Lebenslänglich

  • "Lebenslänglich"



    Rastplatz – 03:00 Uhr


    Ben schenkte sich den zweiten Kaffee aus der Thermoskanne in den Deckel, der als Tasse herhalten musste, während sein Partner und Freund Semir einen kräftigen Bissen von dem belegten Brötchen nahm, dass er gerade noch gegriffen hatte, bevor sie von der Dienststelle abgehauen sind. Ein anonymer Anruf, ein bevorstehender Drogendeal auf einem ihrer Rastplätze… keine Zeit mehr, die Kollegen der Drogenfahndung zu informieren, fast die komplette Dienststelle war raus. „Die werden sicherlich besonders froh sein, wenn wir ihnen einen Fisch vor der Nase wegschnappen.“, meinte Ben ungerührt. „Kann uns doch egal sein. Die Chefin hat gesagt, wir machen das alleine, also machen wir das auch.“, antwortete sein erfahrener Kollege. Er hatte seine Augen auf eine Gestalt gerichtet, der in einigen Metern Entfernung im Schatten einiger abgestellter LKW-Anhänger stand. Rauchschwaden stiegen in den Himmel, offenbar von einer Zigarette. Die Luft war angenehm, es war eine herrlich laue Augustnacht, die sich die Gangster für ihren Deal ausgesucht hatten. „Der scheint noch auf jemanden zu warten.“, murmelte der Polizist mit dem Wuschelkopf, bevor er leicht in seinen Kaffee pustete, und damit die leichten Dampfwolken zerteilte. Semir griff zum Funkgerät: „Jenny, Hotte? Seid ihr bereit?“ Über Funk erreichte sie die warmherzige Stimme ihres ältesten Kollegen, Hotte Herzberger: „Na klar, Semir. Wir haben den Kerl gut ihm Blick und warten auf dein Signal.“


    Christian Trechsel trippelte von einem Bein aufs andere. Nicht weil ihm kalt war, oder er aufs Klo musste… er hasste es zu warten und längere Zeit an einer Stelle zu stehen. Wann kam sein Kunde endlich. Die kleinen bunten Pillen in seiner Jackentasche schienen neben ihm zu brennen. Er mochte diese Deals auf der Straße nicht sonderlich, dazu hatte er eigentlich seine Laufburschen. Aber dieser Privatkunde, den er erwartete, bestand diesmal darauf, das Geschäft, mit ihm abzuschließen. Und da er anständige Mengen, und das sehr regelmäßig bestellte, konnte Christian es sich nicht leisten, den Kunden zu verprellen, also ließ er sich auf das Spielchen ein.Ein wenig unruhig schaute er sich um. Der Parkplatz war nur von wenigen LKW-Fahrern besucht, die in ihrer Fahrerkabine schliefen, während er an einem schwach beleuchteten Plätzchen wartete. Als er das Geräusch eines Wagens hörte, horchte er auf und zog sich ein wenig nach hinten in den Schatten der Auflieger zurück. Der Wagen verstummte, eine Tür öffnete sich, schloss sich mit einem Knall. Trechsel lugte hervor, und sah wie sich unter einer Laterne die Silhouette eines Mannes abbildete, der ungefähr seine Größe hatte, schlank und drahtig war und mit sicheren Schritten auf die Auflieger hinsteuerte.


    „Das gibt’s ja nicht…“, platzte es aus dem dunkel gekleideten Mann heraus, als er den Mann näher kommen sah, und rief erstaunt dessen Namen. „Was machst du denn hier? Dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen.“ Auch der ankommende Mann schien kurz genau hinzusehen, bevor er Trechsel wirklich erkannte, doch der half ihm auf die Sprünge. „Jetzt guck doch nicht so wie ein Auto. Ich bin’s, Christian.“ Ein Lächeln kam langsam auf das recht kühl dreinblickende Gesicht mit den kalten hellblauen Augen des Mannes, der die ausgestreckte Hand ergriff. „Christian… das ist ja wirklich ewig her.“ Die Stimme klang markant, ein wenig farb- und melodielos monoton.„Wo warst du denn all die Jahre gewesen… das müssen über… wart mal…. 14 Jahre sein, seit du dich abgeseilt hast.“ Der junge Mann nickte stumm, doch man merkte ein wenig, dass er auf den Smalltalk keine große Lust hatte, während Trechsel richtig aufblühte, und seine Nervosität verflog. „Ja… Dinge ändern sich nun mal.“ Der Mann, der in seiner Jackentasche mit der Hand die Päckchen mit den bunten Pillen fühlte, lachte auf. „Die Gang gibt’s sowieso nicht mehr. Drei Jahre nachdem du weg warst gab es eine große Razzia. Irgendein Penner hat uns damals verpfiffen. Ich bin noch recht glimpflich weggekommen, aber Andi, Christoph und viele andere sitzen noch. Aber du magst die Dinger immer noch, hmm?“ „Manchmal helfen sie beim Einschlafen.“ Der fremde Mann zwinkerte bei dem Satz und lächelte, was aber sofort wieder verschwand. „Aber was machst du hier? Ich wollte mich doch mit eurem Boss, diesem Schawasky treffen.“ Immer wieder blickten die beiden Männer sich um, immer vorsichtig dass sie nicht von irgendwelchen Nachtschwärmern erwischt wurden. „Du weißt doch wie das ist, mein Freund.“, sagte Christian, und gab seinem Gegenüber einen freundschaftlichen Klaps gegen den Oberarm. „Nach dem Laufburschen kommt erst einmal der Bezirksleiter, dann der kleine Boss und dann der große Boss. Da musst du noch einige Smarties bei uns kaufen, bevor du den zu Gesicht bekommst… oder als Händler bei uns einsteigen.“ Diesmal lachte das Gegenüber auf. „Lass mal… den Scheiss mache ich nicht mehr… ich beitreibe nur noch Eigenbedarf.“


    Stumm, ohne große Worte zog der Mann, der in Shirt und Kapuzenweste vor Trechsel stand einen dicken abgegegriffenen Umschlag aus seiner Jackentasche, während Trechsel selbst das kleine Kartonpäckchen zog, in dem sechs Ampullen mit „Muntermacher“, wie er sie nannte, drin war. Sie tauschten die Sachen aus, Trechsel schaute in den Umschlag. „Misstraust du etwa einem alten Gang-Mitglied?“, fragte sein Gegenüber beinahe gekränkt und strich sich eine der abstehenden Strähnen von der Stirn. „Quatsch…“, meinte der grinsend. „Du weißt doch eh, was passiert, wenn es zu wenig ist. Und Trinkgeld nehm ich gern. Aber sag mir…“, meinte er, bevor sich sein Handelspartner zum Gehen umdrehen wollte. „Was hast du in der ganzen Zeit gemacht. Ich hab nie mehr was von dir gehört. „Vieles… so viel, dass es die Zeit sprengen würde. Aber wir können ja mal was trinken gehen, bisschen über die alten Zeiten quatschen.“ „Na klar.“, stimmte der Mann zu und im Dunkeln tauschten sie die Handynummern aus.


    Semir hatte mit einem Nachtsicht-Fernglas die Übergabe genau beobachtet. Als die Drogen beim Käufer, und das Geld beim Verkäufer war, stand dem Zugriff nichts mehr im Wege. „Ab geht’s, Hotte.“, gab er per Funk durch, beinahe gleichzeitig schalteten sich seine Blaulichtzeichen und Sirene an zusammen mit den drei Streifenwagen, die rund um den Rastplatz verstreut waren. Beide Männer schreckten auf, Christian rannte sofort los. Doch die Polizei hatte den Eingriff gut geplant, und den Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Trechsel rannte genau in Richtung des silbernen BMWs, der den Mann mit Schwung auf die Motorhaube lud und hart auf den Boden aufschlagen ließ. Kaum, dass Semir den Wagen zum Stoppen gebracht hatte, setzte er einen Fuß heraus und zielte über die offene Tür auf den am Boden liegenden, stöhnenden Trechsel. „Versuch gar nicht erst, nochmal aufzustehen.“ Ben flankte blitzschnell um den Wagen, griff den Kerl bei den Schultern und wuchtete ihn mit dem Oberkörper ein zweites Mal über die Haube. Mit schnellen Griffen nahm er ihm eine Waffe aus dem Hosenbund, und legte ihm Handschellen an.


    Der zweite Mann des Deals verschwand in die andere Richtung, doch auch er hatte auf diesem übersichtlichen Rastplatz keine Chance. Jenny Dorn am Steuer eines der Streifenwagen hatte den Mann im Visier, der versuchte zu flüchten, und auf den Wagen zulief. „Links vorbei!“, rief Hotte laut, und seine junge Kollegin riss das Lenkrad herum, während der erfahrene Autobahnpolizist seine Autotür zur Waffe machte. Mit einem wuchtigen Knall prallte der sprintende Körper des jungen Mannes gegen das Blech und rollte über den Boden ab. Jenny war natürlich schneller aus dem Auto als ihr dicker Kollege, und rief laut, mit der Waffe im Anschlag: „Nicht bewegen!“ Doch das konnte der Mann erst mal nicht, er lag bäuchlings, mit dem Gesicht nach unten, und hielt sich stöhnend eine Gesichtshälfte. Hotte schälte sich aus dem Streifenwagen, bückte sich zu dem Kerl und zog ihn an seiner Jacke hoch… der erfahrene Polizist verlernte nichts. „So Jungchen… wenn ich jemandem nachlaufen muss, endet das immer mit Schmerzen.“, sagte er mit seiner warmherzigen und trotzdem autoritären Stimme, als er auch diesem Mann eine Waffe aus der Hose nahm, und ihn gegen das Autodach drückte. Als Jenny dem Kerl dann jedoch mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, entglitten sowohl ihr, als auch ihrem Kollegen Hotte die Gesichtszüge. Die junge Frau war erst mal nicht im Stande etwas zu sagen, als sie das Gesicht erkannte, das jetzt einen beachtlichen Cut unterhalb des Auges trug. Nur Hotte fand seine Stimme: „Das gibt’s doch gar nicht.“ Dann stockte seine Stimme kurz. „Kevin.“

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienstelle – 04:00 Uhr

    Es dauerte ein wenig, bis die erste Aufregung sich legte. Alle Beamten der Autobahnpolizei, die im Einsatz waren, waren einigermaßen geschockt über die Erkenntnis, dass Kevin der Käufer dieser Pillen war. Ben und Semir bekamen davon erst mal nichts mit, den Hotte hielt es für besser, das jetzt nicht auf dem Rastplatz aus zu diskutieren. So gab er über Funk nur ein „Wir haben den Kerl“ an Semir weiter, der seinerseits bestätigte, den Verkäufer der Drogen festgenommen zu haben. Gemeinsam rollte man aufs Revier, Hotte war zu perplex über Kevins Schweigen auf dessen Frage, was das hier alles sollte, als dass er Kevin anders behandelte als jeden anderen. So setzte er sich nach hinten zu dem, auf den Rücken mit Handschellen gefesselten jungen Mann, während Jenny mit zitternden Händen den Wagen zur Dienststelle fuhr.


    Mit einigem Rückstand kam der grün-silberne Streifenwagen bei der PAST an. Semir und Ben waren bereits drin mit ihrem Verdächtigen, sie hatten ihn in den Verhörraum gebracht, wo ein weiterer Beamter auf ihn aufpasste. Sie staunten aus dem Großraumbüro nicht schlecht, als Hotte ihren ehemaligen Kollegen vor sich her trieb. „Ich glaub, ich spinne… Hotte?“ Semirs Stimme klang beinahe vorwurfsvoll, als er realisierte, wenn Hotte da festgenommen hatte. Auch Ben war einerseits vor Überraschung völlig perplex, andererseits ebenfalls empört, dass ausgerechnet Herzberger Kevin wie einen Verbrecher behandelte. Nur Sekunden später dämmerte aber beiden Polizisten die Frage… warum war ihr Freund bei diesem Deal dabei?
    Sowohl Hotte als auch Kevin blieben stumm, der dicke Polizist erfüllte seine Pflicht und brachte Kevin in den zweiten Verhörraum, die beiden Beamten folgten ihm, während Jenny sich erst mal an ihren Schreibtisch setzte… sie fühlte sich schlecht und ihr war schwindelig, zu sehr war sie beeindruckt von diesem ungewollten Wiedersehen. Wie traurig und niedergeschlagen sie war, als sie von Ben vor einigen Wochen hörte, dass Kevin sich nach der Suspendierung wortlos abgesetzt hatte, es nicht mal für nötig hielt, ihr Bescheid zu sagen. Und nun dieses plötzliche Wiedersehen, als Verdächtiger bei einem Rauschgiftdeal, bei dem sie den Mann beinahe überfahren hatte. Nein, das war erst mal zu viel für ihre Nerven.


    Kevin ließ sich auf den Stuhl im Verhörraum sinken, und Semir beugte sich hinter ihn, um ihm die Handschellen zu öffnen. Das beengende Gefühl um die Handgelenke des jungen Mannes löste sich sofort, während er Semirs und Hottes Blick auf sich spürte. Fast mechanisch rieb er sich die Handgelenke ob der roten Striemen, die die Handschellen an seinen Gelenken an Spuren hinterlassen haben, und Hotte murmelte ein kurzes „Sorry“, deutete dabei auf den kleinen Cut unterhalb von Kevins Auge, von dem eine kurze Blutspur ausging. Es war eine gespenstische Stille in dem Verhörraum, den die Polizisten jetzt erst mal wieder verließen, bis auf einen uniformierten Beamten. Als Semir die Tür geschlossen hatte, atmete er, wie seine beiden Kollegen, tief durch. Dann wandte er sich an Hotte: „Habt ihr ihn denn nicht erkannt?“ „Nein, das ging viel zu schnell. Es kam der Zugriff, er ist weggelaufen, ich hab ihn mit der Tür erwischt. Erst als Jenny ihn angeleuchtet hatte, hatte ich ihn erkannt.“, rechtfertigte sich der Polizist mit ruhigem Ton. Er war selbst ein wenig geschockt, aber dennoch gefasst, denn er hatte auf der Autobahn wirklich schon alles gesehen und erlebt. Aber er hatte auch eine recht vertrauensvolle Bindung zu dem jungen Mann, und würde nur zu gerne wissen, was ihn dazu bewogen hatte.
    „Die Frage ist doch… was hat Kevin da gemacht?“, sagte nun Ben, der sich einfach nicht vorstellen konnte oder wollte, dass Kevin wieder zu Dealen angefangen hatte. Semir zuckte kurz mit den Schultern. „Dann fragen wir ihn doch am besten selbst.“ „Lass mich zuerst, bitte.“, meinte Ben und ging sofort wieder ins Verhörzimmer, während Semir und Hotte in das Spiegelzimmer nebenan gingen.


    Ben hatte eine engere Beziehung zu Kevin. Beim letzten Fall vertrat Kevin Semir, und die beiden Polizisten verstanden sich, sie mochten sich und bauten eine vertrauensvolle Partnerschaft auf. Bis es zu einem Streit kam, und Ben unbedachte Äusserungen von sich gab, ob Kevins jugendlicher Vergangenheit als Drogendealer. Die Chefin bekam davon Wind, und das Kartenhaus von Kevin bekam Risse. Er gestand seine Vergangenheit, und Anna Engelhardt konnte nichts anderes tun, als die Sache der Abteilung für innere Angelegenheiten zu melden. Seitdem war Kevin suspendiert, und hatte sich wortlos quasi aus dem Staub gemacht. Das war über 6 Wochen her, und weder Semir noch Ben hatten etwas von ihrem Partner gehört… und nun tauchte er bei einem Drogendeal als Käufer auf, der von einem anonymen Anrufer verraten wurde.
    Ben schloss die Tür hinter sich, schritt auf den Tisch zu, und setzte sich seinem Freund gegenüber. Dabei stützte er den Kopf auf seine Hände, die Ellbogen auf den Tisch, während Kevin eine Abwehrhaltung eingenommen hatte… den Oberkörper zurückgelehnt, die Hände vor der Brust verschränkt, der Blick kalt und abweisend. „Also du kennst das Spielchen ja.“, sagte der Polizist mit bestimmter Stimme, auch wenn er sich gerade überhaupt nicht gut oder überlegen fühlte. „Was hattest du mit diesem Typen zu tun?“ Kevin nahm den Blick nicht von Ben weg. „Das habt ihr doch gesehen.“ „Ich möchte es aber von dir hören.“ Kevin schwieg, schaute für einen Moment auf die Spiegelwand, und wusste genau dass Semir dahinter ihn beobachten würde. Hier in diesem Raum hatte Kevin mal vom "großen Bruder" in Bezug auf den eher kleinen Polizisten gesprochen, doch dieses Gefühl war für Semir in diesem Moment, wo ihn der kalte Blick des jungen Mannes traf, unendlich weit weg.


    "Okay...", meinte Ben, als er realisiert hatte, dass er auf die Frage keinerlei Antwort erhielt. Er griff das Kartonpäkchen, was vor den beiden auf dem Tisch lag, und öffnete es. Er betet stumm, dass er Smarties oder Überraschungseier drin fand, oder zumindest nicht genau die gleichen Pillen, die Kevin damals genommen hatte... doch er wurde enttäuscht. Der Karton enthielt sechs Glasampullen, die randvoll gefüllt waren mit pinken kleinen Pillen. "Das sind doch die gleichen, die du damals genommen hast, oder?", fragte er in Richtung seines Gegenübers und wedelte mit einer Ampulle vor seiner Nase. Es war beängstigend, wie abweisend und teilnahmslos sein Freund erschien, jedoch teilnahmslos nicht, weil er irgendetwas genommen hatte, sondern absolut bewusst desinteressiert und gelangweilt. Ohne die Pupillen zu bewegen um der Ampulle zu folgen blickte er Ben an, der langsam zusehends die Geduld verlor. Wenn Kevin etwas perfekt beherrschte, dann sein Gegenüber durch seine gespielte Arroganz und Gleichgültigkeit zur Weißglut zu bringen.
    Mit einem Knall stellte Ben die Ampulle wieder auf den Tisch. Semir wurde es neben an langsam unbehaglich und auch Hotte wischte sich über die feuchte Stirn. "Du warst weg von dem Zeug, hast du gesagt. Du und ich wissen, dass du den Scheiss nicht mehr nimmst. Also, warum kaufst du den Dreck bei einem gesuchten Dealer der Stadt?", fragte der Polizist, mittlerweile mit etwas erregterer Stimme. Ein kaltes, beinahe zynisches Lächeln entstand auf Kevins Gesicht. "Du weißt gar nichts...", sagte seine monoton klingende Stimme, und sie klang so abweisend, dass es Ben eine Gänsehaut verschaffte. Was war nur mit diesem Kerl geschehen innerhalb der letzten 6 Wochen.


    Ben biss sich auf die Lippen, sein Mund bewegte sich, als würde er Kaugummi kauen als er sich langsam von seinem Stuhl erhob und durch den Raum schritt. "Ja... wahrscheinlich weiß ich wirklich nichts.", sagte er, als er auf der gegenüberliegenden Wand ankam, und nun schräg hinter Kevin stand, der keinerlei Anzeichen machte, seinen Kopf zu dem Kommissaren zu drehen. Ben fühlte wieder die Schuldgefühle in sich aufkommen, die er bereits verdrängt hatte, Schuldgefühle an Kevins jetziger Situation. Doch dann rief er sich wieder Semirs Worte ins Gedächtnis: Keiner hatte Kevin gezwungen, das zu tun, was er tut. "Was ist passiert, Kevin? Warum verhälst du dich so?", fragte er geradeaus, was ihm gerade auf der Seele brannte. Warum redete der junge Mann nicht mit Ben, so wie er es vor einigen Wochen noch tat, als er Vertrauen hatte. Ist es wirklich nur wegen der damaligen Sache? Oder war noch etwas passiert? Ben's Stimme wurde wieder lauter: "Warum hast du am Rastplatz die Drogen gekauft. Du nimmst den Dreck nicht mehr." Der letzte Satz war mehr ein Wunsch, als pure Überzeugung, den langsam begann Bens Überzeugung in seinen Freund zu bröckeln. Selbst wenn er einen Undercover-Einsatz bestritt, könnte er das doch jetzt zugeben, und alles wäre in Ordnung. Aber dann hätten sie über die Innere doch erfahren, dass seine Suspendierung aufgehoben sei... dann hätte er es ihnen noch erzählt.
    Das Schweigen, diese kalte Ablehnung, machte Ben innerlich rasend und sein Herz übernahm für kurze Zeit die Kontrolle, als er zu Kevin schnellte, den Mann am Kragen packte und vom Stuhl hochzog. "Mann, jetzt mach endlich das Maul auf!!", schrie der Polizist zornig, und wieder trafen sich die Blicke, Bens beinahe verzweifelten Augen auf den abweisenden Blick seines Freundes, der mit ruhiger Stimme, ohne sich körperlich zu wehren, beinahe bedrohlich sagte: "Lass mich los..." Ben hatte das Gefühl, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen... wie konnte er sich in einem Menschen nur so getäuscht haben.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Verhörzimmer - 4:30 Uhr


    "Ben, es reicht!" Die laute und sehr bestimmte Stimme von Bens Partner Semir erfüllte in diesem Moment den Raum, kaum hatte der Polizist seinen damaligen Kollegen Kevin am Kragen gepackt und vom Stuhl gezogen. Semir war im Nebenzimmer allzeit bereit sofort einzugreifen, und als sein Partner sich von der Schweigsamkeit von Kevin soweit provozieren ließ, dass er handgreiflich wurde, sah der erfahrene Polizist den Moment gekommen. Ben blickte Kevin nochmal an und wieder nur dieser kalte feindseelige Blick. Für einen Moment schien er zu überlegen, Semirs Forderung Folge zu leisten oder zu zu schlagen, doch sein Kopf gewann wieder Oberhand über seine Gefühle, und der Griff um Kevins Jackenkragen löste sich so dass der junge Mann sich wieder hinsetzen konnte.
    Semir schloß die Tür des Verhörzimmers und setzte sich nun seinerseits Kevin gegenüber, während Ben sich ein wenig in den Hintergrund gesellte. Er musste seinen Puls runterbekommen, musste versuchen mit dieser unwirklichen Situation, mit der er niemals gerechnet hatte, klar zu kommen. "Also Kevin...", begann Semir mit ruhiger Stimme, so wie er immer mit dem Mann gesprochen hatte, wenn er sich eine unsichtbare Mauer aus Schweigen und Arroganz um sich herum aufgebaut hatte. "Wir können das Spielchen jetzt weiterspielen und sofort die Kollegen von der Drogenfahndung anrufen, oder du sagst uns jetzt warum du bei diesem Kerl die Pillen gekauft hast." Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, Ben traute sich kaum zu atmen, so dicht war die Spannung in diesem Raum. Kevin schien dieses Spielchen überhaupt nichts auszumachen, er saß da, als wäre er taubstumm oder würde Semirs Sprache nicht verstehen, unter einer Käseglocke und abgeschieden von der Welt. "Bist du auf einem Undercover-Einsatz, von dem du nichts erzählen darfst? Glaubst du, wir plappern das weiter, oder was?", versuchte der erfahrene Polizist diese Möglichkeit auszuloten und hoffte so sehr, dass Kevin betreten nicken würde... doch nichts tat sich. Der Blick wanderte einige Male zu Boden, mal setzte er sich etwas anders hin, aber immer hielt er die Arme vor der Brust verschränkt - eine typische Ablehnungsgeste, eine Abwehrhaltung.


    Semir seufzte auf... es war schon früher sehr schwierig zu diesem Menschen vor zu dringen, selbst wenn er dir freundlich gesinnt war. In diesem Moment war es unmöglich. Sollte Jenny es mal versuchen? Wollte Semir ihr das wirklich zumuten? Er entschied sich dagegen, und stattdessen für einen anderen Weg, als er von dem Stuhl aufstieg. "Gut, alles klar. Dann rufen wir die Jungs von der Drogenfahndung, die können euch abholen kommen. Ob die allerdings so freundlich fragen wie wir, das bezweifel ich." Nochmal blickte er den schweigenden jungen Mann an, von dem er dachte, er wäre auf dem richtigen Weg zurück zu einem halbwegs geregelten Leben in dem letzten Dreiviertel Jahr. Weg von den Drogen, raus aus dem Sumpf, wo er gewohnt hatte, zurück zu einem geregelten Polizeidienst, bei dem er sein Ziel, dass er sich damals gesetzt hatte, weiter verfolgen kann. Und nun schien er tiefer drin zu stecken als zu vor, die Innere ermittelte gegen ihn, er war suspendiert, und jetzt auch noch bei einem Drogenkauf erwischt worden. Die Möglichkeit, dass es sich um einen Undercover-Einsatz handeln würde, schätzte Semir fifty-fifty ein. Es war möglich, natürlich... aber genauso war es möglich dass Kevin jetzt einfach mal Pech hatte. Er musste ja vorher auch irgendwie an seine Mittelchen gekommen sein, und dass jemand einen anonymen Tipp geben würde, konnte er ja nicht wissen.
    Als auf diese Drohung immer noch keine Reaktion kam, blieb Semir an der Tür kurz stehen, und blickte den jungen Mann nochmal an... ein kurzes Nachdenken und einen Trumpf wollte er noch spielen, um auch Kevins Reaktion zu beobachten. "Weißt du eigentlich, wie weh du Jenny getan hast." Einen normalen Menschen wäre keine Reaktion aufgefallen, doch Polizisten wie Ben und Semir entging nichts. Sie mussten diese Auffassungsaufgabe besitzen um kleinste Gesichtsbewegungen bei Verhören regestrieren zu können, und so sahen sie jetzt auch das kurze Zucken in Kevins Mundwinkel, als der arrogante Gesichtsausdruck für einen Bruchteil wich, der Blick sich zur Seite richtete und die Arme sich noch enger überkreuzten. Eine Reaktion, der sich Kevin nicht entziehen konnte, als er den Namen "Jenny" hörte und an das geschockte Gesicht dachte, dass er sah als sie ihm ins Gesicht leuchtete. Semir schmunzelte beinahe spöttisch, bevor er den Raum verließ... "Na immerhin...", meinte er und nun war er es, der Kevin zumindest ansatzweise reizte, was dieser sich jedoch nicht anmerken ließ.


    Draußen vor der Tür musste Semir erstmal durchatmen, während Ben sich mit beiden Händen durch die langen Haare fuhr. "Ich weiß gar nicht was ich sagen soll...", sagte er mit betretener Stimme und sein Partner nickte zustimmend. "Ja, das ist ganz schön heftig, wie er sich verhält. Wenn er einen Einsatz hat, warum sagt er es uns nicht?" "Und selbst wenn er wirklich erwischt wurde... warum sagt er es uns nicht? Er weiß doch, dass wir auf seiner Seite stehen." Ratlosigkeit befiel die beiden Beamten, die unter dem Eindruck von Kevins feindseeligem Verhalten standen. Beide fühlten sich keinesfalls wohl zu wissen, dass da drin ihr Freund saß, der die beiden allerdings als solche gerade überhaupt nicht sah. Es tat ihnen weh, nichts tun zu können, und die Gründe für dieses seltsame Verhalten nicht zu wissen.
    Beide gingen langsam den Flur zurück in Richtung Großraumbüro. Jenny stand an der großen Gläserfront mit dem Rücken zu den beiden Kommissaren und betrachtet das schmale helle Band am Horizont, das den Morgen langsam ankündigte. Hotte war ebenfalls bereits zurückgekehrte und kochte Kaffee für die kleine Mannschaft. Sofort, als Jenny durch die Spiegelung sah, dass ihre beiden Kollegen zurückkehrten, drehte sie sich um und sagte aufgeregt: "Hat er was gesagt?" Ben schüttelte resigniert den Kopf und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. "Er schweigt wie ein Grab. Wir wissen nicht, ob er undercover unterwegs ist, oder..." Semirs Stimme stockte kurz, als er sich auf die Lehne des Stuhles stützte, auf den Ben sich fallen gelassen hat. "Oder ob er tatsächlich Drogen kaufen wollte." Jenny blickte unsicher zwischen den Männern hin und her. "Aber... warum... warum sollte er sowas tun?", fragte sie mit zittriger Stimme, obwohl sie eine Vorahnung hatte, die sie aber nicht aussprechen wollte. Ben blickte unsicher in Semirs Richtung, ob ihres Wissensvorsprung über den Mann, der im Verhörzimmer saß, und der Jenny offenbar wichtiger war, als angenommen. "Weil Kevin bis vor einem Dreivierteljahr diese Pillen noch genommen hatte.", sagte der erfahrene Polizist mit leiser, aber bestimmter Stimme zu Jenny. Sie fühlte sich, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen, als würde sich eine Falltür unter ihr auftun, und sie in die Tiefe hinabstürzen lassen. Beinah unwirklich schüttelte sie den Kopf, und über ihre Lippen kam nur ein kurzes "Nein.". Sie wäre so gern selbst ins Verhörzimmer marschiert, um Kevin auszufragen, aber ihre Beine gehorchten ihr gerade nicht, und sie hatte Angst vor dem, was Kevin sagte... Angst vor seiner Art. "Jetzt warte erstmal ab.... es wird sich alles aufklären.", meinte Ben und stand auf, um Jenny tröstend den Arm um die Schulter zu legen.


    "Okay...", meinte Semir und nahm das Heft des Handelns wieder in die Hand. "Hotte, du rufst bei der Bereitschaft der Drogenfahndung an und meldest die Festnahme bei einem Drogendeal, und sie sollen sich die beiden hier abholen. Ben, du schaust mal in der Polizeidatei für Undercover-Einsätze nach, ob Kevin da irgendwo drin steht. Und ich klingel den Leiter der Inneren Abteilung aus dem Bett, um mal nachzuhören, ob Kevin immer noch suspendiert ist." Semir hatte in dieser Nacht die Leitung über die Dienststelle, da Anna Engelhardt für Nachteinsätze nicht mehr alarmiert werden wollte, ausser bei besonderen Vorkommnissen.
    Semir drehte sich auf dem Stuhl zum Telefon, als Hotte ebenfalls sich zu seinem Telefon bewegte und Ben sich an den Computer von Andrea setzte. Jenny folgte ihm sofort.
    Mit schnellen Klicken hatte Semir die Handynummer des Leiters der inneren Abteilung gefunden. Der würde nicht froh sein, wenn man ihn um 5 Uhr aus dem Bett klingeln wollte, aber es war nunmal nötig. Es dauerte auch bis zum 5ten Klingeln, als die verschlafene Stimme erklang. "Guten Morgen. Gerkhan, Autobahnpolizei, entschuldigen sie die frühe Störung.", meldete sich Semir höflich. "Ich hoffe für sie, dass ihr Anliegen wichtig ist.", knurrte die Stimme auf der Gegenseite. "Ich befürchte es zumindest.", meinte der erfahrene Polizist. "Ich müsste wissen, ob der Beamte Kevin Peters nach wie vor suspendiert ist von ihrer Seite, und ob sie immer noch in den Ermittlungen stecken, diesbezüglich." Semir konnte das Geraschel der Bettdecke und das Tapsen von nackten Füßen auf Fliesen vernehmen, scheinbar hielt der Leiter das Handy nicht am Ohr, sondern ließ es in der Hand baumeln, bis er zu seinem Schreibtisch fand und anscheinend seinen Dienstlaptop hochfuhr. "Und das hätte keine Zeit gehabt bis heute morgen um 8 Uhr... in drei Stunden?", fragte die ungehaltene Stimme aus dem Telefon. "Leider nein. Wir bräuchten die Information sofort." "Und warum, wenn ich fragen darf?" Semir fuhr sich mit dem Finger über die Stirn... für eine Ausrede bräuchte er zuviel Bedenkzeit, also sagte er die Wahrheit... auch ein wenig aus Wut über Kevins Verhalten. "Wir haben Herr Peters während einer Strafhandlung aufgegriffen und wollen wissen ob wir ihn wie einen Undercover-Polizisten oder einen Straftäter behandeln sollen." Schnelle Klickgeräusche ließen den Polizisten vermuten, dass der Leiter der inneren Abteilung bereits auf der Suche war. "Laut meinem Sachstand.", sagte er dann irgendwann... "Wird gegen Herrn Peters weiter ermittelt, allerdings stehen die Ermittlungen vor dem Abschluß. Trotzdem ist die Suspendierung nach wie vor. Und ein suspendierter Kollege darf NICHT zu Undercover-Einsätzen herangezogen werden.", zerstörte der Mann Semirs Hoffnung. Der Niederschlag stand dem Beamten ins Gesicht geschrieben. "Es sieht also so aus, als hätten wir demnächst im Falle Peters doch noch mehr zu ermitteln. Seinen damaligen Taten hätten wir nämlich wenig bis nichts nachweisen können. Das können sie ihm ausrichten, um ihm den Abend zu versüßen." Semir zog schnippisch die Mundwinkel hoch. "Vielen Dank.", meinte er halb ehrlich, halb ironisch und wünschte noch eine gute Restnacht.


    Als der Hörer auf der Gabel landete, sagte Hotte sofort, dass die Drogenfahnder in einer halben Stunde hier sein würden, und sie die Verdächtigen nicht vernehmen sollten. "Warum denn das nicht?", fragte der kurzfristige Dienststellenleiter. "Ach, du kennst doch die Drogis. Die lassen sich nicht gern reinreden.", winkte Hotte nur ab. Semir schaute zu Ben und Jenny... Jenny gefiel ihm gar nicht. Sie war blass um die Nase, er konnte erkennen wie ihre Hände ein wenig zitterten. Ihr ging die Sache sehr nahe, und umso wütender wurde Semir auf seinen Freund Kevin, der dieses Spiel mit ihnen spielte, statt klaren Tisch zu machen. Und dass er tatsächlich eine Straftat begangen hatte wurde immer deutlicher als Ben niedergeschlagen sagte: "Momentan gibt es keinen Undercover-Einsatz bei den Drogenfahnder. Und Kevins Akte ist nach wie vor verschlossen, weil er suspendiert ist." Semir nickte und bestätigte dies, in dem er das Telefonat mit dem Leiter der inneren Abteilung wiedergab. "Dann steckt Kevin ziemlich in der Scheisse."


    Eine halbe Stunde später kamen vier Kollegen von der Drogenfahndung. Es wurden Hände geschüttelt und Semir erkannte Thomas Bienert, der ungefähr in seinem Alter war, und einen ähnlich erfolgreichen Werdegang vorzuweisen hatte, wie Semir. Er war Leiter der Dienststelle "Organisierte Kriminalität u. Drogenfahndung", war oftmals in der Zeitung aufgrund von Fahndungserfolgen, war Hauptverantwortlicher für das Ausheben eines ganzen Drogenschmuggelrings, in denen auch Frankreich, Luxembourg und Belgien drinhingen. Bienert war bei der gesamten Polizei hochgeschätzt, war auch äusserlich eine respektvolle Erscheinung, recht groß und für sein Alter durchtrainiert, hatte silber-melierte Haare und einen, eigentlich gar nicht mehr so modernen Schnauzbart. Er und Semir hatten öfters mal zusammengearbeitet, sie kannten und mochten sich, und Semir hatte ihn als wirklich angenehmen Kerl in Erinnerung. "Was habt ihr denn für uns?", fragte er zuerst und ließ sich einen Kaffee einschenken. "Wir hatten einen anonymen Hinweis bekommen. Zu knapp, um euch zu alarmieren.", nahm Semir gleich die nächste Frage vorweg. "Auf dem Rastplatz kam es zu einem Drogengeschäft. Die Menge ist nicht besonders, aber die Festgenommenen dafür eher." Bienert war völlig aufmerksam, als Semir fortfuhr: "Einmal haben wir da Christian Trechsel, nach unseren Erfahrungen nicht unbekannt im Drogenmilieu...", was Bienert sofort nickend bestätigte... "und dann Kevin Peters... ein Polizist." Ben war ein wenig erstaunt um die Offenheit von Semir gegenüber dem Beamten, aber er konnte es auch verstehen. Kevin zeigte keinerlei Vertrauen, warum sollten die beiden Polizisten ihren Kollegen noch mehr in Schutz nehmen. "Ein Polizist?", fragte Bienert erstaunt, und sein Gegenüber nickte. "Er hat mit uns gearbeitet, wurde aber suspenidert... aufgrund von... von Drogengeschichten aus seiner Jugend, die jetzt erst rausgekommen sind." Der erfahrene Drogenfahnder schaute kurz in die Runde. "Schuster, bleib bei deinen Leisten.", murmelte er und Jenny, die stumm und beinahe verschüchtert bei Hotte saß, sprang auf. "Was sagen sie da?", fuhr sie Bienert an, der überrascht aufblickte, doch Hotte hatte bereits den Arm um Jenny gelegt, und sie wieder auf den Stuhl gedrückt.


    "Haben die Verdächtigen etwas gesagt?", fragte Bienert dann in Semirs Richtung. "Ihr habt doch gesagt, wir sollen sie nicht vernehmen." Der Drogenfahnder schmunzelte. "Ach Semir... ich kenne dich doch.", was auch Semir zum Schmunzeln brachte. "Okay, also Kevin hat nichts gesagt. Wir hatten erst gedacht, er wäre im Undercover-Einsatz... aber naja." "Soweit ich weiß dürfen suspendierte Kollegen in keinen Undercover-Einsatz", bestätigte nun auch der Mann neben Semir, der wiederrum nickte. "Den anderen haben wir nicht verhört." "Okay... dann packen wir die beiden mal ein und unterhalten uns mit ihnen auf dem Zentralrevier.", sagte er und deutete seinen drei Kollegen an, die beiden holen zu gehen.
    Es war wie das Durchschreiten eines Spaliers zum Galgen, so kam es den Männern von Cobra 11 vor. Semir, Ben, Hotte, Jenny und die restlichen Kollegen, die bei dem Einsatz dabei waren, saßen im Großraumbüro und blickten raus auf den Flur, als zuerst Trechsel in Handschellen von zwei Männern abgeführt wurde, und dahinter folgte sofort Kevin... ebenfalls die Hände auf dem Rücken, Bienert und ein Kollege dicht hinter ihm. Der Drogenfahnder nickte Semir dankbar zu, doch die Gedanken des Autobahnpolizisten waren einzig bei diesem Mann, mit dem kalten Blick, der einfach geradeaus sah. Nur ein mal, einen kurzen Moment drehte sich der Kopf und ein Blick streifte Jenny, die dicht bei Hotte stand und aus deren Augen eine unendliche Traurigkeit ausging. Diese Traurigkeit traf Kevin wie ein Stich, denn der Wirkung dieses Blickes konnte er sich in diesem Moment, anders als denen von Ben und Semir, nicht entziehen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 5:30 Uhr


    Ein neuer Sommertag kündigte sich langsam, aber sicher an. Es war Mitte August, der Sommer war heiß und es gab mitunter einige schwere Unwetter, doch seit der August angebrochen war, war das Wetter einfach herrlich... nicht zu heiß, nicht zu schwül, wenig Regen. Auch der heutige Tag versprach sonnig zu werden, war doch der Himmel sternenklar und dunkelblau, nach Osten hin wurde er heller, bis er in einen roten Streifen mündete. Die Vögel waren bereits wach und taten dies auch lautstark kund. Die Stimmung in der Dienststelle der Autobahnpolizei war das exakte Gegenteil von dem, was das Wetter versprach. Sie war düster und bedrückend.
    Jenny saß an ihrem Schreibtisch und bearbeitete Protokolle, sie war mit den Gedanken nicht bei der Sache und erwischte sich dabei, wie sie Hotte die einfachsten Dinge fragte, weil sie ihr nicht einfielen. Hotte dagegen bewies Nachsicht, wusste er doch in welchem aufgewühlten Zustand Jenny sich gerade befand. Es war offensichtlich dass die junge Kollegin zu Kevin mehr empfand als pure Kollegschaft, als einfach Freundschaft. Es war mehr, tiefergehend und die junge Frau fühlte sich verraten von dem Polizisten, der ihr nicht so vertraut hatte, wie sie es sich gedacht hatte. Er hatte ihr nichts gesagt, als er fortging, er hatte sie jetzt genauso ignoriert, wie er seine Freunde ignoriert hatte.
    Ben und Semir schrieben gemeinsam an dem Bericht des Einsatzes. Es war die beste Ablenkung von dieser Begegnung mit Kevin, die sie beide aufgewühlt hatte. Trotzdem kamen sie nicht umhin, darüber zu sprechen. "Vielleicht haben wir uns auch beide in ihm getäuscht.", sagte Semir irgendwann betreten, und ließ Ben auf der anderen Seite aufschauen. Ihm war der Gedanke auch schon in den Sinn gekommen, Kevin war immer verschlossen und rückte mit Details immer erst raus, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sah. "Wir sind nicht unfehlbar, Ben. Ich würde behaupten dass wir beide eine gute Menschenkenntnis haben. Aber jemand, der sich so sehr verschließt seinen Mitmenschen gegenüber. Vielleicht hatte die Chefin recht, dass sie ihm nicht vertraut hat." Ben seufzte auf bei diesen Gedanken, und fuhr sich durch die wuscheligen Haare. "Du hättest hier sein sollen, als wir ermittelt haben. Er war so locker drauf, so vertraut, ganz anders als im Winter." Die beiden schauten sich für einen Moment an. "Ich will das einfach nicht glauben, dass er auf der anderen Seite steht."



    Drogendezernat - 6:00 Uhr


    Trechsel und Kevin wurden von den Drogenfahndern auf direktem Wege ins Drogendezernat gebracht. Während Bienerts Männer Trechsel in den Verhörraum brachten, schob Bienert selbst Kevin in dessen Büro. Die Büros lagen, anders als auf der PAST, in einer Reihe an einem langen Flur. In Bienerts Büro konnte man nicht hineinsehen, so reichte es, dass er die Tür abschloss, um ungestört zu sein, was er jetzt auch tat. Danach nahm er Kevin die Handschellen ab, der sich abermals die Handgelenke rieb, und sich auf den Stuhl vor Bienerts Schreibtisch niederließ. "Das ist ja wirklich super gelaufen...", brummte der erfahrene Drogenfahnder, als er um den Schreibtisch herumging und sich auf den Chefsessel fallen ließ. "Damit hatte ich nicht gerechnet, dass die ausgerechnet an die Autobahnpolizei einen anonymen Hinweis geben.", meinte Kevin und fühlte sich unwohl. Die Wörter von Ben und Semir, die Blicke von Jenny... all das belastete ihn auf der Rückfahrt hierher. Er hätte ihnen gerne die Wahrheit gesagt. "Das bringt den ganzen Plan durcheinander. Dass Trechsler erwischt wurde, wirft kein gutes Licht auf dich. Es kann sein, dass du nochmal ganz unten anfangen musst, weil sie dir jetzt misstrauen." Der junge Mann auf dem Stuhl schüttelte den Kopf. "Abwarten. Ich kenne Trechsel von früher... ich kann über ihn erzählen, vielleicht macht das den Eindruck, dass ich keinen Freund verraten würde. Ausserdem...", Kevin beugte sich nach vorne zu Bienert... "Wenn noch mehr aus der alten Gang in der Orga drinhängen, komm ich da noch schneller rein, als gedacht."
    Bienert lächelte spitzbübisch. Genau aus diesem Grund hatte er sich über sämtliche Vorschriften hinweggesetzt, den suspendierten Beamten kontaktiert, und ihm dieses Angebot gemacht.


    Doch nach wie vor spürte Kevin Gewissensbisse gegenüber seinen Freunden. Er konnte seine Rolle des ignoranten, arroganten Menschen perfekt spielen, doch abschalten konnte er seine Gefühle nicht. "Wir lassen dich gehen, weil wir sicher sind, dass du nur ein kleiner Fisch bist und ermitteln oberflächlich weiter. Es passiert alles so, wie wir es abgesprochen haben, für den Fall, dass du mal hier sitzt.", sagte Bienert und blätterte in Akten. "Hätten wir Ben und Semir nicht die Wahrheit sagen können?", fragte sein Gegenüber vorsichtig, doch der Drogenfahnder fiel ihm sofort ins Wort. "Nein! Auf gar keinen Fall." "Aber Thomas, die beiden sind Freunde von mir." Er war sich nicht sicher, ob das auch noch nach diesem Morgen der Fall war. "Und sie würden garantiert nicht..." "Ich sagte NEIN!" Kevin verstummte, als die bestimmende Stimme von Bienert lauter wurde. Er war jemand, der sich nicht gerne von Leuten etwas sagen ließ, schon gar nicht wenn jemand wie Bienert nicht mal sein Vorgesetzter war, sondern in diesem Fall eher eine Art Geschäftspartner.
    Der großgewachsene Kommissar strich sich durch die gräulichen Haare, und sah in seiner glattgebügelten Jeans und seinem Jacket modisch modern, aber schick aus, er strahlte eine unheimliche Souveränität und Autorität aus, als er jetzt aufstand und um Kevin herumging. "Ich muss es dir wohl nochmal deutlich machen."


    Er blieb hinter dem jungen Polizisten stehen, der die Stimme genau vernahm. "Von dieser Sache wissen genau zwei Leute Bescheid... Du und ich. Nicht mal der Polizeipräsident weiß etwas.", sagte Bienert mit bestimmender, aber ruhiger Stimme. "Das ist kein Arbeitsverhältnis, das ist ein Deal. Du weißt, dass es um deine Lage bei der Inneren nicht gut aussieht, auch wenn der Leiter jedem was anderes erzählen will." Er sah den jungen Mann von der Seite an, der keinerlei Reaktion zeigte... ob er nun zuhörte oder die Ohren auf Durchzug stelle. "Warum glaubst du, habe ich dir dieses Angebot gemacht, Kevin? Weil ich deine Frisur so ausgeflippt finde?" Kevin drehte den Kopf, mit dieser Frisur, in Richtung seines Gesprächspartners. "Nein.", sagte er mit seiner monoton klingenden Stimme. "Weil kein anderer Undercover-Bulle es auch nur schaffen würde, ein Milligramm Koks bei diesen Händlern zu kaufen, weil sie keine Beziehungen haben, und das Milieu nur aus dem Polizei-Unterricht auskennen." Bienert spitzte die Lippen ein wenig, eine Art schnippisches Lächeln. "Ja, das auch.", gab er zu. "Aber vor allem weil ich nachts nicht schlafen kann, wenn ich weiß dass fähige Polizisten wie du wegen ihrer jugendlichen Vergangenheit stempeln gehen sollen." Kevin fühlte sich geschmeichelt, und das war ihm meist unangenehm. "Die Ausbildung, die du für solche Jobs brauchst, kriegst du nur durch Erfahrung... und am besten Erfahrung auf der anderen Seite. Ex-Kriminelle sind manchmal die besten Polizisten, weil sie alles aus zwei Blickwinkel sehen. Aus dem eines Kriminellen, und aus dem eines Polizisten."


    Der junge Mann spürte, dass Bienert versuchte zu appellieren, warum er Semir und Ben nichts erzählen durfte. "Ich mache das aber vor allem deswegen, weil dieser Drogenring der größte ist, der in Köln operiert und wir schon Jahre ermitteln, aber ausser kleinen Boten niemanden festnehmen können. Und du hast es geschafft in 3 Wochen bis zu Trechsler vorzukommen, und Beweise zu sammeln. Wenn wir diesen Ring sprengen und an den Boss kommen, dann kann ich die ganze Aktion auch vor dem Polizeipräsidenten verantworten, und du...", er zeigte mit dem Finger auf Kevin. "Du kriegst garantiert nochmal eine Chance im Polizeidienst." Nur aus diesem Grund hatte Kevin auch bei dieser Aktion mitgemacht... ein Undercover-Einsatz, der keiner war. Im Prinzip tat er strafrechtliches, er stand nicht unter dem Schutz der Polizei. Bienert war die einzige Bezugsperson, die ihn hier und da mal raushauen konnte. Für alle anderen Beamten war er Freiwild, Bienert hatte ihm dieses Angebot gemacht nachdem er von der Suspendierung mitbekommen hatte und recherchierte, dass einige aus dieser Jugendgang jetzt auch vermutlich in dem Drogenring aktiv waren. Trechsel war der erste Beweis. Das Problem war... würde Kevin in Schwierigkeiten geraten, würde ihm keiner helfen. Bienert hatte nicht alle Macht über die Polizei.


    Kevin wagte noch einen Versuch. "Trotzdem wäre es besser gewesen, Semir und Ben einzuweihen. Die beiden vertrauen mir und ich..." Er stockte kurz... vertraute er ihnen wirklich? "Ob sie dir nach der Aktion heute morgen noch vertrauen...", meinte Bienert misstrauisch. "Und du vertraust ihnen... ich nicht. Ich kenne zwar Semir von früher, aber ich würde nicht meine Hand ins Feuer legen. Haben sie denn wirklich alles für sich behalten, was du erzählt hast?" Kevin schaute Bienert mit festem Blick an. "Dann frag ich mich, wie es zu deiner Suspendierung gekommen ist, hmm?", meinte er ironisch ahnungslos, und ging wieder hinter seinen Schreibtisch, während der jungen Mann stumm zu Boden blickte. "Jetzt wo sie wissen, dass ich wieder da bin, werden sie Kontakt zu mir aufnehmen.", sagte er mit leiser Stimme. "Dann denk dir eine Geschichte aus. Und wenn sie dir nicht glauben, dann nur weil sie denken, du wärst abhängig. Das kannst du widerlegen, weil du keinerlei Drogen besitzt." Wieder schauten die beiden Männer sich an, und der Drogenfahnder verstand an Kevins Blick, dass der nicht begeistert war. "Die Sache darf niemand... ich betone: NIEMAND erfahren. Wenn das rauskommt, bist du deinen Job auf jeden Fall los." "Und du auch...", meinte Kevin frech, und wurde von Bienert mit tadelndem Blick bedacht: "Ich bekomme höchstens ein Disziplinarverfahren, das wars aber auch. Gute Taten in der Vergangenheit werden bei diesem Verein nicht vergessen, Kevin.", sagte der Mann mit einem Hauch Überheblichkeit: "Aber dich kann ich ohne weiteres über die Klinge springen lassen. Also würde ich mir gut überlegen, was ich meinen Freunden sage, wenn ich du wäre." Bienert wurde nun deutlicher, weil er merkte dass Kevin, in seinen Augen, nicht vernünftig wurde. "Und sei vorsichtig. Diesen Ben kenne ich nicht, aber Semir ist mit allen Wassern gewaschen. Eigentlich löblich, wenn du ein gutes Verhältnis zu solch guten Polizisten hast.", sagte er etwas versöhnlicher, als Kevin letztlich nickte.


    Doch bevor der junge Mann von Bienert quasi wieder in die Freiheit entlassen wurde, wurde seine Stimme noch einmal schärfer: "Ich verlasse mich auf dich, mein Junge. Denk dran... es ist deine letzte Chance."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:00 Uhr


    Semir und Ben hatten den Bericht fertig, als die Chefin das Großraumbüro betrat, und allen einen guten Morgen wünschte. Sie hatte ein gutes Gespür für die Stimmung innerhalb der Dienststelle und merkte sofort, dass etwas anders war als sonst. Ihre beiden besten Männer schauten, als hätten sie heute morgen schlechten Kaffee getrunken, Jenny war blass wie eine Wand und nicht mal Hotte konnte sich zu einem freundlichen Lächeln durchringen.
    Den Bericht des nächtlichen Einsatzes fand Anna Engelhardt auf ihrem Schreibtisch. Sie bereitete sich erst einmal eine Tasse Kaffee zu, bevor sie sich an den Schreibtisch setzte und aufmerksam begann zu lesen. Als es interessant wurde, und der Name "Kevin Peters" in dem Bericht auftauchte, blickte die schwarzhaarige Frau mehrmals auf und beobachtete durch die Glasscheibe ihre Mannschaft. "Daher weht der Wind.", murmelte sie und war mehr als erstaunt. Sie las den Bericht zu Ende und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Was war hier wieder los gewesen heute Nacht? Ausgerechnet ein ehemaliger Kollege, der gerade innerdienstliche Probleme wegen Drogen in seiner Jugendzeit hatte wurde beim Pillen kaufen geschnappt? Die Hand der Chefin fuhr zum Telefon und wählte Semirs Durchwahl. "Würden sie bitte mit ihrem Kollegen in meinem Büro erscheinen?", sagte sie katzenfreundlich, und Semir gehorchte.


    Keine 2 Minuten später saßen die beiden Beamten vor dem Schreibtisch der Chefin. Auf lange Erklärungen verzichteten sie, denn der Hergang der Verhaftung stand in dem Bericht. Allerdings stand in dem Bericht nichts von Kevins Verhalten gegenüber den beiden Beamten, ausser dass er keine Aussage machte und schwieg. "Er war völlig verändert.", sagte Semir mit sachlicher Stimme, doch er konnte die Enttäuschung, die menschliche Enttäuschung die er heute morgen erlitten hatte nicht ganz verbergen. "Ein anderer Mensch. Als würde er uns nicht kennen... als wären wir seine Feinde." "Semir, es ist nicht unüblich, dass ein Drogenkäufer die Polizei nicht unbedingt als Freund und Helfer ansieht.", meinte Anna Engelhardt, und blickte ihren besten Mitarbeiter ein wenig treudoof von unten an. "Sie wissen was ich meine, Chefin." Semir wirkte etwas genervt und angespannt. "Warum hat er uns nicht anvertraut. Er hat doch vor 6 Wochen bei ihnen auch die Wahrheit gesagt. Wenn er jetzt wieder reingerutscht ist, warum schweigt er jetzt wieder?" "Es war wirklich unheimlich, Chefin.", schaltete sich jetzt auch Ben ein. "Er saß da, wie ferngesteuert. Er hat keinen Ton gesagt, ausser..." Ben verstummte sofort. Außer, dass er ihn loslassen soll, wollte er sagen, doch dann würde er zugeben gegen den Kollegen handgreiflich geworden zu sein, und das wollte er nicht. "Ausser?", hakte die Chefin sofort nach. "Ausser dass wir beide keine Ahnung hätten.", vollendete Semir und trat seinem Freund unterm Tisch ans Schienbein.
    "Was ist mit einem möglichen Undercover-Einsatz?" "Laut der inneren Abteilung ist Kevin nach wie vor suspendiert, und in der Kartei der verdeckten Ermittler ist er auch nicht.", antwortete Ben auf die Frage der Chefin. Diese nickte nun und bestätigte sich quasi selbst "Suspendierte Beamte dürfen weder in den normalen, noch in den Undercover-Einsatz." Sie blickte in die Gesichter ihrer Mitarbeiter, sie las Ratlosigkeit und Misstrauen. "Sie glauben beide nicht, dass er wieder rückfällig geworden ist?" Die Frage war eher eine Feststellung ihrer Gedanken. Ben antwortete sofort: "Nein. Ich bin mir sicher, dass er nicht rückfällig geworden ist. Sie haben doch gesehen, wie engagiert er dem Mordfall nachgegangen ist vor einigen Wochen." Semir dagegen zuckte mit den Schultern. Er kannte Kevin ebenfalls gut, aber er kannte ihn noch nicht als absolut sicheren Ermittler. Er kannte ihn einerseits als ein drogenabhängiger Polizist auf einem Rachetrip, und er kannte ihn als Entführungsopfer, das sich in eine seiner Geiselnehmerin verliebt hatte. Als wirklich seriösen Ermittler kannte Semir ihn nicht, und so war er sich nicht ganz sicher. "Ich weiß es nicht. Ein Selbstentzug... dann die Suspendierung." Er wollte nicht aussprechen, dass er sich durchaus vorstellen könnte, dass Kevin rückfällig geworden ist, und schaute seinen Freund beinahe entschuldigend an. "Das glaubst du doch nicht im Ernst.", fragte Ben ein wenig fassungslos. "Ben, sei mal ehrlich. Kevin ist äußerlich vielleicht unerschütterlich, aber das er das innerlich lange nicht ist, wissen wir doch beide. Und du hast selbst gesagt, dass er seine Arbeit dringend nötig hat... und die hat er jetzt seit Wochen nicht mehr." Ben schüttelte den Kopf... nein, das konnte einfach nicht sein.


    Die Chefin jedoch hatte einen Einblick in die Gedanken ihrer beiden Beamten. Doch tun konnte sie nichts... der Fall hatte nichts mehr mit ihnen zu tun, der Fall Kevin Peters sowieso nicht. Für sie war dieses Kapitel beendet. "Na gut... dann machen sie sich jetzt wieder an die Arbeit. Sie können wegen des Einsatzes um die Mittagszeit dann frei machen. Sagen sie das auch Herzberger und Frau Dorn." Die beiden Männer nickten, gaben die Info an die beiden Kollegen weiter und gingen in ihr Büro. Ben ließ sich auf den Stuhl fallen und sagte durchatmend: "Ich kann nicht glauben, was du eben gesagt hast." "Ben, ich habe versucht rational zu denken. Ich bin Polizist, ich muss mich an die Fakten halten. Und Fakt ist, dass Kevin noch vor einem Dreiviertel Jahr drogenabhängig war. Fakt ist, dass ihm ohne seine Arbeit die Decke auf den Kopf fällt. Fakt ist, dass er suspendiert ist, was ihm zu schaffen macht und Fakt ist dass er beim Drogenkauf erwischt wurde. Und ebenfalls Fakt ist, dass er in keinem Undercover-Einsatz ist, weil er immer noch suspendiert ist." Ben dachte nicht so rational wie Semir. Er stand Kevin näher, er hat mit ihm zusammengearbeitet und zum ersten Mal waren sie, bis zu dem Zwischenfall im Krankenhaus, ein richtiges Team, und der Polizist spürte wie gut es Kevin ging, wie mental stabil er während den Ermittlungen war, selbst nach Besuchen in der JVA bei Jessy. Trotzdem kam er nicht umhin, wenn er nur eine Sekunde rational nachdachte, so wie Semir, seinem älteren Partner recht zu geben. Es sprach wirklich alles gegen seinen Freund. Trotzdem behielt sein Herz die Oberhand. "Du warst die letzten Wochen, als er mit mir zusammen gearbeitet hat, nicht da.", beharrte er stur und blickte Semir an.
    "Sag mal...", sagte der vorsichtig, um Ben bloß nicht in irgendeiner Form zu verletzen. "Kann es sein, dass deine Sichtweise ein Selbstschutz ist?" Ben spürte, wie sein Schutz ein wenig bröckelte. Er fühlte sich ertappt. "Wie meinst du das?" "Damit meine ich, dass du dir die Schuld gibst... immer noch. Daran, dass Kevin suspendiert ist, und jetzt wieder abhängig." Ben fuhr sich mit den Fingern über die Lippen, als sei er nervös, als säße er in der Schule und der Lehrer hatte ihm gerade eine furchtbar schwere Frage gestellt, die er nicht lösen konnte... und 25 andere Schüler starrten ihn an. Er blickte Semir nicht in die Augen. "Du willst es nicht glauben, weil du dich verantwortlich dafür hälst." Was sollte er seinem Partner Lügen vorspielen. Verdammt ja, er fühlte sich immer noch verantwortlich.


    "Ja, Mann. Ja, du hast recht.", brach es aus Ben heraus, und Semir fühlte sich kein bisschen toll, weil er recht hatte... eher bedrückt. Er hätte ihm noch 100 Mal sagen können, dass Kevin für sein Handeln selbst verantwortlich war, und noch 1000 Mal hätte er ihm sagen können, dass jeder Mensch Fehler macht. Semir war kein Hitzkopf, niemand der jetzt Ben anschrie und sagen würde, wie bescheuert er sei, dass er sich immer noch Gedanken darum machte. Er setzte sich auf seinen Drehstuhl, und blickte den, etwas auf dem Stuhl zusammengesackten Ben an. "Ben... vor 18 Jahren hatte ich meinen ersten Einsatz auf der Autobahn. Ein Massenunfall, 12 Autos hatten sich ineinander verkeilt." Semirs Partner schaute den kleinen Polizisten an, er hing an Semirs Lippen und horchte jedes Wort. "Ein alter Mann wurde aus seinem Wagen geschleudert. Der RTW war noch nicht da, also habe ich erste Hilfe geleistet. Druckverband angelegt, Hand gehalten, geredet. Dem Mann ging es, als der RTW kam wieder richtig gut, er hatte mit mir geflachst, wer von uns beiden wohl mehr Schiss hätte." Semir musste anhand dieser Erinnerung kurz aufschmunzeln, und auch Ben konnte ein kurzes Lächeln nicht verbergen. Das Lächeln erfror aber sofort wieder, als Semir weitererzählte: "Noch im Krankenwagen ist der Mann gestorben." Für kurze Zeit hielt der Polizist inne, und sah aus dem Fenster, sagte dann: "Der erste Mensch, dem ich als Polizist helfe, schaffts nicht." Ben schluckte, als er seinen Freun dabei beobachtete. "Ich hab damals viel darüber nachgedacht, was hab ich falsch gemacht, was hätte ich anders machen können." Die braunen Augen wanderten wieder zu seinem Partner, der versuchte Worte zu finden: "Semir... du hast damals bestimmt...", doch er wurde von seinem Freund unterbrochen. "Ich erzähl dir das nicht, um dir klar zu machen, dass du nix falsch gemacht hast. Da kommst du mit der Zeit ganz alleine drauf." Wieder herrschte für einige Sekunden Stille, als die beiden Freunde sich anblickten, und Ben beinahe gefesselt war von Semirs Geschichte, und der Message, die er rüberbringen wollte. "Aber du sollst einfach wissen, dass du mit solchen Gedanken nicht allein bist. Und dass du immer wieder Entscheidungen triffst, bei denen du später grübelst, ob sie richtig oder falsch waren."


    Ben spürte, wie aufgewühlt er war, als er die Worte seines Partners, seines Freundes hörte, und er war unendlich froh, Semir als Freund zu haben. In Momenten wie diesen wurde ihm das immer wieder klar. So sehr man mit dem kleinen Polizisten Spaß haben konnte, rumflachsen konnte oder sich im Extremfall im Einsatz auf ihn verlassen konnte... nichts war mehr wert als ein Freund, der ein offenes Ohr für seine Sorgen hatte und dann auch noch solchen Rat gab. Er wünschte sich, dass Kevin diesen Rat auch angenommen hätte, das Kevin ebenfalls das Vertrauen in die beiden Freunde gehabt hätte, statt ständig seinen eigenen Weg zu gehen. "Danke...", presste der junge Kommissar hervor und nickte dankbar. Semir lächelte mit seinem typischen "Keine Ursache" - Lächeln.
    "Die Chefin hat recht.", meinte er dann, nachdem wieder ein wenig Stille den Raum erfüllte, und Ben innerlich versuchte, endlich Abstand von den Schuldgefühlen zu bekommen. "Wir sollten das ganze jetzt abhaken. Wir können eh nichts tun." Sein Freund wollte zwar innerlich widersprechen, aber er nickte zustimmend. Sie mussten wirklich ein wenig Abstand bekommen, einige Tage abwarten. Sie wussten ja, dass Kevin wieder im Land ist, und vielleicht würden sie ihn in ein paar Tagen mal besuchen. Jetzt waren die Wunden noch zu frisch. "Du hast wohl recht. Kevin hat diesen Weg gewählt. Wenn er uns nicht vertraut... dann können wir ihm nicht helfen.", sagte Ben, auch wenn ihm diese Worte schrecklich weh taten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Kevin's Wohnung - 20:00 Uhr


    Kevin kam gerade aus der Dusche, er hatte sich eine Jeans angezogen, die mehr als nur abgenutzt war und er öfters zu Hause trug, oder wenn er abends mal alleine wegging. Er hatte die feuchten Haare in alle Richtungen stehen und das Shirt, mit den Bändern am V-Ausschnitt gerade über gezogen. Kalle war bereits in ihrem Club, den sie letzte Woche von Kevins Vater übernommen hatte. Es kam in der Wohnung von Kalle zu einer Auseinandersetzung zwischen Erik Peters und seinem Sohn. Der hatte es seinem Vater nie verziehen, dass er niemals erfahren hatte, wer seine Mutter ist. Sie war, einige Monate nach Kevins Geburt, einfach nicht mehr da. Der junge Mann hatte keinerlei Erinnerungen an sie, Kalle wusste nichts (was Kevin ihr auch glaubte) und sein Vater schwieg darüber beharrlich. Überhaupt hatte der sich nie um seinen Sohn gekümmert, auch nicht um seine Schwester, die eigentlich nur eine Halbschwester war, da sie eine andere Mutter hatte. Aber das interessierte Kevin nie, für ihn war Janine immer die kleine Schwester, auf die er aufpasste. Erik Peters hatte es auch nicht interessiert, als sein Sohn in die Jugendgang und somit in die Drogenhölle abgerutscht ist. Als er hörte, dass Kevin zur Polizei gegangen war, war es für ihn beinahe ein Schock, den zu dieser Zeit war der jetzige Bordell-Besitzer selbst noch Zuhälter.
    Mit einer unbedachten Äusserung hatte der Mann den Wut seines Sohnes auf ihn gelenkt, als dieser sich abfällig mit "Muss ja toll sein, mit meinem Vater Geschäfte zu machen." darüber äusserte, dass Kalle eine Bar in Köln übernommen hatte. Kalle verstand ihren Ziehsohn, sie verstand das schwierige Verhältnis. Sie war jedoch auch pragmatisch und forderte den jungen Mann immer wieder auf, auch mal endlich Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, vor allem da Erik in letzter Zeit häufiger versuchte Kontakt zu Kevin herzustellen, der dies jedoch als Anbiederung verstand. "Ich mache doch keine Geschäfte mit Kalle. Die gehört doch quasi zur Familie." Ein kleines Wort, das in Kevins Seele Eiseskälte auslöste, kam es doch aus dem Munde seines Vaters. "Du redest über Familie??", herrschte er sein Gegenüber an, und kam seinem Vater bedrohlich nahe. Der hatte jedoch, eben wie sein Sohn, die Eigenart verbale Angriffe durch Arroganz und Coolness abzublocken. "Sie hat sich doch auch immer so gut um dich gekümmert.", sagte er unverfroren und traf bei Kevin wunde Punkte. Es fehlte nicht viel, und Kevin hätte seinen eigenen Vater niedergeschlagen, nur aus Rücksicht vor Kalle schaffte er es, sich zu beherrschen. Er verließ die Wohnung und ertränkte seinen Frust...


    An diese Auseinandersetzung musste er kurz denken, als er aus dem Fenster blickte, und in den bereits sehr weit verdunkelten Abendhimmel blickte. Er würde heute abend in eine Kneipe gehen, die früher ein Treffpunkt seiner Gang gewesen war. Er hoffte, vielleicht den ein oder anderen zu treffen, der jetzt in diesem Geflecht von Drogendealern mit drin hing. Doch scheinbar kam vorher noch eine andere Herausforderung auf ihn zu, die er unter den Straßenlaternen erkannte. Sie war ungefähr 1m75 groß, hatte dunkelbraune Haare die sie ausnahmsweise offen statt als Pferdeschwanz trug und schritt schnurstraks mit selbstbewussten Schritten auf Kevins Haustür zu. Noch bevor es klingelte versuchte der sich zu entscheiden, ob er die Türklingel ignorieren sollte, oder sich der Konfrontation zu stellen. Er wusste, er würde verlieren... vor Jenny würde er es einfach nicht übers Herz bringen, sich als schweigsamer Arroganzbolzen darzustellen, und sie so lange mit Ignoranz zu strafen, bis sie die Geduld verlor. Trotzdem entschied er sich, die Tür zu öffnen, als es läutete.
    Jenny blickte den Mann aus ihren grünen Augen an, als dieser die Tür öffnete. Ihr Gesicht strahlte Selbstbewusstsein aus, dass sie sich auf dem Weg zu dieser Adresse mühevoll eingeredet hatte. Die Gedanken um den jungen Mann ließen sie den kompletten Dienst nicht mehr los, und bevor sie heute abend auf eine, von der Polizei ausgerichtete Veranstaltung ging, wollte sie zu ihm. Sie würde sich nicht mit Schweigen abspeisen lassen, sie würde nicht vor ihm zusammenbrechen oder aufgeben. Sie wollte eine Antwort... auf sein Verhalten, auf diesen Deal. "Hey.", sagte Kevin und trat noch vor der Begrüßung bei Seite, um Jenny herein zu lassen. Auch von ihr kam nur ein kurzes "Hallo", bevor sie sich den Weg an dem Mann vorbei ins Wohnzimmer bahnte.


    "Setz dich. Möchtest du was trinken?" Kevin sprach, als sei es das normalste auf der Welt, dass Jenny ihn besuchen kam, und nicht als ob er heute Nacht von ihr festgenommen wurde. Jenny ging darauf auch gar nicht ein, und blieb mitten im Zimmer stehen. Sie blickte den Mann, den sie heute Nacht beinahe über den Haufen gefahren hatte, fest an. "Was war das heute Morgen?", war ihre mahnende Frage. Kevin blieb vor dem Küchenschrank mit den Gläsern stehen, und drehte sich wieder um zu seiner Kollegin, bevor er den Schrank geöffnet hatte. Ihre Blicke trafen sich, Kevin erinnerte sich an Bienerts Worte. "Das hast du doch gesehen." Völlige Ruhe in seinen Worten, die Jenny allerdings erstmal kalt ließen. "Du hast Drogen gekauft. Warum? Bist du abhängig?", bohrte die Polizistin mit selbstsicherer Stimme weiter, die Kevin überraschte. Er schüttelte sofort den Kopf, und er meinte zu sehen, wie Jenny erleichtert auf atmete. "Ich habe sie für einen Freund gekauft. Er kann sich bei den Typen nicht mehr blicken lassen." "Aber du bist Polizist? Wie kannst du sowas tun?" Jennys selbstsicherer Ausdruck im Gesicht wich ein wenig Fassungslosigkeit. "Weil ich die Typen kenne. Und weil ich...", er redete nicht weiter. Verdammt, er wollte doch nicht über seine Vergangenheit reden, auch wenn die Chefin eh alles wusste... und vermutlich auch die gesamte Dienststelle, weshalb er Jenny ein wenig ärgerlich ansah: "Wieso fragst du mich das? Du weißt es doch sowieso." Die junge Frau prallte ein wenig überrascht zurück. "Was soll ich wissen?" Die Ratlosigkeit in ihrer Stimme war echt. Anna Engelhardt hatte von Kevins Geständnis kein Wort nach draussen dringen lassen, Ben hatte im Krankenhaus nichts erzählt. "Weshalb ich suspendiert bin. Was ich mit Drogen zu tun hab." Ein Kribbeln in Jennys Bauch entwickelte sich zu Übelkeit, der Ausdruck in Kevins Blick war abweisend und kalt, auch wenn er die junge Frau wenigstens nicht anschwieg. Trotzdem empfand sie die Atmosphäre zu dem Mann als feindseelig, der ihr vor Wochen am Krankenbett noch so gut tat. Sie schüttelte den Kopf. "Nein... ich weiß nichts. Ich weiß nur, dass du wegen deiner Vergangenheit suspendiert wurdest. Und ich weiß, dass du eine Vergangenheit hast, über die du mit mir reden wolltest, wenn es mir besser geht." Kevin erinnerte sich, dass er das zu ihr im Krankenhaus gesagt hatte, und sein ablehnender Ausdruck in den Augen verschwand, seine Fassade um sein Innerstes bröckelte schnell. Jenny ging einige Schritte zurück, um sich auf das Sofa im Wohnraum zu setzen. "Jetzt geht es mir besser." Es war eine Aufforderung.


    Kevin und Jenny standen sich vor wenigen Sekunden gegenüber, wie bei einem Tanz. Jeder Satz war wie ein Schritt, ein Spielzug auf den der andere antworten musste. Doch jetzt verließ Jenny die Tanzfläche einfach und ließ Kevin damit stürzen. Sie überließ ihm Feld und Wort, und Kevin glaubte ihr sofort, dass sie nichts wusste, sonst hätte sie ihn darauf angesprochen. Aber er wollte nicht alleine auf der Tanzfläche stehen, und so setzte er sich zu Jenny aufs Sofa, die ihren Blick und ihre Aufmerksamkeit voll auf ihn richtete. "Ich bin suspendiert, wegen meiner Jugendzeit. Ich war in einer Jugendgang, ich habe gedealt und eingebrochen. Und weil Ben einen ungünstigen Satz während eines Streites gesagt hat, ist die Chefin darauf aufmerksam geworden. Ihr habe ich dann alles erzählt, weil ich das Versteckspiel satt hatte, und sie..." für einen Moment stockte der suspendierte Polizist kurz. "Sie hat dann nur ihre Arbeit getan." "Ben hat mir das mit dem unbedachten Satz über deine Vergangenheit erzählt... aber nichts über die Vergangenheit selbst. Er hat gemeint, das solltest du mir selbst sagen." Kevin nickte dankbar und rechnete es seinem ehemaligen Kollegen Ben hoch an, nichts erzählt zu haben... auch wenn der sein Vertrauen vorher schon gebrochen hatte. "Bist du deswegen abgehauen?" Wieder nickte der Polizist, der Widerstand vollkommen gebrochen und auch wenn er Jenny an seinem Seelenleben noch nicht teilhaben lassen wollte... die Tür hatte die junge Frau bereits geöffnet.
    Doch noch etwas brannte Jenny auf dem Herzen, auf der Seele. Etwas, was sie schon lange mit sich herumschleppte, worauf Hotte sie schon einmal angesprochen hatte, und was sich tief in ihre Seele gebrannt hatte, als Kevin über ihr kniete, als sie angeschossen wurde. "Und was hast du mir damals gesagt, als ich angeschossen wurde. Wie hast du das gemeint?" Sie fand, es war jetzt der richtige Zeitpunkt, endlich mehr über Kevin zu erfahren. Sie spürte, wie zaghaft er sich öffnete, wie wenig Widerstand der junge Mann ihr entgegenbrachte. Sie fühlte sich zu Kevin hingezogen, von diesem geheimnisvollen verschlossenen Kerl, bei dem es ein Abenteuer war ihn vorsichtig zu erkunden. Als er erstmal schwieg, überwand sie die letzte emotionale Mauer zwischen ihnen, als sie ein hochsensibles Thema ansprach. "Hat... hat es was mit... mit deiner Schwester zu tun?", fragte sie zaghaft und erschrak kurz, als sich Kevins Blick sofort auf sie richtete. "Wer hat dir das erzählt?", fragte er sofort mit Misstrauen in der Stimme. Eine Berührung von Jennys Hand auf seinem Knie und einem leisen: "Ist das jetzt noch wichtig?" ließ ihn den Vorwurf und den Ärger vergessen.


    Wie ein Film, der vor seinem inneren Auge ablief, immer und immer wieder, kam es ihm vor, als er langsam mit leiser Stimme erzählte. Seine sonst so selbstsichere Art war wie weggeblasen, und Jenny hing an seinen Lippen. "Ich war gerade 18 geworden, wir hatten in einem Club gefeiert, und ich war betrunken." Jenny konnte sofort heraushören, dass er sich Vorwürfe machte, bevor er überhaupt erzählte was passierte. Grob wusste sie es ja bereits von Hotte Herzberger. "Janine, meine Schwester, war dabei. Ich wollte sie um 12 nach Hause bringen, und wir wurden überfallen." Unbewusst begann Kevin an seinem Unterarm zu kratzen, was er immer tat, wenn er sich an diese Nacht erinnerte. In schlimmen Zeiten sah er aus, als hätte er eine Allergie. "Drei Typen. Sie haben mich hinterrücks niedergestochen, dann sind sie über Janine hergefallen. Ich konnte mich nicht bewegen, so wie du, als du angeschossen wurdest." Die junge Frau bemerkte jetzt erst, was sie, ungewollt, durch ihre Worte im Krankenhaus ausgelöst hatte. "Sie haben sie vor meinen Augen umgebracht, und ich konnte nichts dagegen tun." Atemlos hörte die junge Kollegin Kevin zu, ihre Hand ruhte immer noch auf seinem Knie, und ihre Augen waren traurig... nicht mitleidend sondern einfach nur traurig. Sie wollte auch gar nichts darüber wissen, wie er den Mörder dann geschnappt hatte, oder welches Gefühl es war... sie konnte sich das einfach nicht vorstellen, aber sie wusste nun, was Kevin durchgemacht hatte. "Ich habe damals den Menschen verloren, der mir sehr nahe stand. Und daran hatte ich mich vor der Dienststelle erinnert. Und deswegen hatte ich gesagt 'Bitte nicht schon wieder'" Die Worte trafen Jenny mitten ins Herz, jedoch nicht negativ. Kevin hatte sich an den Menschen erinnert, der ihr sehr nahe stand und das mit Jenny assoziert. Empfand er, dass er Jenny nahe stand? Gefiel ihr das, oder nicht? Verdammt, natürlich gefiel ihr das, aber seine Worte kamen so ehrlich und überraschend, dass sie erst einmal schlucken musste. Sie stand noch sehr unter dem Eindruck dessen, was Kevin erlebt hatte, was ihn vielleicht auch geprägt hatte.


    Für einen kurzen Moment herrschte Stille im Wohnraum, nur der Straßenverkehr rollte draussen brummend vorbei. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du verreist?", fragte Jenny, um die unangenehme Stille ein wenig zu durchbrechen. Sie wagte es irgendwie nicht, Kevin in den Arm zu nehmen, auch wenn das Verlangen wuchs und die emotionale Hemmschwelle weiter zusammenschmolz. "Ich weiß es nicht.", sagte der Polizist mit beinahe tonloser Stimme. Jenny wusste es... Vertrauen. "Warum fällt es dir so schwer, anderen zu vertrauen? Mir... Semir, Ben." Der Mann sah Jenny nicht an, er suche einen fiktiven Punkt, den er anvisieren konnte, als würde er eine Antwort danach suchen. "Ein Mitglied aus der Gang... der... bei dem ich gedacht hatte, er sei ein Freund. Ein Freund, dem ich auch ausserhalb der Gang vertrauen kann, und ihn deshalb eingeladen hatte." Jenny war das Gefühl, sie sei der Antwort ganz nahe. "Er hatte den Kerlen den Tipp gegeben, dass ich ziemlich hacke war an dem Abend... und die Gelegenheit günstig sei, wenn sie mich fertig machen wollen."
    Sein Blick ging zurück zu Jennys Gesicht, die ein wenig näher an Kevin heranrückte. Ihre Hemmschwelle schmolz weiter, sie hatte ein unendliches Verlangen Kevin irgendeine Geste des Trostes zu geben, vermischt mit einem Gefühl von Faszination und Anziehung zu diesem Kerl. Und auch der spürte eine Verbindung zu Jenny, die auf einer ganz anderen Ebene statt fand, als die Verbindung zu Semir und Ben, oder auch zu Jessy. Die fühlte sich freundschaftlich, brüderlich, geschwisterlich an... doch zu Jenny war das Gefühl ein anderes. Ein Gefühl, dass er sich selbst schon lange nicht mehr zutraute. Leise sagte er: "Ich schaffe es einfach nicht, jemandem zu vertrauen. Jemandem etwas anzuvertrauen, sicher zu sein, dass er es für sich behält. Ben hatte es sicher nicht absichtlich gemacht, aber es war ein Vertrauensbruch. Manchmal" Er seufzte kurz auf: "Manchmal ist das verdammt hinderlich in einer Beziehung zu anderen Menschen. Wenn man sich selbst nicht vertraut."


    Er rückte ein wenig von Jenny ab, als er ihren traurigen Blick sah, ihre Hand rutschte von Kevins Knie und als wolle er sie vor ihm schützen meinte er leise: "Meine Seele ist kalt, geh weg von ihr." Er war nicht der stützende Pfeiler, der er immer sein wollte... er brauchte jetzt einen. Jenny schüttelte sofort den Kopf, holte die Distanz auf dem Sofa zu Kevin sofort wieder auf und beugte sich zu ihm. Ihre letzte Hemmschwelle fiel, sie legte dem Mann neben ihr eine Hand auf die pochende Brust und sagte leise: "Nein... " Beide schauten sich tief in die Augen, und Jenny bildete sich ein, sie könne bei Kevins Blau in den Ozean blicken und darin versinken, als sie fortfuhr: "Ich bin jetzt hier bei dir. Und ich geb dir etwas von meiner Wärme ab." Dann beugte sie sich nach vorne zu dem Mann, der ihr seit Wochen keine Ruhe ließ, und ihre Lippen drückten sich aufeinander.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 2:00 Uhr


    Sie hatte sich zusammengerissen, bis sie endlich in ihrer Wohnung war, doch hier ließ Jenny alles raus. Mit dem Kopf über der Toilettenschüssel erbrach sie das Abendessen, das sie auf der Polizeiveranstaltung gegessen hatte, das eine Sektglas, das sie getrunken hatte. Schnell atmend stolperte sie zitternd zurück und setzte sich an die gegenüberliegende Wand des Badezimmers, ihr Körper zitterte. Sie fühlte sich elend, sie spürte die stechenden Schmerzen im Unterleib und an den Handgelenken. Sie hatte diesen netten Mann auf der Party kennengelernt, sich ungezwungen und nett mit ihm unterhalten. Die Ablenkung von Kevins dunklen Gedanken tat ihr sichtlich gut, auch wenn das Ende ihres Gespräches unglaublich schön gewesen war, und sie eigentlich mit einem guten Gefühl von ihm wegging. Sie hatte angeboten, Mark Schneider nach Hause zu fahren, weil er zuviel getrunken hatte, obwohl er ihr nicht betrunken vorkam. Er hatte ihr vor dem Haus noch einen Kaffee angeboten, und Jenny fand den jungen Mann so sympathisch, dass sie spontan zugestimmt hatte. Sie war ja vollkommen nüchtern, und absolut Herr ihrer Sinne, falls er eine bestimmte Absicht gehabt hätte, doch es war trotzdem ein Fehler.


    Jenny hatte keine Ahnung, wie lange sie im dunklen Badezimmer an der Wand saß. Plötzlich spürte sie einen Drang, diese Klamotten los zu werden. Sie riss sie beinahe panisch vom Leib, sie fühlte sich dreckig und schmutzig. Ihr Atem wurde wieder schneller, als sie Hose, Bluse und Unterwäsche in den Wäschekorb steckte und dann zur Dusche stürzte. Das Wasser war zuerst eiskalt, wurde dann wärmer bis es schließlich heiß wurde, doch die junge Frau spürte keinen Unterschied auf ihrer Haut. Alles fühlte sich taub und berührungslos an, als das Wasser an ihren Armen, ihren Hüften und ihren Beinen herunterlief, ihr Körper zitterte unaufhörlich obwohl das Wasser nun wirklich extrem heiß war. Sie konnte nicht stehen, ihr Körper zwang sie, sich wieder hinzusetzen, ihr war übel und alles was sie fühlte war Schmerzen und Abscheu. Die Beine an den Leib gezogen, die Arme um die Knie geschlungen machte sich Jenny so klein, wie sie konnte, als würde sie sich vor etwas verstecken, was sie im Badezimmer entdecken konnte. Zwischen dem Rauschen des Wassers erklang das Geräusch ihres zittrigen Atems und vereinzelten Schluchzern, ihre Tränen vermischten sich mit dem heißen Duschwasser, dass über ihren Körper rieselte. Trotzdem hatte sie den Eindruck, als hafte Schmutz an ihr, denn sie mit einfachem Wasser nicht wegbekam. Die junge Polizistin machte sich noch kleiner, in dem sie den Kopf auf die verschränkten Arme lag, und die Welt um sie herum versank in einem Wasserrauschen, in Dunkelheit. Nur der Mond schaute zum Badezimmerfenster hinein und sah eine verängstigte junge Frau, die in sich gekauert in der Dusche saß.



    Dienststelle - 8:30 Uhr


    Heute sollte es eigentlich ein geregelter Arbeitstag für die beiden Autobahnpolizisten werden. Wie immer brachte einer der beiden Schokocrossaints vom Bäcker mit, während der andere bereits den Kaffee fertig hatte. Heute war Ben an der Reihe, das Frühstück zu besorgen und wie immer hatte er Riesenportionen dabei. "Du willst mich irgendwann auch mästen, oder?", fragte ihn Semir regelmäßig und schlug sich mit der flachen Hand auf den Bauch. "Das ist nur ein Ansporn, damit du regelmäßig Sport treibst.", behauptete sein Freund und teilte auch an seine Kollegen Hotte, Bonrath, Andrea und Jenny, die allerdings noch nicht da war, Crossaints aus. "Mach dir nichts draus, Semir. Auch mit etwas runder Figur kann man bei der Autobahnpolizei Karriere machen.", frozelte der lange Dieter Bonrath und machte eine eindeutige Handbewegegung auf seinen langjährigen Partner und besten Freund, Hotte Herzberger der figurlich nun wirklich nicht dem Prototypen eines Beamten entsprach, der öfters mal "aktiv" werden muss. "Was heißt denn hier rund?", brüstete sich der nun, übertrieben gekünselt und selbstironisch, während er seinen mächtigen Bauch mit beiden Händen umfasste. Herzberger hatte genug Humor und Selbsteinschätzung, dass er wusste, dass kein Polizeiarzt ihn zum Dienst weiter zu lassen würde, wenn er nicht nur noch zwei Jahre zu absolvieren hätte. Er war ein verdienstvoller Beamter, er trat allerdings schon etwas kürzer und arbeitete Jenny Dorn als seine Nachfolgerin ein. Trotzdem war er immer noch auf Zack, und vor allem der nächtliche Einsatz hat ihm im Prinzip großen Spaß gemacht, wenn es nicht gerade Kevin gewesen wäre, den sie festgenommen hatten.


    Erst eine Vierstelstunde später kam Jenny in das Großraumbüro. Allen im Raum fiel sofort ihre Blässe im Gesicht auf, die Augenringe und ihr ernster bis trauriger Gesichtsausdruck. Nur ein zaghaftes "Morgen!", kam ihr über die Lippen, bevor sie sich auf ihren Stuhl niederließ. Die anderen grüßten ebenfalls, jedoch ebenfalls mit sorgenvollen Mienen. Andrea war die erste, die ihr über die Schulter strich und Semir sprach aus, was alle dachten: "Knabberst du noch an gestern Morgen?" Scheu, beinahe schreckhaft blickte Jenny auf zu ihrem älteren Kollegen und nickte ein wenig. Sie war fast dankbar, dass sie eine Ausrede für ihren äusserlichen Zustand hatte ohne erzählen zu müssen, was ihr letzte Nacht geschehen ist. Semir lächelte vertrauensvoll und nickte: "Mach dir keine Sorgen. Das wird sich bestimmt alles aufklären." Er wollte Jenny ein wenig die Sorgenfalten aus dem Gesicht nehmen, auch wenn er wusste, dass sie in der Sache erst mal nicht mehr aktiv werden. Kevin hatte alle Hilfe, durch sein Schweigen und sein arrogantes Verhalten verweigert. Selbst Ben, der sich nur schwer damit abfinden konnte, hatte Semir zugestimmt, dass sie nichts tun würden, um Licht ins Dunkel zu bringen. Sie waren sich aber sicher, dass der junge Kollege bald wieder von sich reden lassen würde, wenn er wirklich zurück in die Drogenszene gerutscht war. Sie wollten die Meldungen vom Drogendezernat genauer beobachten.


    Ausserdem hatte vor allem Ben vor Wochen schon gemerkt, dass es zwischen Jenny und Kevin gefunkt haben könnte, hatte seine Beobachtungen auch Semir mitgeteilt. Der konnte dies nach letztem Morgen bestätigen, als er Jenny gestern Morgen beobachtete, wie sie auf Kevins Aktion reagiert hatte. Jetzt saß sie da, blass und verschreckt und nickte nur stumm, als Semir seine beruhigenden Worte sprach. Ihr Gesicht hellte aber nicht auf, auch ihr Ausdruck in den Augen änderte sich nicht. Andrea vermutete dagegen, dass ihre Stimmung nicht alleine durch Kevins Verhaftung so düster war...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 11:00 Uhr


    Das Wetter glich sich der Stimmung in der Dienststelle, seit Jenny gekommen war, sehr an. Der Himmel war wolkenverhangen, es war windig aber angenehm war. Semir und Ben waren auf dem Weg zurück von ihrer zweiten Tagestour. Keine Geschwindigkeitsübertretung, kein Drängler, kein verdächtiger LKW... scheinbar wollte sich heute niemand mit den beiden Autobahnpolizisten anlegen. Ben drückte an seinem Smartphone herum, während Semir den BMW steuerte. Der Polizist mit dem wuscheligen Haar versuchte in den letzten Stunden häufiger mal Kevin eine Nachricht zu schreiben, er sah auch dass Kevin sie las, aber eine Antwort kam nicht. Es frustrierte den Polizisten, der einfach nicht damit abschließen wollte, dass sein Freund zurück unter die Dealer gegangen ist... ausgerechnet nach seiner unbedachten Äusserung.
    "Jenny sah nicht gut aus eben...", sagte Semir leise, der sich mehr Sorgen um seine junge Kollegin machte, als um das männliche Gegenstück. Ben nickte. "Scheint sie wirklich mehr mitgenommen zu haben.", meinte er während er kurz aus dem Seitenfenster sah und es langsam zu nieseln anfing. "Ja. Hatten die beiden vielleicht doch mal was miteinander?" Der Hauptkommissar auf dem Beifahrersitz schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht. Auch wenn es vielleicht ein wenig gefunkt hat, aber...", er stockte kurz, als würde er nochmal kurz überlegen wollen. "Kevin ist doch gar nicht ihr Typ... oder? Ich hab den Eindruck, Jenny wünscht sich etwas sicheres." Ganz überzeugt klang Ben selbst nicht. "Hmm...", auch Semir schien zu überlegen. "Sicher ist bei Kevin, dass nichts sicher ist." Das ließ die beiden Männer kurz schmunzeln, auch wenn es eine bittere Wahrheit war.
    Der Tag verlief weiterhin ruhig, zumindest für Ben und Semir. Als sie zu Mittag in die Dienststelle zurückkehrten, hielten sie Ausschau nach Jenny, doch die war erstmal nicht zu sehen. Später kam sie von der Toilette, und ihr Gesicht war noch blasser als zuvor. Semir fragte, ob sie nicht lieber nach Hause gehen wolle, wenn es ihr nicht gut ging, doch die junge Kollegin verneinte.



    Jenny's Wohnung - 2:00 Uhr nachts


    Jenny hatte tapfer durchgehalten. Ihre Kollegen glaubten, ihr hinge die Begegnung mit Kevin nach, und wenn man nicht wusste, was wirklich mit ihr los war, war diese Annahme vielleicht sogar berechtigt. Aber es hatte andere Gründe. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren, sie war müde, sie hatte Schmerzen. Sie hatte sich um die Mittagszeit noch zweimal auf der Toilette erbrochen, sich aber nichts anmerken lassen. Die Chefin, Anna Engelhardt, erkundigte sich zweimal, wie auch Semir nach ihr, ob sie nicht lieber nach Hause gehen wolle, aber die junge Frau wollte kein Mitleid. Zumindest besass ihre Chefin soviel Weitsicht, dass sie Jenny heute nicht zum Streifendienst einteilte, sondern reinen Bürodienst schob. Auf Streife fuhren Bonrath und Hotte gemeinsam, und Jenny konnte ihm sicheren Büro bleiben.
    Als sie nach Hause kam, hatte sie weder Hunger noch Durst. Sie duschte nochmal und wusch sich so gründlich, als könne sie damit Erinnerungen aus ihrem Kopf abwaschen, als sei ihr Körper immer noch schmutzig von der letzten Nacht. Dann schlief sie auf der Couch ein und wurde um 2 Uhr erneut wach. Es war mittlerweile dunkel, und Jennys Körper begann unweigerlich zu zittern.


    In ihr stieg plötzlich Angst auf. Angst vor der Dunkelheit, als sie sich langsam zum Lichtschalter vortastete. Das warme Licht der Deckenleuchte in ihrem Wohnzimmer verjagte die Angst nur wenig, denn die Fenster nach draussen gähnten sie schwarz an. Ihr Herz schlug schneller, und sie hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass sie jemand durch jedes Fenster ihrer Wohnung beobachtete.
    Sie schaltete den Fernseher an, und versuchte dadurch ihre Angst ein wenig zu verjagen, doch es half nichts. Sie saß nicht still, ihr Zittern ging durch den ganzen Körper und sie hockte irgendwann wieder zusammengekauert auf der Couch, als würde sich die Polizistin vor irgendjemandem verstecken. Jenny hielt es einfach nicht mehr aus, diese unsichtbare Angst hatte sie fest im Griff.


    Jenny griff zum Handy und wählte eine Nummer. Der Freizeichenton wich dem Klingeln, sie spürte, dass sie ihre Hand am Ohr nicht ruhig halten konnte, und dass ihr Herz fest und schnell gegen ihre Brust schlug. "Ja...", klang eine verschlafene, monoton klingende Stimme auf der anderen Seite, und Jenny stiegen sofort Tränen in die Augen, als sie diese so vertraute Stimme hörte. "Kevin.... bist... bist du wach?" Der Mann am anderen Ende hörte sofort aus diesen vier Wörtern, dass mit der Frau, die gestern abend bei ihm war, etwas nicht in Ordnung ist. "Jenny? Ist alles okay?" Ein lautes Schluchzen klang durch den Hörer und Kevin zog es den Magen zusammen. Was war passiert? Warum weinte sie. Ihre Stimme zitterte: "Kannst... kannst du vielleicht... vielleicht zu mir kommen. Ich... ich halte es hier nicht alleine aus."
    Kevin antwortete instinktiv. Natürlich hätte er gerne sofort gewusst, was mit Jenny los war, aber er spürte, dass sie jetzt vor allem eins brauchte... jemanden bei ihr in der Wohnung. Er spürte die Angst durch die Leitung kriechen, und er wusste, dass Jenny mit einem Gespräch jetzt erstmal nicht geholfen war. "Ich bin in 10 Minuten bei dir.", versprach er und war schon in Bewegung, um sich anzuziehen.


    Der ehemalige Polizist hielt Wort. Gerade mal 9 Minuten später war Kevin durch die leeren Straßen geheizt und klingelte an der Tür von Jennys Wohnung. Über die Sprechanlage kam ein ängstliches "Wer ist da?", und die Polizistin erkannte sofort Kevins Stimme und ließ ihn hinein. An der Wohnungstür wartete ein zitterndes, tränenüberströmtes Nervenbündel auf den jungen Polizisten. Jenny schien sich am Türrahmen fest zu klammern, als würde sie ohne ihn umfallen. Kevin blickte erschrocken, beinahe fassungslos auf die blasse Frau, die gestern abend bei ihm noch so viel Selbstsicherheit gezeigt hatte, als sie ohne Mühe seinen Schutzwall durchbrochen hatte und tief in seine Seele stieß.
    Jenny ließ ihren Kollegen in die Wohnung und schloß leise die Tür, in ihr regte sich Unbehagen. Sie würde doch nicht wieder einen Fehler begehen? Nein, sie vertraute Kevin. Sie vertraute ihm so sehr, und sie konnte nicht mal sagen, warum genau sie ihm vertraute. Es war eine Verbindung, die zwischen ihm und Jenny bestand, die sie vertrauen ließ. Sie blieb mit dem Rücken an der Tür stehen und die beiden sahen sich kurz an. "Was ist passiert?", fragte der suspendierte Polizist und konnte das Zittern an ihrem kompletten Körper sehen, wie Jenny gegen die Tränen anzukämpfen versuchte und dabei kläglich scheiterte. Nicht nur das, sie ließ ihren Gefühlen nach dem heutigen Tag endlich freien Lauf und begann hemmungslos zu schluchzen, als sie den jungen Mann erschöpft ansah und sich immer noch am Türrahmen festhielt. Sie versuchte etwas zu sagen, doch ihr Kopf funktionierte nicht richtig, sie wollte Kevin umarmen, doch stattdessen schien ihr Körper zurück zu weichen, als der junge Mann einen kleinen Schritt auf sie zuging. "Jenny...", sagte er leise und nahm sanft ihre Hand, was die bessere Variante war, ohne sie durch eine Umarmung einzuengen. "Du hast gesagt, dass du da bist und mir deine Wärme gibst.", erinnerte er sie an gestern. "Jetzt bin ich da... was ist passiert?" Er spürte, dass Jennys Hand eiskalt, und trotzdem feucht war, und wie sehr die Muskeln und Nerven in ihrem ganzen Körper vibrierten als Tränenbäche ihre Wangen herunterliefen, und sie endlich Worte aus sich herausbekam. "Er... er... hat mich... er hat mich vergewaltigt." Danach konnte sie sich endlich überwinden und fiel quasi mit dem Kopf gegen Kevins Brust. Der wiederrum hatte das Gefühl, als würde sein Herz einen Moment aussetzen, und er war unfähig, den Arm um seine schluchzende Kollegin zu legen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 3:00 Uhr


    Es dauerte ein wenig, bis Jenny sich beruhigt hatte. Sie wurde, als sie Kevin die Vergewaltigung gestand, nachdem dieser sofort zu ihr geeilt war, von einem Weinkrampf geschüttelt, der es ihr unmöglich machte, auch nur einen zusammenhängenden Satz hervor zu bringen. Immer wenn sie etwas sagen wollte, kamen nur Schluchzer, und weitere Tränenbäche. Kevin hatte sich von seiner beinahe unbändigen Wut erst mal nichts anmerken lassen, hatte einen Arm um Jenny gelegt, sanft um sie nicht bedrängen. Hatte sie einfach nur festgehalten, während sie weinte um sie dann langsam zu ihrer Couch mit der Wolldecke zu geleiten. Jenny legte sich auf die Couch, sie fühlte sich unendlich müde, aufgewühlt aber auch unter Schutz und nicht mehr ängstlich. Sie war froh, nachdem sie ihre Gefühle den ganzen Tag mehr schlecht als recht verborgen hatte, endlich alle Barrieren fallen lassen zu können, nachdem sie Kevin vor sich stehen gesehen hatte. Als sie sich langsam auf das Sofa legte, den Kopf dicht an Kevins Brust gedrängt der weiter sanft einen Arm um sie gelegt hielt... es fühlte sich beschützend an, nicht bedrängend. Der Polizist hatte Angst, dass Jenny Angst bekommen könnte, wenn er sie schützte und umarmte, aber die junge Frau konnte unterscheiden, und Kevins Arm fühlte sich nicht bedrohlich, sondern angenehm an. Ihr Schluchzen wurde leiser, und irgendwann blickten die wässrigen, glasigen Augen über Kevins Brust durch das dunkle Zimmer, das nur von einer kleinen Stehlampe erleuchtet wurde. Kevins Finger strichen ihr durch die Haare, er hatte keine Fragen gestellt, sondern einfach nur wenige Worte gesagt, er hatte sie erst einmal weinen lassen, denn er wusste aus eigener Erfahrung, dass Weinen manchmal das beste Ventil war.


    Erst jetzt wagte er, etwas zu sagen, er sagte es mit vorsichtiger, beinahe untypisch scheuer Stimme. Man merkte ihm an, dass ihm die Situation nahe ging, und es ihm schwer fiel, seine Wut und seine Ohnmacht nicht zu zeigen. "Du... du musst dich morgen untersuchen lassen.", sagte er mit leiser Stimme und konnte nur ein kaum merkliches Nicken an seiner Brust vernehmen. Jenny hatte daran auch schon gedacht, sie hatte die Pille für danach genommen, war sich aber nicht sicher dass sie gewirkt hatte, nachdem sie mehrmals erbrochen hatte. Allerdings hatte der Typ ein Kondom benutzt, es war mehr eine Vorsichtsmaßnahme. Die junge Frau konnte das Heben und Senken von Kevins Brust spüren, war jedoch mit sich selbst so sehr beschäftigt dass sie nicht merkte, wie schnell Kevins Herz in seiner Brust schlug.
    Ohne dass er fragen musste, find Jenny an langsam und zaghaft zu erzählen. Manchmal stockte sie, manchmal musste sie nochmal aufschluchzen. Sie hatte sich am Abend mit dem Kerl unterhalten, er hatte getrunken, und wollte nicht mehr fahren, obwohl er nüchtern wirkte. Jenny bot an, ihn mitzunehmen und ging fatalerweise mit ihm hinauf. Wenn Kevin nach dem "Warum" gefragt hätte... Jenny hätte ihm keine Antwort geben können. Warum sie nicht daran gedacht hatte, was sie gelernt hatte? Warum sie mitten in der Nacht zu einem Kaffee hinaufging, obwohl sie keinerlei Absichten verfolgte, schon gar nicht nach der kurzen Begegnung mit Kevin. Aber der fragte nicht... er hörte einfach nur zu, strich Jenny immer wieder beruhigend und gleichzeitig ermutigend über den Kopf und durchs Haar. Plötzlich sei er zudringlich geworden... er entwickelte eine unbändige Kraft, gegen die sie sich nicht wehren konnte, zu unerwartet fiel er über die junge Frau her. Mehr konnte sie nicht erzählen, die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen, und ihr Körper begann erneut zu zittern. "Ist schon gut... jetzt passiert dir nichts mehr.", redete Kevin ihr ruhig zu, und fühlte sich jetzt wieder als der Fels in der Brandung, der er immer sein wollte, und der er für seine Schwester immer war. Allerdings wünschte er sich, dass er dieses Gefühl nicht unter solchen schlimmen Umständen nochmal spürte, und eine Frage blieb noch unbeantwortet.


    "Ich... ich werde...", Jennys Stimme stockte. "Ich werde ihn morgen anzeigen." Ein wenig Gefasstheit und Jennys Selbstbewusstsein steckte in dem zaghaften Satz, dass Kevins Herz einen kleinen, kaum vernehmbaren Hüpfer machte. "Soll ich mitkommen?", fragte der suspendierte Kommissar, aber Jenny schüttelte den Kopf. "Nein... das... schaffe ich allein." Jenny wusste, was bei solch einer Anzeige folgte. Sofortige Untersuchung im Krankenhaus, Beweissicherung... da wollte sie lieber alleine sein, oder zumindest in Begleitung einer Frau. Letzter Gedanke kam auch dem jungen Mann, an dem sie sich festhielt und versuchte aufzubauen. "Es wäre besser, wenn auf dem Revier jemand Bescheid weiß. Ruf Andrea an.", schlug er ihr vor. "Sie wird es garantiert niemandem erzählen, und würde dich sicherlich auch begleiten." Jenny nickte und gähnte dabei. Die Müdigkeit wurde langsam stärker als die Angst, die Kevin ihr fast vollständig genommen hatte. Ihr Kopf rutschte auf Kevins Oberschenkel, sie drehte sich mit dem Gesicht zu ihm und schloß die Augen. "Kevin?", murmelte sie mit müder Stimme, immer noch ängstlich, aber weitaus gefasster als noch vor einer Stunde, die Decke sich bis an das Kinn gezogen. Sie wollte nicht in ihr Bett, sie wollte so nah wie möglich bei Kevin bleiben. "Ja?" "Versprichst du mir, dass du mich nie mehr alleine lässt?" Die Frage löste bei dem jungen Polizisten ein Gefühlschaos aus. Er hatte solch ein Versprechen schon einmal gegeben, zwar nicht wörtlich, aber innerlich an sich selbst. Er wollte seine Schwester auch niemals alleine lassen und war daran kläglich gescheitert. Doch sollte er jetzt "Nein" sagen, weil er Angst hatte... Angst erneut zu scheitern. Jenny war nicht Janine, kein hilfloses Mädchen dass sich in der großen Welt nicht auskannte und nicht überleben würde. Jenny würde ihn nicht brauchen, wenn sie jetzt ein bisschen Zeit bekam, ihr Chaos zu ordnen. Aber jetzt brauchte sie ihn, in diesem Chaos, wo sie nicht mehr wusste wo oben und unten war. Jemand, der ihr beistand, nachdem sie befragt wurde, vielleicht mit dem Täter konfrontiert wurde, Alpträume hatte. Er nickte im Dunkeln und sagte. "Ja. Ich lasse dich nicht allein." Dabei kam ihm seine leise, einfühlsame Stimme beinahe fremd vor, soviele Gefühle hatte er in den letzten Jahren aus zu sperren versucht, nichts an seine Seele heran zu lassen. Nun war Jenny nicht nur durch diese Tür gegangen, sie klammerte sich auch noch mit allem, was sie hatte daran fest.


    Die junge Frau schien zufrieden mit der Antwort, kuschelte sie sich doch noch ein wenig fester an den Polizisten heran. Bevor sie vom Schlaf übermannt wurde, brannte Kevin noch eine Frage auf der Seele. Seine Ruhe überraschte ihn, doch er wurde doch Jenny quasi dazu gezwungen. "Wo hast du denn Mann hingefahren? Und wie heißt er?" Im Halbschlaf war Jenny sich nicht mehr bewusst, warum Kevin danach fragte, und so nannte sie den Namen "Mark Schneider" und eine Adresse in einem Viertel, wo alte Stadtvillen zu Mehrfamilienhäuser umgebaut wurden. Er nickte ob der Information und streichelte über Jennys Schulter und durch ihre Haare, bis die junge Frau endlich eingeschlafen war.
    Kevin saß erst ein Zeitlang auf der Couch. Irgendwann hob er Jennys Kopf sachte an, und schob, statt seines Oberschenkels ein Kissen unter ihren Kopf. Die junge Polizistin wurde nicht wach, sie murmelte etwas im Schlaf vor sich hin, bevor sie wieder ruhig weiterschlief. Kurze Zeit wurde sie von Kevin voll Sorge betrachtet, bevor dieser aufstand und zum Fenster trat. Jetzt war es für ihn Zeit, seine Gefühle zu zeigen, auch wenn sich das bei Kevin nicht bemerkbar machte. Aber sein, die ganze Zeit fürsorglicher, vertraulicher Ausdruck in den Augen wurde hart, das Blau in seinen Augen kalt. Wie eine Statue stand er am Fenster und blickte in die dunkle Nacht, zusammengekniffener Mund, kalte Augen und keinerlei Regung. Nur seine Hände zitterten ein wenig, und erst später merkte der Polizist, dass er sie unbewusst zu Fäusten geballt hatte. Einige Erinnerungen an die Vergewaltigung seiner Schwester kamen in sein Bewusstsein, doch er versuchte sie, nicht in den Vordergrund zu lassen... versuchte, die Kontrolle nicht vollends abzugeben, sonst hätte er sich jetzt schon in seinen Wagen gesessen und wäre zu der Adresse gefahren. Nein, er blieb ruhig... vor allem die kleine zierliche Frau auf dem Sofa hinter ihm hinderte ihn daran, einfach die Wohnung zu verlassen. Nein, er würde bleiben... er würde sie nicht allein lassen.



    Jenny's Wohnung - 7:00 Uhr


    Jennys Handy klingelte, die Weckerfunktion war täglich aktiviert und die junge Frau schreckte hoch. Verwirrt blinzelte sie durch den Raum, stellte fest, dass sie nicht in ihrem Bett lag, sie hatte keinen Schlafanzug, sondern eine Art gemütlicher Jogginganzug an und an ihrem Fenster nach draussen stand Kevin, der sie anlächelte. "Na... hast du wenigstens ein wenig geschlafen?" Jenny nickte, gähnte dabei und wickelte sich in die warme Bettdecke. Am liebsten wäre sie liegen geblieben, sie fühlte sich müde und erschöpft und hatte doch einen ganz schweren Gang vor sich. Anzeige und die Untersuchung danach... aber sie musste es tun.
    Sie glitt von der Couch und tapste ins Badezimmer, das sie hinter sich abschloß. Kevin suchte ein wenig notdürftig ein Frühstück in Jennys Küche zusammen, dass letztlich aus zwei Honigbroten und einer Tasse Tee bestand. Als die Polizistin geduscht und angezogen aus dem Zimmer nebenan kam, lächelte sie überrascht und dankte. "Wenn du willst, kannst du auch noch duschen.", meinte sie und atmete tief durch. Sie wollte wirklich Andrea anrufen, und zog ihr Handy. 'Nicht weinen, Jenny...', sagte sie zu sich selbst, als das Freizeichen kam. "Gerkhan?", hörte sie die Stimme von Andrea und im Hintergrund lautes Kinderlachen. Es half ihr, nicht wieder weinen zu müssen. "Hallo Andrea, hier ist Jenny. Du... Andrea... darf ich dich um einen kleinen... ähm Gefallen bitten." Im Hintergrund hörte sie Semir rufen, dass er die Kinder nun mit in die Schule nehme und dann auf die Dienststelle fuhr, die beiden Eheleute verabschiedeten sich, ehe sich Andrea wieder zum Telefonat wendete. "Ähm klar... was gibts?" "Könntest du mich gleich bei mir zu Hause abholen kommen und mit mir zum Arzt fahren?" Andrea schien erstmal überrascht zu sein, und so fragte sie: "Bist du denn krank?" Jenny dachte kurz nach, sie spürte schon wieder ihr Unwohlsein, schaute hilflos zu Kevin, der stumm nickte. "Nicht... nicht direkt. Kann ich es dir im Auto erzählen?" Die Ehefrau von Semir nickte am Telefon, offenbar war es etwas ernstes, was man nicht gut am Telefon besprechen kann, soviel Weitsicht hatte Andrea. "Ich bin in 20 Minuten bei dir, okay?" "Vielen Dank..." Dann legte Jenny auf und musste sich erstmal hinsetzen, weil ihr schwindelig wurde.
    Kevin stellte sich hinter sie, und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Bei Andrea brauchst du dich nicht zu verstellen.", sagte er leise und vermittelt Jenny wieder Sicherheit. Er selbst hatte etwas anderes vor... er hatte eine Verabredung in der Adresse, die Jenny ihm gestern sagte... nur dass Mark Schneider von seinem "Glück" noch nichts wusste...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Dienststelle - 17:30 Uhr


    Sie hatte es überstanden. Das war der Gedanke, den Jenny den ganzen Arbeitstag mit sich herumtrug. Gegen späteren Vormittag waren sie beide aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Es hatte alles eine ganze Weile gedauert, die Vernehmung bei der Sitte, die anschließende Untersuchung bei einem Gynäkologen im Krankenhaus. Trotz, dass sich die Untersuchung nicht viel von der normalen Untersuchung bei Jennys Frauenarzt unterschied, war es ihr doch sehr unangenehm und peinlich, doch die Ärztin war freundlich und die junge Polizistin fasste schnell ein wenig Zutrauen. Die Frau in Weiß hatte sehr viel Erfahrung, hatte sie doch ständig junge Frauen bei sich in der Praxis, die Opfer einer Vergewaltigung wurden.
    Andrea reagierte auf Jennys Erzählungen im Auto erst geschockt, aber gefasst. Auch sie stellte nicht soviele Fragen, Jenny konnte frei erzählen und schaffte es diesmal erfolgreich, nicht wieder zu weinen. Doch um eines bat sie Andrea inständig. "Bitte bitte erzähl niemandem auf der Dienststelle davon. Auch nicht Semir. Ich will es so schnell wie möglich vergessen." Dabei drückte sie auf dem Beifahrersitz von Andrea's Auto fest die Hand der Sekretärin, die beruhigend nickte. "Kein Sterbenswörtchen.", versprach sie. Sie hatte zwar keine Geheimnisse vor ihrem Mann, aber dies war eine absolute Ausnahmesituation. Und ausserdem drehte sich das Geheimnis nicht um Andrea selbst, sondern um Jenny, die danach Andrea dankbar umarmte, und sich wieder etwas wohler fühlte. Es tat gut Menschen um sich herum zu haben, die ihr vertrauten und im Gegensatz zu Kevin fiel es der jungen Beamtin nicht schwer, sofort auch Vertrauen zu schenken und Vertrauen zu fassen.
    Bei der Untersuchung wartete Andrea auf dem Flur, und nahm Jenny sofort in die Arme, als sie sah dass die junge Kollegin gerötete Augen hatte. Sie konnte es einfach vor Scham nicht verhindern, doch sie war erleichtert, es hinter sich zu haben. Die Sitte versprach sich sofort um den Verdächtigen Mark Schneider, ein Polizei-Anwärter, zu kümmern und ihn zu Hause aufzusuchen.


    Semir und Ben hatten registriert, dass Jenny mit Andrea später auf die Dienststelle kam. Natürlich sprach der Polizist seine Ehefrau darauf an, doch die blockte sofort ab. "Das ist ein Frauending, davon verstehst du sowieso nichts.", witzelte sie. Normalerweise war ihr Mann dann soweit abgeschreckt, dass er weitere Fragen unterließ. Er lachte, küsste seine Frau auf die Wange und verschwand mit einigen Akten in seinem Büro, wo Ben mit zusammengeknüllten Papierbällen versuchte einen Korb zu treffen, der an der Wand hing. Mehrere Bällchen lagen schon auf dem Boden verstreut, den statt sie aufzuheben knüllte der Kommissar einfach neue zusammen. "Du weißt schon, dass das Innenministerium uns mittlerweile das Druckerpapier rationalisiert.", meinte Semir, als er die Tür hinter sich schloß. "Jap!", antwortete sein Freund und knüllte provokant das nächste Blatt Papier zusammen. Semir verdrehte spaßhaft die Augen, nahm aus seinem Schrank einen Flummi, den er von seiner jüngsten Tochter geschenkt bekam, und warf ihn Ben zu. Der fing den bunten Gummiball, versuchte zu treffen, verfehlte aber das Ziel. Immerhin sprang der Ball nun zu dem sitzenden Polizisten zurück. "Hey, cool.", meinte er, freudig wie ein kleines Kind und Semir lachte. "Spielkind."
    Der erfahrene Polizist war froh, dass Ben wieder etwas lockerer war. Seit der neuesten Begegnung mit Kevin war er schweigsamer, nachdenklicher. Er konnte sich einfach nicht von dem Gedanken befreien, dass er mitschuldig war an der Situation seines jungen Freundes, auch wenn er natürlich auf Semirs Worte diesbezüglich hörte. Doch Gedanken konnte man nicht einfach abschalten. Doch nun wurden diese erstmal von dem Ballspiel abgelenkt, als der Kommissar mit dem Wuschelhaaren einen Mann im Großraumbüro beobachtete, der ihm bekannt vorkam. Die dickliche Gestalt, das schüttere Haar, der watschelnde Gang. "Hey, das ist doch der Cheeseburger-Fan.", sagte er, und veranlasste Semir dazu, sich umzudrehen. "Tatsächlich." Auch er erkannte Erwin Plotz, ein älterer, wenig motivierter Ermittler der Mordkommission. Beide waren mit dem Mann zusammengeraten, als es um den Mordfall ging, in dem André scheinbar verwickelt war und damals war Plotz Kevins Partner... und hatte gegenüber seinem jungen Kollegen von der Straße so manche Vorurteile. Aber was wollte Plotz nach über einem Dreivierteljahr bei der Chefin?


    Wie auf Knopfdruck gingen beide Polizisten nach draussen und reihten sich hinter Andrea auf. "Du, hat der Typ da gesagt, was er will?", murmelte Semir leise in das Ohr seiner Ehefrau, die den Kopf schüttelte. "Nö... der war aber doch schon mal hier." "Das ist Erwin Plotz, noch dick im Geschäft bei der Mordkommission.", witzelte Ben wichtigtuend, wobei er das Wort "dick" besonders betonte. "Hmm... was will der hier?", wunderte sich der erfahrene Ermittler, und seine Frau lachte auf: "Vermutlich soll einer von euch mit ihm ermitteln." Das brachte nun die beiden Freunde zum Lachen. "Na herzlichen Dank auch.", meinte Semir. "Der hat doch schon nen Lakaien." Tatsächlich war ein weiterer Mann mit Plotz gekommen, ein recht junger Beamter mit Hornbrille, strengem Seitenscheitel und beinahe feinem Anzug. Er sah aus, wie ein motivierter Jungpolizist, der in seiner Karriere keinen Höhepunkt auslassen wollte. Scheinbar durfte er Plotz' Arbeit verrichten. "Der müsste nur mal den Stock aus dem Arsch nehmen.", grinste Semirs Partner und erhielt einen freundschaftlich gemeinten Rippenstoß.
    Nach einigen Minuten des Gespräches stand die Chefin auf und kam mit ernster Miene zur Glastür. Die beiden Polizisten stießen sich schon vom Schreibtisch ab, weil sie befürchteten, nun reingerufen zu werden. Doch zu ihrer Überraschung hatte Anna Engelhardt jemand anderes im Blick. "Frau Dorn. Kommen sie bitte mal in mein Büro." Jenny sah besser aus als noch am Vortag, ihre Blässe behielt sie aber noch. Sie sah etwas verwirrt zu Andrea, bevor sie sich erhob und ins Büro der Chefin ging. "Jenny? Hat das was mit heute Morgen zu tun? Habt ihr beide jemanden umgebracht?", grinste Semir frech und erhielt einen liebevollen Klaps auf den Hinterkopf von seiner Frau, die darüber gerade nicht lachen konnte.


    Im Büro der Chefin saßen Plotz und sein Partner Kühne auf der Ledercouch bei dem kleinen Tisch in der Ecke, die Chefin selbst auf ihrem Bürostuhl. Sie deutete auf den Stuhl, der sonst am Schreibtisch stand, nun aber etwas zurückversetzt. "Setzen sie sich bitte.", sagte die Chefin und Jenny gehorchte, jedoch mit einem äusserst mulmigen Gefühl im Bauch. Was hatte das zu bedeuten? Plötz räusperte sich etwas. "Frau Dorn, mein Name ist Erwin Plotz, das ist mein Kollege Mike Kühne. Wir sind beide von der Mordkommission und hätten einige Fragen an sie." Kühne nahm wie auf Knopfdruck einen kleinen Notizblock und Kugelschreiber aus seinem akkurat sitzenden Anzug und war schreibbereit. "J...ja...", meinte Jenny unsicher. "Worum... gehts denn?" Ohne auf die Frage wirklich einzugehen, begann Plotz sofort mit einer Frage: "Frau Dorn, kennen sie einen Mark Schneider?" Jennys Herz begann schneller zu schlagen, in ihr stieg sofort Übelkeit auf, die sie versuchte durch tiefes durchatmen zu bekämpfen. Sie blickte kurz zu ihrer Chefin, die vertrauensvoll und beruhigend nickte... scheinbar wusste sie bereits mehr. "J...ja. Ich kenne... ich kenne ihn.", sagte sie mit leiser Stimme. "Stimmt es, dass sie Herrn Schneider heute morgen bei der Sitte aufgrund einer Vergewaltigung angezeigt haben?" Jenny klammerte sich mit beiden Händen um die Stuhllehne, als müsste sie sich festhalten. Eine Mischung aus Nervosität, Angst vor dem Erlebten und Scham, dass die beiden Männer und die Chefin davon wussten ließen ihr die Farbe aus dem Gesicht weichen, sie spürte wie ihr immer wärmer wurde, als hätte sie Fieber. Ihre Stimme wurde noch leiser und zaghafter. "J...ja, das stimmt." Die Chefin presste die Lippen ein wenig aufeinander, sie hatte Mitleid mit Jenny, wusste aber auch, was das für sie bedeuten würde. "Frau Dorn, wo waren sie heute, zwischen 10 und 12 Uhr?", fragte der Kommissar, mit etwas gelangweilter Stimme die wohl am häufigsten in seiner Karriere gestellte Frage. Sogar die Chefin rieb ein wenig nervös die Hände aufeinander, doch Jennys Antwort kam ohne Zögern. "Bei... der Untersuchung. Im Krankenhaus." Anna Engelhardt schien auf zu atmen. Sie hatte von Jenny nur etwas von einem wichtigen Arzttermin gesagt bekommen, dabei wirkte die Polizistin bereits nervös. Jetzt war sich die Chefin nicht sicher, wo sie wirklich war, doch dieses Alibi ließ sich leicht überprüfen.


    Plotz gab seinem jungen Kollegen per Blick ein Zeichen, und auf Kommando zückte der ein Handy und wählte die Nummer des Krankenhauses, dessen Namen Jenny sagte. Er erfragte bei einer Schwester, die sich meldete, ob eine gewisse Jenny Dorn heute bei einer gynäkologischen Untersuchung war, bezüglich einer möglichen Vergewaltigung. Offenbar war er mit der Antwort zufrieden, er bedankte sich und legte auf. "Passt, Chef. Sie kam in Begleitung von zwei Beamten der Sitte gegen halb 11, und ging um 12. Die Kollegen ruf ich auch gleich an", sagte er und lächelte, als erwarte er für dieses Telefonat ein Sonderlob. Das zweite Telefonat bestätigte dann, dass Jenny seit halb 9 auf der Dienststelle anwesend war.
    Jenny ringte sich nun durch, selbst ihre Frage nochmal zu wiederholen: "Aber warum? Worum... worum geht es? Sie sagen, sie sind von der...", doch weiter kam sie nicht. Plotz lehnte sich ein wenig nach vorne, stützte sich mühsam mit dem rechten Ellbogen auf sein Knie. "Richtig, wir sind von der Mordkommission. Mark Schneider wurde vor zwei Stunden tot in seiner Wohnung gefunden... mit weitreichenden Kopfverletzungen, wie nach einer Schlägerei... äusserst brutal." Die junge Frau auf dem Stuhl hatte das Gefühl, als würde um sie herum alles schwarz werden, als würde sie in ein bodenloses Loch fallen. Sie klammerte sich immer fester um die Stuhllehne, als sie sich daran erinnerte, dass Kevin heute Nacht nach der Adresse des Vergewaltigers gefragt hatte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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  • Dienststelle - 18:15 Uhr


    Jennys Atem wurde schneller, als würde sie rennen, und nun begriff sie auch, weshalb sie nach dem Alibi befragt wurde. Und ihre steigende Nervosität ließ sie natürlich noch weiter verdächtig erscheinen lassen. "Und... was... was hab ich... ich damit zu tun?" Plotz war ein schlechter Schauspieler und konnte die erste Enttäuschung nicht verbergen. Er hoffte, das naheliegendste wäre eingetroffen, und das Opfer hätte sich am Täter gerächt. Nun gab er den verständnisvollen Polizisten, was sogar die Chefin zu einem genervten Augenrollen veranlasste. "Frau Dorn, wir sind ganz am Anfang der Ermittlungen. Nach dem ersten Kenntnisstand haben wir erfahren, dass das Opfer von ihnen angezeigt wurde, und deshalb wollten wir zuerst mit ihnen sprechen." Jenny nickte nervös, sie war nicht in der Lage die Worte von Plotz richtig zu deuten, sie war einfach froh für eine Antwort.


    "Haben sie jemandem, der ihnen nahe steht von der Vergewaltigung erzählt?", fragte Kühne plötzlich und war ein wenig von Plotz' Blick erschrocken. Scheinbar war der es nicht gewohnt, dass sein junger Kollege selbst Fragen stellte. Er hob entschuldigend die Schultern. "Vielleicht eine Stellvertretertat, Chef." Plotz nickte versöhnlich und blickte dann zu Jenny, die stocksteif, kreidebleich auf ihrem Stuhl verharrte. Sie keuchte, als sei sie auf einem Laufband, sie spürte wie ihr der Schweiß den Nacken herunterlief. Auch die Chefin schaute sie an, und sie verstand im Gegensatz zu ihrer jungen Mitarbeiterin, worauf die Kommissare hinaus wollten. Jenny selbst kämpfte gerade mit ihren
    Gedanken, einer Mischung aus Schock und Befürchtung... Konnte Kevin wirklich so etwas getan haben? Er hatte ihr alles über sich erzählt... sein Trauma mit seiner vergewaltigten Schwester, der unbändige Wille den Killer zu töten, was letzendlich nur Bens Lebensgefahr damals verhindert hatte. Ihre Gedanken flogen durcheinander, nicht ein einziger davon war klar und greifbar. Und sie erschrak selbst dabei, als sie vor sich die kalt blickenden blauen Augen von Kevin sah, die ihr gestern abend in ihrem Leid gar nicht aufgefallen waren, dass sie es ihm tatsächlich zutraute. Dass er Mark Schneider niederschlug, auf ihn eintrat für das, was er Jenny angetan hatte, bis er sich nicht
    mehr rührte. "Frau Dorn, haben sie die Frage meines Kollegen verstanden?", wiederholte Plotz, strenger und ungeduldiger. "Ich... ich...", stotterte Jenny hilflos und schaute die Chefin verzweifelt an. Auch begann sie wieder zu zittern und klammerte die Hände so fest um die Lehne, dass ihre Knöchel weiß wurden.


    Die Chefin griff ein, als sie sah, wie sehr die junge Frau eingeschüchtert war. "Ich glaube, wir sollten die Sache jetzt abbrechen, meine Herren.", sagte sie laut und stand auf. "Frau Engelhardt...", begann Plotz genervt, denn er war nicht gut auf die Chefin zu sprechen, die ihm vor 9 Monaten einen Fall weggenommen hatte. "Dies sind unsere Ermittlungen. Und unsere Befragungen sind dann zu Ende, wenn wir es für richtig halten." Anna Engelhardt kniff die Augen zusammen, wie sie es immer tat, wenn es jemand wagen sollte, sich mit ihr anzulegen. Wenn Blicke töten könnten, wäre ein Doppelmord an Kühne und Plotz der nächste Fall für die Mordkommission. "Es ist jetzt geklärt, dass Frau Dorn ein Alibi hat. Und somit sitzt sie hier nicht als Angeklagte, sondern nach wie vor als ein Opfer einer Vergewaltigung. Und dementsprechend verlange ich, dass sie ausschließlich von GESCHULTEN Kommissaren der Sitte befragt wird, die wissen wie man mit einem Opfer einer Vergewaltigung umgeht, Herr Klotz." Plotz' Gesichtsfarbe wechselte ins Rötliche, als die Chefin seinen Namen absichtlich falsch sagte, er hasste es von dieser Frau vorgeführt zu werden. "Es geht hier um einen Mordfall, Frau Engelhardt. Ich kann verstehen, wenn sie als Chefin von ein paar Asphaltcowboys das nicht verstehen.", blaffte er abfällig, während sein jüngerer Kollege eifrig nickte. "Oder Kriminelle bei sich arbeiten lassen.", spielte er auf Kevins Suspendierung an, wobei ihm sein Denkfehler sofort auffiel. Die Chefin lächelte süffisant, und sagte souverän, ohne die Stimmlage zu heben: "Bevor ihrem Kollegen der Kopf vom Nicken abfällt, sollten sie ihn vielleicht mal über seinen Vorgänger aufklären."


    Jenny rührte es, dass die Chefin sich für sie einsetzte, doch ihr war der Streit unangenehm. Nur mühsam versuchte sie einen Gedanken zu fassen, doch sie konnte sich nicht kontrollieren. Wäre sie vollkommen bei Sinnen gewesen, hätte sie Kevin vermutlich geschützt, doch als sie das Wort Kriminellen hörte, und die Intention deutete, denn Kevin hatte vorgestern auch von Plotz erzählt, sagte sie: "Er ist nicht kriminell... er hat das nicht getan." Wie auf Kommando wurde sie von sechs Augenpaaren angesehen. "Wer hat das nicht getan, Frau Dorn?", fragte Plotz heimtückisch fürsorglich, obwohl er die Antwort fast schon kannte. Anna Engelhardt schaute Jenny mit großen Augen an, auch sie vermutete bereits, befürchtete bereits noch bevor ihre junge Mitarbeiterin redete. "Ich... ich habe es gestern Kevin erzählt. Aber... aber er war es nicht. Ganz sicher." Doch so sicher, wie sie es beteuerte klang weder Jennys Stimme, noch war sie im Innersten überzeugt. Die Angst vor der Wahrheit verhinderte sogar einen weiteren Weinkrampf, der Klammergriff um die Stuhllehne ließ sie nicht los. "War er denn heute morgen bei Ihnen?" Verzweifelt, innerlich zerissen schüttelte Jenny den Kopf, die Chefin strich sich mit der Hand durch das Haar. Sie dachte rational, nüchtern aus der Sicht einer Polizistin. Wenn sich Kevin und Jenny wirklich nah standen, hatte der suspendierte Polizist ein perfektes Motiv. Dazu kam seine Vorgeschichte um seine Schwester, die Frau Engelhardt bestens kannte.
    Die kurze Stille wurde von einem Klingeln durchbrochen, Plotz griff in seine Jackentasche und nahm ein altmodisches Handy heraus. "Ja? Habt ihr die Nachbarn befragt? Hmm... ja... wirklich? Das ist interessant. Warte kurz..." Er lächelte überheblich, beinahe siegessicher als er an dem Handy den Lautsprecher anschaltete, damit alle im Raum etwas davon hatten.


    Aus dem Handy erklang die Stimme eines Ermittlers. "Die Frau unter dem Toten hat einen Mann nach oben gehen sehen, und danach gehört, wie er laut gegen die Tür von Schneider gehämmert hat. Sie konnte ihn beschreiben, und würde ihn wieder erkennen." "Geb nochmal die Beschreibung durch." Die Chefin sah Plotz aufgrund dieser Show verständnislos an, begriff dann aber was folgte, was der Grund war, als er nach der Beschreibung fragte. "Zwischen 1m80 und 1m90 groß, kein Bart oder Schnurrbart, abstehende Haare, auffällige hellblaue Augen und er trug recht abgetragene Jeans. Sie hätte ihn von unten kurz beobachtet, und dann genau angesehen, als er die Treppen runterging." Plotz lächelte arroganz in die Runde, drückte die Freisprecheinrichtung schnell wieder weg, als Jenny laut und verzweifelt rief: "Nein! Das kann nicht sein! Er wars nicht!!" Ihre Stimme war sogar draussen zu hören, so dass Semir, Ben, Andrea und sogar Hotte und Bonrath überrascht in Richtung der gläsernen Trennwand blickten, und sich danach überrascht einander ansahen. Jenny konnte die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten, und begann zu weinen, doch der Mordermittler hatte kein Erbarmen. "Wo hält sich Peters jetzt auf?", fragte er mit harter Stimme, nachdem er sich von seinem Kollegen am Tatort verabschiedet hatte. Zur Antwort bekam er nur Kopfschütteln und herzzereissendes Schluchzen von dem hinter den zittrigen Händen verschwundenem Gesicht. "Frau Dorn! Wo hält sich Peters momentan auf?", wiederholte er strenger und lauter. Jetzt platzte der Chefin aber der Kragen, und erneut stand sie ruckartig auf: "ES REICHT! ENDGÜLTIG!", rief sie laut. "Die Befragung ist beendet. Sie verlassen jetzt, AUF DER STELLE diese Dienststelle, und seien sie sich sicher, dass ich mich über sie beide beschweren werde." Kühne schien sich augenblicklich in die Hosen zu machen und sah bereits seine tadellose Karriere gefährdet, doch Plotz war nicht beeindruckt von der Drohung. Mit einem Blick nach draussen, wo Semir und Ben bereits eindeutige Rausschmeisser-Blicke, mit vor der Brust verschränkten Armen, in Richtung der beiden Ermittler aussendeten, denn sie hatten den ärgerlichen Ausruf der Chefin ebenfalls gehört, stand Kevins ehemaliger Partner dann doch auf. "Wir kriegen schon raus, wo er sich verkriecht.", sagte er leise, beinahe gehässig zu dem weinenden Bündel, dass auf dem Stuhl zusammengekauert saß.


    Kaum waren Plotz und sein junger Kollege aus dem Büro der Chefin heraus, stand diese auf und legte sofort tröstend einen Arm um ihre junge Mitarbeiterin. Ben und Semir, die die beiden "Kollegen" der Mordkommission mit ihren Blicken beinahe umgebracht hätten, kamen ebenfalls sofort herein, wichen aber betreten etwas zurück, als sie die hemmungslos schluchzende Frau sahen und Anna Engelhardt, die neben ihr in die Knie ging, und sanft fürsorglich über ihren Kopf strich. So hart und unbarmherzig die Chefin sein konnte, wenn sie ihre Mitarbeiter vor anderen verteidigte, so einfühlsam konnte sie sein. "Ähm... können wir... helfen?", fragte Semir unsicher während sein Freund neben dran stand und ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend verspürte. Jennys Zustand war ihm natürlich auch gestern aufgefallen, jetzt war die Mordkommission da und sie bekam danach einen Weinkrampf... was ging hier vor? "Er wars nicht!", hatte Jenny laut geschrien. Hatte es mit Kevin zu tun? Bens Gedanken überschlugen sich, während die Chefin zu den beiden Männern aufsah, und kurz stumm nickte. Dann wandte sie sich wieder zu Jenny. "Frau Dorn... sollen Ben und Semir sie nach Hause fahren?" Jenny schüttelte den Kopf und schluchzte laut. Sie misstraute den beiden keineswegs, aber sie wollte einfach nicht noch jemandem von der Vergewaltigung erzählen, sie wollte nicht dass die ganze Dienststelle davon wusste.
    Anna Engelhardt blickte ein wenig hilflos, ihre Rettung kam mit Semirs Frau ins Büro geeilt. "Komm Jenny...", sagte Andrea, ebenfalls fürsorglich und fasste Jenny an der Hand, die langsam und zitternd aufstand. "Ich fahr dich nach Hause, okay?" Ohne Widerworte folgte Jenny ihr, sie konnt endgültig keinen klaren Gedanken mehr fassen, sie wollte einfach hier weg, alleine sein, sich am liebsten irgendwo verkriechen. Anna Engelhardt nickte ihrer Sekräterin dankbar zu, dass sie sich um Jenny kümmerte und sah ihr nach, als sie die junge Frau erst zu den Umkleidekabinen begleitete, und wenig später nach draussen führte.


    Tief durchatmend setzte sich Anna Engelhardt wieder an ihren Schreibtisch, als sie bemerkte dass Semir und Ben noch bei ihr im Büro standen. "Was kann ich für sie tun, meine Herren?", fragte sie in normaler Tonlage, als wäre nichts geschehen. Die beiden Polizisten sahen sich kurz verständnislos an, bevor Semir das Wort ergriff: "Naja Chefin... wir haben draussen schon mitbekommen, dass es bei diesem Gespräch nicht um die Bewirtung des nächsten Polizeiballs ging. Was war denn los?" Die Chefin lehnte sich in ihren Stuhl zurück, sah kurz zur Decke und atmete erneut tief durch. "Semir, ich weiß dass wir jetzt schon 17 Jahre zusammenarbeiten, und innerhalb der Dienststelle würde ich ihnen wohl alles anvertrauen, was vorfällt.", sagte sie ein wenig ausschweifend, bevor sie auf Ben blickte und hinzufügte: "Ihnen natürlich auch. Aber in diesem Falle..." sie verharrte kurz. Nein, sie würde es nicht erzählen. Zum ersten würde sie ihre Männer dazu verleiten, in einem Fall zu ermitteln, der sie auf Abteilungsebene nichts anging und zweitens würde sie kein so intimes Unglück wie eine Vergewaltigung weiter erzählen... auch nicht ihren engsten und vertrautesten Mitarbeitern. "kann ich ihnen dazu nichts dazu sagen. Das Gespräch war vertraulich." "Chefin, es wird nicht jeden Tag eine Kollegin von uns von der Mordkommission vernommen und zum Weinen gebracht.", bohrte Ben nach und erntete von seinem Partner ein eifriges Nicken. Ihre Vorgesetzte spitzte in ihrer typischen Art die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, ich kann ihnen nichts sagen, bitte verstehen sie das. Der Fall geht uns sowieso nichts an. Fragen sie Jenny selbst, aber bitte: Nicht in den nächsten 1-2 Wochen. Haben sie mich verstanden?" Sie traute ihren Männern soviel Feingefühl zu, dass die nicht morgen schon Jenny mit Fragen löchern würden, aber trotzdem stellte sie die junge Mitarbeiterin unter persönlichen Schutz.
    Semir und Ben verstanden erst mal die Welt nicht mehr und fühlten sich wie ausgeschlossen. Semir lehnte sich auf den Drehstuhl, der vor Anna Engelhardts Schreibtisch stand. "Wenn es jemandem aus unserer Familie schlecht geht, wollen wir ihr ebenso beistehen, wie sie und Andrea auch. Und ihr helfen!" Seine Stimme war eindringlicher als zuvor, doch auch die Stimme seiner Chefin wurde schärfer, allerdings nicht strenger. "Glauben sie mir, Semir. Wenn sie es wüssten, würden sie es auch nicht erzählen." Für einen Moment blickten sich die beiden scharf an und Ben legte Semir die Hand auf die Schulter, um ihn ein wenig zu beruhigen. Dieser zog sich mit dem Oberkörper nun zurück, ein Zeichen der Aufgabe, als die Chefin dann, wieder mit ruhigerer und versöhnlicherer Stimme hinzufügte: "Fragen sie Jenny in ein paar Wochen. Wenn es ihr besser geht. Wir können momentan sowieso nichts tun." Kevin erwähnte sie absichtlich mit keiner Silbe. Sie traute dem jungen Mann nicht, und angesichts der Beweislage, die sie bisher kannte, sah es nicht gut für ihn aus, das wusste sie. Ausserdem würde sie für den suspendierten Polizisten keine Hand ins Feuer legen, dass er tatsächlich keinen Mord begehen würde...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Raststätte - 19:30 Uhr


    Trotz dass die Stimmung in der Dienststelle sehr düster war, verspürten die beiden Kommissare ein unbändiges Hungergefühl. Beide hatten keine große Lust, einfach alleine nach Hause zu fahren, und so fuhren sie gemeinsam zu ihrer Stamm-Raststätte an der Autobahn. Diese war nicht nur bekannt für eine besonders gute Currywurst, sondern Inge, die rundliche Besitzerin, zauberte auch knackige Salate und knusprige Schnitzel. Ben und Semir gingen hier gerne ein und aus, und Inge begrüßte sie mit freundlichem Lächeln. Während der ältere Polizist in letzter Zeit sehr auf seine Figur achtete und heute nur einen großen Salat bestellte, orderte Ben für sich eine doppelte Portion Currywurst mit Pommes. "Ich würde echt gerne wissen, wo du dir das alles hinsteckst...", meinte Semir und betrachtete seinen Freund von der Seite. Ben war schlank und hatte, trotz seines üppigen Appetits und seiner nicht gerade gesunden Ernährung nicht ein einziges Fettpölsterchen zu viel, obwohl er keine Sportskanone war. Sie setzten sich an ihren Stammtisch und begannen, zunächst schweigend, zu essen.
    Irgendwann meinte Ben: "Was denkst du... was hatte das alles zu bedeuten. Die Mordkommission, Jennys Zustand und die Tatsache, dass die Chefin uns nichts erzählen möchte." Semir kaute auf einigen Salatblättern, er nutzte die Zeit um über eine Antwort nach zu denken. Aber ausser einem Schulterzucken kam erst einmal keinerlei Antwort heraus. "Ich dachte ja, die ganze Zeit, es ist wegen Kevin. Während du auf Gran Canaria warst, kam es mir vor als wären die beiden sich näher gekommen.", vermutete der junge Polizist, und vertilgte ein weiteres Stück seiner Currywurst. "Und du hattest ihren Blick ja gesehen, als Kevin abgeführt wurde."


    Semir schüttelte den Kopf. "Es muss etwas Größeres sein... etwas schlimmeres. Sie war noch einmal verändert zwischen dem Einsatz und gestern.", sagte er bestimmt. Dabei stocherte er in den Salatblättern herum, bis Ben versuchte, die Stimmung ein wenig zu lockern. "Was ist... suchst du denn Geschmack?" Semir grinste zuerst und schüttelte dann den Kopf. "Ne... Kidneybohnen. Sind keine drin." "Na, das ist doch mal ein dicker Hund.", spielte sein Freund übertrieben empört. Semir war froh, Ben als Partner zu haben. Sie kannten sich mittlerweile so lange, dass jeder genau wusste, wann der andere ein wenig Aufheiterung gebrauchen konnte. "Naja, was machen wir jetzt?", fragte der erfahrene Polizist dennoch wieder ein kleines bisschen ernster. "Was? Mit dem Salat oder Jenny's Fall?" "Mit Jenny's Fall natürlich." Semir legte den Kopf schief. "Das Gleiche, wie mit dem Salat. Drin rumstochern." Auch Ben lächelte und nahm einen Schluck aus seiner Cola-Flasche.
    Semir legte die Gabel neben seinen Teller, und dachte nach über das, was die Chefin gesagt hatte. "Wenn sie es wüssten, würden sie es auch nicht erzählen.", sprach er ihren Satz laut nach, und sah Ben dabei an. Sein Gesicht war wieder ernst, denn eine kleine Vorahnung, ein ungeheuerlicher Verdacht regte sich in ihm. "Was würdest du unter keinen Umständen anderen erzählen wollen, was dich so sehr aus der Bahn wirft als Frau." Dieser Hinweis, verbunden mit dem ernsten Gesicht gab Ben sofort einen Hinweis auf die Gedanken seines Partners. "Du meinst... vielleicht... nein..." Der junge Polizist wollte das selbst nicht glauben, aber Semir nickte düster. "Ich kann mir schon vorstellen, dass man so etwas nicht einfach mal erzählt... selbst wenn man will, dass jemand hilft." Ben sah auf seinen Teller, ließ die Gabel in die Soße fallen und schon das Besteck von sich weg. "Ich bin satt.", murmelte er ein wenig geschockt.


    "Nehmen wir nur mal den schlimmsten Fall an... Jenny wurde tatsächlich... vergewaltigt.", wagte Semir es letztendlich die Worte auszusprechen. "Wir hatten den Einsatz, und am nächsten Tag war sie vollkommen aufgelöst." Ben folgte seinem Partner auf dessen Gedankengang, als er merkte dass Semirs Augen plötzlich größer wurden. "Wenn sie wirklich engeren Kontakt zu Kevin hatte... meinst du, sie wäre abends zu ihm gefahren nach der Nummer bei uns auf dem Revier?" Ben zuckte mit den Schultern. "Das kann möglich sein. Vielleicht... moment mal." Er stockte, als könne er Semirs Gedanken lesen. "Das glaubst du doch nicht im Ernst?" Als Semir seine Gedanken nicht sofort verneinte, und eher den Kopf unentschlossen hin und her wog, wurde Ben lauter und seine Stimme empört: "Hast du was am Schwimmer? Kevin hat schon viel Scheisse gebaut, aber der würde doch niemals..." "Schon gut, schon gut.", unterbrach Semir seinen aufgebrachten Partner und hob beschwichtigend beide Hände. "War ein blöder Gedanke... tut mir leid." Der Gesichtsausdruck des aufgebrachten Kommissars beruhigte sich nur langsam. Was für ein absurder Gedanke... Ben kannte Kevin, niemals würde der sich an einem Mädchen, das ihm wichtig war, vergreifen. Er mochte Drogen nehmen, und früher krumme Dinger gedreht haben, aber sowas... Nein!
    "Die Frage ist doch auch...", meinte Ben beinahe schon wieder versöhnlich, nach einer kurzen Stille, "was die Mordkommission bei uns zu suchen hatte? Bei Vergewaltigungen ermittelt doch normalerweise die Sitte, und nicht die MoKo." Auch diese Frage wussten die beiden Polizisten nicht zu beantworten.
    "Wir spekulieren hier nur... und wissen eigentlich gar nichts.", resignierte Semir ein wenig zerknirscht und leerte seinen Teller mit einem Stück Brot. "Ich frage heute abend mal Andrea... vielleicht weiß sie was, sie war auch heute morgen mit Jenny unterwegs." Ben nickte zustimmend und fügte hinzu: "Und Einstein soll mal in die Dateien der Mordkommission gucken, der hat doch überall Zugriff. Mal schauen, woran Kommissar Kotz und sein Dackel gerade arbeiten." Sie beschlossen, Jenny keinesfalls im Stich zu lassen, selbst wenn ihre junge Kollegin verständlicherweise nichts erzählen wollte.



    Jenny's Wohnung - 19:45 Uhr


    Die Fahrt von der Dienststelle zu Jennys Wohnung verlief ziemlich deprimierend. Die junge Frau saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und nur kleinere leise Schniefgeräusche waren von ihr zu hören. Andrea saß neben ihr, und es brach ihr beinahe das Herz, die sonst lebensfrohe Jenny so leiden zu sehen. Bis zur Wohnung wechselten die beiden Frauen kein Wort. Angekommen nahm Andrea sofort wieder Jennys Hand, führte sie die Treppen hinauf und sperrte für sie die Wohnungstür auf. "Möchtest du vielleicht einen Tee?", fragte Semirs Ehefrau voller Fürsorge, und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Sie setzte Wasser im Wasserkocher auf und fand in den Schränken Tasse und einen Tee, der eine beruhigende Wirkung hatte. Jenny ließ sich auf das Sofa fallen, nahm die Wolldecke zur Hand und umhüllte sich selbst darin. Sie konnte einfach nicht glauben, dass das wirklich passierte. Sollte Kevin wirklich ein Mörder sein? Wollte er nur deshalb die Adresse? Wo mag er jetzt sein?
    Andrea kam mit der Tasse Tee langsam zurück zum Sofa und reichte sie der, immer noch leise schiefenden jungen Frau, die ein leises "Danke" über die Lippen brachte. Sie spürte, wie Andrea sich dicht neben sie setzte, und sie leicht und sanft am Arm berührte. "Willst du... mir vielleicht erzählen, was die beiden Polizisten von dir wollten?", fragte sie zaghaft und vorsichtig, als würde sie versuchen einen Fuß nach dem anderen über eine wackelige baufällige Brücke zu setzen. Jenny hatte in die Sekretärin spätestens heute Morgen absolutes Vertrauen gefasst, und so begann sie langsam und stockend zu erzählen.


    "Ich... ich habe es gestern Nacht nicht mehr alleine hier ausgehalten.", begann Jenny langsam, ohne Andrea dabei anzublicken. "Also habe ich Kevin angerufen... er ist auch... direkt gekommen." Es war die erste Überraschung für die Sekretärin, denn Semir hatte ihr von dem Einsatz und vor allem Kevins verstörendem Verhalten erzählt. Insofern wunderte sie sich, dass er den Kontakt zu Jenny nicht auch verweigert hatte. Doch sie hörte zu, ohne Fragen zu stellen. "Ich hab ihm... alles erzählt. Und auch die Adresse von dem Typ genannt, der mich... der mich...", ihre Stimme stockte und sofort spürte sie die vertraute Hand an ihrem Arm. Ein Signal, dass Jenny den Satz nicht beenden müsse, und ein leises Lächeln von Andrea. "Die beiden Polizisten... sie haben gesagt, dass der Kerl ermordet wurde... heute vormittag. Sie... sie haben zuerst gedacht dass ich etwas damit zu tun hätte. Aber wir waren da gerade im Krankenhaus." In Andrea's Kopf begann sich ein Puzzle zusammen zu setzen. Sie kannte Kevin nicht so gut wie Semir, oder vor allem Ben. Aber ihr Mann hatte einiges über den Jungen erzählt. "Dann... dann haben sie mich gefragt, ob ich es jemandem erzählt hatte, und... und mir ist die Wahrheit rausgerutscht." Jenny spürte, wie sich erneut Tränen in ihre Augen bahnten und ein weiterer Weinkramp langsam ihre Kehle nach oben arbeitete. "Und dann soll auch noch jemand an dem Tatort eine Personenbeschreibung abgegeben haben, die auf Kevin passt.", schluchzte die junge Frau.
    Andrea begann zu verstehen. Die Vergewaltigung nahm Jenny extrem mit, es war das Schlimmste was einer Frau passieren konnte. Dass offenbar Kevin die Sache selbst in die Hand genommen hatte, belastete Jenny zusätzlich. "Aber er hat ihn nicht umgebracht... sowas... sowas würde er nicht tun. Er ist doch immer so ruhig... so ruhig als würde ihn nichts erschüttern. Auch, als ich ihm alles erzählt hatte."


    Die Sekretärin sah Jenny ein wenig mitleidig an. Sie würde so gerne sagen, dass sie recht hatte, und dass sie Kevin so etwas nicht zutraute, doch Andrea wusste es besser. "Andrea... bitte sag mir, dass er so etwas niemals tun würde." Sie seufzte auf, als aus Jenny ein weiterer Weinkrampf herausbrach, und sie nahm die junge Frau zärtlich in die Arme. Es dauerte ein wenig, bis ihr Schluchzen wieder leiser wurde, und Andrea leise sprach: "Ich kenne Kevin nicht so gut wie Semir... aber Semir hat mir erzählt, dass Kevin den Mörder seiner Schwester eiskalt erschossen hätte, wenn er nicht gerade Ben das Leben gerettet hätte. Ben hatte später zu Semir gesagt, dass er sicher sei, Kevin hätte abgedrückt." Andrea flüsterte beinah und konnte fast spüren, wie Jennys Hoffnung langsam bröckelte. Kevin war am Tatort, er hatte eine Motiv... er hatte eine Vorgeschichte. Nein, das konnte alles nicht wahr sein. "Ich weiß wirklich nicht, wie er reagieren würde, wenn er vor dem Kerl steht, der dir das angetan hat, Jenny." Die beiden Frauen lösten die Umarmung, und sogar Andrea wurde langsam ein wenig mulmig, als sie in die völlig geröteten Augen von Jenny sah, die jetzt ein wenig an der Ehefrau von Semir vorbeisahen. War Kevin wirklich ein Mörder? Jennys Bild bröckelte... sie versuchte sich zu erinnern, sein Gesichtsausdruck, als sie es erzählte. Dieser kalte Blick für einen Moment, dieses Zittern... je mehr sie nachdachte, desto mehr glaubte sie, sich einzubilden, wie mühsam es für den Mann war, seine Wut nicht zu zeigen. Er hatte es tatsächlich getan, dachte Jenny. Die vorherige Überzeugung schwand, und Andrea fielen in diesem Moment keinerlei Worte ein, die Jenny in irgendeiner Form Trost gegeben hätten, ausser ein "Es tut mir so leid...."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:00 Uhr


    Ben war ausnahmsweise mal vor Semir im Büro. Pünktlichkeit gehörte nämlich nicht zu den Stärken des jungen Polizisten, und so war er es, der diesmal Kaffee für seinen Kollegen kochte. Sonst stand der immer schon bereit, wenn Ben langsam ins Büro eintrudelte. Sein Partner kündigte sich diesmal unorthodox an - durch ein lautes Türenknallen auf dem Parkplatz und den aufgeregten Stimmen von ihm und seiner Frau Andrea. "Da fragt man dich einmal was, und bekommt keine gescheite Antwort.", meckerte der Polizist lautstark und bekam prompt Kontra von Andrea: "Ich habe dir einmal gesagt, dass ich dir nichts davon erzähle, und das gilt beim zweiten und dritten Mal auch noch." Auweia, dachte Ben... scheinbar war sein Freund beim vorsichtigen Nachfragen nach dem, was gestern Jenny vorgefallen war nicht erfolgreich gewesen, und noch dazu zu ungeduldig.
    Der Polizist spähte durch die Glasscheibe und sah, wie Andrea zuerst ins Büro stapfte und Semir mit gehörigem Sicherheitsabstand dahinter. Beide wünschten den Kollegen einen guten Morgen, wobei man ihnen das "gut" nicht wirklich abnahm. Während Andrea ihre Tasche neben den Schreibtisch feuerte, tat Semir das mit der Bürotür gleich. Ben grinste ein wenig und meinte: "Hach... die Verhöre meines Partners werden immer erfolgreicher." Semir konterte im gleichen Atemzug: "Und die Sprüche meines Partners immer dummer.", bevor er sich in seinen Drehstuhl fallen ließ. "Du solltest Andrea nur mal vorsichtig fragen, ob sie dir etwas erzählt, und nicht gleich deine Ehe aufs Spiel setzen." Ben's Befürchtung war nicht ganz ernst gemeint, als er sich etwas nach vorne beugte und zwischen Monitor und Aktenstapel zu Semir hindurch sprach. Der winkte ab und nahm einen dankbaren Schluck schwarzen Kaffee, der vor ihm auf dem Tisch dampfte. "Ich hab sie einmal gefragt..." "Ja, das kenne ich bei dir. Einmal, und noch ein weiteres Mal, und noch ein weiteres Mal...", witzelte Ben und kannte die Vehemenz und Sturheit seines Partners, wenn der etwas wissen wollte, und anderen Leuten damit auf den Wecker ging. "Ja, schon gut, vielleicht wars auch zwei, oder dreimal. Jedenfalls hat sie nichts gesagt, kein Sterbenswörtchen. Jenny würde es uns erzählen, wenn es an der Zeit ist." Sein Partner nickte, aber natürlich war er nicht zufrieden. Sie tappten weiter im Dunkeln, und nun würde ihnen wohl ihr guter Freund Hartmut helfen müssen.


    Der Mann mit den etwas längeren Haaren griff zum Telefon und wählte die Nummer der KTU. Hartmut, als Computergenie bekannt hatte auch aushilfsweise die Administration des Polizeinetzwerkes übernommen, und stand bei Problemen der IT-Abteilung mit Rat und Tat zur Seite. Er konnte somit Berechtigungen auf Bereiche auf den Polizeiservern verteilen, und um diesen Gefallen wollte Ben ihn gerade bitten. "Hallo Hartmut, altes Genie.", begrüßte er den rothaarigen Polizeibeamten, der für den Einsatz auf der Straße allerdings denkbar ungeeignet war. "Na Ben. Habt ihr was für mich?", fragte der arbeitswütige Mann und lachte. "Ja, ich hab ein Anliegen. Ich bräuchte mal kurz Zugriff auf die Dateien der Mordkommission.", meinte der junge Polizist mit Engelszungen. "Kein Problem, Ben. Schick mir einfach das benötigte Zugangsformular, das von eurer Chefin unterschrieben ist übers Fax, und ich machs sofort." Ben strich sich grinsend mit den Fingern über die Lippen. "Ja... das Formular. Weißt du, Hartmut... ich habs verlegt. Ich kanns auf meinem Schreibtisch einfach nicht mehr finden." Semir beobachtete seinen Partner, der ihm zu zwinkerte, und grinste. Ben schaftte es mit Leichtigkeit Semirs schlechte Laune über den kleinen Streit mit Andrea zu vertreiben. "Ja und? Dann druck halt ein Neues aus.", klang Hartmuts Stimme aus der Hörmuschel. "Na klar... aber du weißt doch.... unsere Chefin. Wenn die so drauf ist wie heute...", meinte er mit gespielt weinerlicher Stimme "und ich komme zweimal wegen dem gleichen Formular zu ihr... weißt du was dann passiert? Die macht mich glatt einen Kopf kürzer... und das willst du doch nicht?" Fast konnte er das Augenrollen von Hartmut hören. "Ihr habt also kein Formular, und die Chefin solls auch nicht wissen." "Ich höre mich nicht "Nein" sagen.", grinste der Wuschelkopf. "Oh Mann, wegen euch krieg ich irgendwann auch noch an den Karren gefahren." "Im Zweifel von uns auf dem Parkplatz, Hartmut.", rief Semir, der Bruchstücke über die laute Hörmuschel mitbekam. Ben hörte das schnelle Klicken auf Hartmuts Tastatur. "Eine Viertelstunde hast du Zugriff... nimm dir was du brauchst, und mich hast du nie angerufen." "Danke Einstein.", sagte Ben freudig, und verabschiedete sich.


    Nur Minuten später klickten sich die beiden Polizisten durch die Ordnerstruktur der Mordkommission... das hieß, Ben klickte und Semir saß schräg mit der Tasse in der Hand hinter ihm, und sah gespannt auf den Monitor. Ben sortierte die Ordner nach Datum, der letzte Ordner hieß "Mordfall Mark Schneider." Mehrere Tatortberichte, Bilder eines übel zugerichteten Mann, der auf dem Boden seiner Wohnung lag, um ihn herum viele kleine Glasscherben. Blutergüsse, Platzwunden im Gesicht, eine Augen etwas zugeschwollen. "Schau mal auf die Gesprächsprotokolle.", meinte Semir und zeigte mit dem Finger auf mehrere Dokumente. "Anruf von der Sitte.", war eins gekennzeichnet, dass Ben jetzt öffnete. Als die beiden es stumm betrachteten und den Text lasen, wurden ihre Augen größer, und der Mund öffnete sich vor Entsetzen. "Ach du heilige Scheisse...", murmelte Ben, während Semir sich die Hand vor den Mund hielt. Der schlimmste Fall, über den sie sich gestern unterhalten hatten, war tatsächlich eingetreten. Die Sitte hatte sich bei der Mordkommission gemeldet, nachdem der Mord im Polizei-Netzwerk bekannt wurde und berichtete, dass erst am Morgen eine Kollegin, eine gewisse Jenny Dorn Herr Schneider wegen einer Vergewaltigung angezeigt hätte. "Hinweise auf Motiv.", stand da, was aber mit nachträglichen Notizen in dem Programm bereits geändert wurde. "Alibi", stand da. "Deswegen waren die beiden gestern da. Die dachten, Jenny hat den Kerl umgebracht.", murmelte Semir, der sah wie Bens Entsetzen in Wut umschlug. "Schade, dass jemand schneller war als wir.", knurrte er mit dem Hintergedanken, dass diese Drecksau ihrer Kollegin etwas angetan hatte. Sie klickten sich durch weitere Akten, erfuhren dass der Tote Kommissarsanwärter war, gestern morgen zwischen 10 und 12 Uhr gestorben war. Die Kopfverletzungen waren äusserlich zwar schwer, aber nicht lebensbedrohlich. Gestorben war er durch einen gezielten Schlag auf die Brust, dabei stand ein Fachbegriff "Dianxue". "Hey, davon hat mir Kevin mal erzählt.", meinte Ben völlig ohne Hintergedanken, während Semir weiterlas und unbeeindruckt sagte: "Und scheinbar hat Jenny Kevin von der Vergewaltigung erzählt." Bens Gesichtsausdruck entglitt ein zweites Mal, und er hatte plötzlich das Gefühl, dass die Temperatur im Raum anstieg. "Um Gottes Willen...", sagte er leise, und beide Polizisten hatten den gleichen Gedanken.



    Kevin's Wohnung - gleiche Zeit


    Kevin wollte Jenny Zeit lassen... er wollte sich ihr nicht aufdrängen, ständig anrufen und bei ihr sein. Er entschloß da zu sein, wenn sie ihn brauchte... nicht mehr. So ging er gestern abend wieder seinem Fall nach, doch wirklich neue Erkenntnisse brachten ihm das rumhängen in Szenediskotheken nicht wirklich, ausser einem dicken Kopf vom Alkohol. Der war auch jetzt noch nicht abgeklungen, als es an der Wohnungstür von Kalle, die schon in ihrem Klub war, klingelte und ein etwas schlaftrunkender Kevin in Shorts und Shirt die Tür öffnete. Er staunte nicht schlecht, als er seinen alten Kollegen Plotz vor sich stehen sah, flankiert von einem schlanken Typ mit Hornbrille und zwei uniformierten Beamten. "Was willst du denn hier?", fragte er mit seiner monoton wirkenden Stimme und ablehnendem Gesichtsausdruck. Plotz war einer der Kollegen, die die meisten Vorurteile gegen den jungen Polizisten hatte. Anders als die anderen allerdings sprach er sie offen aus. "Dürfen wir reinkommen?", fragte Plotz erst gespielt höflich. Kevin wollte seinen Fall nicht unnötig gefährden, sah die beiden Polizisten im Hintergrund misstrauisch an und gab dann aber den Weg frei... er wusste selbst, wie einfach es für einen Verbrecher sein konnte, wenn er kooperierte. Die kleine Gruppe ließ sich im Wohnzimmer nieder und Kevin zündete sich eine Zigarette an.
    "Also, was verschafft mir das zweifelhafte Vergnügen?", meinte er beinahe gelangweilt, obwohl er ein extrem ungutes Gefühl hatte... die Mordkommission kam meistens nicht ohne Grund bei jemandem zu Hause vorbei. "Ist dir ein Mark Schneider bekannt?", fragte Plotz gefährlich freundlich und dem jungen suspendierten Polizisten war klar, dass früher oder später die Polizei wegen seinem Besuch auftauchen würde... aber so früh hatte er nicht damit gerechnet. "Ja.", sagte er einsilbig. "Und woher?" Beinahe provokant zog Kevin erst noch an seiner Kippe und blies den Rauch in Plotz' Richtung im Wissen, dass der sich damals bereits über Kevins Raucherei beschwert hatte. "Das Schwein hat eine Kollegin von mir vergewaltigt. Das solltet ihr doch wissen." "Ach Kevin... wir wissen so einiges.", meinte der Mordkommissar seelenruhig ohne sich vom Rauch aus der Ruhe bringen zu lassen.


    Langsam, mit einem Blick in sein Notizbuch, fuhr er fort. "Eine Zeugin hat dich gestern bei Schneider vor der Wohnung gesehen." Kevin zuckte mit den Schultern. "Ja und?" "Was wolltest du dort?" Mit hochgezogenen Augebrauen, die Stirn in Falten gelegt, blickte Kevin zwischen den beiden Ermittlern hin und her. "Was zum Teufel hat euch das zu interessieren?", fragte er provokant. Plotz beugte sich ein wenig nach vorne: "Pass mal auf mein Junge... es reicht schon, dass du eine Schande für die gesamte Kölner Polizei bist. Aber wenn du mir nicht ganz schnell meine Fragen beantwortest, dann werden dich die netten Kollegen mit aufs Revier nehmen... und dann machen wir das mal wie große Jungs... nach der ersten Untersuchungshaft." Die Blicke der beiden hätten töten können, als sie sich gegenseitig anstarrten, und Kevin erinnerte sich daran, dass er Bienert nicht enttäuschen durfte, und die Chance auf seinen Job wäre er bei Knast definitiv los gewesen. "Ich wollte ihn zur Rede stellen." "Wieso? Bist du neuerdings bei der Sitte? Und stand dir die Kollegin etwa ein wenig...", Plotz grinste dreckig. "näher?" Der suspendierte Polizist musste sich anstrengen, ruhig zu bleiben. Geräuschvoll zog er Luft durch die Nase, schwieg und merkte dass es Plotz Freude bereitete, den reizbaren Ex-Kollegen zu provozieren. "Also... hast du ihn zur Rede gestellt?" "Nein... er war nicht da.", sagte Kevin und der Mordermittler zog gespielt die Brauen nach oben. "Ach, er war nicht da...", wiederholte er schmunzelnd.
    Einer der uniformierten Kollegen kam aus dem Nebenraum... Kevin hatte gar nicht bemerkt, dass er sich während des Verhörs ein wenig umgesehen hatte. Jetzt hatte er ein Buch in der Hand und hielt es seinem Chef hin, der zugriff. "Das haben wir gefunden." "Sag mal, habt ihr den Arsch offen? Habt ihr überhaupt nen Durchsuchungsbeschluß.", rief Kevin gereizt in Richtung des uniformierten Kollegen, und stand aus dem Sessel auf. "Fürs Umsehen brauchen wir keinen Beschluß.", wiegelte Plotz ab, während er den Titel des Buches las. "Kampfkunst Dianxue", stand darauf, und der Polizist grinste zufrieden. Dann blickte er wieder zu Kevin, der immer noch vor dem Sessel stand. "Er war also nicht zu Hause?", wiederholte er, und stand ebenfalls auf, um mit Kevin auf einer Höhe zu sein... was nicht ganz gelang, denn Kevin war ein wenig größer als Plotz. Der wiederrum griff blitzschnell zu Kevins Hand, und betrachtete einen verkratzten und bläulich gefärbten Handrücken und Fingerknöchel. "Und da bist du draufgefallen, oder was?", meinte er mit etwas lauterer Stimme. Mit einem Reflex zog Kevin die Hand zurück... "Was wollt ihr Vögel eigentlich hier?", rief er, denn immer noch nicht hatten die Mordermittler gesagt, warum sie eigentlich bei Kevin auftauchten. Jetzt aber ließ Plotz die Katze aus dem Sack: "Keivn Peters, du bist wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes an Mark Schneider vorläufig festgenommen." Man konnte dem älteren Mann die Genugtuung förmlich ansehen, als die uniformierten Beamten Kevin die Handschellen anlegten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Verhörzimmer Mordkommission - 11:00 Uhr

    Kevin hatte keinen Ton von sich gegeben, er hatte keinen Widerstand geleistet, als dieser Bubi-Assistent von Plotz ihm die Handschellen angelegt hatte. Eigentlich hatte er die ganze Zeit damit gerechnet, dass jemand bei ihm auftauchen würde... und nun saß er hier. Die Hoffnungen auf die Rückkehr in den Polizeidienst hatten sich endgültig erledigt, vermutlich hatte sich gerade sein komplettes Leben erledigt. Hatte er einmal zu fest zugeschlagen? Hatte er den Kerl auf die Brust geschlagen? Kevin konnte sich selbst nicht mehr genau daran erinnern. Er weiß nur, dass er dem Kerl unvermittelt eine gelangt hatte, als der die Tür öffnete und auf die Frage von dem suspendierten Polizisten seinen Namen nannte. Schneider versuchte nach dem ersten Schlag tatsächlich nochmal auf zu stehen, was Kevin, getrieben von Wut und Zorn nicht zuließ. Aber schlug er ihm wirklich auf die Brust... er lebte doch noch, als er ihn verliess, er sah dem Polizisten zitternd und wimmernd in die Augen, als dieser ihn auf dem Boden am Kragen packte und drohte: "Wenn du Jenny noch einmal näher als 5 Kilometer kommst... dann schlage ich dich tot." Und vor dem Polizisten konnte man sich durchaus fürchten, wenn man seinen Zorn geweckt hatte. Danach verließ Kevin die Wohnung, und hatte diese Frau kurz gesehen, die ihn neugierig beäugte. Wenn es einen guten Grund dafür gab, seine Polizei-Karriere endgültig gegen die Wand zu fahren, dann einem Kerl die Zähne einzuschlagen, der sich an einer Frau vergreift... und dann auch noch an einer Frau, die Kevin nahestand und bei ihm Alpträume auslöste, die längst vergessen waren. Doch scheinbar war er zu weit gegangen.


    Sie hatten ihm DNA-Proben entnommen, und kleine Hautpartikel von den Händen abgestreift. Dann hatten sie ihn hier rein verfrachtet, die Handschellen abgenommen, und die Tür zugesperrt... Kevin hatte genug Zeit zum Nachdenken, bis Plotz letztendlich wieder hereinkam. Er wurde wieder begleitet von zwei uniformierten Polizisten, scheinbar traute sich der Feigling nicht alleine zu Kevin herein. "So, du warst also nicht bei Schneider in der Wohnung.", sagte er voller Vorfreude und knallte das Blatt Papier, das er in der Hand hatte, dem suspendierten Polizisten auf den Tisch. Kevin wagte keinen Blick darauf zu werfen, denn Plotz kam ihm sowieso zuvor. "Die Untersuchung hat ergeben, dass Hautpartikel von dir in der Gesichtswunde des Toten gefunden wurden. Damit ist bewiesen, dass du ihn totgeschlagen hast, Peters." Er blickte nach unten auf den sitzenden Kevin, der erst stumm vor sich hin starrte, bevor er den Kopf zu Plotz hob, und ihn aus seinen hellblauen Augen heraus ansah. "Als ich ging, hatte die Ratte noch gelebt." Plotz nickte beinahe zufrieden. "Todesursache, Herzstillstand nach einem Schlag auf die Brust. Die Dianxue-Technik ist bekannter als du denkst, und der Herzstillstand kann erst eine Viertelstunde nach dem Schlag eintreten." Kevin kannte diese Technik, er hatte ein Buch darüber gelesen und sie trainiert. Er hatte den Kerl doch gar nicht auf die Brust geschlagen... oder doch?
    "Du wurdest am Tatort gesehen, du hast ein Motiv, und du kennst die Technik, mit der der Kommissarsanwärter getötet wurde.", zählte der erfahrene Mordermittler auf. "Nicht nur dass du als Drogenjunkie zur Polizei gekommen bist... jetzt gehst du als Mörder in den Knast. Solcher Abschaum wie du ändert sich nie.", sagte Plotz voller Abscheu zu dem schweigenden Kevin. Er schaffte es nicht, den jungen Mann zu provozieren, der scheinbar so war es, aufgegeben hatte. "Mal sehen ob du immer noch so cool bist, wenn du im Knast ein paar alte Bekannte wiedersiehst." Dann drehte sich Plotz um, im sicheren Wissen bereits die Untersuchungshaft beantragt und genehmigt bekommen zu haben. Dass er auf seine alten Tage nochmal einen Fall bekommt, der ihn so befriedigt, hätte er nicht für möglich gehalten. "Abführen. In einer Stunde wird er in die U-Haft überführt." , sagte er einsilbig zu den beiden uniformierten Beamten, die Kevin erneut Handschellen anlegten, und ihn nach unten in die Zelle führten. Der Polizist leistete keinen Widerstand, dachte an die weinende Jenny und war überzeugt, diesmal alles richtig getan zu haben.



    Landstraße - 13:00 Uhr


    Ben und Semir kamen nicht um ihre Tour herum, trotz aller Gedanken sie sich um Jenny und den Mordfall ihres Vergewaltigers machten... und vor allem um Kevin, der da mit drin hängen könnte. Beide waren geschockt, als sie die Zusammenhänge aus der Akte der Mordkommission gelesen hatten, denn es sprach objektiv tatsächlich vieles gegen Kevin. Sie überlegten, ob sie sofort zu ihm nach Hause fahren sollten, aber die beiden Polizisten waren immer noch verärgert darüber, wie er sich ihnen gegenüber bei dem Einsatz wegen des Drogenhandels auf der Raststätte verhalten hatte. Er verweigerte ihre Hilfe, verweigerte jeden Dialog, was Semir und vor allem Ben sehr getroffen hatte. Trotzdem plagte sie das Gewissen, die Gedanken, und nach der Mittagspause schließlich beschlossen sie, doch zu dem Mehrfamilienhaus zu fahren, wo Kevin seit einigen Wochen mit Kalle zusammen wohnte.
    Es war still im Auto, als plötzlich Semirs Handy klingelte, und er am Lenkrad die Taste für die Freisprecheinrichtung betätigte. "Ja...", sagte er missmutig, als er Andrea's Nummer im Display sah, wofür er von seinem Partner tadelnd angeschaut wurde. "Semir... ich bins. Weißt du, was ich gerade gelesen habe?", sagte Semirs Frau ein wenig hektisch, und der Polizist erkannte sofort, dass es wichtig war, und so versteckte er seinen harschen Ton sofort. "Was denn?" "Kevin ist festgenommen worden.", sagte sie nur und wartete auf eine Reaktion, die prompt kam. "Wie bitte?" Andrea nickte am Apparat und sagte leise und etwas zögerlicher. "In Verbindung mit einem Mord an Mark Schneider... der... der auch was mit der Sache um Jenny zu tun hat, die ich dir nicht erzählt habe." "Andrea, wir wissen bereits alles. Jenny hat Mark Schneider wegen Vergewaltigung angezeigt, und jetzt ist Schneider tot." Andrea schluckte, und sah schräg herüber zu Jenny, die an ihrem PC saß und tippte. Für sie war die Arbeit die beste Ablenkung.


    "Scheinbar hat Plotz bereits genug Beweise für einen Haftbefehl... er soll nach Ossendorf in die JVA.", sagte Andrea wieder etwas leiser, damit die junge Kollegin nichts davon mitbekam. Jenny schaute nicht zu Andrea herüber, sie war momentan gefangen in ihrer Welt. Sie machte sich Gedanken um Kevin, sie hatte die schrecklichen Minuten mit Mark Schneider noch im Kopf und versuchte diese Gedanken krampfhaft zu verdrängen. Sie wollte im Moment auch nicht viel Kontakt zu Kevin, weil sie selbst mittlerweile glaubte, dass er Schneider getötet hatte, auch wenn sie es nicht glauben wollte. Sie erschrak bei dem Gedanken, dass es sie nicht störte, dass jemand dieses Schwein um die Ecke gebracht hatte, aber sie wollte nicht dass Kevin sein ganzes Leben ruinierte, sie wollte nicht dass er sich eigenmächtig einmischt... sie wollte einfach nicht darüber nachdenken und sich von allem ablenken. Schneider, Kevin, dem ganzen Abend...
    "Weiß Jenny schon davon?", fragte Semir. Andrea drehte den Kopf kurz zu der jungen Polizistin, bevor sie antwortete: "Ich glaube nicht. Also, sie macht nicht den Eindruck. Sie versucht sich von allem abzulenken, stürzt sich in die Arbeit und redet ziemlich wenig." "Sag ihr erstmal nichts... sie wird es wohl über das Intranet früh genug erfahren.", sagte ihr Mann, wobei die Sekretärin ihm recht gab. "Was ist mit der Chefin?" "Der sagst du auch nichts, die wird es auch früh genug erfahren. Bis später." Semir legte auf und blickte kurz zu Ben, der völlig fertig aussah... immerhin war er mit Kevin befreundet, auch wenn sie sich ein wenig entzweit hatten nach dem Streit.


    Semir zog auf der Landstraße, als hinter ihm niemand fuhr und ihm auch auf der Gegenspur niemand entgegenkam, die Handbremse um den Wagen umzudrehen und zurück zur Innenstadt zu fahren. "Wir hören uns das mal selbst an von Plotz.", meinte Semir vorsichtig, auch wenn er vieles aus der Akte schon kannte. Ben nickte Semir dankbar zu. Für ihn stand es völlig ausser Frage, Kevin da raus zu holen. Er war, wenn auch nur für wenige Tage, sein Partner und war in einem Moment, in einer Situation da, als Ben ihn brauchte. Das würde er Kevin niemals vergessen. Ausserdem hatte er den Killer seiner Schwester verschont, um ihm das Leben zu retten und Ben würde sich gerne revanchieren. "Wir müssen ihn da rausholen.", sagte er entschlossen, und blickte geradeaus. Semir sah ihn von der Seite an, und bremste ihn ein: "Wir hören uns erstmal alles an." Semir war nicht so überzeugt wie sein junger Partner und dachte etwas rationaler. Alle Indizien sprachen gegen den suspendierten Polizisten, und Semir kannte Kevin mittlerweile ebenfalls. Ben hatte ihm erzählt, wie er Kevin auf dem Dach der Fabrik beobachtete, die Waffe auf den Mörder seiner Schwester richtend und Entschlossenheit zeigend. Er hätte ihn eiskalt umgebracht, Kevin kam von der Straße und musste lernen, keine Skrupel zu zeigen. Es erschrak den erfahrenen Autobahnpolizisten ein wenig, aber er würde es absolut für möglich halten dass Kevin Jenny's Peiniger getötet hatte, vor allem weil er die Schlagkunst kannte. Aber er sprach es erstmal nicht aus...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Mordkommission - 13:45 Uhr


    Semir hatte den BMW auf dem Parkplatz der Mordkommission noch nicht zum Stehen gebracht, da riss Ben schon die Tür auf, so eilig hatte der Polizist es. Er dachte, dass Kevin vielleicht noch verhört werden würde und hatte die Hoffnung, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Semir hetzte seinem Partner hinterher, der bereits vorausging und mit seinen langen Beinen einen Schritt machte, wo der kleine Semir anderthalb machen musste. An der Pforte hatte er seinen Freund eingeholt, beide stiegen die Treppen herauf zum 2. Stock, weil Ben, wie immer, den Fahrstuhl verweigerte, was Semir wie immer akzeptierte ohne nachzufragen... einfach, weil er sich darum keine Gedanken machte, jetzt schon gar nicht.
    Sie lasen auf einem Schild die Zahlenbezeichnung der Mordkommission, darunter alle aufgelisteten Kommissare, die momentan für die Mordkommission tätig waren. Darunter auch die Namen Plotz und Kühne. Mit schnellen Schritten gingen sie durch den recht düsteren Flur, das Klacken ihrer Schuhe auf dem alten Boden klang durch den ganzen Durchgang. Den Kopf immer nach rechts und links drehend um zu sehen, wo der Name Plotz neben an einer Tür stand, blieb Ben plötzlich stehen. Sie hatten das Büro erreicht.


    Ohne anzuklopfen drückte Ben die Klinke herunter und sah den dicken Kommissaren gerade beim Mittagessen. Vor sich hatte er eine McDonalds-Tüte stehen, in seiner Hand ein fettiger Cheeseburger, drei weitere davon gestapelt in Papier gewickelt auf seinem Schreibtisch. Plotz schaute zuerst überrascht, dann verärgert ob des Besuches in seiner Mittagspause. "Schon mal was von Anklopfen gehört?", blaffte er mit vollem Mund, und auch sein Schoßhündchen, der gegenüber von ihm saß, schaute nun auf. "Warum haben sie Kevin verhaftet?", fragte Ben ohne Umschweife, während sich Semir neben ihn gesellte und ein Gefühl des Unbehagen verspürte. Er merkte, dass Ben keinen besonders objektiven Blick auf die Sache hatte, genauso wenig wie Plotz scheinbar. "Weil er ein mutmaßlicher Mörder oder Todschläger ist... das wird dann der Richter entscheiden.", sagte Kühne in einem penetrant korrekten Hochdeutsch, wobei er sich kurz seine Hornbrille zurecht rückte. "Sie haben schon mal mit ihm zusammengearbeitet, Plotz. Sie müssten doch wissen, dass Kevin kein Mörder ist.", sagte der hochgewachsene Kommissar mit scharfem Ton, der den dicken Polizisten aufblicken ließ. "Richtig... und genau weil ich den Kerl kenne, und durch das Ermittlungsverfahren der inneren Abteilung noch besser kenne, weiß ich ganz genau was er auf dem Kerbholz hat." Auch der Ton von Plotz war angriffslustig, was Semir dazu nötigte, beschwichtigend die Hände zu heben.


    "Moment mal, ganz ruhig.", sagte der erfahrene Kommissar und blickte vor allem Ben ein wenig tadelnd an. "Herr Plotz, Kevin ist ein Freund von uns. Wir würden gerne wissen, was genau gegen ihn vorliegt, und warum es einen Haftbefehl gibt. Nur weil er gesehen wurde und von der Vergewaltigung von Frau Dorn wusste, dafür gibt ihnen kein Haftrichter einen Haftbefehl." Semirs Stimme war ruhig und besonnen, auch wenn er von dem Verhalten des Mordermittlers einigermaßen angekotzt war. Trotzdem bemühte er sich, die Situation halbwegs objektiv zu betrachten.
    Plotz hätte den beiden, in seinen Augen völlig unfähigen Polizisten gerne ein "Das geht euch einen Scheißdreck" an den Kopf geworfen... doch sein Siegeszug die entgeisterten Gesichter zu sehen, wenn er den beiden eine lupenreine Indizienkette vorlegen würde, war ihm dann doch lieber. Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. "Peters wurde nicht nur gesehen und eindeutig erkannt.", begann er, bevor er die letzten Bisse seines ersten Burgers runterschluckte. "Er hat ein glasklares Motiv. Das Verhältnis zwischen ihm und Frau Dorn war scheinbar enger als nur ein Kollegenverhältnis." Gesagt hatte Jenny das nie, doch ihre Reaktion auf diese Frage am gestrigen Abend ließ Plotz einfach zu diesem Schluß kommen. "Wobei das in eurer Dienststelle scheinbar Normalität ist...", sagte er in einem abwertenden Ton in Richtung Semir, der bekanntlich mit Andrea von der gleichen Dienststelle verheiratet war. Ben wollte dieser Provokation bereits antworten, spürte jedoch Semirs Hand am Arm, der betont freundlich und gelassen blieb. "Und weiter?" Plotz schob den beiden Männern ein Laborgutachten hin. "Laut diesem Bericht haben wir Hautpartikel von Peters verschrammten Fingerknöchel in den Platzwunden des Opfers gefunden." Semir hob das Papier vom Schreibtisch, und überflog es... zweifellos. Das war ein eindeutiger Beweis, dass Kevin zugeschlagen hatte. "Ausserdem haben wir das...", mit einer Bewegung warf Plotz ihnen das Buch auf den Tisch, das er in Kevins Wohnung mitgehen hat lassen. "...gefunden. Mit einem Schlag dieser sehr speziellen Kampfkunst wurde der Mann getötet. Einem Schlag auf die Brust, nach dem innerhalb von 15 Minuten ein Herzstillstand eintritt. Ich weiß nicht, ob man bei sowas noch von Todschlag sprechen kann." Ben betrachtete das Buch, und er fühlte, dass ihm schlecht wurde. Davon hatte ihm der suspendierte Polizist mal erzählt, dass er fasziniert sei von dieser Kampfkunst.


    Trotzdem, Ben wollte nicht glauben, dass Kevin zum Mörder geworden war. Das konnte einfach nicht sein, es würde alles kaputtmachen was Ben bisher über seinen Freund geglaubt hatte. "Gab es nichts besonderes beim Opfer? In dessen Lebensakte?", hakte er nach und erntete Unverständnis. "Der Junge war Kommissarsanwärter. Was denken sie, sollen wir da rausfinden?" "Vor allem war der Kerl ein mieser Vergewaltiger.", sagte der Polizist laut und stützte sich mit zwei Armen auf den Schreibstisch von Plotz, näherte sich mit dem Gesicht an den dicken Kommissar heran. "Und wer Frauen vergewaltigt, der hat auch andere Dinge auf dem Kerbholz. Habt ihr nun ermittelt, oder nicht?" "Da gibt es nichts zu ermitteln, sie Grünschnabel. Wir haben den Mörder von Mark Schneider überführt. Peters war eindeutig in der Wohnung und hat zugeschlagen, letzteres hat er sogar abgestritten bis wir den genauen Beweis hatten." Ben verlor er die Nerven. Er packte einen, der drei noch da liegenden Cheeseburger und beförderte ihn mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb, wobei er provokant sagte: "Weniger Fett wäre besser fürs Hirn. Dann würden sie auch aus ihrem Tunnelblick rauskommen." Semir fuhr mit der Hand über seine Augen, das hatte er ja schon kommen sehen. Als Plotz ruckartig, schneller als man es mit seiner Figur erwarten konnte, aus seinem Stuhl aufstand, fasste er seinen Freund an der Schulter und zog ihn zurück. "Was bilden sie sich eigentlich ein? Ich werde mich bei ihrer Chefin beschweren.", rief er laut, wobei er dann provokant nachsetzte: "Ach, das hat eh keinen Sinn. Was soll man von einer Vorgesetzten erwarten, die solche Schmalspurpolizisten wie euch nicht unter Kontrolle hat, und noch dazu Kriminelle in Schutz nimmt. Und jetzt raus aus meinem Büro." Gerade wollte Ben erneut antworten, doch Semir kam ihm zuvor. "Es reicht jetzt. Danke, für ihre freundliche Unterstützung." Er zog seinen Freund vom Schreibtisch weg und schubste ihn in Richtung Bürotür. Hinter sich grollte Plotz: "Und wagen sie es ja nicht sich in irgendwelche Dinge einzumischen. Das wird sie ihre Karriere kosten."


    Wortlos stapfte Ben vor Semir die Treppe runter. Sein Adrenalin kochte, sein Kopf und sein Herz bebten, nur sein Verstand wusste nicht, was er glauben sollte. Es sprach wirklich ALLES gegen Kevin... aber so blöd konnte der doch nicht sein, so einen dummen Mord zu begehen. Und wenn es im Affekt war? Würde er es dann leugnen? Hätte er sich dann nicht gemeldet und um Hilfe gebeten? Wäre er dann nicht geflohen? Am Ausgang spürte er, wie er von Semir am Arm festgehalten wurde. "Sag mal, gehts noch? Was sollte das denn da drinnen?", fuhr der kleine Polizist seinen jüngeren Kollegen an, als sie auf dem Parkplatz standen. "Ich lasse mich von diesem fetten Köter nicht verarschen. Kevin hat niemanden umgebracht." "Ben, bei solchen Typen erreichst du nur was, wenn du ihm hinten rein kriechst. Er hat uns vorgelegt, was Sache ist." Ben sah Semir entgeistert an. "Du glaubst ihm? Du denkst, Kevin hat den Kerl umgebracht?" Fassungslos lachte er auf, schüttelte den Kopf. "Ich bin Polizist. Ich glaube erst mal nur den Fakten. Und Fakt ist, dass Kevin diesen Mark Schneider zusammengeschlagen hat, gesehen wurde und ein Motiv hat." Der Polizist mit dem Wuschelkopf stemmte die Hände in die Hüften. "Du hast ihn doch selbst beobachtet damals... auf dem Dach der Fabrik. Du hast selbst gesagt, dass du fest damit gerechnet hast, dass er abdrücken würde." Ja, das hatte Ben. Er hätte es Kevin ohne Zögern damals zugetraut. Aber es war eine Ausnahmesituation... der Kerl war der Killer seiner Schwester. Er hatte Kevin damals beinahe seelisch gebrochen. Das war etwas anderes.


    "Ben, ich möchte auch nicht glauben, dass Kevin ein Mörder ist. Aber leider... sieht es momentan so aus." "Ja. Und weil es so aussieht, müssen wir ihm helfen. Wir müssen alle anderen Möglichkeiten abchecken, die es noch gibt." Semir sah Ben zweifelnd an. Was stellte sich sein Kollege da nur vor. Semir sah die Sache wie ein erfahrener Polizist, er sah die Indizien und die Fakten, die alle gegen Kevin sprachen... so leid und so weh es ihm auch tat. Und Ben spürte die Zweifel seines Freundes... er sah sie quasi. "Du glaubst, ich spinne, hm?", sagte er und Semir schüttelte den Kopf. "Ich glaube, du siehst das ganze nicht objektiv." "Du willst ihn also hängen lassen? Kevin hat mir das Leben damals gerettet... und er hätte beinahe seins gegeben, dafür dass Jessy DICH nicht abknallt." Bens Stimme wurde im Verlauf des Satzes immer lauter und ließ Semir nachdenklich werden. Kevin hatte sich selbstlos und im blinden Vertrauen vor die Waffe einer Geiselnehmerin gestellt, um Semir zu schützen. Die hatte abgedrückt, doch das Magazin war leer... was keiner der Beteiligten wusste. "Der große Bruder...", meinte Ben noch höhnisch und klang beinahe verzweifelt. Weil Semir damals derjenige war, der auf Kevin einwirkte, hatte der ihn so genannt, was den erfahrenen Polizisten sehr schmeichelte. Der stand nun da, die Hände in der Hüfte und sah zu Boden, doch Ben war noch nicht fertig.
    "Und ich bin nicht objektiv... Ich will dir mal was sagen: Du hast deinem Partner André geholfen, und ihm geglaubt, dass er bedroht wurde, als er den Mann erschossen hat. Du hast ihm geholfen, obwohl du nicht genau wusstest, was los ist." Semir sah auf und wollte sich wehren: "Das ist etwas anderes. André war drei Jahre lang mein Partner." Ben nickte: "Ja... und Kevin war drei Tage lang mein Partner. Das reicht mir, ihn nicht hängen zu lassen." Danach drehte Ben sich von Semir weg und ging in Richtung des silbernen BMWs. Die letzten Worte trafen Semir ins Herz, und ließen ihn nachdenklich zurück.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • JVA - 14:30 Uhr


    Mit einem zivilen Dienstwagen wurde Kevin zur Justivvollzugsanstalt nach Ossendorf gefahren. Die Hände hatte man ihm sicherheitshalber mit Handschellen auf den Rücken gefesselt, diese wurden nach dem Aussteigen hinter der Sicherheitszone abgenommen. Sollte er hier versuchen abzuhauen, hätte das so gut wie keine Erfolgsaussichten. Seine Papiere wurden ihm abgenommen und verwahrt, genauso wie sein Handy und seine Schlüssel. Formulare wurden von den beiden Beamten ausgefüllt, die ihn hierher brachten, die er unterschreiben musste. Auf einem der Zettel stand in Handschrift: "Dringender Mordverdacht" geschrieben, ein Wort dass auf Kevins Körper eine Gänsehaut auslöste, genau wie die gesamte Umgebung.
    Früher als Jugendlicher hatte er immer damit gerechnet, irgendwann mal hinter Gitter zu landen. Jetzt war dieses Gefühl irgendwie unwirklich, und die kahlen grauen Wände um ihn herum strahlten etwas Kaltes, Uneinladendes aus. Er wurde angehalten, heute noch einen Verwandten anzurufen, der ihm ein paar Klamotten ins Gefängnis bringt, oder aber einen Beamten dazu beauftragen. Kevin nickte nur, er sprach kein Wort, er war zu sehr in Gedanken versunken, und er würde in Zukunft viel Zeit zum Nachdenken haben.


    Die zwei Polizeibeamten verabschiedeten sich bei den Gefängniswärtern und kehrten zurück in den Dienst... etwas, was Kevin nun auch liebend gern getan hätte. Doch er musste nun dem Wärter folgen, durch viele helle, teils dunkle Flure, bis er vor einer Stahltür stand, die der Wärter nun aufschloß. Die Zelle war klein, es waren zwei Pritschen und ein Waschbecken vorhanden. Eine Tür, die nicht richtig schloß, grenzte den Bereich zu einer Toilette ab, immerhin. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen noch drin, an dem Tisch saß ein junger Kerl, jünger als Kevin und sehr schmächtig, beinahe klein. Er hatte verschreckte Augen und blickte auf, als die Tür sich öffnete, und Kevin von dem Wärter hineingeschubst wurde. "Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt.", meinte einer der beiden höhnisch und grinste. Über einer Pritsche hingen kleine Bilder und Poster was darauf hinwies, dass diese dem kleinen Kerl gehörte, also warf Kevin sein Bettzeug, dass er in der Hand hielt auf die gegenüberliegende Matratze. "Philipp, warum bist du hier drin und nicht draussen um diese Zeit im Gemeinschaftsraum?" Die Stimme des Jungen, der fast noch kindlich wirkte, war hell als wäre sie kurz vorm Stimmbruch. "Ich... ich bin lieber hier... und... lese.", sagte er ein wenig stotternd, beinahe nervös. Der Wärter nickte und zog die Zellentür wieder zu. In freien Stunden konnten sich die Gefangenen frei im Gefangenenbereich bewegen, erst nach dem Abendessen wurden die Zellen verschlossen.
    Kevin ließ sich auf die Matratze nieder, stützte die Arme auf die Beine und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und die abstehenden Haare. Er seufzte auf... war er diesmal wirklich zu weit gegangen? Er hatte es für Jenny getan, für sein eigenes Gewissen. Er hatte sich so sehr in seine Vergangenheit zurück versetzt gefühlt, dass es ein Drang für ihn war, diesen Menschen, der Jenny das angetan hatte, zu bestrafen, weh zu tun. Er hatte über die Konsequenzen seines Handelns nicht nachgedacht.


    Der suspendierte Polizist merkte für einen Moment gar nicht, dass er hin und wieder neugierig beobachtet wurde. Erst als er aufblickte und sah, dass Philipp sich auf dem klapprigen Holzstuhl umgedreht hatte und zu Kevin rübersah, bemerkte er das Interesse des Jungen. "Gehts dir nicht gut?", fragte er neugierig, aber mit gehörigem Respekt. "Wie soll es mir schon gehen, nachdem ich gerade eingebuchtet wurde.", war die kratzige Antwort, die den Jungen ein wenig zusammen zucken ließ. Offenbar musste er seine Neugier häufiger bezahlen, Kevin erkannte in seinem Gesicht eine leicht violette Schwellung an der Wange. "Und... warum... bist du hier?", fragte er dann dennoch zaghaft und zog ein wenig den Kopf ein, als hätte er Angst sofort eine von dem jungen, viel größeren und kräftigeren Mann, gescheuert zu bekommen.
    Kevin war für eine Art Smalltalk jetzt überhaupt nicht zu gebrauchen. Er stand ruckartig auf, so dass Philipp vor Schreck beinahe nach hinten gegen den Tisch fiel, und sagte: "Ich hab jemanden totgeschlagen." Er sagte es mit einer Stimme, die er selbst nicht erkannte... mit einer Überzeugung, vor der er selbst erschrak. Jedenfalls erreichte er, dass der Junge in seiner Zelle vor ihm zurückwich, und sich jede nächste Frage verkniff. Er drehte sich auf dem Stuhl um und vergrub seine Nase wieder in dem Buch, das er las... unwissend, dass Kevin sich niemals an Kleineren vergreifen würde, egal wie sehr sie ihm auf die Nerven gehen würden. Aber er wollte jetzt Ruhe, und wenn Härte erstmal das Mittel zum Zweck waren, dann sollte das eben so sein. Im Knast würde er diese gespielte Überzeugung noch häufiger brauchen.


    Kevin verließ die Zelle und ging durch die kahlen, farblosen Gänge, über die Tretgitter der beiden Stockwerke, in denen die Gefangenen untergebracht waren. Alte vergammelte Schilder zeigten teilweise an, wo man was finden konnte. Selbsterkundung war angesagt, von den Wärtern hatte Kevin weder Arbeits- noch Essenszeiten gesagt bekommen. Der Weg zum Telefon war der erste, den Kevin antrat. Er hatte einen Anruf frei und kurz überlegte er, ob er den für Hilfe vergeuden sollte und bei der Autobahnpolizei anrufen sollte, oder doch Kalle, die ihm Klamotten bringen sollte. Als er sah, dass ein Wärter bei dem Telefonat über die Schulter blickte, entschied er sich für Zweiteres. Kalle war erst mal geschockt, aber doch einiges aus der Familie Peters gewohnt. "Ich habe deinem Vater schon öfters Klamotten in den Knast gebracht, als ich selbst einkaufen war.", schnaubte sie mit ihrem gewohnt trockenen Humor durchs Telefon und versprach, heute noch vorbei zu kommen. Der junge Polizist bedankte sich, und legte auf.
    Dann ging er langsam zum Gemeinschaftsraum. Es war ein großer Raum, beinahe ein Saal, und er war nicht einladender als die Zelle oder die Gänge, die dazwischen lagen. Ein Fernseher hing in einer Ecke, darunter stand eine Sitzgruppe. Eine Tischtennisplatte und ein Kickertisch, die beide belegt waren, standen herum. Ausserdem mehrere Bänke, auf denen Gefangene saßen, sich unterhielten, Zigaretten drehten oder Bücher lasen. Einige Augenpaare schauten Kevin aber auch neugierig an, wie immer wenn ein Gesicht auftauchte, das niemand kannte. Ein ziemlich kräftiger Typ, der auf der Couch thronte wie ein König unterhielt sich kurz mit seinem Nebenmann, den Blick nicht von Kevin abweichend. "Ein Neuer?", fragte er mit kratziger Stimme, und der Kerl neben ihm schien zu nicken. "Sieht ganz so aus. Den sollten wir mal testen." Ein diabolisches Grinsen breitete sich auf den beiden Gesichtern aus, während der Polizist sich auf eine Bank, die noch frei war, niederließ und seine Umgebung beobachtete.


    Der etwas zu kurz geratene Kerl, der gerade noch bei dem Typen auf der Couch saß, ging nun zu dem einzigen Wärter, der den Raum im Auge hatte. Beide tuschelten etwas zueinander, bis der Wärter den Raum verließ. Die Gefangenen, die dies mitbekamen, richteten den Blick sofort auf Kevin... mitleidig, herausfordernd, amüsiert. Hendrik, der kräftige Kerl auf der Couch, der sich die Haare an den Schädelseiten abrasiert hatte, erhob sich und ging auf Kevin zu, während einige der Sitzgruppe sich ebenfalls erhoben, und Hendrik folgten. Der Polizist blickte erst auf, als Hendrik schon direkt vor ihm stand. "Du bist neu hier?", fragte er nach unten, den Kevin machte keinerlei Anstalten für Hendrik auf zu stehen. "Sieht ganz so aus.", war seine typische, schmallippige Antwort. "Wir mögen hier aber keine Neuen. Schon gar nicht, wenn sie ne große Fresse und nichts dahinter haben." Die Blicke der beiden kreuzten sich, und oft kam es vor, dass das Gegenüber des tätowierten Mannes vor Angst die Augen senkte... nicht bei Kevin. Der hatte mit solch einer Konfrontation gerechnet, schließlich bekam er in der Gang öfters mal erzählt, was im Gefängnis so abging... was sich in den letzten 12 Jahren sicherlich nicht geändert hatte.
    "Tja, das ist dann wohl eher dein Problem.", meinte Kevin seelenruhig mit arrogantem Unterton und Hendrik lächelte. Er musterte den Typen vor sich, der weder kräftig noch besonders brutal aussah, oder zumindest ansatzweise wie ein ernst zu nehmender Gegner. Er drehte den Blick über die Schulter zu Yanek, ein Glatzkopf der schräg hinter ihm stand, und nickte. Yanek war Hendriks Handlanger, ein perfektes Werkzeug, das nicht widersprach und normalerweise Neuankömmlinge testete, die nicht sofort vor Hendrik zu winseln begannen. Der kräftig gebaute Kerl trat einen Schritt zur Seite und meinte in Kevins Richtung: "Schauen wir mal, ob es nicht vielleicht doch dein Problem wird.", und ließ Yanek den Vortritt. Als Kevin sah, was dieser vor hatte, erhob er sich nun doch mit einem Ruck... zu spät...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Pathologie - 15:00 Uhr


    Semir zeigte sich einsichtig, denn Bens Worte hatten ihn beeindruckt, und getroffen. Ja, Kevin war Bens Partner für einige Tage und Semir selbst war nicht dabei, er konnte nicht wissen wie nah sich die beiden standen. Und ja, Semir hatte André beinahe blind vertraut. Er hatte ihm zwar zurecht vertraut, denn André hatte das Vertrauen in keinster Weise missbraucht, aber er hatte ihm vertraut, und so konnte er sich ein Stück weit in Ben hinein versetzen. Er konnte sich vorstellen, wie Ben darunter litt, dass er für seinen Freund nichts tun konnte, bzw es ihm nicht erlaubt war, etwas zu tun. Ausserdem wusste der erfahrene Polizist auch, dass er in gewisser Weise noch in Kevins Schuld stand, als dieser sich vor die Waffe der Geiselnehmerin gestellt hatte, die bereits auf Semirs Kopf zielte. Er hatte unwissend sein Leben aufs Spiel gesetzt, was der Kommissar dem jungen Kollegen hoch anrechnete.
    Diese kleine Erinnerung von Ben gab den Ausschlag, dass Semir, obwohl er nur schwer an Kevins Unschuld glauben konnte, letztlich doch nachgab. "Lass uns zur Pathologie fahren. Meisner kennt uns doch gut, vielleicht erzählt der uns etwas.", sagte er in einem versöhnlichen Ton, als er den Wagen startete, und Ben nickte. Es war eine Mischung aus stummen, aber erfreuten Nicken, denn Ben war erleichtert, dass Semir ihm nun doch zur Seite stand, und sie zumindest den Mordfall soweit untersuchen würden, bis sie selbst Kevins Schuld eindeutig bewiesen hatten, oder einfach keinerlei Hinweise auf einen anderen Tathergang finden würden.


    Die Pathologie war ein unangenehmer Ort. Er war kalt, farblos und allerlei bedrückende Gerüche über den Tod hingen in den Räumen. Die beiden Polizisten meldeten sich an und wurden zu Roland Meisner ins Büro gebracht. "Hey ihr zwei Straßen-Cowboys.", begrüßte der erfahrene Pathologe die beiden Polizisten, die ihn ebenfalls anlächelten. "Hallo Meisner, alter Leichenschnippler.", sagte Semir, und die drei Männer schüttelten sich die Hände. "Was kann ich für euch tun?", fragte der leicht ergraute, größer gewachsene Mann und lächelte wie immer freundlich. "Es geht um den Mord an Mark Schneider. Wir wollten mal hören... ähm...", Semir blickte kurz zu Ben, bevor dieser fortfuhr. "Was du so rausgefunden hast." Meisner schaute die beiden Autobahnpolizisten ein wenig misstrauisch an. "Ihr seid doch gar nicht für den Fall zuständig. Plotz und sein Kollege ermitteln in dem Fall, und haben, wie ich hörte, auch schon einen dringenden Tatverdächtigen festgenommen." Wieder tauschten die beiden Polizisten kurz Blicke aus, blindes Verständnis und eine wortlose Kommunikation. Semir sagte daraufhin: "Ja klar. Aber... vielleicht sind die beiden ja auch auf dem... Holzweg." Dabei setzte Semir eine so vertrauenserweckende Miene auf, dass es Meisner schwerfiel, nicht sofort los zu lachen. "Wollt ihr nun die beiden vom Holzweg überzeugen, oder in dem Mordfall ermitteln?", fragte er belustigt. "Das Eine schließt das Andere ja nicht aus.", grinste Ben lässig.
    Der Pathologe schüttelte den Kopf. "Ihr wisst genau, dass ich euch das nicht darf.", sagte er mit ironischem Unterton, suchte eine Akte aus einem Stapel und legte sie, rein zufällig, auf den Schreibtisch. "Und wehe, ihr schaut euch auf meinem Schreibtisch um, während ich uns mal eine Tasse Kaffee mache." Dabei stand er auf und ging zu einer Kaffeemaschine am anderen Ende des Raums. Die beiden Polizisten hatten natürlich sofort begriffen. Meisner durfte ihnen die Akte nicht zeigen, aber wenn sie illegalerweise einen Blick reinwarfen, konnte man ihm eher wenig anhängen.


    Ben nahm die Akte, und begann zu lesen. Semir stellte sich neben ihm auf die Zehenspitzen um ebenfalls einen Blick hinein zu werfen. "Tod durch Herzstillstand. Leichte Gehirnerschütterung noch feststellbar, vermutlich durch Schlagwirkung am Kopf. Schwellung des Brustbeins, durch Schlageinwirkung auf die Brust." Nichts Neues für die beiden Autobahnpolizisten, all das hatten sie bereits von Plotz gehört, bzw in dessen eigenen Verschriftungen nachgelesen. "Wie sicher kannst du sein, dass der Herzstillstand durch den Schlag auf die Brust eingetreten ist?", rief Semir in Richtung Meisner, der mit drei Tassen zurückkam, und nun keinerlei Anstalten machte, den beiden die Akte aus der Hand zu reißen. "Der Schlag kam auf einen recht zentralen Punkt. Da wusste jemand, wo er hinzuschlagen hatte. Es gibt da so eine fernöstliche Kampfkunst, die beschäftigt sich mit solchen speziellen Schlägen." Ebenfalls etwas, was nicht für Kevin sprach, sie hörten es aus Meisners Mund. "Ausserdem waren die Drogenrückstände in seinem Blut so gering, das hätte nicht ausgereicht um einen Herzstillstand auszulösen." Nun blickten die beiden Polizisten gleichzeitig von der Akte auf. "Drogen?", kam es aus beiden Mündern. "Ja, steht doch hier." Meisner stellte sich schräg neben die beiden Polizisten und wies mit dem Finger auf einen unteren Absatz. "Wir fanden im Blut minimale Rückstände von Speed. Die Partydroge aus den 90ern. Hilft aber immer noch, um gut drauf zu sein, oder sich besonders toll zu fühlen. Er hatte sie mindestens 12 Stunden vor seinem Tod genommen, vielleicht aber auch 18 Stunden davor. So in dem Dreh." Ben blätterte weiter, ohne noch etwas Besonderes zu finden, während sein Partner sich wieder an Meisner wandte: "Hast du Plotz davon erzählt?" "Das hatten wir heute nachmittag erst rausgefunden. Ich hab es ihm gesagt, aber es hatte ihn nicht mehr interessiert, es sei nicht von Belang. Sie hätten soeben einen Tatverdächtigen verhaftet, und die Indizien würden gegen ihn reichen." Dabei zuckte er beinahe entschuldigend mit den Schultern, als sei er nicht Schuld daran, dass der Ermittler der Mordkommission an diesem Ergebnis kein Interesse hatte.


    Die beiden Polizisten bedankten sich bei Meisner und versprachen, niemandem davon zu erzählen, dass er ihnen Einblick in die Ergebnisse gewährt hatte. Draussen atmeten sie die frische Spätsommerluft ein, es war angenehm aus dieser bedrückenden Kühle wieder an die Sonne zu kommen. "Das erklärt wohl, dass er über Jenny hergefallen ist.", meinte Semir, als die beiden zum Auto zurückgingen. "Das ist ja wohl keine Entschuldigung für sowas.", brummte sein Partner, doch Semir stellte sofort klar: "Ich hab ja auch gesagt "Erklärung", nicht "Entschuldigung."" Sie schritten über den Parkplatz der Pathologie, bis sie zu dem silbernen BMW gelangten und Semir sich auf den Fahrersitz gleiten ließ, Ben gesellte sich auf den Beifahrersitz. "Also mal angenommen, Kevin hat den Kerl nur zusammengeschlagen... dann muss nach ihm noch jemand in der Wohnung gewesen sein, den die Zeugin nicht gesehen hat. Vielleicht war der schon da, oder er kam erst danach. Und schiebt die ganze Sache Kevin in die Schuhe.", sprach Ben seine Gedanken laut aus. Semir schüttelte skeptisch den Kopf: "Ich glaube nicht, dass jemand das geplant Kevin zuschieben will. Dann hätte er ja erstmal Schneider beauftragen müssen, Jenny zu vergewaltigen, damit Kevin einen Grund hatte, ihn zu besuchen... und sich umbringen lassen.", wiedersprach er. "Du glaubst also, dass das einfach ein dummer Zufall ist?" Semir blickte durch die Frontscheibe nach draussen, die Hände um das Lenkrad gelegt. "Ich weiß es nicht. Aber ein Polizeianwärter, der Speed konsumiert... der muss das Zeug auch irgendwo herbekommen, und es bezahlen. Vielleicht hat ein Dealer rausbekommen, dass er Polizist ist."
    Beinahe gleichzeitig kam den beiden Polizisten ein schrecklicher Gedanke: "Und vielleicht...", meinte Semir vorsichtig, um Ben nicht wieder auf den Schlips zu treten, aber auch weil er den Gedanken erst einmal fassen musste: "...vielleicht war Kevin nicht nur wegen Jenny da." Ben sah Semir an, nicht verärgert sondern ebenfalls er erschrocken, weil er die gleichen Gedanken hatte. "Als Verkäufer? Das Zeug, dass er auf dem Rastplatz eingekauft hatte?" Semir nickte stumm, und Ben atmete tief durch. Verdammt, plötzlich waren sie über den Fund der Drogen in Schneiders Blut gar nicht mehr so sehr begeistert.


    Doch dem erfahrenen Ermittler kam bereits die nächste Idee: "Lass uns zu Bienert fahren. Vielleicht hat er was aus Kevin rausbekommen letzte Nacht." "Glaubst du, der erzählt uns etwas darüber?", meinte Ben ein wenig misstrauisch, doch Semir winkte sofort ab: "Ich kenne Bienert schon länger. Einen kollegialeren Polizisten wirst du in Köln nicht finden. Der hilft uns bestimmt weiter."

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  • JVA - 15:10 Uhr


    Der Schlag kam so unerwartet, wie kraftvoll. Er konnte gerade noch aufstehen, sonst hätte Yanek ihm eine echte Breitseite ins Gesicht mitgegeben, so traf Yanek die Rippen, was aber für Kevin ebenfalls sehr schmerzhaft war, und ihm für einen kurzen Moment den Atem raubte. Die Häftlinge um ihn herum begannen zu jubeln und zu gröhlen, offenbar war dieses Aufnahmeritual typisch für einen Neuankömmling. Yanek wollte sofort einen weiteren Schlag ansetzen, diesmal frontal, wieder in Richtung Kevins Gesicht. Doch der war jetzt bereit und wachsam, und wich dem Schlag erstmals aus, schaffte es gerade noch so rückwärts auf die Bank, auf der er gerade saß, zu springen. Aus dieser leicht erhöhten Position zog er seinem Gegner den Schuh durchs Gesicht, der nun seinerseits nach hinten taumelte, und es wurde urplötzlich still im Saal.
    Die Häftlinge sahen drein, als hätte es gedonnert. Sie schauten sich gegenseitig ins Gesicht, denn offenbar war es nicht normal, dass es jemand wagte, Yanek oder seinem Chef Paroli zu bieten. Der Kerl hielt sich die Wange, wo Kevins Fuß ihn getroffen hatte. Auch er sah zuerst verwirrt drein, doch dann wich die Verwirrung der Wut. "Na warte, du Bastard.", schäumte er und machte einen Schritt auf Kevin zu, der rückwärts von der Bank sprang. Yanek war sowohl schnell, als auch stark, er riss die Bank zur Seite, während der suspendierte Polizist sich zunächst im Rückwärtsgang befand. Eine Schlagkombination von Yanek ging zuerst ins Leere, doch ausweichen und rückwärts gehen war schwer... und so traf der dritte Schlag Kevin nun doch im Gesicht und tauchte alles um ihn herum in einen blutroten Nebel, der ihn zu Boden sinken ließ. Langsam begann die Meute wieder zu jubeln, als sie bemerkte, dass Yanek die Oberhand gewann.


    Kevin wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Nase, als er harte Hände an seinem Shirt spürte, die ihn gewaltsam hochzogen. "Na, du Wichser... war das alles?" Der Polizist spürte die Bärenkräfte des Mannes, der trotzdem gewandt und schnell erschien, er versuchte ihn mit den Händen am Brustkorb wegzudrücken, doch der Kerl wankte keinen Meter zurück. Also wählte Kevin die letzte Möglichkeit und gab ihm mit Wucht eine Kopfnuss. Sofort löste sich der Griff, Kevin nutzte den kurzen Blackout, trat Yanek erst mit voller Wucht auf die Niere, was ihn zuerst sich nach vorne beugen ließ, und zog ihm dann mit einem Fußfeger das Standbein weg. Krachend landete der keuchende Kämpfer auf dem schmutzigen Boden des Aufenthaltsraums, während sein Gegner in Kampfhaltung und schnell atmend vor ihm stand.
    Doch noch war Yanek nicht geschlagen. Ebenfalls im Gesicht blutend rappelte sich Hendriks Handlanger auf, während Kevin auf ihn wartete. Ein kurzer Blick an seinem Gegner vorbei, der diesen nicht genau sah, und sofort ging Yanek wieder nach vorne. Wilde Schläge, nicht präzise aber gefährlich, ließen Kevin immer wieder ausweichen und rückwärts gehen, bis er plötzlich zwei Handpaare jeweils um einen Arm gepackt spürte. Zwei von Hendriks Männer hatten sich hinter ihm aufgebaut, und hielten den Polizisten nun in Schach, so dass er sich nur noch geringfügig wehren konnte. Yanek wurde zuerst mit einem gezielten Tritt auf Distanz gehalten, doch als der den ersten Schlag gegen Kevins Magen ins Ziel brachte, brach der Widerstand. Er versuchte nur noch, alle Muskeln soweit es ging anzuspannen, um die Schläge erträglicher zu machen. Das funktionierte zwar, solange Yanek auf Kevins Körper schlug, doch als eine krachende Rechte wieder Kevins Gesicht fand, brach auch dieser Widerstand, denn dabei gingen dem Polizisten die Lichter aus. Er spürte noch, wie mehr warmes Blut aus seiner Nase lief, wie seine Lippe aufplatzte und seine Beine nachgeben wollten. Er hörte wie unter einer Käseglocke die lauten Jubelstürme, die Anfeuerungsversuche, und einen lauten Ruf der klang wie: "Lasst ihn los!".


    Es war kein Wärter, der in diese Prügelei endlich eingriff. Kevin erkannte die Stimme, auch wenn sie sich dumpf und weit weg anhörte, und er sah angestrengt, keuchend auf. "Was willst du, Thomas? Das ist unsere Sache.", sagte Hendrik mit dominanter Stimme zu dem, ebenfalls recht kräftigen Kerl, der aus der Masse nun dazu kam. "Eure Sache.", spottete der nur und spuckte auf den Boden. "Eure Sache sind bei euren Ritualen faire Zweikämpfe. Aber wenn sich mal einer wehrt, wird er festgehalten? Pah." Hendrik kaute sich auf der Unterlippe, und sah Thomas durchdringend an. Er kannte den Mann, der schon seit Frühsommer hier im Gefängnis war. Thomas hatte sich aus allen Revierkämpfen rausgehalten, hatte bei seiner Neuankunft im Gefängnis Hendriks anderen Handlanger krankenhausreif geprügelt, so sehr dass sich niemand traute ihn fest zu halten. Seitdem wurde er von allen in Ruhe gelassen. Deswegen hatte seine Drohung auch bei Yanek Gewicht, als er sagte: "Wenn du heute Nacht ein weiches Bett auf der Krankenstation haben willst, dann schlag noch einmal zu." Yanek sah ein wenig hilflos auf Hendrik, der allerdings nur stumm nickte. Die beiden Kerle ließen von Kevin ab, der Mühe hatte, nicht auf den Boden zu sinken. Sein Gesicht brannte und pochte, das Atmen tat ihm weh, doch so langsam begann er klar zu sehen. Vor ihm stand tatsächlich Thomas Stern... Jessys Bruder, den er, Semir und Ben vor einigen Monaten festgenommen hatten. Er hatte bei dem Zugriff seinen Bruder verloren, zeigte sich aber beim Geständnis mit Kevin sehr einsichtig, und die beiden Männer spürten damals, dass sie einiges gemeinsam hatten.


    Hendrik und der Rest seiner Gruppe trollte sich langsam, ein Wärter kam wieder herein, nachdem er merkte dass die Show zu Ende war und Thomas packte Kevin am Arm. "Dich hab ich hier nicht wirklich erwartet.", meinte er mit einer eigenartigen Stimmlage... Kevin konnte nicht ganz einschätzen ob sie höhnisch oder fürsorglich klang. Trotzdem brachte er ein schmerzverzerrtes "Danke" für sein Eingreifen über die Lippen. "Komm.", sagte sein Retter und führte Kevin am Arm zu den engen und schmutzigen Toiletten. Kevin sah langsam wieder etwas klarer, konnte alleine gehen und schlug sich vor dem kleinen zersprungenen Spiegel Wasser ins Gesicht. Er betrachtete sich selbst im Spiegel, und war beinahe erschrocken. Die Lippe aufgeplatzt, ein Cut über dem Auge, doch noch mehr Angst machte ihm sein Blick. Er war leer und ohne Hoffnung, er war ohne Weg und ohne Ziel. Immer noch hatte er sich die Frage selbst nicht beantwortet... hatte er den Typen wirklich umgebracht? Hatte er ihm einmal zu fest auf die Brust geschlagen? Ist er zu weit gegangen damit, den Kerl zusammen zu schlagen, der Jenny vergewaltigt hatte?
    Thomas stand schräg hinter Kevin und betrachtete den Polizisten, während der sich das Gesicht wusch. Dass Kevin kein normaler Schreibtischbulle war hatte er bereits damals bemerkt. Dass er aber als Gefangener im Knast auftauchen würde, damit hatte er nun nicht gerechnet. "Bist du undercover hier drin?", fragte er, nachdem er sich kurz vergewissert hatte, ob die Kabinen leer waren. "Schön wärs.", sagte Kevin düster und schmallippig. Thomas schob die Augenbrauen nach oben. "Hör auf mich zu verarschen." Die beiden redeten, als würden sie sich jahrelang kennen... als wären sie Bekannte, die sich wieder sahen. Dabei war Thomas damals Kevins Entführer, und nun waren sie beiden Häftlinge. Thomas ein verurteilter Todschläger und Entführer, Kevin ein vorläufig festgenommener Todschläger.


    Kevin drehte sich um, und stützte sich mit den Händen auf das Waschbecken, das in seinem Rücken stand. "Ich verarsch dich nicht. Ich sitze." "Warum?" Der suspendierte Polizist atmete tief durch und sah auf den Boden. "Das ist eine verdammt lange Geschichte. Und ich hab eigentlich überhaupt keine Lust, sie zu erzählen." Dabei drehte sich Kevin von Thomas weg und wollte gerade aus den Toiletten rausgehen, als Thomas ihn am Arm festhielt. "Allein wirst du hier drin nicht lange überleben. Schon gar nicht, nachdem Hendrik weiß, dass du dich einigermaßen wehren kannst." Der junge Mann blickte seinen Mahner kurz misstrauisch an, bevor er mit einer energischen Bewegegung seinen Arm befreite. "Ich brauche keinen Babysitter.", sagte er mit seiner monotonen Stimmlage, und verließ endgültig die Toilettenkabinen. Nur schwach hörte er noch ein leises "Ganz wie du willst.", von Thomas, und der Polizist fragte sich, warum er so dämlich war und jede Hilfe einfach ablehnte. Doch sein Schutzwall war stärker als sein Verstand.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Kevin's Zelle - 15:30 Uhr


    Kevins Kopf hämmerte vor Schmerz. Die Schläge, die er eingesteckt hatte, waren nicht von schlechten Eltern gewesen. Jetzt fühlte sich seine Lippe taub an, sie hämmerte im Takt mit seinem Kopf. Er befühlte sie mit der Zunge, spürte die Schwellung und den Cut, den er erlitten hatte. Er hatte Thomas abblitzen lassen, hatte keine Lust auf Smalltalk, hatte keine Lust sich mit irgendjemandem hier zu unterhalten. Eigentlich hatte er am liebsten Lust gehabt, sich auf seine Britsche zu legen, die Decke über den Kopf zu ziehen und zu warten... aber auf was? Seine Verurteilung, seine Freilassung? Verdammt, er konnte doch nicht einfach hier drin vor sich hin vegeterien, er durfte nicht schon wieder den Kopf in den Sand stecken. Er war immer jemand, der alles im Griff zu haben schien und immer irgendwo einen Lösungsweg zu sehen schien. Er hatte sich nie hängen gelassen...
    Philipp blickte schreckhaft von seinem Tisch auf, an dem er wieder las und sein Gesicht entspannte sich nicht, als er sah, was Kevin zugestoßen war. "Oje... was ist dir denn passiert?", fragte er mit zitternder Lippe, als würde er drohendes Unheil vermuten. "Nichts.", war die knappeste aller Antworten seines Zellenkumpanen, der sich auf sein Bett fallen ließ, die Beine verkreuzte und die Augen schloß. Philipp sah den Mann an, wollte sich zuerst wieder seinem Buch zu wenden und überwand seine Angst schließlich doch. "Das Aufnahmeritual?", fragte er zögerlich, und erreichte immerhin, dass Kevin die Augen wieder öffnete, und zu dem kleinen Kerlchen aufblickte, und stumm nickte. "Das machen sie mit jedem, der hier neu reinkommt. Mancher hat seine erste Nacht nicht in der Zelle, sondern auf der Krankenstation verbracht." Die Stimme von Philipp zitterte dabei, als hätte er panische Angst vor dem, an was er sich so erinnerte. "Den Typ, der mit mir hier eingefahren ist, und vor mir dran war, haben sie tot geschlagen. Die Wärter sehen weg. Hendrik und seine Jungs haben schon lange das Sagen hier." Dabei sprach er leise und blickte immer mal wieder zur offenen Zellentür, als könnte Hendrik oder Yanek plötzlich in der Tür stehen.


    Kevin setzte sich wieder auf und lehnte sich mit dem Rücken an die blanke Zellenwand. "Und wie hast du das Ritual überstanden?" Philipp blickte beschämend zu Boden, und seine Stimme kam nur sockend über die Lippen. "Ich... ich habe mich... mich auf den Boden geworfen und vor Angst gebettelt, er solle mir nichts tun. Die haben gelacht... die haben gemeint... ich sei es nicht mal wert, verprügelt zu werden." Seine Hände verkrampften sich dabei um die Stuhllehne, und seine Schultern bebten. Offenbar erwartete er, dass auch Kevin ihn auslachte, und im Nachhinein verfluchte er sich, dass er es überhaupt erzählt hatte. Aber Philipp war naiv und leicht zu beeinflussen, er hatte viel erdulden müssen im Gefängnis. Kevin lachte nicht, er sah ihn mit seinem recht ausdruckslosen Gesicht an, aber er nickte und schien zu lächeln: "Keine schlechte Idee. War sicher besser für dich, als den Helden zu spielen.", meinte er mit ehrlicher Anerkennung, und sofort fühlte Philipp sich einige Stufen besser. Auch er lächelte, sein Zittern verschwand und er fand es gut, dass ihm jemand recht gab. "Danke...", meinte er beinahe verlegen. "Warum bist du überhaupt hier?", fragte der suspendierte Polizist und ging im Geiste Straftaten durch, die so unschuldig dreinblickende Jungs, wie Philipp einer war, überhaupt begehen konnten. "Ich... ich hab versucht eine Bank zu überfallen.", meinte er, wieder ein wenig geknickt... ob aus schlechtem Gewissen es überhaupt getan zu haben oder aus Scham, dass er dabei geschnappt wurde, konnte Kevin nicht sagen. "Einer der Wachmänner hat die Spielzeugpistole erkannt, als ich fliehen wollte... und hat mich fast über den Haufen geschossen." Dann erhellte sich sein Gesicht jedoch zu einem Lächeln: "Aber in 2 Monaten darf ich endlich wieder raus. Und dann werde ich alles dafür tun, nie wieder in so ein Loch zu müssen." Irgendwie hatte Kevin den gutgläubigen kleinen Kerl in sein Herz geschlossen. Ohne viel fragen zu müssen wusste der Polizist, dass sein Zellengefährte der Prügelknabe dieses Abschnitts war. Er war kleiner und schmächtiger, er hatte vermutlich vor jedem Angst, und er wehrte sich nicht, wenn man ihn rumschubste. Das perfekte Opfer, um seine Aggressionen rauszulassen, und davon gab es hier im Knast genug.



    Drogen-Dezernat - 15:40 Uhr


    Es dauerte nur 5 Minuten nach ihrer Ankunft im Drogen-Dezernat von Köln, dann wurden Semir und Ben von einer jungen Kollegin in Bieners Büro begleitet. Der erfahrene Drogenfahnder saß hinter einem Stapel von Akten, sein grau angehauchtes Haar lag trotzdem akurat wie immer, er hatte den obersten Hemdknopf geöffnet und die Krawatte leicht gelöst. "Semir, mein Freund. Setzte euch.", begrüßte er die beiden Autobahnkommissare mit ausgestreckten Armen und schüttelte beide Hände. Ben stellte sich vor, er kannte Bienert ja noch nicht und die freundliche Kollegin brachte drei Tassen dampfenden Kaffee. "Viel zu tun?", fragte Semir mit einem Blick über den vollbeladenen Schreibtisch von Thomas Bienert, und der ließ sich gespielt stöhnend in den Sessel fallen. "Mir geht es so wie euch. Genauso wie es immer Raser geben wird, wird es auch immer illegalen Drogenhandel geben. Und geht die Arbeit nicht aus." Sie lachten kurz, dann kam der erfahrene Polizist aber zur Sache. "Aber sagt, was kann ich für euch tun? Was verschafft mir die Ehre eures Besuches." Die beiden Polizisten von der Autobahnpolizei guckten sich kurz an, und Ben nickte. Sie hatten sich darauf verständigt, dass Semir mit Thomas redete, denn er kannte ihn bereits.
    "Es geht um den nächtlichen Einsatz... beziehungsweise um einen der Festgenommenen.", begann Semir defensiv, während Thomas Bienert sich in seinem Sessel nach hinten lehnte und aufmerksam zuhörte, auch wenn sein freundlicher Ausdruck in den Augen ein wenig wich, wie es Ben sofort auffiel. "Ich bin ganz Ohr.", gab er sich dennoch hochfreundlich. "Es geht um Kevin Peters. Vielleicht weißt du es schon, aber er es ein Kollege... er hat einige Fälle mit uns zusammengearbeitet." Bienert zog, obwohl er es natürlich wusste, verwundert die Augen nach oben. "Ein Polizist? Das ist unerfreulich." Der Mann beugte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte. "Aber warum hat er bei euch nichts geredet, wenn er euch kennt?" Semir strich sich mit den Fingern über die Lippen. "Kevin ist kein einfacher Typ. Wir können jetzt nicht genau sagen, warum er nichts mit uns geredet hat... aber deshalb sind wir auch gar nicht hier."


    Ben saß unruhig auf seinem Stuhl, zu gerne hätte er selbst das Wort ergriffen, aber er hielt sich an die Abmachung. "Sondern?", fragte Thomas Bienert nun genauer und zeigte sich weiter interessiert. "Wir wollten wissen, ob er bei dir irgendetwas ausgesagt hat. Was hat er dort gemacht, für wen hat er die Drogen gekauft... oder irgendetwas anderes." Bienert schmunzelte kurz, schlug eine beliebige Akte auf dem Schreibtisch auf und sofort wieder zu, als Ersatzhandlung. Genauso gut hätte er seine Uhr nachjustieren können, oder die Jalousien hochziehen können. "Du weißt doch, dass ich dir solche Sachen aus laufenden Ermittlungsverfahren nicht sagen darf." "Komm schon, Thomas. Wie lange kennen wir uns jetzt?" Semir legte den Kopf ein wenig zur Seite und lächelte vertrauensvoll, so dass auch sein Gegenüber grinsen musste. "Gib uns nur ein paar Anhaltspunkte. Wir wollen wissen, was mit unsrem Kollegen los ist."
    Bienert holte kurz Luft, und ergriff die Story, die er sich zurechtgelegt hatte, die er mit Kevin abgesprochen hatte. "Er hat ausgesagt, dass er die Drogen für einen Bekannten gekauft hatte. Trechsel kannte er angeblich von früher. Dass er Polizist ist, haben wir natürlich gewusst, aber er war ja suspendiert. Mehr hat er auch nicht gesagt, uns hat Trechsel als Verkäufer sowieso mehr interessiert." "Er hat die Pillen für einen Freund gekauft?", fragte Semir nochmal nach und in seinem Kopf arbeitete es bereits. Soll er Schneider schon gekannt haben? Und ihm die Pillen verkauft, oder mitgebracht haben? Soll es da zum Streit gekommen sein? Aber konnte es so ein irrer Zufall sein, dass ausgerechnet dieser Mark Schneider Jenny vergewaltigt hatte? Ben machte sich die gleichen Gedanken und hielt sich nur sehr krampfhaft daran, nicht das Wort zu ergreifen. "So hat er es gesagt, ja. Aber interessiert euch das wirklich nur, weil er euer Kollege war? Warum fragt ihr ihn nicht selbst?" Der ältere Autobahnkommissar seufzte auf. "Können wir nicht. Er sitzt im Gefängnis... wegen Totschlags." Nun war es Bienert, dem alle Gesichtszüge entglitten. Dass seine Show jetzt wie weggeblasen war, merkten die beiden Kommissare sofort. "Was sagst du da?", wiederholte Bienert ungläubig.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Drogendezernat - 16:00 Uhr


    Man hätte eine Stecknadel auf den, zugegeben nicht ganz sauberen Boden, in Bienerts Büro fallen lassen hören, nachdem Semir mit der Neuigkeit rausrückte, dass Kevin verhaftet wurde. Die Reaktion des erfahrenen Drogenfahnders war absolut natürlich und aus dem Bauch heraus, das erkannte Semir und Ben sofort. Kein gespieltes Erstaunen, im Gegenteil... scheinbar schien eine Fassade gerade zu fallen. "Liest du keinen Lagebericht?", fragte Semir und zog dabei die Augenbrauen ein wenig nach oben, während sein Gegenüber sich mit den Fingern über die Lippen strich, im ersten Moment auf seinen Computermonitor blicken wollte, die Maus nicht sofort traf, und dann doch davon absah. "Ich... nein, die letzten Tage nicht."
    Bienert versuchte krampfhaft seine Gedanken zu ordnen. Mein Gott, was hatte der Kerl getan... wieso saß er wegen Todschlags im Gefängnis? Warum hatte er davon nichts mitbekommen? Es konnte nicht mit Kevins Untersuchungen im Drogenring zu tun haben, ansonsten wäre die Sache garantiert auf seinem Schreibtisch gelandet, und er hätte davon erfahren. Aber so... sein wichtigster Informant saß, das würde die Ermittlungen um Monate, wenn nicht gar Jahre zurückwerfen. Und nun blickte er in die verwunderten Augen von Semir, der auf eine Antwort wartete... auf eine Antwort, woher die überraschte, beinahe schockierte Reaktion kam.


    "Wieso bist du so überrascht? Ein Drogendealer ein Totschläger... der Schritt ist meist nicht weit." Thomas fing sich wieder, rückte sich den Kragen seines Hemdes zurecht und spürte Bens extrem misstrauischen Blick auf sich. "Naja... er ist... also war immerhin ein Kollege. Und ich fand ihn nicht gerade unsympathisch, er war sehr kooperativ." Ein kurzes Lächeln zuckte über seine Mundwinkel. "Da ist man natürlich erstmal baff." Semir nickte, scheinbar verständnisvoll und lächelte. Bienert war ein 1A Drogenschnüffler, ein kollegialer Polizist, er strahlte ungeheure Souveränität und Autorität aus, vor allem wenn es um schwierige Verhöre ging, oder im Umgang mit jungen Kollegen. Aber eins war er nicht: Er war kein Schauspieler. Er hatte seine Rolle ohne Druck gut gespielt, doch die Fassade war gefallen. Er hatte mehr mit Kevin zu tun, als "nur" eine Verhaftung und ein Verhör, da war sich der erfahrene Polizist sicher.
    "Thomas, wie lange kennen wir uns jetzt?", fragte er mit einem aufgesetzten Lächeln, und die Reaktion war ein fragender verwirrter Blick. Sie kannten sich viele Jahre, sahen sich immer mal bei Fortbildungen oder Veranstaltungen, schätzten sich und ihre Arbeit. "Warum belügst du uns?", knallte Semir ihm dann den Vorwurf mit voller Wucht auf den Schreibtisch, der verwirrte Blick verschwand. Nur Ben schaute erleichtert und dankbar in Semirs Richtung, ihm tat der Kiefer schon weh, so fest biss er sich auf die Backenzähne um Bienert nicht ein lautes: "Hör auf, Scheisse zu erzählen.", an den Kopf zu werfen. Gerade jetzt war er froh, es nicht getan zu haben, denn sein Freund war auf der richtigen Spur.


    Bienert war von Semirs Vorgehen überrascht. Er strich sich zweimal durch die Haare, er könnte jetzt nochmal das wiederholen, was er eben gesagt hatte... aber da wusste er noch nicht, warum Kevin im Gefängnis saß. "Weißt du Hintergründe, warum Kevin sitzt?", fragte er ihn, als wolle er Semir einen Deal anbieten... die Wahrheit gegen Informationen. Der wusste natürlich, dass seine Informationen nicht ganz legal beschafft wurden, aber Bienert war kollegial... bei ihm hatte der erfahrene Polizist nichts zu befürchten... Polizisten, die Bienert zu schätzen wusste, konnten ihm vertrauen. Er nickte ihm zu.
    Der Drogenfahnder blickte kurz zu Ben, und sagte: "Es ist nichts persönliches... aber könnten wir vielleicht unter vier Augen, Semir und ich...", doch er wurde sofort von Semir unterbrochen: "Vergiss es. Wenn du mir vertraust, vertraust du auch Ben. Ich würde es ihm sowieso sofort draussen erzählen. Also?" Ben war stolz, so etwas von seinem Freund zu hören. Er wollte schon entschieden protestieren, aber Semir's Einwand kam genau rechtzeitig. Und auch Bienert erkannte aus Semirs Worten sofort die innige Beziehung zwischen den beiden Polizisten, die ihm gegenüber saßen. Das waren nicht einfach Kollegen oder zusammengewürfelte Partner, sondern Freunde... und das gleiche schien für Kevin zu gelten, wie Semir deutlich machte: "Also, nun raus mit der Sprache. Was hat Kevin erzählt? Wir sind seine Freunde, und wir wollen ihm helfen.", sagte er eindringlich.


    "Okay... Kevin hat für mich gearbeitet.", ließ Bienert raus, und sowohl Semir als auch Ben schien ein zentnerschwerer Stein vom Herzen zu fallen. Er war nicht wieder zu den Drogen abgerutscht, der Kauf war scheinbar fingiert, und die Bestätigung folgte sofort: "Er sollte sich in diesen Drogenring einschleusen. Der Kauf war also fingiert, um rein zu kommen, beziehungsweise weiter an die Hintermänner ranzukommen. Dass ihr den anonymen Hinweis bekommen habt, war Zufall." Ben brach endlich sein Schweigen: "Durfte er uns nichts erzählen?" Bienert nickte sofort, und der junge Polizist legte den Kopf in den Nacken und hauchte ein "Gott sei Dank." Emotional war Ben unglaublich erleichtert, dass diese abweisende Kälte den beiden Beamten gegenüber scheinbar grandioses Schauspiel ihres Freundes war. "Daran hat er sich beeindruckend gehalten.", gab auch Semir zu. "Warum weiß davon niemand? Soviel ich weiß dürfen suspendierte Ermittler keine Undercover-Operationen bestreiten, und in der Akte der verdeckten Ermittler ist Kevin auch nicht." Thomas Bienert nickte erneut, diesmal nachdenklicher. "Ich habe von der Suspendierung gehört, und mich mit Kevins Akte beschäftigt. Ich finde es beeindruckend, dass ein Mann mit solch einer Vergangenheit es schafft, sich im Polizeidienst einen Namen zu machen." Dann sah er Semir direkt in die Augen: "Du weißt doch, wie das bei Undercover-Einsätzen ist. Wir sehen alles aus dem Auge eines Polizisten... wir dürfen dies nicht, und jenes nicht. Machen wir etwas falsch, ist ein Beweis vor Gericht nicht zulässig und 1 Jahr Arbeit ist beim Teufel." Der erfahrene Polizist fühlte sich unwohl, als hätte er eine böse Vorahnung.


    "Worauf willst du hinaus, Thomas?", fragte er und Bienert fuhr fort: "Kevin ist nicht offiziell undercover. Ich hab ihn kontaktiert, vor ungefähr vier Wochen, als ich rausfand dass einige ehemalige Mitglieder aus Jugendgangs in dem Ring drinhängen. Ein Ermittler von aussen käme da nie rein, und wenn, dann erst nach Jahren regelmäßigen Handel. Kevin kannte zwei der Mitglieder von früher, und ich habe ihm dann ein Angebot gemacht." Wieder entstand eine Pause, die Ben zum Nachfragen zwang: "Ein Angebot? Was für ein Angebot?" Bienert saß immer noch aufrecht und autoritär in seinem Stuhl, trotz dass er quasi ein Geständnis ablegte hatte er nichts von seiner Souveränität eingebüßt. "Er sollte in den Ring hereinkommen, und mir mögliche Beweismittel liefern... nicht undercover, nicht unter dem Schutz des Staates... sondern als Kevin... als er selbst. Wenn wir es schaffen, den Ring zu sprengen, wäre es ein leichtes, die Innere von einer Kündigung abzubringen. Niemals würden sie einen so anpassungsfähigen Ermittler vor die Tür setzen." Ben bekam den Mund nicht zu, und er überlegte ob er ausrasten sollte, Bienert am Kragen packen sollte, oder einfach aus dem Büro dampfen sollte. Semir reagierte besonnener, allerdings nur im begrenzten Maße: "Bist du völlig wahnsinnig geworden? Weißt du, gegen wieviele Regeln du damit verstößt?" Der Drogenfahnder sah seinen Kollegen fest an und nickte: "Ja, das weiß ich. Aber dieser Fall verlangte nach solchen Maßnahmen. Wir ermitteln schon Jahre und landen keinen Schlag gegen diese Verbrecher. Kevin ist...", er stockte kurz... "war unsere einzige Hoffnung."


    "Ich glaub das einfach nicht. Sie lassen ihn schutzlos wieder ins Drogengeschäft einsteigen? Woher wollen sie wissen, dass er nicht wieder rückfällig wird, oder dass er bei etwas gefasst wird, bei dem sie ihm nicht helfen können?", rief Ben erregt. "Weil ich ihm vertraue!", war Bienerts scharfe Antwort, was vor allem für Bens erste Frage galt. "Kevin lebt für den Polizeidienst, und er hat die einzige Möglichkeit ergriffen, um wieder darin zurück zu kehren. Ich kenne den Leiter der Inneren und ich weiß, dass es für ihn nicht gut aussieht. Ich habe ihn nicht dazu gezwungen." Semir sah sein Gegenüber abschätzend an: "Und ich soll dir jetzt glauben, dass du das aus reiner Nächstenliebe getan hast?" Thomas Bienert lächelte. "Es wäre dumm, das zu behaupten. Natürlich verspreche ich mir in erster Linie endlich einen Ermittlungserfolg. Aber wenn es dazu kommt, würde ich mich niemals mit fremden Federn schmücken, falls du das meinst. Und das weißt du." Nun nickte Semir wiederrum, denn das wusste er tatsächlich. Bei der Zerschlagung eines internationalen Drogenrings titelte die Zeitung auf ausdrücklichen Wunsch Bienerts nicht mit seinem Namen und erwähnte immer nur den Namen der SoKo, obwohl nahmhafte Tageszeitungen gerne eine Person der Zerschlagung nennen wollten. Bienert hatte die SoKo damals geleitet, verzichtete aber auf Lobhudeleien.
    Doch eine dringende Bitte hatte er dennoch: "Ich habe keine Angst um meine Person. Sollte das rauskommen, bekäme ich ein Diszi, was mich nicht stört. Aber für Kevin wäre es nicht gut, wenn es rauskommt, das wisst ihr. Behaltet es für euch." Semir und Ben sahen sich kurz an, blindes Verständnis, denn sie wussten: Käme das an die große Glocke, wäre es sicherlich nicht gut für Kevin. "Wer weiß davon Bescheid?", sicherte sich der erfahrene Autobahnpolizist ab. "Niemand... nur wir drei und Kevin." Dann lehnte sich Bienert ein wenig zurück, fühlte sich etwas erleichtert. "Und nun erzähl... warum sitzt Kevin im Knast?"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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