Gefangene der Dunkelheit

  • Endres klingelte an der Tür der Intensivstation. "Also irgendwie hab ich Zweifel daran, dass da schon einer der Kollegen vor Ort ist," äußerte sich Jenny. Nach kurzem Gespräch mit der Stationsleitung bestätigte sich der Verdacht. Die beiden informierten ihre Chefin, die sich sofort noch einmal mit der Staatsanwaltschaft und der Polizeidirektion in Verbindung setzte. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Zuvor wies sie noch ihre Leute an: "Dorn, Endres : Sie bleiben bitte bei Frau Ceylan bis Sie abgelöst werden!"
    Jenny und Endres setzten sich nach Absprache mit der Stationsleitung an einen Platz im Flur der ITS von welchem aus sie das Zimmer sehen konnten, in dem Steffi lag, aber den Ablauf nicht störten. "Dürfte ich kurz mit Frau Ceylan sprechen," bat Jenny eine Schwester. Die schüttelte den Kopf. "Tut mir leid. Sie braucht absolute Ruhe." "Dürfen Sie mir wenigstens sagen, wie es ihr geht," fragte Jenny. "Ich habe sie gestern gefunden..." Die Schwester schüttelte den Kopf: "Sie wissen doch, dass ich nichts sagen darf. Und dass wir hier niemanden behandeln, der das nicht bräuchte, können Sie sich denken..." "Sicher. Eigentlich hat sich meine Kollegin mehr Sorgen gemacht, ob sich der Zustand durch den Besuch des Vaters verschlechtert hat..." mischte sich Endres ein. "und außerdem müssen wir für die Bewachung wissen, ob sie ggf. ansprechbar wäre." Die Schwester lächelte sanft: "Glauben Sie mir : Ich habe ausreichend Menschenkenntnis, dass ich so jemanden wie Herrn Schneider nicht zu einer Patientin lasse. Nur die Mutter hat kurz mit ihr gesprochen. Und ich denke, das konnten beide verkraften." Damit ließ sie die beiden Polizisten stehen und ging weiter ihrer Arbeit nach."Puh," seufzte Jenny: "Wenn sie mit ihrer Mutter sprechen konnte, dann ist sie immerhin ansprechbar." Endres wunderte sich : "Was wolltest du denn von ihr? Gestern hatte ich den Eindruck, du warst ganz schön genervt von ihr?" Jenny nickte. "Ja. Ich kann mit so, ähm.. sehr religiösen Menschen nicht viel anfangen. Aber nach der Begegnung mit ihren Eltern - also sie tut mir auf jeden Fall echt Leid. Und ich dachte, sie könnte sicher ein freundliches Gespräch brauchen..." Endres nickte. "Schau mal, wenn wir hier auf sie aufpassen und sie deshalb in Ruhe schlafen, sich erholen kann - da tun wir ihr doch auch was Gutes!"



    Semir war wie erhofft noch gut eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn in der Schule gewesen. Im Lehrerzimmer war er auf Frau Müller, Aydas Klassenlehrerin und Frau Terpentiel, die Ayda eigentlich nur von dem gestrigen Vorfall her kannte." Herr Gerkan, schön, dass Sie Zeit für uns gefunden haben, begrüßte ihn Frau Terpentiel."Natürlich! Meine Tochter ist in der zweiten Klasse. Wenn sie an dieser Schule belästigt, von mehreren älteren Schülern bedrängt und körperlich verletzt wird, dann muss ich ja wohl..." "Moment," griff da Frau Terpentiel ein :"Als ich dazu kam, hat Ihre Tochter gerade tüchtig ausgeteilt! Einer der Jungen hat ausgesagt, Ayda hätte sie grundlos geschlagen und sogar in den Genitalbereich getreten!" "Wie bitte-grundlos?" Semir wollte sich gerade Gehör verschaffen, da fuhr Frau Terpentiel fort :"Ich bin noch nicht fertig!Selbst wenn es ihren türkischen Erziehungsmethoden entsprechen sollte : Sie können einfach froh sein, wenn die Eltern der Jungen sie nicht... " "Die können froh sein, wenn ich..." "Herr Gerkan - vielleicht können sie das mit Ihrer Frau so machen, aber mich lassen Sie gefälligst ausreden, haben wir uns verstanden? Also:Sie können froh sein, wenn die Eltern Sie nicht anzeigen. Ayda hat ja hoffentlich aus den Schmerzen gelernt! Und ansonsten wird die Strafarbeit heute Nachmittag schon dafür sorgen !" Semir schwoll der Kamm."Meine Tochter wird hier fertig gemacht, verletzt und Sie... vernachlässigen Ihre Aufsichtspflicht! Sie schützen nicht die, die Ihre Hilfe brauchen! Nein! Sie schützen die, die andere, Schwächere fertig machen wollen! Meine Tochter wehrt sich und soll auch noch dafür bestraft werden.... " Nun schaltete sich Frau Müller mit Blick auf Frau Terpentiel ein."Sabrina, Ayda ist bis gestern tatsächlich noch nie auffällig gewesen. Ich denke, wir sollten die beteiligten Kinder erst einmal in Ruhe anhören..." Da kam ein kleiner Junge herein. Semir erkannte Sebastian, der in Aydas Klasse ging, sofort an den abstehenden Ohren. Sie waren knallrot. Er weinte."Ich will nach Hause!" Frau Müller unterbrach das Gespräch und holte den Jungen zu sich."Was ist denn los? So habe ich dich ja noch nie erlebt, Bastian! Der schluchzte :"Marc hat mich an den Ohren über den Hof gezogen. Victor hat gesagt, wenn ich ihm nicht mein Taschengeld gebe, dann bricht er mir den Arm. Genau wie Ayda!" Frau Terpentiel wurde erst rot im Gesicht, dann weiß. Sie nickte nur stumm, als Frau Müller sagte: "Keine Angst, Sebastian! Ich denke, die Jungs werden in nächster Zeit unter besonderer Beobachtung stehen..." "Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen,"sagte Semir laut."Ich bin Polizist und habe täglich mit Menschen zu tun die nicht rechtzeitig gelernt haben, dass man sich an Regeln halten muss... Bitte befragen Sie Ayda und Ihre Klassenkameraden. Wahrscheinlich ist sie nicht das erste Opfer dieser.... Jungs." Die Lehrerinnen nickten. Mit aufrechtem Gang verließ er das Lehrerzimmer. Auf dem Pausenhof sah er Ayda umringt von ein paar Kindern. Sie zeigte ihren Arm wie eine Trophäe vor und lachte.

  • Alex wartete derweil in der PASt auf Semir und versuchte, sich schon einmal mit den Berichten zu beschäftigen. Sein Blick schweifte nach draußen. Da fuhr ein VW Tiguan auf den Besucherparkplatz neben den kurz vorher gekommenen Twingo. Gerade fing Alex an, sich über den heutigen Besucherandrang zu wundern, da wurde seine Aufmerksamkeit von Susanne beansprucht. "Alex? Kommst du mal bitte?" Er folgte Susanne und traf im Eingangsbereich auf die heute ganz in schwarz gekleidete Aylin Ceylan mit einer Sporttasche. Alex war froh, dass er es noch geschafft hatte, Jenny die Tasche für Steffi mit dem Obst mitzugeben. "Was kann ich für Sie tun, Frau Ceylan," fragte er höflich. Aylin sah ihn mit traurigen Augen an und fragte mit Bestimmtheit :"Wo ist Ruqiya? Sie hat nichts getan. Sie dürfen sie nicht länger als 24 Stunden festhalten!" "Erstens sind die 24 Stunden noch nicht um. Und zweitens : Kennen Sie einen Ort, wo sie sicherer wäre, als bei der Polizei? Ihr Bruder wird sie suchen... " "Darf ich wenigstens zu ihr? Und ihr noch was zum Anziehen bringen" Sie stellte die Tasche auf den Tisch vor Alex. "Tut mir leid, das geht gerade nicht." "Dann warte ich hier, bis die 24 Stunden um sind." "Frau Ceylan, Ihre Schwägerin ist nicht hier. Bitte fahren Sie nach Hause. Ich bin mir sicher, Sie meldet sich bei Ihnen, wenn die Gefahr durch Ihren Bruder gebannt ist." Aylin sah hinaus und überlegte laut: "Meine Eltern brauchen das Auto wieder. Und meine Freundin Canan, die mich hergefahren hat, muss um 12 bei der Arbeit sein. Ich kann gar nicht lange warten. Haben Sie ihr wenigstens die Sachen gegeben?" "Ich habe es an die Kollegen weitergegeben." Aylin nickte. "Mir ist noch etwas eingefallen. Als mein Bruder noch normal war, also letzten Sommer, hat er seinem alten Nachbarn geholfen. Der hatte so nen kleinen Garten. Da hat Deniz ihm die Wiese gemäht. Da war auch ein kleines Häuschen drauf." Alex wurde hellhörig."Können Sie mir sagen, wo dieses Grundstück liegt," fragte er und deutete auf eine große Karte von Köln und Umgebung, die hinter ihm hing. Aylin stand etwas länger vor der Karte und zuckte dann mit den Schultern. Tut mir leid, ich bin immer nur mitgefahren. Ich weiß nur, dass es in der Nähe einer Autobahnabfahrt ist. Aber der Nachbar, Herr Walter..." "Ist leider tot," sagte Alex. Aylin wurde bleich. "Aber das war nicht Deniz, oder?" Alex schüttelte den Kopf. "Nein. Er war einfach 92, irgendwann..." Aylin nickte erleichtert. In diesem Moment sah Alex, wie Semir auf den Parkplatz fuhr. "Kommen Sie, wir gehen gemeinsam. Ich muss auf Streife, mein Kollege kommt gerade." Er nahm seine Jacke und bat Susanne noch, das Gartengrundstück von Herrn Walter ausfindig zu machen. Etwas zögerlich folgte ihm die Aylin aus der PASt. Alex begleitete sie noch bis zum Auto, öffnete die Tür und grüßte das Mädchen am Steuer kurz. Aylin stieg ein und hielt kurz inne:"Danke. Danke, dass Sie auf Ruqiya aufpassen. Sie ist echt... mein Lieblingsmensch..." Alex lächelte und nickte. "Gut, wenn es so jemanden gibt," sagte er. Es war, als ob eine Hand seinen Magen zugedrückt hätte : Weder hatte er einen Lieblingsmensch noch war er einer.Mo

  • Beim Vorübergehen sah Alex in den Tiguan, konnte aber niemanden erkennen. Gefühle waren ja eigentlich nicht so sein Ding, aber irgendetwas war seltsam : Er hatte doch keine weiteren Besucher bemerkt?! Bevor er weiter nachdenken konnte, rief Semir ihn: "Was ist los? Kommst Du, wir haben noch was vor!?" Alex ging über den Parkplatz zu Semir, hob noch grüßend die Hand in Richtung Twingo. "Guten Morgen! Na, hast du denen Nachhilfe in Aufsichtspflicht gegeben," fragte er Semir. Doch noch bevor Semir mehr als nur nicken konnte, hörte Alex das Schließen zweier Autotüren hinter sich. Der Motor des Tiguan wurde gestartet. "Los, steig ein! Wir müssen hinterher," forderte er Semir auf und setzte sich ans Steuer. "Was hast du denn?" "Nicht mehr als ein Scheiß-Gefühl," brummte Alex und fuhr vom Hof.

  • Ein paar Kilometer ging es ruhig stadteinwärts. Der Twingo fuhr auf der rechten Spur, zwischen zwei LKWs. Der Tiguan etwas weiter hinten. Alex fuhr möglichst unauffällig hinter ihm her. Dann kam ein Bereich, in dem auf der rechten Seite nur ein schmaler Streifen zwischen Fahrspur und Lärmschutzwand war. Hier setzte sich der Tiguan neben den Twingo. Das Beifahrerfenster öffnete sich. "Eine Waffe," schrie Semir und Alex gelang es in genau diesem Moment, sich zwischen den den Tiguan und das nachfolgende Fahrzeug zu drängen. Er gab Gas und rammte den SUV. Der Schuss landete in der LKW-Plane. Semir steckte das Blaulicht auf. Der Tiguan-Fahrer gab Gas. Alex blieb dicht hinter ihm. Kurz vor der Rheinbrücke Rodenkirchen wurde wegen einer Baustelle der Verkehr auf die Gegenfahrbahn umgeleitet. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit verlor der Tiguan-Fahrer die Kontrolle, geriet auf die Gegenfahrbahn und wurde dort von einem LKW erfasst. Der SUV wurde zur Seite geschleudert. Dabei durchbrach er die Baustellenabsperrung und stürzte in den Rhein. Betroffen sahen Alex und Semir in die Fluten des Flusses: Eine Rettung war an dieser Stelle nicht mehr möglich!



    Ein Kran war gerade dabei, den Wagen zu bergen. "Das gibt dann wohl Arbeit für Frau Stegmann," sinnierte Alex. "Dann können wir jetzt ja nach Kalk fahren und die Sitze zurück geben," stellte Semir mit einem Blick auf die Uhr fest, nachdem sie die Unfallsicherung abgeschlossen hatten.

  • Es war kurz nach 14 Uhr als sie den Gemüseladen betraten. Haluk begrüßte sie :"Hey, Semir! Das mit der deutschen Pünktlichkeit muss dir dein Kollege aber noch mal erklären?Ich dachte schon, du hättest sie mir geklaut!" Haluk grinste. "Entschuldigung Haluk! Es tut mir wirklich sehr leid! Uns ist ein größerer Unfall dazwischen gekommen. Ein Auto ist in den Rhein gestürzt..." "Wo sollen die Sitze hin," fragte Alex. "Hm, das Auto steht zwei Straßen weiter vor der Moschee. Mein Vater hat den Schlüssel...Ihr entschuldigt mich, meine Mutter ist bei Ismael, ich muss schauen, dass ich mit der Arbeit weiter komme." "Wie geht es ihm denn," wollte Alex wissen "Sein Kopf ist ein bisschen durcheinander. Er hat Knochen hier und da gebrochen" Haluk zeigte auf seinen Brustkorb und seinen Unterschenkel. "Aber - inschallah - das wird wieder." "Was bekommst du für die Sitze," wollte Semir wissen. "Nichts. Aber Papa freut sich , wenn du dich gleich in die Reihe hinter ihm stehst ," zwinkerte Haluk fröhlich. Semir seufzte. Das hatte er befürchtet.
    "Was meinte Haluk damit," wollte Alex wissen. "Gleich ist das Nachmittagsgebet. Haluks Vater ist Vorbeter. Er steht vorne... Ich habe ewig schon nicht mehr..." "Ach komm," stupste Alex ihn an: "Was tut man nicht für ein paar Kindersitze." "Hey, wenn es darum geht, müsstest du dich dazu stellen." "Ich?? Ich habe keine Töchter, die sich durch die Grundschule prügeln und alte Damen umrennen. Du kommst zu spät, also ich finde: So ein bisschen Buße ist vielleicht ganz gut? Außerdem habe ich gar keine Ahnung, wie das geht," stellte Alex fest. "Na, das lässt sich ändern," behauptete Semir.

  • Frau Krüger hatte endlich erreicht, dass die Polizeidirektion Köln zwei Polizisten zu Steffis Schutz abstellte. Jenny und Endres bekamen die Aufgabe, sich den verwilderten Garten in der Nähe der Autobahn anzusehen. Es dauerte etwas, bis sie sich durch den Kölner Verkehr gekämpft hatten. Doch knapp neben einer Autobahnabfahrt entdeckte Endres den Feldweg, der sie zu dem Grundstück führte. "Hm, nicht gerade ein erholsames Plätzchen," schrie Jenny gegen den Lärm an, als sie ausstieg - Über Ihnen donnerte ein LKW vorbei. "So wie es aussieht, sind die Gärten älter als die Autobahn. Und nur noch wenige werden genutzt," stellte Endres fest. Jenny zählte die Grundstücke auf ihrer Flurkarte ab. "Das hier muss es sein," fand sie ein paar Schritte weiter. Sie stand vor einem alten, stabilen Zaun. Er trennte sie von einer ungemähten Wiese mit mehreren alten Obstbäumen und einem massiv gebauten Schuppen. Sie überwanden den Zaun. "Siehst Du das, " fragte Endres "Hier ist eine Art Trampelpfad zum Haus." Jenny nickte. "Vielleicht sind sie wirklich hier," sprach sie ihre Befürchtung aus.


    Wie erwartet, freute sich Ibrahim Güner sehr über Semirs Besuch. Er gab ihm die Schlüssel und die beiden Polizisten luden die Kindersitze um. "Herr Güner, wir würden gerne mit Ihnen sprechen. Wir ermitteln gerade in einem Fall und Sie könnten uns helfen," sprach Alex zum Hoca. Dieser nickte. "Gerne. Aber erst nach dem Nachmittagsgebet. Ihr seid herzlich eingeladen. Besonders du, Semir!" Er sah den kleinen Polizisten durch seine dicken Brillengläser auffordernd an. Als dieser mit fester Stimme "Ja, ich gehe mich nur noch waschen - komm Alex," sagte, flog ein staunendes Lächeln über das Gesicht des alten Mannes. Dabei murmelte er leise "mashallah".

  • Beide zogen im Vorraum ihre Schuhe aus. Semir ging mit Alex in den Waschraum. Er entledigte sich seiner Socken. "Wie gut," dachte er bei sich, "dass Andrea meine Schublade gründlich durchsortiert und alle kaputten Socken weggeschmissen hat!" Dann begann er, sich die Hände, das Gesicht nebst Haaransatz und Ohren sowie die Unterarme bis zu den Ellenbogen zu waschen. Schließlich hob er einen Fuß nach dem anderen in das niedrige Becken und wusch sorgfältig jeden Sockenfussel mit warmem Wasser zwischen den Zehen heraus. Er streifte das Wasser ab. "So, jetzt du," forderte er Alex auf. Dieser sah ihn ebenso erstaunt an, wie der ältere Mann neben ihnen, der sich ohnehin schon über Alex' Untätigkeit gewundert hatte - aber vielleicht kam der auch einfach schon gewaschen hierher? "Das ist jetzt nicht dein Ernst," flüsterte Alex. "Doch," behauptete Semir streng und setzte mit Augenzwinkern hinzu: "Wenigstens die Hände. Denk mal, was du damit seit der PASt alles angefasst hast!" Erleichtert ging Alex ans Waschbecken - Da hatte sein Partner wohl recht!
    Jenny und Endres duckten sich und schlichen vorsichtig auf dem Trampelpfad nach vorne. Schließlich kamen sie an das Häuschen, dessen Fenster von innen mit Spanplatten verrammelt waren. Endres klopfte an der Tür, während Jenny ihn sicherte. Nichts rührte sich. Er klopfte nochmals, diesmal etwas kräftiger. Dabei gab die Tür nach und schwang nach innen auf. Jenny zückte ihre Taschenlampe. Was der Schein der Lampe sichtbar machte, gefiel ihr gar nicht. "Ich glaube, da brauchen wir Hartmut," meinte Endres und suchte sein Handy.

  • Semir gab Alex unauffällig seine Dienstwaffe: "Die hat da nichts zu suchen! Du bleibst einfach hier und wartest, bis ich fertig bin." Alex setzte sich erleichtert auf einem Stuhl im hintersten Eck der langen alten Lagerhalle, die mit einigen bunten Fliesen und weichen Teppichen zu einem Gebetsraum umgestaltet worden war. Er sah sich um. Vorne war eine Art Tor kunstvoll auf die Wand gemalt, rechts daneben stand eine Treppe mit einem mit Teppichen ausgelegten Sitz an der Spitze. Ein Mikrofon war auch angebracht. Eigentlich erwartete Alex, dass der Hoca nun von dort aus das Gebet beginnen würde. Aber der blieb vor dem Tor stehen. Im hinteren Bereich war ein kleiner Bereich mit einer mobilen Sichtschutzwand abgetrennt. Dahinter verschwand eine kleine, ältere Frau, auf die sich ein alter Mann beim Hereinkommen gestützt hatte. Dieser nahm auf einem Stuhl seitlich von Semir, der bereits neben drei älteren Herren in der Reihe stand, Platz. Der Hoca schloss die Tür und begab sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Er murmelte kurz etwas Unverständliches, dann rief er etwas, was jede Zelle in Alex alarmierte.

  • "Allahu akbar!" Alex sprang vom Stuhl auf. Das riefen doch die Terroristen auch immer! Doch nicht nur der Hoca, sondern auch alle hinter ihm hoben die Hände - hatte er jemanden übersehen? Wurden sie bedroht? Und Semir hatte ihm noch die Waffe gegeben! Aber noch bevor Alex nach vorne spurtete, hörte er statt einem Schuss einen Sprechgesang, der gar nicht aggressiv klang. Langsam kam er näher. Noch bevor er zu der Gruppe aufgeschlossen hatte, beugten sich mit einem erneuten "Allahu akbar" alle nach vorne - erst der Hoca, dann die anderen. Alex atmete auf. Er schlich auf seinen Platz zurück und verfolgte aufmerksam die Bewegungsabläufe, die da vor ihm stattfanden. Schließlich, nach mehrmaligem Auf und Ab, saßen die Männer in einer Reihe. Sie sahen erst nach rechts, dann nach links. Ein paar standen auf und gingen grüßedd an Alex vorbei. Ein paar blieben noch sitzen und ließen eine Perlenkette durch ihre rechte Hand gleiten, bevor auch sie den Raum verließen. Als nur noch Semir vorne saß, kam auch Alex nach vorne zum Hoca, der sich auf dem Boden neben Semir niedergelassen hatte. "Sie haben mir mit Ihrem" Allahu akbar "" Gott ist groß"einen ziemlichen Schrecken eingejagt," gestand er. Semir lachte laut: "Aber das gehört doch dazu, zum Gebet!" "Na, woher soll ich das wissen? Für mich ist das der Ruf von Terroristen, bevor sie sich in die Luft sprengen! Und dann hebt ihr auch noch die Arme hoch..." Der Hoca nickte betroffen. "Ja, ich verstehe. Lassen Sie mich erklären : Es bedeutet nicht Gott ist groß - kabir, sondern größer - akbar. Wir heben die Arme und werfen symbolisch alles Weltliche für diesen Moment hinter uns. Wir sagen" Gott ist größer " - größer als alles andere, als alles auf der Welt. Es tut mir wirklich Leid, wenn Sie so ein schlechtes Bild vom Islam haben." Alex zuckte mit den Schultern: "Naja, Al-Qaida, Boko-Haram, die Taliban, der IS." "Ja, ich weiß. Das ist alles grauenhaft. Eigentlich kommt das Wort" Islam " von" Salam", also Frieden. Zu beobachten, was Menschen im Namen meines Glaubens tun, welche Verbrechen sie begehen, welche Leid sie bringen - das bringt mich nahe an die Verzweiflung! Aber deshalb seid ihr ja nicht zu mir gekommen..." Alex nickte. Plötzlich kam ihm der Ruf, wenn er von Terroristen verwendet wurde, noch makaberer vor! Aber Semir fuhr schon fort: "Das stimmt. Haluk hat uns gestern erzählt, dass es neulich mit einem Kunden Ärger gab. Weil Ihre Frau im Laden arbeitet..." Der alte Mann sah Semir verwundert an. "Ja. Es war das erste Mal, dass ich mir wirklich überlegt habe, die Polizei zu holen. Aber ich wollte nicht noch mehr Wind machen." "Kennen Sie den Mann näher," fragte Alex. "Das war Bayram Kader. Er ist mit seiner Frau erst vor einem Jahr nach Kalk gezogen. Ein paar Mal war er hier zum Beten, hat auch mit mir gesprochen. Auch ich sehe die Diskriminierung mit Sorge. Auch für mich ist der Koran ewig. Aber wie wir mit den Herausforderungen der Zeit umgehen, darüber hatten wir... ähm... Sehr unterschiedliche Meinungen." Semir nickte. Er verstand, was der Hoca sagen wollte. Dennoch fragte er: " Ging es darum auch in dem Streit im Laden?"" Meine Frau arbeitet seit bald 50 Jahren in dem Laden. An keinem einzigen Tag konnte ich ein religiöses Problem darin sehen... Aber ich sehe ein Problem darin, jungen Menschen zu sagen, dass sie nur wegen ihrer Religion von allen Nicht-Muslimen gehasst werden. Dass ihre Probleme in der Schule und im Leben verschwinden, wenn sie sich ihm anschließen. Dass sie in Syrien mit Waffen etwas Gutes tun könnten." Semir und Alex sahen einander an. Der Hoca blickte von einem zum anderen und ergänzte:" Ein türkisches Sprichwort sagt: "Die Waffe ist ein Feind - selbst für ihren Besitzer." " "Bayram Kader ruft also zum Dschihad auf?" "Zum einem"heiligen Krieg" gegen" Ungläubige""" Ist das nicht das Gleiche, "fragte Alex überrascht. Der Hoca schüttelte den Kopf, holte tief Luft und versuchte, eifrig mit den Händen gestikulierend, Alex seinen Standpunkt näher zu bringen."Dschihad heißt" Anstrengung". Man soll sich anstrengen für den Glauben - aber der größte Kampf ist der gegen die eigenen schlechten Eigenschaften: Wenn in dir selbst Dunkelheit und Unruhe herrscht, so kannst du keinen Frieden finden und bringen. Und: Ein Krieg kann niemals heilig sein. Nur der Frieden! Bayram Kader versteht das nicht. Er versteht den Koran nicht. Ich glaube: Er will ihn nicht verstehen. Leute wie er haben andere Ziele. Man kann nicht nur eine Ayat nehmen und damit machen, was einem gerade passt!" Der alte Mann schnaubte verächtlich. " Und führe uns nicht den Weg derer, die irregehen... " zitierte Semir. Ibrahim Güner lächelte seinen Schüler freundlich an und nickte ihm zu."Gut aufgepasst, Semir. Aber leider folgen junge Menschen ihnen in diese Dunkelheit und sterben! Sie töten sich auch selbst - was für eine große Sünde! Sie fahren nach Syrien und..." "War denn Bayram Kader auch in Syrien?" "Ich weiß es nicht. Aber ein junger Mann aus seinem Umfeld ist wohl schon nach Syrien. Ein Konvertit, ein Student aus Münster."" Zufällig Yves Signet, " fragte Semir " Ich habe nur den Namen" Abdel Waarit" gehört.""Und was ist mit Deniz Ceylan?"

  • Der Hoca sah die beiden Polizisten betroffen an. "Wie kommt ihr auf ihn?"
    "Tut mir leid," griff Semir schnell ein "laufende Ermittlungen." Der Hoca sollte weder wissen, dass Deniz Schuld am Unfall seines Sohnes trug, noch, dass Alex und er Ismael gerettet hatten.
    Ibrahim Güner seufzte. "Ya Allah! Er hat also etwas angestellt... Ich erzähle euch etwas: Vor fast 2 Jahren kam seine Schwester Aylin mit einem Mädchen aus ihrer Berufsschule. Sie wollte zum Islam konvertieren. Zwei Mal habe ich die beiden weggeschickt. Ich habe gesagt, sie soll es sich gut überlegen. Das ist kein Witz. Aber sie kamen noch einmal, mit Deniz als Zeugen. Bis dahin war Deniz eher weniger interessiert am Islam. Aber Ruqiya hat ihm gefallen. Er hat sich bemüht. Sie haben geheiratet. Seine Eltern waren glücklich. Für das Mädchen war es auch gut. Sie hat in der Familie Wärme gefunden. Ich habe mich sehr gefreut. Aber : Deniz hatte eine enge Beziehung zu seinem Großvater. Den habe ich hier nie gesehen. Er ist vor 3 Monaten an Lungenkrebs gestorben. Deniz hat das sehr mitgenommen. Er hat seine Stelle in einem Autohaus verloren, weil ihn die Trauer von der Arbeit abhielt. Er ist der Überzeugung, sein Großvater käme in die Hölle, weil es ihm nicht gelungen ist, ihn noch vor seinem Tod auf den richtigen Weg zu bringen. Der arme Junge! Ich konnte ihm nur sagen, was im Koran steht : Der Glaube hat nicht die gleiche Bedeutung für jeden Menschen. Und darüber, wer in die Hölle kommt, entscheidet allein Gott, der Allwissende, der Barmherzige. Aber bei Bayram Kader und seinen Leuten hat Deniz nicht nur eine Bestätigung, sondern auch eine Lösung für seine Schuldgefühle gefunden. Mehrfach habe ich mit ihm und den Eltern gesprochen - aber Deniz hat mich sogar einen Lügner genannt. Gut, dass er Ruqiya hat. Sonst wäre er vielleicht auch nach Syrien."
    Semir und Alex tauschten vielsagende Blicke aus. "Wo finden wir diesen Bayram denn," fragte Alex. Der Hoca zuckte mit den Schultern. "Tut mir leid, das weiß ich nicht." "Ist gut, Ibrahim Hoca," sagte Semir. "Das finden wir heraus. Vielen Dank für die Zeit und die Mühe!"
    Der alte Mann lächelte und ließ sich von Semir beim Aufstehen helfen. Alex sah auf sein Handy : "Wir sollen uns sofort in der PASt melden!"

  • Semir und Alex riefen auf der PASt an. Susanne stellte zur Krüger durch. "Brandt, Gerkan! Wo stecken Sie denn?"
    "Wir recherchieren zu unserem Fall.."
    "Na gut. Nachdem LKA und BKA derzeit an einem Fall arbeiten, der alle Kapazitäten bindet, müssen wir da selbst weiter kommen. Angeblich steht ein größerer Terroranschlag in Köln bevor. Da ist unser " kleiner Möchtegern - Dschihadist", wie ihn der Kollege vom LKA nannte, zweitrangig."
    "Na, wenn die sich mal nicht täuschen," raunte Semir.
    "Sie erraten meine Gedanken, Gerkan," sagte die Chefin und fuhr fort: "Herr Freund hat die Netzwerkverbindung sowie sämtliche Passwörter in der Wohnung von Deniz Ceylan mitgeloggt. Tatsächlich fand seit gestern Abend ein umfangreicher Chat zwischen dem Rechner in der Wohnung und einem weiteren Rechner in Köln Kalk statt. Um es kurz zu machen: Fahren Sie zum Fahrzeugdepot des Städtischen Bauhofs in der Industriestraße. Ein Mitarbeiter erwartet Sie dort. Kontrollieren Sie die Fahrzeuge auf dem Hof. Ich gehe davon aus,dass Sie dort auf Ceylan und seinen Komplizen treffen. Seien Sie vorsichtig, laut Chat sind sie bewaffnet. Ich versuche, noch LKA und BKA davon zu überzeugen, dass wir da Unterstützung brauchen könnten."
    " Sie denken an einen Anschlag?"
    "Ja. Aber den Ort kennen wir noch nicht." Alex startete den Wagen. "Haben Sie Informationen über den Komplizen?" "Frau König informiert Sie noch." "Alles klar, wir sind unterwegs. Ach ja, Frau Krüger?" "Ja, Gerkan?" "Bitte lassen Sie einen gewissen Bayram Kader aus Köln oder Umgebung überprüfen und den Aufenthaltsort von Yves Signet feststellen. Könnte sein, dass die damit etwas zu tun haben." "Danke. Gute Arbeit!"

  • Also, reden kann er ja, dein Lehrer," stellte Alex fest, als Semir auf die Bundesstraße auffuhr. Semir grinste: "Na, das ist ja auch seine Aufgabe..." Das Handy klingelte. "Susanne, was gibt es?" "Ihr fahrt gerade zum Fahrzeugdepot?" "Ja!" "Also, laut der Verbindungsanalyse und den Auswertungen der Chats, sollen Deniz Ceylan und Yves Signet, auch genannt" Abdel Waarit", dort ein Fahrzeug nehmen und in der Innenstadt für einen Anschlag verwenden... Die Anweisungen dazu waren leider nicht vollständig, der Chatpartner hat sich noch nicht wieder gemeldet..."" Was weißt du über diesen "Abdel Waarit"?" "Yves Signet, geboren 1992 in Münster. Vater Belgier. Ausgebildeter Mechatroniker. Keine Vorstrafen. Seit 2 Jahren in Köln, studiert Elektrotechnik. Hat gerade ein Urlaubssemester. Reiste Ende Dezember nach Syrien aus und ist laut Passkontrolle am Flughafen Frankfurt gestern zurück gekommen. Ihm gehört auch das Auto, das Deniz gestern gefahren hat." "Das heißt, er kann wahrscheinlich mit Waffen umgehen." "Ja. Seid bitte vorsichtig." "Klar doch!" "Noch etwas: Jenny und Endres durchsuchen mit Einstein zusammen gerade ein Versteck von Deniz Ceylan. Ich weiß nicht, was dort war..." "Danke, Susanne!"


    Vergeblich versuchte Alex Endres zu erreichen. Kurz darauf kamen sie am Fahrzeugdepot an. Sie sahen noch ein Grüppchen Arbeiter in den Feierabend gehen, das Tor zum Hof stand offen. Daneben stand ein kleiner, breiter Mann mit einer Warnweste, der vorsichtig die Hand hob, als sie auf ihn zu fuhren. Alex hielt neben ihm und ließ das Fenster herunter. "Silvretta, ich bin der stellvertretende Bauhofleiter. Ihre Kollegin hat mir gesagt, Sie suchen nach zwei Herren, die sich hier verstecken? Uns ist niemand aufgefallen... Aber bis auf die drei, die gleich noch zu einer ausgefallenen Lichtsignalanlage müssen, habe ich die Kollegen jetzt alle schon nach Hause geschickt..."
    "Danach ist niemand mehr auf dem Gelände?"
    "Nein."
    "Mit welchen Fahrzeugen kommt man hier schnell vom Hof?"
    "Eigentlich nur die, die hinten im Carport einsatzklar sind. Sie gehen einmal links an der Werkstatt vorbei, dann sehen Sie's schon. Stellen Sie sich einfach auf den Besucherparkplatz hier vorne."
    "Danke. Bitte informieren Sie die Kollegen. Sie sollen gleich das Tor schließen, wenn sie rausfahren. Und Sie bringen sich am Besten auch in Sicherheit..." Herr Silvretta nickte, Alex stellte ihren Dienstwagen wie angewiesen auf dem Besucherparkplatz ab. Während die beiden Polizisten auf die Ecke des Werkstattgebäudes zugingen, kamen drei Männer aus dem Gebäude und folgten ihnen.

  • Hartmut hatte sich beeilt zu Jenny und Endres zu kommen. "Was habt ihr für mich," fragte er im weißen Overall "Da, das kam uns seltsam vor. Sieht nicht nach Gartenarbeiten aus," sagte Endres und verwies den KTU-Chef auf das Innere der Hütte. Im Licht der Taschenlampen seiner Kollegen sah Hartmut eine Werkbank. Auf ihr und um sie herum lagen verschiedene Drahtrollen, Elektromagnete, kleine Zangen und die Verpackung zweier Rasperrys. Daneben stand eine große alte Blechkiste. Hartmut sah sich zunächst gründlich um. Dann griff er nach einem winzigkleinen grauen Klops, der unscheinbar am Boden gelegen hatte. Mit den Utensilien aus seinem Koffer untersuchte er das, was Jenny einfach nur für Dreck gehalten hätte. Alarmiert sah Hartmut hoch: "Ich mache hier weiter, ihr solltet die Krüger informieren und zu Semir fahren. Das ist Sprengstoff und mit dem ganzen Zeug hier kann man ne Menge anstellen!"


    Semir und Alex hörten, wie sich die Männer hinter ihnen über die uralte Ampelanlage und die fehlende Bereitschaft der Stadtverwaltung, dafür Geld auszugeben, unterhielten. Die drei gingen an ihnen vorbei zu dem vordersten Fahrzeug, das schräg zur Werkstatt in einem durchfahrbaren Carport stand. In der Dämmerung sahen die Polizisten knapp 10 Arbeitsfahrzeuge darin stehen.
    "Mist," fluchte Alex leise "und welches soll es jetzt sein?"
    "Wir müssen alle kontrollieren. Du rechts, ich links ," schlug Semir vor.
    Sie pirschten sich an die ersten beiden Fahrzeuge an. Nichts. Sie gingen den gleichen Weg zurück. An der zweiten Lücke vibrierte Alex' Handy. Es war ein Anruf von der Krüger, den er rasch wegdrückte. Erst jetzt sah Alex die Nachricht, die Endres ihm geschrieben hatte: "Vorsicht! Bombe im Fahrzeug! Wir kommen mit Verstärkung!" Genau da schalteten sich automatisch die großen Scheinwerfer des Bauhofs an, wie immer, wenn ein bestimmter Grad an Dunkelheit erreicht wurde. Fast zeitgleich wurde die Beifahrertür des linken Transporters geöffnet.
    Semir wandte sich mit erhobener Waffe um. Er wollte sie auf die Tür richten. Ein Schuss fiel. Semir entglitt die Waffe. Ein zweiter Schuss fiel. Semir brach zusammen. Ungebremst ging er zu Boden.
    " Semir! " Alex hatte blitzschnell seine Waffe gezogen und auf den orangenen Transporter gefeuert, der jetzt mit quietschenden Reifen losfuhr. In diesem Moment kamen Endres und Jenny auf den Hof gefahren. Alex schrie noch einmal "Semir!"
    Doch Jenny stieg rasch aus und rief : "Los, hinterher! Ich kümmer' mich um Semir!" Mit einem Blick auf seinen leblos am Boden liegenden Partner, warf Alex seine Schlüssel zu Jenny und rannte zum Wagen, in dem Endres wartete. Ihm war klar : Von ihm hingen nun noch mehr Menschenleben ab!

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  • Jenny hatte sich über Semir gebeugt und ihn laut angesprochen, an der Schulter bewegt. Er reagierte nicht, atmete aber. Sie rief auf der Leitstelle an, forderte für den Schwerverletzten einen RTW und einen Notarzt an. Währenddessen überstreckte sie Semirs Kopf - praktischer Weise lag er ja schon in Seitenlänge. Herr Silvretta sah aus dem Fenster der untersten Werkstatt, wo er sich versteckt hatte: " Ist jemand verletzt? "
    "Ja," schrie Jenny verzweifelt. Mehrere dunkle Fahrzeuge fuhren auf den Hof. "Die sind geflohen," schrie Jenny ihnen entgegen. "Verdammt, ich habe doch gesagt, keine Alleingänge," fauchte der Einsatzleiter des LKAs durch den einsetzenden Regen. "War nicht zu vermeiden. Mein Kollege ist schwer verletzt!"
    "Verdammt," schrie der Einsatzleiter noch einmal und fragte dann auf der Leitstelle nach.
    "RTW müsste gleich da sein," rief er Jenny zu, stieg wieder in den Wagen und fuhr fort. Die anderen Wagen folgten ihm. Jenny strich vorsichtig über Semirs Rücken. Sie hielt inne.Es war die seltsame Mischung mehrerer Gefühle, die sie dabei bewegten. Einerseits Erleichterung, weil sie das Auf und Ab des Brustkorbs spürte. Andererseits die riesige Angst, dass ihr ältester, erfahrenster Kollege hier unter ihren hilflosen Händen an der Verletzung versterben würde. Und Ekel, weil sie sah, wie sich unter Semir der feuchte Boden langsam rot färbte.

  • In der PASt waren kurz nach Anruf von Frau Krüger mehrere Beamte des LKAs und BKAs eingetroffen.
    "Wir haben alles im Griff. Ab jetzt übernehmen wir," tönte ein junger, strebsamer Herr im mausgrauen Anzug. Susanne verdrehte die Augen. Frau Krüger lächelte ihn freundlich an :
    "Gerne teilen wir Ihnen die Ergebnisse unserer Ermittlungen mit. Bitte folgen Sie mir. Herr Freund wird uns alle nach seiner Rückkehr in die Ergebnisse seiner Untersuchungen einweisen."
    Frau Krüger präsentierte den Kollegen vom LKA die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Vorgängen und auch die noch offenen Fragen.
    Wer steckte hinter den Planungen?
    Und wo sollte der Anschlag wie stattfinden? Der jüngere Beamte warf Frau Krüger vor:
    "Sie hätten uns frühzeitig informieren müssen!"
    "Mehr als Ihren Kollegen Weinzierl" - sie blickte auf den unscheinbaren Mann mittleren Alters, der neben der Tür stand - "mehrfach anzurufen und ihm den ermittelten Sachverhalt zu schildern, können Sie ja wohl nicht von mir verlangen," entgegnete sie.


    Da kam Susanne herein: "Frau Krüger, die haben auf Semir geschossen und sind geflohen! Er ist schwer verletzt!"
    Frau Krüger drehte sich zu ihren Gästen um. Ihre Augen blitzen - und wer sie kannte, wusste, dass neben Wut auch Besorgnis in ihrer Stimme lag: "Hatten Sie nicht vorhin gesagt, Sie hätten alles im Griff? Das sieht ganz anders aus..." fauchte sie, als sie sich katzengleich an den Herren vorbei bewegte.


    "Was ist passiert," fragte Endres während er versuchte, zu dem orangenen Transporter aufzuschließen.
    "Wir hatten sie noch gar nicht gesehen. Die haben plötzlich geschossen. Semir hatte keine Chance..."
    Entsetzt fragte Endres:"Aber er ist nicht..."
    "Vorsicht," schrie Alex und Endres konnte sich gerade noch ducken, während ihre Windschutzscheibe unter mehreren Einschüssen zerbarst.
    Der Fahrer des Transporters nahm keine Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer und schlängelte sich geschickt durch den dichter werdenden Verkehr, in dem er auch auf Fuß-und Radwegen fuhr. Glücklicherweise regnete es, so dass kaum Menschen dort unterwegs waren. Endres fuhr ihm nach, so gut er konnte.
    "Ich bete, dass Semir lebt," sagte er.
    Alex brummte: "Beten sollten die, wenn ich sie erwische!" Immer wieder teilte er ihren Standort über Funk dem LKA mit.
    "Jetzt haben wir sie," rief Endres, als vor ihnen ein dicker Stau zu sehen war.

  • Semir regte sich. "Semir! Gott sei Dank," stieß Jenny aus. Er hatte große Schmerzen. Aber noch größer war seine Angst, zu ersticken - er bekam kaum Luft! "Hilf mir," flüsterte er und versuchte, sich aus der Seitenlage zu drehen. Gerade da kam Herr Silvretta mit einem Verbandskasten zurück. Er kniete sich neben Semir und Jenny ins Scheinwerferlicht. Als er den Kasten öffnete,waren darin nur noch ein Dreiecktuch und eine Rettungsdecke. "So ne Sauerei," fand er. Er half Semir, sich umzudrehen und seinen Oberkörper auf den Oberschenkeln der knienden Jenny abzulegen. Die reichte dem Bauhofmitarbeiter ein paar Einmalhandschuhe aus ihrer Jackentasche rüber. Es reichte ja, wenn ihre Hände schon voll mit Blut waren - am Kopf schien Semir auch eine Wunde zu haben. Gemeinsam zogen sie Semir vorsichtig die Schussweste aus.
    ." Scheiße," murmelte Jenny:"Genau den am wenigsten geschützten Teil in der Seite getroffen!"
    Semir stöhnte, seine Lippen waren bläulich. "Na, Sie seh'n aber nit jut aus," Herr Silvretta. Er packte geräuschvoll die Rettungsfolie aus und breitete sie knisternd über den Verletzten.
    "Nehmen Sie das Dreiecktuch und drücken Sie es auf den Oberschenkel," befahl ihm Jenny. Herr Silvretta nickte beflissen und packte das einzige Verbandsmittel aus, das sie zur Verfügung hatten. Kurz darauf schrie Semir vor Schmerz auf- der sonst körperlich arbeitende Mann hatte tatsächlich einen guten Druck auf die Wunde!

  • Auch Deniz Celan sah den Stau. Er riss das Lenkrad des Wagens um. Nur noch auf den zwei linken Rädern fahrend, wendete er den Transporter mitten im Verkehr. Dabei rammte er mehrere kleine PKWs, doch das störte ihn nicht. Er kannte keine Angst mehr, keinen Schmerz. Alles, was er wollte, war: Sein Ziel zu erreichen. Wenn er es schon bei seinem geliebten Großvater nicht geschafft hatte, dann wollte er wenigstens anderen zeigen, wohin sie mit ihrer sündhaften Lebensweise kämen: Direkt in die Hölle! Und die würden er und Abdel Waarit nun bald veranstalten - wenn er nur die Polizei noch loswäre! Eigentlich hatten sie erwartet, noch genauere Angaben zum Ort ihrer Aktion zu bekommen. Aber bis jetzt war nichts gekommen, also mussten sie selbst die Sache in die Hand nehmen. Er sah zu seinem "Bruder" Abdel Waarit. Der konnte gut schießen, aber auch davon ließen sich die beiden hinter ihm kaum beirren. Jetzt fuhr er auf der mehrspurigen Strecke stadtauswärts. Irgendwo hier musste doch die Auffahrt zu Autobahn kommen? An der nächsten Raststätte würde er sich furchtbar rächen.

  • Das Atmen fiel so unendlich schwer. Es tat weh. Alles tat weh. Sein Kopf dröhnte. Semir lag mit dem Oberkörper auf den Oberschenkeln von Jenny und hatte die Augen geschlossen. Er konzentrierte sich nur noch aufs Atmen, das war schon genug. Seine Lippen hatten alles Rot verloren.
    „Halte durch! Bleib wach,“ forderte Jenny ihn auf. „Da kommt der RTW.“
    Semir blinzelte leicht, alles war schwarz-weiß. Der RTW hielt kurz vor ihnen neben dem Carport des Fahrzeugdepots.
    „Was ist passiert,“ fragte die Rettungsassistentin scharf und stellte ihren Rucksack ab.
    „Zwei Schüsse, in Brust und Oberschenkel. Am Kopf blutet er auch“ fasste Jenny zusammen.
    Die Rettungsassistentin kniete sich zu ihm: „Ina Golmati vom Rettungsdienst. Hören Sie mich, Herr...“
    „Gerkan,“ ergänzte Jenny.
    „Ja.“
    „Können Sie die Augen öffnen?“
    Semir blickte in das freundliche Gesicht einer kräftigen Frau mit braunem Haar und Lachfalten.
    „Sehr gut. Haben Sie starke Schmerzen?“
    „Hm,“ Semir kniff die Augen zusammen und nickte leicht. „Kaum Luft,“ keuchte er. Er zitterte vor Kälte und Schmerz.
    „Okay. Darum kümmere ich mich gleich. Der Arzt braucht noch einen Moment, bis er hier ist. Wir bringen Sie jetzt erst mal von dem kalten Boden hier weg. Ist er auf den Kopf gefallen? War er bewusstlos?“ Jenny zuckte mit den Schultern: „Als ich dazukam, lag er schon bewusstlos auf dem Boden.“
    „Sven, wir brauchen ein Stiffneck und die Schaufeltrage,“ informierte sie ihren Kollegen. Sie gab Herrn Silvretta mehrere Kompressen und ein Verbandspäckchen und fragte :
    "Bekommen Sie das hin?"
    "Klar, das brauchen wir hier öfter," murmelte der und verband Semir mit geübten Bewegungen die Wunde am Kopf. In der Zwischenzeit steckte Ina Semir mit Jennys Unterstützung Semir das Pulsoxymeter an einen Finger und gab ihrem blassen Patienten Sauerstoff über eine Maske. Sie maß Blutdruck und Puls.
    Ina fragte ihn:„Wann haben Sie zuletzt gegessen?“
    „Morgens,“ presste Semir hervor. Von dem nagenden Hunger, den er vor dem Einsatz gespürt hatte, war jedoch nichts mehr vorhanden.
    "Haben Sie Allergien, Vorerkrankungen?"
    "Nein," keuchte er.
    Nachdem Ina ihm das Stiffneck angelegt hatte, halfen Sven, Jenny und der Bauhofleiter ihr beim Umlagern auf die Schaufeltrage.
    „Ich habe leider gerade festgestellt, dass unsere Vakumatratze den letzten Einsatz nicht gut überstanden hat,“ erklärte Sven entschuldigend, als sie Semir vorsichtig auf die Transporttrage legten und den Oberkörper erhöhten. Er schrie vor Schmerz auf.


    „Schon vorbei. Wir gehen schnell mit Ihnen in den warmen RTW.“ Ina rückte die Kopfstütze nah an Semirs Ohren. Die Geräusche wurden leicht gedämpft, der Kopf konnte nicht mehr zur Seite. Sie rollten die Trage über den feuchten Boden in den RTW und schlossen die Türen.
    Auf Jenny und den Bauhofleiter kam ein Auto zu: Es stiegen zwei Kollegen von Hartmut aus, die sich gleich daran machten, den Tatort zu sichern. Herr Silvretta seufzte und sah zu Jenny. Diese blickte gedankenverloren auf den innen hell erleuchteten RTW.
    "Wenn Sie wollen," bot er ihr an "können Sie kurz reinkommen, die Hände waschen und vielleicht was anderes anziehen. Ich habe allerdings nur Arbeitskleidung da..." Jenny sah an sich herunter und willigte ein. Sie gingen gemeinsam in die Richtung der Werkstatt, als die Notärztin dazu kam.

  • Sven hatte schon alles für zwei großlumige Zugänge vorbereitet und machte sich an die Arbeit. „Dann kann der Arzt Ihnen gleich was gegen die Schmerzen geben.“ Semir stöhnte zustimmend. Ina klebte die EKG-Elektroden auf den Brustkorb und sprach ihn an: „Herr Gerkan?“ Semir öffnete mühsam die Augen. „Ihre Sauerstoffsättigung ist trotz der Maske nur bei 85 %. Das ist zu wenig. Ich weiß, Sie haben Schmerzen beim Atmen. Darum werde ich Sie dabei unterstützen... Keine Angst, es tut nicht weh. Ich klappe gleich die seitlichen Kopfstützen weg, nehme Ihnen das Stiffneck ab und strecke dann ganz vorsichtig den Kopf leicht nach hinten. Wenn es weh tut, bitte sofort melden!“ Semir stimmte leise zu. Es tat wirklich nicht weh. Die weichen, warmen Händen in den Handschuhen, die sich mit seinem Kinn beschäftigten, waren in keinster Weise unangenehm. Er dachte an Andrea. An ihre Berührungen. An den Kuss heute Morgen. Irgendwie war langsam alles um ihn herum wie in einem dicken Nebel. „Zugänge liegen, Ringer läuft, Haes ist vorbereitet. Ich ziehe mal die Medis auf,“ informierte Sven seine Kollegin, die dankend nickte. „Jetzt werde ich Ihnen die Maske abnehmen und eine andere auf das Gesicht drücken. Auch hier kommt Sauerstoff raus. Ich unterstütze Sie beim Einatmen, in dem ich mit dem Ambubeutel den Sauerstoff zusätzlich in Ihre Lungen bringe. Es ist ungewohnt...“ Mit einer Hand umklammerte sie gekonnt Semirs Kinn und die Maske. Kurz stieg Panik in ihm auf. Das dunkle Ding auf Mund und Nase, der feste Griff... Er riss die Augen auf. Sein rechter Arm schnellte nach oben. „Ganz ruhig. Einatmen!“ Mit der einen Hand presste sie den Gummisaum der Maske auf Semirs Gesicht. Mit der anderen Hand drückte Frau Golmati den Ambubeutel aus. „Ausatmen......einatmen.“ Sie lächelte, er bemerkte schnell, wie viel leichter es wurde. Der Kopf wurde wieder klarer. Doch mit jedem Atemzug wurden die Schmerzen auch schlimmer. Alle, nicht nur die beim Atmen. Er schloss die Augen und stöhnte beim Ausatmen, das besonders schmerzhaft war. Die Sättigung war gestiegen, Ina war mit den 95% zufrieden und erklärte ihrem Patienten, dass die stärkeren Schmerzen daher rührten, dass er nicht mehr durch den höheren CO2-Spiegel im Blut betäubt wurde. Semir stöhnte immer lauter unter der Maske, während Ina ihm – inzwischen ohne Anweisungen - weiter beim Atmen half. Sven hatte nach einer erneuten Blutdruckmessung Semirs Kleider aufgeschnitten. Die Schussverletzungen bluteten. Der Schuss im Oberschenkel war mittig und schien tief. „Ich mache einen Druckverband und decke sie steril ab,“ sagte er und nahm kurzerhand die beiden vorhandenen Vakuumschienen als Polster, um auch hier den Transport ohne weitere Schäden zu gestalten. Ina sah hoch. Wo blieb denn nur der Notarzt?

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  • Kurz vor der Autobahn tauchten mehrere schwarze Fahrzeuge mit Blaulicht am Horizont des Gegenverkehrs auf. Deniz fluchte. Er wechselte auf die rechte Spur und bog scharf rechts in eine dunkle Seitenstraße ab. Gerade kam ihnen ein Fahrzeug aus einem noch offenen Tor entgegen. Deniz nutzte die Gelegenheit und fuhr auf den großen, beleuchteten Hof. Dort stellte er den Transporter ab. Das Rolltor schloss sich. "Was soll das," fragte ihn sein Begleiter. "Wir warten. Entweder starten wir von hier aus oder wir führen die Polizei direkt vor den Richter." Deniz wies Abdel Waarit auf mehrere Kanister an der Mauer hin.

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