rudelmitglied nicht ungestraft das Junge weg...!“


    Berthold schluckte schwer. Die sehr bildliche Beschreibung war recht einprägsam und durchaus passend.

    Er schien langsam zu begreifen in was für ein Hornissennest er da gestochen hatte...


    „Soweit ich mitbekommen habe, hat die Polizei in Windeseile einen ganzen Stadtteil abgeriegelt! Und der nette Herr vom LKA, mit dem du zum Schluss gesprochen hast, war ebenfalls in einer Rekordverdächtigen Zeit vor Ort. Du siehst also, wie ernst die Polizei das nimmt...!“


    „Ja... Ich meine es aber auch verdammt ernst! Hier geht es um das Leben meines Kindes! Und dem Mädchen wird nichts passieren! Wir machen weiter wie geplant und rufen Sie heute Abend wieder an!“ ‚Renard‘ erkannte deutlich den Mut und die Entschlossenheit der Verzweiflung, die da mitschwang und treibende Kraft hinter Alberts handeln war.


    Das war nicht gut!



    14. April 2004


    Kindergarten, Köln-Marienburg 10:35 Uhr



    Als Ben den Mercedes vor dem bunt angemalten Gebäude zum Stehen brachte, wimmelte es dort bereits von Polizisten in Uniform.

    Kurz nach ihnen fuhr auch ein weiteres Zivilfahrzeug der Polizei vor und zwei Kollegen des LKA kamen auf sie zu gelaufen.

    Donnerwetter, die waren wirklich zügig vor Ort, musste Ben neidlos anerkennen und frage sich zugleich was für Gefallen seine Vorgesetzte da eingeholt hatte. Klein, konnten die nicht gewesen sein.

    Der größere der LKA-Beamten, der sich ihm und Semir als Lutz Neumann vorstellte, trat als erstes auf die Chefin zu, die sich soeben von einem der uniformierten Beamten berichten ließ, was bis jetzt unternommen worden war.


    „Anna, das tut mir so leid! Wir sind so schnell es ging gekommen. Hat die Ringfahndung schon etwas gebracht?“ Die Chefin schüttelte verneinend den Kopf.


    „Bis jetzt noch nichts. Es wird weitergesucht und der Bereich von 10 auf 15 Kilometer erweitert.“


    „Gut...“ Neumann, der die Chefin offensichtlich ein wenig besser kannte, nahm sie beiseite und ging mit ihr gemeinsam in das Gebäude, wo sie einen leeren Raum fanden. Dort konnten sie sich, fernab des Trubels, ungestört und in Ruhe unterhalten.


    „Anna, hast du eine Ahnung wer Leonie entführt haben könnte?“


    „Nein... Ich verstehe es nicht!“ Sie schüttelte den Kopf, ihr Blick schweifte dabei durch den Raum und sie realisierte das sie in dem Raum waren, aus dem sie Leo nach ihrem Stunt vor zwei Tagen abgeholt hatte.

    Anna schluckte, fühlte gleichzeitig wie sich ihr die Kehle zuschnürte und sie versuchte sich wieder auf den Kollegen vor sich zu konzentrieren.


    „Irgendeiner der bösen Jungs, die du eingebuchtet hast und der sich rächen möchte?“


    „Theoretisch ist das möglich, aber ich wüsste nicht wer... Es war die letzten Monate recht ruhig bei uns...“


    „Fällt ihnen jemand ein?“ Die Frage galt Ben und Semir, die vor der Tür standen und warteten. Die Kommissare dachte kurz nach, schüttelten aber die Köpfe.


    „Es war in letzte Zeit wirklich sehr ruhig bei uns...“, antwortete Semir.


    Neumann nickte, und wies seinen Partner dennoch an, umgehend eine Liste, mit allen sich momentan auf freiem Fuß befindlichen Verbrechern zu erstellen, die die Chefin in ihrer Karriere hinter Gitter gebracht hatte.


    „Könnt der, oder die Entführer, aus deinem privaten Umfeld kommen?“, fragte Lutz vorsichtig und bekam sofort ein entschiedenes „Auf keinen Fall!“ als Antwort.


    „Also gut... Anna wir übernehmen ab hier. Du kannst dir absolut sicher sein, dass wir alles unternehmen werden, um deine Tochter so schnell wie möglich zu finden und unbeschadet zu dir zurückzubringen...“


    Die Engelhardt schüttelte jetzt energisch mit dem Kopf. „Ich werde jetzt ganz sicher nicht nach Hause gehen und dort Däumchen drehen!“


    „Chefin...“ versuchte es Semir vorsichtig, wurde aber ebenfalls mit einem strengen Blick abgestraft, der ihn sofort verstummen ließ. Ben versuchte es daraufhin nicht einmal. Auch wenn er es für das Beste hielt, sie umgehend aus der Schusslinie zu nehmen. Ansonsten konnte das Ganze womöglich in einem noch größeren Drama enden, als es das eh schon war.



    Auch Semir schien zu überlegen, wie er die Chefin davon überzeugen konnte das LKA und ihn und Ben ihren Job machen zu lassen, als das Handy der Engelhardt klingelte.

    Da sie die Nummer nicht kannte, wollte sie den Anruf schon wegdrücken, bis ihr eine Vermutung in den Sinn kam!

    Ein Stromstoß ging durch Annas Körper und ihr Geist war mit einem Schlag hellwach.

    Auch die übrigen Anwesenden erkannte sofort das etwas im Gange war. Die Chefin legte ihr Handy auf den Tisch im Raum und schaltete es auf Lautsprecher, ehe sie sich meldete.


    „Engelhardt?“


    „Frau Engelhardt, sie können sich mit Sicherheit denken, wer ich bin und warum ich sie anrufe.“ Die Stimme war Computer verzerrt, dennoch glaubte die Polizistin eine leichte Unsicherheit zu erkennen.


    Hatte sie also richtige gelegen, mit ihrer Vermutung...


    „Wo ist meine Tochter?!“, fragte sie sofort und konnte ein Zittern ihrer eigenen Stimme nur mit Mühe unterdrücken.


    „Sie ist bei mir und es geht ihr gut. Damit das so bleibt, müssen sie mir allerdings einen kleinen Gefallen tun...“


    „Wer sind sie und was wollen sie?“ Jetzt musste sie nicht nur ein Zittern, sondern auch Wut in ihrer Stimme unterdrücken.


    „Wer ich bin ist egal! Ich will bis morgen Mittag um 12:00 Uhr, die von Ihnen sichergestellten Diamanten, die sich momentan in der Asservatenkammer befinden, haben! Wann und wo die Übergabe stattfindet erfahren sie morgen. Wenn sie mir die Diamanten bringen, bekommen sie ihre Tochter zurück!“


    Ben, Semir und Anna rissen gleichzeitig ungläubig die Augen auf, während die Kollegen vom LKA ein wenig verwirrt wirkten.


    Annas Gedanken überschlugen sich mehrfach und sie hatte Mühe, auch nur einen vernünftigen Schluss daraus zu ziehen.

    Deswegen platzte ihr auch in einer Kurzschlussreaktion der Kragen und sie verlor die Nerven:


    „Jetzt pass mal auf du Penner! Wenn du meinem Kind auch nur ein Haar krümmst bringe ich dich eigenhändig um! Darauf kannst du dich verlassen! Und wenn es sein muss, werde ich dich dafür bis ans Ende der Welt jagen! Ich werde dich jagen und ich werde dich finden! Und es gibt nichts und niemanden, der dich vor mir schützen kann!“ brüllte sie in Richtung des Mikrophons, ehe einer der anwesenden Männer es verhindern konnte.


    Nach diesem Ausbruch war es Ben Jäger, der als erstes reagierte.

    Er packte seine Vorgesetzte recht unbeholfen, aber bestimmt und zog sie aus dem Raum heraus, während Kriminalrat Neumann vom LKA und Semir versuchten vernünftig mit dem Kidnapper zu reden.



    14. April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln, 10:25 Uhr



    „Albert, ich bitte dich! Das ist purer Wahnsinn! Blas die Aktion ab! Du willst doch nicht wirklich ein kleines Kind entführen!“

    ‚Renard‘ gab sich allergrößte Mühe seinen Chef zur Vernunft zu bringen. Denn es war eindeutig, dass dieser keine Ahnung hatte, was er gerade dabei war anzurichten und in Gang zu setzen.

    Zeitgleich hätte er Araignée und die beiden Roussax Brüder gerne erdrosselt.

    Immerhin waren sie es gewesen, die auf die Idee gekommen waren! Wie bescheuert konnte man sein?


    Glaubten sie ernsthaft, dass ihr Plan klappen würde?


    Ein Plan, bei dem sie die kleine Tochter der Dienststellenleitung der Autobahnpolizei entführten, um sie so zu erpressen, ihnen die Diamanten aus der Asservatenkammer der Polizei zu besorgen und gegen das Kind einzutauschen!


    Es war offensichtlich, dass sie keine Ahnung hatten, wie es bei der Polizei lief und man nicht mal eben in die Asservatenkammer laufen konnte, um gemütlich ein paar Beweismittel mitzunehmen!

    Als Berthold ihm ihr Vorhaben gebeichtet hatte, hatte ihn zuerst erstaunt, dass Anna Engelhardt anscheinend ein Kind hatte.

    Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass sie damals schon eins gehabt hatte.

    Was aber natürlich nichts heißen musste. Und den Gedanken verdrängte er auch recht schnell, da es aktuell wichtigere Dinge gab.


    „Glaubst du, mir macht das Spaß? Aber wie sollen wir sonst an die benötigte Menge Diamanten kommen?“ Offene Verzweiflung schwang in Alberts Worten mit. „Und ich kann die Aktion nicht mehr abblasen... Sie haben das Mädchen schon und müssten jeden Moment hier sein...“ fügte er Kleinlaut hinzu.


    Oh Fuuuck...!


    ‚Renard‘ trat vor einen in der Nähe stehenden Stuhl, der daraufhin ein paar Meter weit flog.

    Er raufte sich durch die Haare und versuchte nachzudenken, was er jetzt tun konnte und sollte.

    Da in seinem Kopf aber noch immer das Chaos tobte und er seine neugewonnenen Erinnerungen noch nicht ganz unter Kontrolle hatte, fiel es ihm schwer vernünftig nachzudenken.



    Das Geräusch von Reifen, die über Kieselsteine die Auffahrt hinauffuhren, lenkte ihn endgültig ab und er eilte in Richtung Eingangstür.

    Als er vor dem Haus ankam, waren die zwei Roussax Brüder bereits aus dem Auto gestiegen, das völlig verängstigte Mädchen saß jedoch noch auf der Rückbank des VWs und weinte bitterlich.

    Jerome wollte sie schon aus dem Auto heben, als ‚Renard‘ ihn auf Französisch anblaffte er solle die Finger von ihr lassen und verschwinden.


    „Die Ski Masken machen ihr noch mehr Angst, siehst du das nicht? Idiot!“ zischte er dem Älteren der Brüder zu.


    „Aber sie soll unsere Gesichter nicht sehen...“, sagte dieser etwas unbeholfen.


    „Das wird euch auch nicht mehr helfen...“ dachte ‚Renard‘ leise bei sich und scheuchte die Zwei mit einer eindeutigen Geste ins Haus, allerdings nicht, ohne anklagend auf die Schrammen und das Pflaster im Gesicht des Kindes zu deuten.


    „Wart ihr das? Wenn ja, breche ich euch die Arme!“ Die Brüder schüttelten entschieden mit dem Kopf. „Das hatte sie schon! Wie versprochen, waren wir vorsichtig!“

    ‚Renard‘ nickte.

    Die Beiden waren clevere und rücksichtslose Diebe, die im Großen und Ganzen aber eigentlich keine schlechten Menschen waren.


    Er atmete tief ein und aus und setzte ein freundliches, offenes Lächeln auf. Dann ging er langsam auf das Auto zu, vor dessen geöffnete Tür er sich hinhockte.

    Aus den Unterlagen, die Araignée zusammengetragen hatte, kannte er ihren Namen.


    „Hallo Leonie, ich bin ein Freund deiner Mama und du musst keine Angst mehr haben.“


    „Ich will zu meiner Mama!“ Leo weinte noch immer und sie wischte sich mit einem Ärmel ihres Pullovers Tränen und Rotz aus dem Gesicht.


    „Ich weiß! Und ich verspreche dir, dass ich dich auch wieder zu deiner Mama bringe. Aber magst du jetzt nicht erst mal mit mir ins Haus gehen?“




    14. April 2004


    Büro der Dienststellenleitung Autobahnpolizei, 10:13 Uhr




    Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang gehetzt, schrill und außer Atem.

    Zudem war die Frau kaum in der Lage einen vollständigen Satz zu formulieren. Sie sprach Stakkato artig und es waren nur vereinzelte Worte die Anna verstand.

    Aber es genügte, damit ihr das Blut in den Adern gefror!


    Draußen. Auto. Maskierter Mann. Leonie. Mitgenommen. Alles so schnell!


    Danach hatte die Frau, eine der Kindergärtnerinnen, angefangen hysterisch zu schluchzen und kein vernünftiges Wort mehr zustande gebracht.


    Maskierter Mann. Leonie. Mitgenommen!


    Die Worte hallten in ihrem Kopf und liefen in einer penetranten Dauerschleife. Mit jeder Wiederholung hallten die unheilverkündenden Worte lauter und lauter, bis sie nur noch ein hohes Pfeifen hörte und reflexartig für einen kurzen Moment die Hände über ihre Ohren schlug.

    Es stand außer Frage, dass es ihr die Beine unterm Körper weggerissen hätte, hätte sie nicht gesessen.


    Chefin... Chefin!


    Das hohe Pfeifen wurde ein wenig leiser und Anna glaubte, langsam auch wieder etwas anderes zu hören.


    Frau Engelhardt!


    Das Pfeifen in ihren Ohren wurde jetzt von einem beständigen, monotonen Rauschen abgelöst.


    „ANNA!“


    Sie riss die Augen auf, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, sie überhaupt geschlossen zu haben. Zeitgleich zog sie scharf Luft ein.

    Unbewusste hatte sie wohl auch den Atem angehalten, seit sie den Hörer abgenommen hatte. Der frische Sauerstoff strömte in ihre Lungen, wurde von da in ihrem Körper verteilt und gierig von den einzelnen Zellen aufgenommen.


    Das Rauschen in ihren Ohren wurde leiser und verschwand schließlich komplett. Erst jetzt fing sie wieder an, ihre Umwelt wahrzunehmen.

    Anna konnte nicht sagen wie viel Zeit vergangen war, aber Semir stand vor ihr und hatte den Bürostuhl, auf dem sie noch immer saß, ein Stück vom Schreibtisch weggeschoben.

    Neben ihr am Telefon stand Ben, der seinem Gesprächspartner oder Partnerin am andern Ende der Leitung, eindeutige, schnelle Anweisungen gab.


    „Dunkler VW Sharan, vermutlich zwei männliche Insassen. Ich will, das in einem Umkreis von 10 Kilometer um den Kindergarten alles dicht gemacht wird und eine Ringfahndung eingeleitet wird! Ein aktuelles Bild von dem Kind für die Fahndung schicken wir gleich!“ Damit legte Jäger auf und sah halb grimmig, halb besorgt zur Seite.



    Der junge Kommissar war umgehend zurück in das Büro gestürmt, als seine Vorgesetzte den Telefonhörer hatte fallen lassen und ein Stück in ihrem Stuhl zusammengesackt war.

    Während sein Partner sich um die Chefin gekümmert hatte, die anscheinend einen Totalaussetzer hatte, hatte er nach dem Hörer gegriffen, aus dem man die fragende Stimme einer Frau hören konnte.

    Diese hatte ihm einigermaßen gefasst berichtet was passiert war, während man im Hintergrund das hysterische Schluchzen einer zweiten Frau hören konnte.


    Ben war heiß und kalt zu gleich geworden und er hatte schwer schlucken müssen.

    Der Polizist in ihm hatte aber sofort das Ruder übernommen und der Frau ein paar Anweisungen gegeben und ihr versichert, dass er sich um alles weitere kümmern würde und sie so schnell es möglich war da sein würden.

    Danach hatte er im zuständigen Polizeipräsidium angerufen und dem Beamten vor Ort barsche Anweisungen gegeben.


    Semir hatte aus den gehörten Wortfetzen sofort verstanden, um was es ging. Schock und Entsetzen waren auch ihm in die Knochen gefahren, aber genau wie Ben, schaffte er es, diese hinten anzustellen und sich nur darauf zu konzentrieren, was sie jetzt tun mussten.

    Derselbe Mechanismus schien auch schlagartig bei der Chefin wieder einzusetzen.

    So plötzlich der Aussetzte gekommen war, so plötzlich verschwand er jetzt anscheinend auch wieder.



    Sie stand abrupt auf und ging mit energischen Schritten, die Semir ihr in dem Moment nicht zugetraut hätte, in das Großraumbüro, wo sie die versammelte in schneidendem Befehlston zusammenrief.

    An der Karte von Köln und Umgebung deutete sie auf bestimmte Verkehrsknotenpunkte um den Bereich herum, wo sich der Kindergarten ihrer Tochter befand und befahl diese abzuriegeln. Mit grimmigem Nicken und ohne Fragen zustellen stürmten die Kollegen zu ihren Dienstfahrzeugen, um dem Befehl Folge zu leisten.



    Während Ben seinen Dienstwagen mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Straßen in Richtung Kindergarten jagte, telefonierte Anna vom Rücksitz aus und holte einige Gefallen ein, die sie im Laufe ihrer Karriere gesammelt hatte.

    Innerhalb von einer Viertelstunde war der komplette Kölner Stadtteil Marienburg, in dem sie lebte und wo auch der Kindergarten ansässig war, hermetisch abgeriegelt.

    Unglücklicherweise hatte die Erzieherin, die Leonies Entführung gesehen hatte, nicht sofort die Polizei, sondern in ihrer Panik erst die Mutter angerufen, was dazu führte, dass die Täter wertvolle Minuten Vorsprung hatten, die sie geschickt zu nutzen wussten.



    14. April 2004


    PAST, 09:05 Uhr



    „Morgen Chefin!“, wurde die Angesprochenen vom breit grinsend Ben begrüßt, als sie gerade einmal einen Fuß in die PAST gesetzt hatte. „Semir und ich haben nachgedacht und uns ist eine Idee gekommen!“


    Anna schloss kurz die Augen und atmete tief ein.

    Na, der Arbeitstag ging ja gut los... Jäger und Gerkhan hatten also eine von ihren Ideen.


    Und das ausgerechnet nach einer weiteren Nacht, in der sie so gut wie nicht geschlafen, sondern über die neusten Ereignisse nachgedacht hatte und was diese womöglich für Folgen haben könnten.

    Außerdem hatte die Tochter, mit durchgehendem quengeln und motzen, ihre Nerven am heutigen Morgen bereits kräftig strapaziert.


    „Guten Morgen, Ben!“ Begrüßte sie ihn dennoch freundlich und ging weiter zu ihrem Büro, wo auch schon Semir ungeduldig wartete.


    „Morgen Chefin! Ben und ich...“ „...haben eine Idee, ich hab’s schon gehört!“ Anna lächelte.


    „Genau... Kaffee?“ Gerkhan hielt ihr grinsend eine dampfende, frische Tasse Kaffee entgegen.


    Das ließ Anna dann endgültig misstrauisch werden... Was hatten die Zwei nun schon wieder ausgeheckt?

    Die Chefin hängte ihre Jacke an die Garderobe neben der Tür und nahm auf dem Weg hinter ihren Schreibtisch, dankend die Tasse mit dem koffeinhaltigen Heißgetränk entgegen, die Semir ihr reichte. „Na dann, schießen sie mal los!“

    Die Kommissare erzählten von ihrem Verdacht, dass der geschnappte Räuber vielleicht so beharrlich schwieg, weil er mit einem ehemaligen Kameraden die Raubzüge begangen hatte.


    „Das könnte durchaus eine plausible Erklärung sein.“ Stimmte die Chefin ihnen zu, erkannte aber auch sofort wo vermutlich das Problem lag. Bens nächste Worte bestätigten ihren Verdacht:


    „Jetzt müssen wir nur noch an eine Liste mit seinen ehemaligen Kameraden kommen...“


    „Die das französische Militär aber nicht so einfach rausrücken wird.“


    „Na ja... Wir könnten ja mal wenigstens nett nachfragen...“ Jäger sah sie unschuldig mit seinen großen, braunen Reh Augen an.


    Dabei schob er einen Zettel über den Schreibtisch, auf dem ein Name und eine Telefonnummer stand.


    „Das ist der zuständige Major aus dem Personalbüro in Paris...“


    „Worauf warten sie denn dann noch? Ihr französisch sollte dafür allemal ausreichen, Ben. Ich sehe nicht wie ich ihnen da helfen kann.“


    „Jaaa... das ist ja ein Offizier... Und keine Offizierin...“ Ben sah sie verschlagen, gleichzeitig unschuldig an. Etwas, das so nur er zustande brachte.


    Ah. Daher wehte der Wind also.


    „Oh là là...“ Anna schüttelte amüsiert den Kopf. Jäger war und blieb eben einfach ein kleines Schlitzohr!


    Aber er hatte damit durchaus recht.

    Die Chancen standen vermutlich eh schon nicht gut, dass sie an die Unterlagen bekommen würden. Da konnte es nicht schaden, mit allen Tricks zu kämpfen...

    Aber obwohl die Chefin sich über eine Viertelstunde wirklich Mühe gab und alle Register zog, blieb der französische Major leider hart. Auch, wenn er sich dafür gefühlt 1000-mal entschuldigte. Aber die Regeln waren diesbezüglich eindeutig.


    „No, no pas de problème, tout va bien! Alors, merci! Bonne journée!“ Anna legte auf und sah entschuldigend zu Ben und Semir, die die ganze Zeit über vor ihrem Schreibtisch gesessen hatten und das Telefonat fasziniert beobachtet hatten.


    „Tut mir leid! Da ist leider nichts zu machen...“


    „Also von mir hätten sie alles bekommen! Chiracs Handynummer, die Atomcodes, Schlüssel zum Élysée-Palast...“ Ben wirkte noch immer etwas baff, aber durchaus beeindruckt.

    Wer hätte gedacht, dass die Engelhardt auf eine so überaus charmante Art, derart manipulativ sein konnte, wenn sie es musste.


    „Danke Ben, das ist gut zu wissen.“ Sie lächelte ihn mit einem dramatischen Augenaufschlag an. „Dann weiß ich jetzt, was ich das nächste Mal tun muss, wenn sie mit ihren Berichten im Verzug sind...“ Jäger hob abwehrend die Hände und tat gespielt entsetzt.


    „Wouh...! Also es gibt schon noch Grenzen... So einer bin ich nicht! Berichte schreiben... Das geht jetzt echt ein bisschen weit! Ein bisschen Würde habe ich schon noch, ja?“


    Semir neben ihm, fiel vor Lachen fast vom Stuhl und auch die Chefin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, während Ben spitzbübisch grinste.


    „Nach dem wir das geklärt haben, fürchte ich, müssen sie wohl leider nach einem neuen Ansatz suchen. Tut mir leid! An die Arbeit, meine Herren.“



    ***



    Jäger und Gerkhan hatten noch nicht lange grübelnd in ihrem Büro gesessen, als Andrea zu ihnen kam.

    Selbstverständlich hatte Semir ihr von André erzählt, da er wusste, dass auf sie verlass war und sie nichts sagen würde.

    Allerdings hatte er auch ihr gegenüber nichts von dessen Verbindung zu Leonie erzählt, da dies etwas war, was ihm nicht zustand.


    „Mein Schatz, hast du was für uns?“ Semir strahlte sie verliebt wie eh und je an.


    „Vielleicht. Auf dem 40. Revier ist ein dunkler Mercedes Vito als gestohlen gemeldet worden. Das könnte eventuell euer Fluchtwagen von Vorgestern sein...“


    „Oh, okay. Kannst du uns die Adresse und den Namen...“ Semir stoppte, da die Sekretärin bereits mit einem kleinen Zettel winkte. „Alles schon erledigt.“


    „Andrea, du bist ein Schatz!“ Ben war schon von seinem Platz aufgestanden und auf dem Weg aus dem Büro. Im Vorbeigehen drückte er der Blonden einen sachten Kuss auf die Wange.


    „Ey! Das ist meine Aufgabe!“ Beschwerte sich deren Verlobter prompt aus dem Hintergrund und hatte es mit einem Mal auch eilig aufzustehen. Im Vorbeigehen drückte er Andrea einen vollen Kuss auf die Lippen.

    Sein junger Kollege war schon wieder im Büro der Chefin, um kurz Bescheid zu geben, das Semir und er, dank Andrea, eine mögliche neue Spur hatten und der umgehend nachgehen wollten.


    „Sehr gut, machen sie das! Und wenn möglich, ohne Chaos anzurichten...“ Ihr Telefon klingelte und beim Blick auf das Display verdüsterte sich ihre Miene umgehen.

    Es war erneut die Nummer von Leonies Kindergarten.

    Was hatte das Kind nun schon wieder angestellt?! Vielleicht Bungee-Jumping vom Klettergerüst...?

    Sie nahm ab und meldete sich, während Ben sich abwandte, um aus dem Büro zu gehen.


    Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um, um die Tür hinter sich zu schließen. Dabei nickte er der Chefin zum Abschied zu-


    Und stockte.


    „Was ist, kommst du?“, rief Semir hinter ihm, der schon auf dem Weg nach Draußen war. Ben rührte sich jedoch nicht vom Fleck.


    Etwas stimmte nicht.


    Er wusste nicht, mit wem die Engelhardt gerade telefonierte und was gesagt wurde, aber es stand für ihn außer Frage, dass etwas nicht in Ordnung war.

    Je länger er sie beobachtete, desto offensichtlicher wurde es von Sekunde zu Sekunde, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

    Das erkannte auch Gerkhan sofort, als er einen Moment später neben ihm auftauchte und fragend in das Büro sah.


    Mittwoch, 14, April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln, 08:56 Uhr



    Als ‚Renard‘ am darauffolgenden Morgen wach wurde, fühlte er sich trotz der knapp neun Stunden, die er geschlafen hatte, immer noch wie gerädert.

    Der Schlaf war nur wenig erholsam gewesen und er hatte sich die ganze Nacht über unruhig von einer auf die andere Seite gewälzt, da sein Geist kontinuierlich weitergearbeitet hatte und die wiedergewonnenen Erinnerungen in seinen Träumen versucht hatte zu verarbeiten.


    Immerhin waren die Kopfschmerzen wesentlich besser erträglich, auch wenn sie noch nicht komplett verschwunden waren.

    Eins der letzten Dinge, die ihm gestern in den Sinn geschossen waren, bevor er vor Erschöpfung eingeschlafen war, war ein Name gewesen.

    Und obwohl er wusste, dass er eigentlich andere Dinge zu tun hatte, konnte er dem Drang nicht widerstehen, nach seinem, auf dem Nachttisch liegenden Laptop zu greifen und ihn aufzuklappen.

    Schnell gelange er auf die Seite einer Suchmaschine und tippte den Namen ein:


    André Fux.


    Binnen Sekunden wurden einige hundert Ergebnisse ausgespuckt und nach kurzer Suche fand er einen Zeitungsartikel.



    „Deutscher Polizist bei Einsatz auf Mallorca verschollen“



    Neben der Überschrift prangte ein Bild und er schluckte schwer, als er in sein eigenes Gesicht blickte. Er las den Artikel und konnte nicht glauben was da geschrieben stand!

    Er las den Artikel ein zweites Mal, konnte es noch immer nicht richtig glauben, wusste aber gleichzeitig tief in seinem Innern, dass das, was da geschrieben stand, die Wahrheit war und es sich so zugetragen hatte.

    Mit schweißnassen Fingern klickte er schließlich auf einen weiteren Artikel.



    „Vermisster Polizist für tot erklärt“



    Der Artikel fasst die Geschehnisse auf Mallorca erneut kurz zusammen und erklärte, dass Kriminalhauptkommissar André Fux von der Autobahnpolizei Köln, also das er, nach erfolgloser Suche im Mittelmeer, zum großen Entsetzen seiner Kollegen, für tot erklärt worden war.

    Für mehrere Minuten starrte er auf den Bildschirm vor sich, las die Artikel wieder und wieder, bis er sie fast Wort für Wort auswendig kannte.


    „Der Hubschrauber und das Motorboot!“, schoss es ihm plötzlich in den Sinn.


    Gleichzeitig berührte er unwillkürlich die Stelle an seinem Bauch, wo sich die auffällige Narbe befand.

    Er merkte wie seine Kopfschmerzen drohten wieder schlimmer zu werden. Also schloss er den Browser, löschte den Suchverlauf und klappte schließlich den Laptop zu.


    Im Badezimmer kramte er Schmerztabletten aus einem kleinen Kulturbeutel, die er ohne Wasser herunterschluckte und anschließend kurz unter die Dusche trat.

    Dabei stellte sich ihm permanent eine Frage: Was zur Hölle sollte er jetzt machen?


    ***


    Als er kurz darauf eilig die Treppe ins Erdgeschoss herunterging, arbeitete sein Gehirn, dank der kalten Dusche, jedoch wieder ein wenig besser und eine ganz andere Frage stellte sich ihm:


    Warum hatten sein Chef und seine Mitstreiter Informationen über die Belegschaft der Autobahnpolizei eingeholt?!


    Im Wohnzimmer angekommen stellte er sofort fest, dass die Stimmung angespannt war und die Roussaux Brüder nicht anwesend waren.

    Hier ging eindeutig etwas vor sich!


    „Renard! Comment ça va?“ Albert auf ihn zu, ein schmales Lächeln auf den Lippen. Es war jedoch deutlich zu sehen, dass er nervös war.


    „Très bien, merci! Que se passe t-il ici?“ Er sah kurz in die Runde. Berthold schluckte und sah schuldbewusst zu Boden, was ihn argwöhnisch die Augen zusammenkneifen ließ.


    Was immer hier vor sich ging, es konnte nicht gut sein!


    „Et...?“ bohrte er ungeduldig nach. Was sein Chef ihm dann sagte, verschlug ihm die Sprache!


    „Putain de merde!“, fluchte André ungehalten und sah seinen Freund und Chef entsetzt an. Machte er Witze?


    Wie waren sie bitte auf eine derart beschissene Idee gekommen?!


    „Une petite fille?! Vous êtes fous ou quoi?!“ Stieß er wütend hervor und konnte es noch immer nicht glauben, was ihm da soeben erzählt worden war.Denn es ging ganz eindeutig zu weit!

    Viel zu weit!


    13. April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln, 19: 27 Uhr



    Es handelte sich bei dem Blatt um einen Auszug aus einer Personalakte.

    Der Personalakte des kleinen Polizisten, der ihn am Tag zuvor beinahe geschnappt hätte.


    Kriminalhauptkommissar Semir Gerkhan‘ las er und seine Lippen formten dabei stumm den Namen. „Semir... Semir Gerkhan...“


    Es war, als ob der Name, in Verbindung mit dem dazugehörigen Bild, wie ein Schlüssel war, der eine Tür in der hintersten Ecke seines Gehirns aufsperrte.

    Die Tür flog mit einem lauten Knall auf und eine Flut aus lang vergessenen Bildern und Erinnerungen strömte auf ihn ein.


    Er stand mit Semir vor einer kleinen Currywurst Bude, diskutierte heftig mit ihm über ein Fußballspiel...


    Dann sah er sich und den Polizisten gemeinsam scherzen und lachen, saß neben ihm im Auto, während sie mit waghalsigen Manövern einen weißen VW Golf auf der Autobahn verfolgten...


    Im nächsten Moment kletterten sie aus einer demolierten, dunkelblauen Mercedes C-Klasse und er hörte Semir Gerkhan in seinem Kopf deutlich sagen: „Na das hat ja super funktioniert! Das mit dem Dienstwagen erklärst ganz sicher du der Chefin!“


    Chefin...



    Er blinzelte hektisch, rieb sich die Schläfe, die unangenehm zu Pochen begann.

    Trotzdem schlug er die Augen auf und blätterte wie in Trance weiter durch die Mappe.


    Die Nächste Seite zweigt einen jungen Mann, von dem er glaubte, ihn neben Semir im Auto gesehen zu haben, der ihm aber nichts sagte. Kriminalkommissar Ben Jäger...


    Nein, bei dem Namen tat sich nichts.


    Weiter zur nächsten Seite, auch wenn die Schmerzen in seinem Kopf schlimmer wurden und er wusste das er einen Migräneanfall bekam. Etwas das er hin und wieder hatte.

    Grelle Lichtblitze zuckten vor seinen Augen und er musste sich konzentrieren, den Inhalt der Seite klar zu sehen.


    Als das Bild und die geschriebenen Worte auf dem Blattpapier scharf wurden und er etwas erkennen konnte, blieb ihm die Luft weg.


    Erste Kriminalhauptkommissarin Anna Engelhardt, Leiterin der Kölner Autobahnpolizei.


    Anna...


    Die Frau auf dem Bild in der Personalakte war eine exakte Kopie der Frau, die er in seinen Träumen gesehen hatte und die die letzten Tage, immer wieder durch seinen Geist gespukt war...

    Renard ließ die Mappe fallen, schlug sich beide Hände vor den Kopf, als könne er so die erneute, noch viel heftigere Flut von Bildern und Erinnerungen aufhalten, die ihn jetzt zu übermannen drohte.


    Er saß vor ihrem Schreibtisch und holte sich gemeinsam mit Semir Gerkhan einen gewaltigen Anschiss ab...


    Stand im Wald vor der geöffneten Motorhaube, um die er herum sah und beobachtete, wie sie versuchte den Wagen zu starten...


    Kniete plötzlich neben der Fahrertür, nur um im nächsten Augenblick mit ihr durch die Luft zu fliegen, während es brennende Trümmerteile regnete...


    Saß lachend vor ihr, während sie belustigt die Augen verdrehte, nur um im nächsten Augenblick stumm in die braunen Augen zu blicken und die letzten Zentimeter zu überwinden, die ihre Geschichte trennten...


    Lag neben ihr im Bett und strich gedankenverloren über ihren blanken Rücken, während sie schlief...


    Und dann war er wieder in dem Büro, wo sie ihn von hinter ihrem Schreibtisch ansah, Besorgnis im Blick und in der Stimme, als sie sagte: „Und passen sie bloß auf sich auf, André!“



    Seine Beine gaben endgültig nach und er ging in die Knie. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Moment zerspringen.

    Camille Berthold kniete sich besorgt neben ihn und er hörte sie wie aus weiter Ferne fragte, was los sei.

    „Migräneanfall...“ presste er mühsam auf Französisch hervor, woraufhin sie verstehend nickte. Auch Camille wusste, dass er hin und wieder an Migräne litt.


    Mit der Hilfe von Duvért schaffte er es die Treppe hinauf und in sein Zimmer, wo die Frau seines Chefs ihm zwei Schmerztabletten und ein Glas Wasser reichte.

    „Merci...“, murmelte er, ehe er den Kopf in die Kissen seines Bettes sinken ließ und angestrengt die Augen zusammenkniff.


    Zum Teil wegen der Schmerzen, aber auch um der immer noch reißenden Flut von Erinnerungen Herr zu werden, die weiterhin unbarmherzig auf ihn einströmte und erst abriss, als er kurz darauf vor totaler Erschöpfung in einen unruhigen Schlaf driftete.



    13. April 2004


    Köln, 17:36 Uhr



    Genau wie die Kommissare Gerkhan und Jäger waren auch Renard und Duvért ziemlich frustriert, als sie am Abend in den ‚Feierabend‘ fuhren.

    Wie sie es sich schon gedacht hatten, würde es unmöglich sein auf die schnelle einen Juwelier ausfindig zu machen, der über ansatzweise genügend Rohdiamanten verfügte, wie die beiden, die sie bereits überfallen hatten.

    Die allerwenigsten Geschäfte hatten derart große Mengen auf Vorrat.


    Sie hatten diskutiert und sich die Köpfe zermartert. Wenn nicht einen Juwelier konnte sie dann einfach mehrere hintereinander überfallen? Sie hatten schnell eingesehen, das dies ganz klar zum Scheitern verurteilt war. Und in der ihnen noch verbleibenden Zeit niemals klappen würde.

    Duvért hatte sogar vorgeschlagen einen Abstecher nach Antwerpen zu machen, wo es Diamanten in Hülle und Fülle gab.

    Da es dort aber eben Diamanten in Hülle und Fülle gab, waren die Sicherheitsvorkehrungen dementsprechend und auch die Idee wurde schnell verworfen.

    Letztlich blieb ihnen nur die Erkenntnis, dass sie vor einem riesengroßen Problem standen und ihnen schlicht weg die Zeit fehlte es zu lösen.

    Beziehungsweise ihnen einfach die eine, geniale Idee nicht einfallen wollte, mit der sie das Steuer herumreißen könnten.



    In der angemieteten Villa in der Nähe von Pulheim hatte man diese, vermeintlich, geniale Idee indes gehabt.

    Jean Roussaux, einer der beiden Brüder, die Berthold angeheuert hatte, war die fixe Idee gekommen und er hatte es nicht ganz ernst gemeint in die Runde geworfen.

    Sein Bruder Jerome und das Computer-Genie Araignée hatten die Idee jedoch als gar nicht so dumm empfunden und deren Potenzial erkannt.


    Dank Araignée Möglichkeiten und Fähigkeiten am Computer hatten sie recht zügig ausreichend Informationen zusammengesammelt, auf deren Grundlage sie bis zum Abend einen Plan entwickelt hatten, der, ihrer Meinung nach, durchaus funktionieren konnte.

    Als sie damit an ihren Chef herantraten, war dieser erst sehr skeptisch gewesen und die Idee erzeugte einiges Unbehagen bei ihm.


    „Wir wissen, dass es nicht schön ist... Aber es ist vermutlich unsere einzige Möglichkeit!“ Hatte sein Freund und Geschäftspartner mit ruhiger Stimme erklärt.


    Albert blätterte durch die Papiere die Araignée ihm gegeben hatte. „Können wir nicht jemand anderes...?“ Er sah fragend auf.


    „Theoretisch, ja. Aber so ist es vermutlich am effektivsten.“ Berthold schluckte schwer. Ja, das war es mit Sicherheit!


    „Also schön. Macht es. Aber seid um Gottes willen vorsichtig!“ Der letzte Satz war an die Roussaux Brüder gerichtet, die nickten.

    Albert verachtete sich für das, wofür er soeben sein Einverständnis gegeben hatte. Aber er würde alles tun, um seinen Sohn aus den Fängen von Richard Van Beust zu holen!


    ***


    Alain Duvért und Renard waren etwas überrascht, als sie auf dem Weg zurück in die Villa angerufen und beauftragt wurden, umgehend einen weiteren Van mit Schiebetür von irgendwoher zu besorgen.

    Auf Renards Frage wofür, bekam er nur die Antwort, dass sie eine Idee hatten.

    Da sie nicht einfach in eine Autovermietung gehen konnten, stellte sich die Aufgabe als etwas langwieriger heraus, als sie es gedacht hatten, da sie nicht sofort fündig wurden.

    Schließlich fanden sie aber doch noch einen VW Sharan, der in einer recht abgelegenen Seitenstraße parkte und der sich einfach Kurzschließen ließ.


    Als sie um kurz vor Mitternacht in der Villa ankamen, waren die Männer von dem emsigen Treiben überrascht, das im Haus herrschte.


    „Nous avons une idée!“, verkündete Araignée, als Renard und Alain in das Wohnzimmer traten.

    Duvért ging gespannt durch den Raum zu dem Hacker und den Roussaux Brüdern, die um den großen Esstisch versammelt saßen. Auf dem Tisch lagen ein Stadtplan und mehrere Bilder.


    Renard kam gar nicht so weit.


    Er war auf halbem Weg, von einer neben dem Computer des Hackers liegenden, aufgeschlagenen Mappe, abgelenkt worden.

    Seine Stirn war in Falten gelegte als er danach griff und auf der ersten Seite das Wort ‚Autobahnpolizei‘ las. Das Wort war es auch, dass seine Aufmerksamkeit erregt hatte.


    Automatisch blätterte er eine Seite weiter-


    Und erstarrte, wie vom Blitz getroffen!